Die Kunst vom Wahn- und Wahrsagen: Orakelheiligtümer in der

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Abb. 2: Tempel des Amun. Oase Siwa. Frontansicht.
traditionellen altägyptischen Orakelformen in Vergessenheit gerieten. Besonders in den großen Orakelzentren Ägyptens, wie Theben oder Siwa,
scheint das Barkenorakel immer noch präsent gewesen zu sein. Doch gerade im Bereich der nicht offiziellen Orakel gab es nun weit mehr Bedarf als
früher. Spätestens seit dem 5. Jh. v. Chr. traten als Vertreter dieser neuen
Glaubenshaltung besonders heilige Tiere als Orakelgeber hervor. Diese
galten bereits im Alten Reich als Mittler zwischen Gott und Menschen.
Neben den eher regionalen Orakeltieren wie dem Ibis aus Kasr El-Auguz,
dem Widder von Médamoud oder dem Lamm von Bocchoris war das
wichtigste vergöttlichte Tier der Apisstier. Dieser lebte in seinem Heiligtum bei Memphis, bis er eines natürlichen Todes starb und innerhalb von
70 Tagen einbalsamiert und in den Katakomben des Sarapisheiligtums von
Saqqara bestattet wurde. Zu Lebzeiten des Tieres befragte man ihn, indem
ein Priester das Verhalten des heiligen Stieres beobachtete. Entweder entschied das Tier durch die Wahl eines bestimmten Stalles oder aber durch
das Annehmen oder Ablehnen des ihm gegebenen Futters. Daneben war es
auch üblich, am Grab des verstorbenen Vorgängerstieres zu nächtigen und
auf ein Traumorakel zu hoffen (Inkubation). In Saqquara schliefen die
­Klienten vermutlich in dem von Bäumen beschatteten Hof des Heiligtums,
nachdem sie die Frage schriftlich in einer Kapelle neben dem Eingang zu
den Katakomben niedergelegt hatten.
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Beim Tempelschlaf war es vor allem wichtig, den Göttern oder zumindest ihren Statuen so nahe wie möglich zu sein. Da aber ein normaler Ägypter auch in hellenistischer Zeit den Tempel der alten Götter immer noch
nicht betreten durfte, legte man sich zum Schlafen kurzerhand an die
Rückwand des hintersten Tempelraumes, denn hinter dieser befand sich in
der Regel die Kultstatue des Gottes. Im Laufe der Zeit wurden an diesen
Wänden so genannte Gegenkapellen errichtet. Dies waren meistens
­kioskartige Anbauten mit Reliefs der im Inneren aufbewahrten Götter. In
dieser Form finden sie sich z. B. bei fast allen Haupttempeln in Karnak.
Wie noch heute an den Wänden mancher katholischer oder griechisch-­
orthodoxer Kirchen konnten die Ratsuchenden hier ihre Fragen, Sorgen
und Wünsche in den Stein ritzen oder auf Blechtäfelchen geschrieben
­anbringen. Typisch für diesen Orakeltyp war außerdem eine Öffnung in
der Mauer, die zwar in der Regel zu hoch war, um ins Heiligtum blicken zu
können, aber zumindest den Anschein verlieh, der Gott könne das zu ihm
Gesagte auch tatsächlich erhören. Beispiele für eine solche Verbindung
­finden sich im Sarapistempel von Shenhur am Ostufer des Nils ebenso wie
im Sarapis­tempel der Oase Kysis..
Wie in Griechenland galt der Tempelschlaf häufig der Heilung von
Krankheiten. Spätestens seit hellenistischer Zeit entstanden in ägyptischen
Heiligtümern, allen voran dem Hathortempel von Dendera, eigens errichtete so genannte Sanatorien, in denen die Kranken wie in den griechischen
Asklepiosheiligtümern nicht nur schliefen, sondern auch heilendes Wasser
tranken und von medizinisch geschulten Priestern behandelt wurden. Vor
allem Sarapis wurde als bedeutender Heil- und Orakelgott verehrt. Zunächst hervorgegangen aus einer Verschmelzung der ägyptischen Götter
Osiris und Apis übernahm er bald die Eigenschaften von vielen griechischen Göttern, allen voran von Zeus und dem Heilgott Asklepios. Ptolemaios I. (367–283 v. Chr.) ließ auf einen Traumbefehl hin die Statue des
Pluto aus Sinope nach Alexandria bringen, wo er als neuer Gott Sarapis
wirken sollte (Tac. hist. 4,83). Seine bedeutendsten Heiligtümer lagen in
Memphis, Alexandria und in Kanopos im Nildelta. Mit seinen malerischen
Gärten und Kanälen war Letzteres zugleich auch ein beliebtes Ausflugsziel
alexandrinischer Lustreisender.
