Neuer Tendenzen in Kultur und Literatur: Russland seit der Perestrojka Geschichte und Literatur: Peter Deutschmann Medien, Film, Popkultur: Herwig Höller (Aktualisiert, ergänzt und korrigiert Jänner 2009 von H.Pfandl) Die wirtschaftliche Entwicklung Nach der Ära Brežnev (+ 1982), die gemeinhin als "Zeit des Stillstands" (zastoj) bezeichnet wird, sind Anfang der achtziger Jahre die Schwächen des sozialistischen System in der Sowjetunion immer deutlicher geworden. Die ehemalige soziale Sicherheit (ein einigermaßen gutes Gesundheitssystem für alle Bürger, stabile niedrige Lebenserhaltungskosten, keine Arbeitslosigkeit) war nicht mehr selbstverständlich, die Differenzen zum Lebensstandard im Westen und der Mangel an politischen Möglichkeiten wurden immer stärker virulent. Nach den nach Brežnev amtierenden Generalsekretären Andropov und Černenko gelangte 1985 Michail Gorbacëv als Generalsekretär an die Spitze des größten Staates der Erde. Gorbačëv war der Auffassung, dass sich die Schwächen des Systems durch Veränderungen beseitigen lassen würden, die von ihm unter den Losungen Glasnost' (etwa: "Offenheit, Transparenz") und Perestrojka ("Umbau") unternommenen Reformen lösten aber eine politische "Lawine" aus, die nicht bloß zum Fall des Eisernen Vorhangs und dem Ende des Kalten Krieges, sondern auch zur Auflösung des zu reformierenden Staates selbst geführt haben, denn im Dezember 1991 wurde die Sowjetunion als politisches Gebilde für aufgelöst erklärt. Das sozialistische System, welches in der Sowjetunion immerhin länger als zwei Generationen lang die Gesellschaft prägte, wurde durch die Reformversuche ebenfalls mitaufgelöst, an seine Stelle traten permanente Krisenzustände; die gegenwärtigen Verhältnisse in den ehemaligen Sowjetrepubliken, auch in Russland, der Ukraine und Weißrussland zeugen von noch keinem gesichert stabilen Zustand einer auf den Sozialismus folgenden Gesellschaft. wichtige politische Ereignisse 1985: Michail Gorbačev wird Generalsekretär der KPdSU 1989, Frühjahr: Gorbačev gründet eine neue Legislative, den Kongreß der Volksdeputierten, um den konservativen Obersten Sowjet auszuschalten. Der Kongreß der Volksdeputierten wählt Gorbačev in das neu geschaffene Präsidentenamt. 1990, Frühjahr: In Russland wird der von Gorbačev 1987 fallengelassene Reformpolitiker Boris El'cin (Jelzin) immer populärer und gegen den Willen Gorbačevs zum Vorsitzenden des Obersten Sowjets der RSFSR (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik). Der 1990 aus der KPdSU ausgetretene El'cin gilt als radikaler Reformer. Der Kongress der Volksdeputierten der RSFSR erklärt im Juni die RSFSR für souverän und nimmt die Satzung von der Führungsrolle der KPdSU aus der Verfassung der RSFSR. 1990, Herbst: Erstarkte nationale Sezessionstendenzen in den Sowjetrepubliken Georgien, Aserbaidschan und dem Baltikum werden von unter Anwendung von Militärgewalt niedergeschlagen. Die nationalen Souveränitätsbestrebungen und das sich offenbarende wirtschaftliche Desaster schwächen Gorbačevs Position zusehends. 1991, Frühjahr: Referendum über die Zukunft der Sowjetunion. Die Russische Föderation hängt an die Abstimmung u.a. die Frage an, ob ein Präsident Russlands durch Direktwahl gewählt werden sollte. Da dies von der Mehrheit gewollt wird, lässt sich 1 El'cin vom Volk im Juni zum Präsidenten der RSFSR wählen. Mit diesem Mandat vertritt er verstärkt russische Interessen gegenüber gesamtsowjetischen, radikalere Wirtschaftsreformen und räumt den sezessionswilligen Sowjetrepubliken (v.a. Litauen) das Recht auf Autonomie ein. 1991, August: Putsch von konservativen Kräften gegen Gorbačev, El'cin dominiert in Moskau und bewirkt das Scheitern des Putsches. El'cin fordert die Rückkehr Gorbačevs und verbietet die KP in Russland. Er wird zur wichtigsten politischen Figur. Dezember 1991: Die Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) wird von Russland und 10 anderen ehemaligen Sowjetrepubliken gegründet. Am 25.Dezember tritt Gorbačev als Präsident der Sowjetunion zurück, mit 31. Dezember 1991 hört die Sowjetunion als politisches Subjekt zu existieren auf; die ehemaligen Sowjetrepubliken werden somit zu souveränen Staaten. Russland sieht sich als Rechtsnachfolger der Sowjetunion und übernimmt auf internationaler und militärischer Ebene deren Rolle. 1992, Winter, Frühjahr: Unter der Präsidentschaft El'cins setzen radikale Wirtschaftsreformen ein (Preisfreigabe und Ende der staatlichen Preisstützungen auf viele Güter). Der Kongress der Volksdeputierten Russlands (legislative Gewalt) wird allmählich zum Gegner der Wirtschaftsreformen und zum Rivalen im Streit um die Befugnisse in einer gravierenden Verfassungsreform. 1993, September, Oktober: El'cin löst (entgegen der noch geltenden Verfassung) den Kongress der Volksdeputierten auf und fordert Neuwahlen. Zahlreiche Abgeordnete leisten bewaffneten Widerstand und unternehmen einen Putschversuch, der von El'cin-loyalen Militäreinheiten vereitelt wird ("Kampf um Weißes Haus" [Parlamentsgebäude]). 1993, Dezember: Referendum über eine neue Verfassung und Neuwahlen. Der Entwurf wird gebilligt und somit eine Verfassung eingesetzt, welche die Präsidialgewalt gegenüber der Legislative (Staatsduma mit 450 Abgeordneten) stärkt. Russland wird in der Verfassung zum demokratischen föderativen Rechtsstaat mit republikanischer Regierungsform erklärt. 1994-1995: Zusammenbruch der Finanz-Pyramide MMM des Sergej Mavrodi, der 1997 untertaucht und erst 2003 verhaftet wird. 10-15 Millionen Gläubiger verlieren ihre Einlagen. 1994, Dezember: ERSTER TSCHETSCHEINENKRIEG: Russische Truppen marschieren in Tschetschenien ein, das sich 1991 einseitig als unabhängig von der RSFSR erklärt hat. 1996, Juli: Trotz der sinkenden Popularität wegen der radikalen Wirtschaftsreformen und der wenig erfolgreichen Tschetschenien-Operation gewinnt El'cin die Stichwahl gegen den kommunistischen Gegenkandidaten Sjuganov. 1996, Sommer: Waffenstillstandsabkommen ohne Klärung des politischen Status von Tschetschenien, Abzug der russischen Truppen. 1998, August: Massive Abwertung des Rubelkurses gegenüber dem Dollar (sog. „defolt“), begleitet von empfindlichen Teuerungen. 1999: ZWEITER TSCHETSCHEINENKRIEG: Islamistische tschetschenische Rebellen besetzen die Provinz Dagestan. Bombenanschläge in Moskau und anderen russischen Städten werden tschetschenischen Terroristen angelastet, der neue Premierminister Putin behauptet die russische Souveränität über Tschetschenien und unternimmt erneut eine Invasion von Militär in Tschetschenien, die 2000 zur Einnahme von Groznyj und anhaltenden Guerilla-Kämpfen führt. 1999, 31.Dezember: El'cin tritt als Präsident zurück und setzt Premierminister Vladimir Putin als seinen Nachfolger ein. Ende der Ära El’cin. Ihm wird von Putin Immunität zugesichert, was El’cin vor schweren Korruptionsvorwürfen schützt. 2000, März: Putin gewinnt die Präsidentschaftswahlen mit 53% Stimmenanteil. 2 2000, August: Untergang des U-Bootes Kursk nördlich von Murmansk, 118 Mann Besatzung sterben. Kritik an der Informationspolitik der Marine und des Kreml’. Kurz darauf brennt der über 500m hohe Ostankino-Fernsehturm in Moskau aus, was ebenfalls als institutionalisierte Nachlässigkeit aufgefasst wurde. 2002, Oktober: tschetschenische Rebellen stürmen eine Musicalaufführung in Moskau und nehmen Akteure wie Publikum als Geisel für ihre Forderung nach sofortiger Beendigung des Krieges in Tschetschenien. Das Theater wird von Sondereinheiten erstürmt, mehr als 120 Geiseln sterben infolge des eingesetzten Giftgases. Präsident Putin verstärkt im Gegenzug die militärischen Operationen Russlands in Tschetschenien. 2003, Dezember: Bei den Wahlen zur Staatsduma gewinnt die Putin-nahe zentristische Formation „Einiges Russland“ („Jedinaja Rossija“) mehr als zwei Drittel der Stimmen. „Jabloko“ und „Sojuz Pravych Sil“, Parteien mit liberalem bzw. sozialdemokratischen Profil, scheiterten an der 5%-Hürde. 