Neu an diesem hellenisierten Gott war, dass nicht nur seine weitläufigen Tempelanlagen, sondern auch das Allerheiligste von einem Gläubigen
betreten, ja sogar die Statue selbst berührt werden durfte. So galt es als
glückbringend, am Ende einer Pilgerreise ins Sarapisheiligtum von Alexandria den Fuß der riesenhaften Götterstatue zu berühren. Und nicht nur
das – sie soll besonders wichtigen Bittstellern sogar aus ihrem eigenen
Mund geantwortet haben. Glaubt man den bissigen Stimmen der frühchristlichen Kirchenväter, war dies natürlich alles nur Betrug. Der alexan18
drinische ­Bischof Theophilus berichtet etwa, dass sich die Priester in der
ausgehöhlten Statue versteckten, um durch deren geöffneten Mund die
Fragenden zu täuschen (Theod. hist. eccl. 5.23). Archäologisch lässt sich
dieser Betrug nur selten belegen. Eine mit einer sprechenden Apisstatue in
Verbindung gebrachte Apparatur wurde etwa in Kom el-Wist gefunden.
Neben und hinter einer Kultkapelle wurde eine Statuenbasis mit vier
Standlöchern gefunden, die in Verbindung mit einem engen Metallrohr
stand. Hinter der Apsis versteckt könnte ein Priester mit Hilfe des Rohres
eine vierbeinige Statue auf dem Sockel „zum Sprechen gebracht“ haben.
Möglich ist natürlich auch, dass sich die Priester, wie im Amunorakel von
Siwa, in kleinen Kammern neben, über oder im Allerheiligsten selbst versteckten und von da aus die Stimme des Gottes imitierten. Dennoch
scheint diese Methode eher eine Ausnahme von der üblichen Praxis des
Tempelschlafes gewesen zu sein.
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Griechische Orakel
Im 2. Jt. v. Chr., zu einer Zeit also, als viele Menschen im Zweistromland und
in Ägypten bereits in großen Städte lebten, ihren Göttern und Herrschern
riesige Tempel und Paläste errichteten und der Kult wie auch das Orakelwesen bereits eng an das Staatswesen gekoppelt waren, herrschte in Griechenland eine kriegerische aristokratisch organisierte Kultur – die ­Mykener.
Dank ihrer waffentechnischen Überlegenheit war es ihnen gelungen, die
eingesessene Bevölkerung Griechenlands zu unterjochen und als Leibeigene
zu verdingen. Durch Fernhandel, aber auch Piraterie und Sklavenhandel
­kamen sie bald zu unübersehbarem Reichtum, den sie in stark befestigten
Palastanlagen zum Ausdruck brachten. Ihre Architektur wie ihre gesamte
Kultur scheint stark von den kretischen Minoern, aber auch den Ägyptern
beeinflusst zu sein. Dennoch – ob es bereits zu mykenischer Zeit eine Orakelkultur in Griechenland gegeben hat, ist umstritten. Zwar wurde im so
genannten mykenischen Tempel II von Kition auf Zypern eine Bronzeleber
mit Orakelinschriften aus dem 12. Jh. v. Chr. entdeckt. Ähnliche Beispiele
stammen aus dem Haus eines Priesters auf der Akropolis von Ras Shamra,
wo sie im Kontext mit ugaritischen Texten und mykenischen Rhyta aus dem
14/13. Jh. v. Chr. gefunden wurden. Beide Städte waren jedoch bedeutende
mykenische Handelsniederlassungen im Ausland und auch wenn die Orakelgegenstände beweisen, dass die Mykener zumindest mit der östlichen
Tradition der Eingeweideschau vertraut waren, können wir ohne weitere
Funde vom griechischen Festland nicht davon ausgehen, dass die Mykener
sie auch in ihrem Heimatland etabliert hatten. Dasselbe gilt für das viel­
gerühmte Orakel von Delphi. Zwar sind die frühesten Funde, die bei den
Ausgrabungen ans Licht gebracht wurden, in mykenische Zeit zu datieren
– bis man aber mit Sicherheit von einem florierenden Orakelkult an diesem
Ort sprechen kann, sollten noch viele Jahrhunderte vergehen.