2004, März: Präsidentschaftswahlen. Putin erhält 71,3% der Stimmen 2004, Mai Ermordung des tschetschenischen Präsidenten Kadyrov 2004, September: Geiselnahme in einer Schule in Beslan/Nordossetien, bei der 330 Menschen, davon 168 Kinder, ums Leben kommen. Die zweite Amtszeit des russischen Präsidenten Putin ist vom Anwachsen der Kontrolle über das politische Leben durch den Kreml’ gekennzeichnet. So werden beispielsweise 2005 die Volkswahl der Gouverneure Föderalen Bezirken abgeschafft, stattdessen werden dem Regionalparlament vom Präsidenten (seit 2008 vom Ministerpräsidenten) Kandidaten vorgeschlagen. Oppositionelle Kräfte werden in der Politik marginalisiert (durch Gesetzgebung und Einflussnahme auf die Medien), dasselbe gilt für Non-Governmental-Organisations oder kritische Journalisten. Ein häufig zu hörender Vorwurf an die Administration Putin ist, dass Behörden und Justiz für die Durchsetzung politischer Ziele instrumentalisiert werden, was insbesondere im Fall des Ölmilliardärs Michail Chodorkovskij nicht unplausibel erscheint: Dieser wurde wegen Steuerhinterziehung und Betrug 2005 zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt, während andere, politisch unverdächtige Oligarchen unangetastet blieben. 2008, 7. März: Dmitrij Anatol'evič Medved'ev wird mit 70,2% der Stimmen zum Präsidenten gewählt und am 7. Mai 2008 angelobt. 2008, 8. Mai: Vladimir V. Putin wird zum Ministerpräsidenten erklärt. 2009, Jänner: Gaskrise mit Ukraine und in der Folge mit Europa. Wegen Nichtbezahlung der Schulden reduziert Russland die Gaslieferungen in die Ukraine und beschuldigt diese in der Folge, für Europa bestimmtes Gas illegal abzuzweigen. Die Ukraine bestreitet diese Vorwürfe. Am 12. Jänner unterschreibt die Ukraine schließlich einen Vertrag, demzufolge internationale Beobachter den Gasfluss beobachten würden, ab 13. Jänner fließt wieder Gas Richtung Europa. Zur Wirtschaftsentwicklung seit 1990 Die Wirtschaftslage zu Beginn der Perestrojka war alarmierend, die Qualität der Produktion schlecht (extensiv anstatt intensiv), es kam zu einer schleichenden Inflation. Gorbačëv wollte die Wirtschaft dezentralisieren und stärkeres Engagement auf den einzelnen Niveaus der Wirtschaft anstelle von Planung von „oben“. Die desaströse Landwirtschaft hätte durch Formen von kollektiver Pacht mit der Gewährung der Beibehaltung von Erträgen angekurbelt werden sollen, eine neue Form des Unternehmertums entstand mit den Kooperativen, die rechtlich den Staatsbetrieben gleichgestellt wurden und die ebenfalls ihre Erträge (bei freier Preisgestaltung) beibehalten durften. 3 Die Reformen griffen allerdings nicht, vielmehr gab es nach den Parametern der Volkswirtschaft sogar einen noch größeren Niedergang (mit galoppierender Inflation und erheblichen Teuerungen). Unmittelbar wahrnehmbar wurde dies mit immer akuterem Konsumgütermangel (Seife, Waschpulver, Zahnpasta, Schuhe, Strümpfe etc.) und langen Warteschlangen vor den Geschäften. Die Gründe lagen dafür nicht allein bei falschen volkswirtschaftlichen Maßnahmen, auch die Atomkatastrophe von Černobyl 1986 und das verheerende Erdbeben in Armenien 1988 erschütterten die ohnehin schwache Wirtschaft der Sowjetunion. Die Außenhandelsbilanz verschlechterte sich dramatisch wegen fallender Preise für traditionell wichtige Exportgüter wie Erdöl und das preislich dran gekoppelte Erdgas, Metalle etc., Gorbačevs Kampagne gegen den exorbitant zunehmenden Alkoholkonsum führte zu illegaler Alkoholproduktion, Schwarzmärkten und fehlenden Steuereinnahmen. Zumal das Scheitern des Versuches, Sozialismus mit Marktwirtschaft zu verbinden, auf allen Linien erfolgte, gab es wenig effektive Gegenstimmen, als unter El’cin radikalere marktwirtschaftliche Reformen unternommen wurden. Schon 1990 wurde per Gesetz Privateigentum, sogar ausländisches, wieder möglich, im Juli 1991 beschloss man, den