Der Ruf des Phoebus
Das Orakel von Delphi und die Weissagungen der Pythia
„Der Herr, dem das Orakel von Delphi gehört, sagt nicht und verbirgt
nicht, er deutet an“ (Plut. 21,404b), erklärte der Apollonpriester und
Schriftsteller Plutarch im Jahre 95 n. Chr. einem Freund bei einem Rundgang durch das delphische Heiligtum. Erst kurz zuvor war er über das Parnassgebirge aus dem etwa 45 km westlich gelegenen Charoneia angereist,
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wo er 50 Jahren zuvor geboren worden war und wo er immer noch mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen lebte. Für die kommenden 30 Jahre sollte
er nun als einer der beiden Hauptpriester seinen Dienst in einem der berühmtesten Orakel der Welt verrichten. Der Blick, der sich dem Schriftsteller dabei von seiner Wirkungsstätte, dem Tempel des Apollon, aus bot,
war sicherlich nicht weniger beeindruckend als heute. Über mehrere Terrassen schmiegt sich das Heiligtum auf etwa 550 m Höhe an den steilen
Hang über der Pleistosebene mit ihren weiten Olivenhainen und frucht­
baren Weiden (Abb. 3). In der Ferne sieht man auch heute noch den Hafen
von Itea und dahinter die spiegelnde Weite des Golfs von Korinth. Wie
aber können wir uns Plutarchs priesterliche Wirkungsstätte zu seiner Zeit
vorstellen?
Das Heiligtum
Obwohl die ersten Siedlungsspuren bereits aus mykenischer Zeit stammen,
ist der Tempel des Apollon mit seiner „schön fließenden Quelle“ erst in
den homerischen Hymnen aus dem 7. Jh. v. Chr. erwähnt (Hom. h. 287).
Ob der Kult damals bereits ein Orakel enthielt und wie es aussah, ist nicht
bekannt. Bis in die römische Zeit lassen uns die schriftlichen Quellen hierüber weitgehend im Unklaren. Herodot stellte im 5. Jh. v. Chr. die Weissagungen der Pythia in ihrer Bedeutung zwar bereits über alle anderen griechischen Orakelheiligtümer (Hdt. 1,51), über das Aussehen des Heiligtums
selbst aber berichtet er nur wenig (Hdt. 2,180 und 5,62). Euripides erwähnt kurze Zeit später immerhin einen heiligen Hain und die Kastaliaquelle sowie das Tempeladyton als Ort der Weissagung (Eur. Ion 144–149).
Pindar schließlich überliefert einen recht phantastischen Mythos über die
vier ersten Tempel Delphis, von denen der erste aus Lorbeerzweigen, der
zweite von Vögeln und Bienen aus Wachs und Federn, der dritte von den
Göttern aus Bronze und der vierte schließlich von Menschenhand aus
Stein gearbeitet war (Pind. P 8,58). Aber erst in nachchristlicher Zeit erschließt sich mit den römischen Reiseschriftstellern Strabo und Pausanias
ein heute rekonstruierbares Erscheinungsbild der delphischen Kultstätte
(Strab. 8,6,14 und Paus. 10,5).
Ihre Beschreibungen waren es auch, die seit dem 15. Jh. immer wieder
Abenteuerlustige aus aller Welt in die unwirtliche Gegend um den Parnass
trieben. Doch was sie dort sahen, enttäuschte die meisten: Neben dem Stadion, der Kastaliaquelle und einigen zerstreuten Trümmern hatte sich von
Delphis einstigem Glanz nichts erhalten. Die meisten der antiken Quadersteine waren in den Häusern des kleinen Dorfes Kastri (griech. Festung)
verbaut, das sich über den Ruinen des Heiligtums erhob. In den Resten des
Stadions weideten die Bewohner ihre Schafe. Nur die Mönche des kleinen
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