Staatsbesitz in private oder kooperativ-genossenschaftliche Besitzverhältnisse umzuwandeln: Mehr als die Hälfte des Staatsbesitzes wurden binnen eines Jahres privatisiert. Unternehmen wurde die Anstellung von Lohnarbeitern erlaubt, in vielen Sparten wurden die Preise freigegeben. Aufgrund der „Schocktherapie“ von 1992 wuchsen die Preise innerhalb eines Jahres (1992) um das 26fache! Zugleich Konversion der Rüstungsindustrie in Konsumgüterproduktion, Kürzung der staatlichen Subventionen, Liberalisierung des internationalen Handels. Die Privatisierung erfolgte mittels Vouchers (Anteilsscheine am Staatsbesitz), die an alle Bürger Russlands (auch der Kinder) ausgeteilt wurden (mit einem Nominalwert von 10.000 Rubel). Da eine solche Aktion in der Geschichte des Landes beispiellos war und der überwiegende Teil der Bürger Russland keine Erfahrung mit marktwirtschaftlichen Prinzipien und „Geldarbeit“ hatte, kam es zu großen Skandalen: Investmentfonds, die Kapital oder Vouchers lukrierten und damit in Unternehmen gewinnbringend investieren sollten, lösten sich auf, nachdem sie das von den Bürgern anvertraute Geld ins Ausland transferiert hatten (schätzungsweise 24 Millionen Wähler wurden auf wirtschaftskriminelle Weise betrogen). Die Privatisierung endete im Juni 1994: 100.000 Unternehmen gingen in private Hände (in Form von Besitzanteilen) über, 40 Millionen Russen hatten nun Anteile an Unternehmen. In den folgenden Jahren wurde die Privatisierung fortgesetzt, 1998 waren 87% aller Unternehmen entstaatlicht und in Privatbesitz, was nicht allein ein beispielloser volkswirtschaftlicher Umschwung war, sondern gewiss auch stark die Mentalität der Bevölkerung beeinflusste. Tatsächlich aber bereicherte sich die politische Nomenklatur unter El’cin im Zuge der Privatisierung (Kritiker sprechen sogar von einem wirtschaftlichen Bürgerkrieg zwischen Nomenklatur und dem Rest der russischen Gesellschaft, in welchem eine Minderheit in 4 kürzester Zeit sehr reich wurde, ohne dass dies positive Auswirkungen auf die Volkswirtschaft und somit auch auf den Rest der Bevölkerung gehabt hätte. Die Privatisierung ließ eine neue Klasse entstehen, die im Volksmund die „Neuen Russen“ (novye russkie) genannt werden und deren zugeschriebene Merkmale Reichtum, Egoismus, Rücksichtslosigkeit und wertignorante Dummheit sind. Ein Kalauer machte aus privatizacija (Privatisierung) prichvatizacija („an-sich-Reissen“, zu russ. „chvatat’“ ‚raffen’). Die neureichen Russen kauften sich Immobilien in der ganzen Welt oder frönten ihrer Reiselust. Umgehend wurden sie zu Hauptfiguren in Witzen, womit sie auch in der Folklore an die Stelle der Parteibonzen rückten. Die monetäre Elite dieser neuen Klasse wird „Oligarchen“ genannt: Unter dem Schutz und der Billigung durch die El’cin konnten Teile der lukrativen exportorientierten Industrien (Buntmetalle, Erdöl) in private Hände gelangen (fragwürdige loan-share-Geschäfte zwischen Banken und Staat: der Staat erhielt Kredite gegen Pfand (Industrieanteile), die Kredite konnten nicht zurückgezahtl werden, die Banken erhielten die Anteile und veräußerten sie oft weit unter ihrem tatsächlichen Wert an „nahestehende“ Unternehmer. Die Privatisierung der Landwirtschaft hingegen ging viel langsamer vonstatten, obwohl der Grundbesitz auch in der neuen Verfassung von 1993 verankert war. Wenige Arbeiter in staatlichen Landwirtschaften hatten den Mut, Grundanteile zu erwerben (steigende Preise für Energie, Maschinen etc., wenig ertragreiche Betriebe), trotz ca. 280.000 kommerzieller bäuerlicher Betriebe sanken die Produktionszahlen in allen Bereichen der Landwirtschaft im Laufe der neunziger Jahre. Erst 2002 wurde ein auch im internationalen Vergleich modernes Gesetz über Grundbesitz erlassen. Obwohl der Westen finanzielle Zusagen an Russland machte, blieben große Investitionen aus: Das Volumen an Investitionen war geringer als beispielsweise in Peru oder im kommunistischen China (vgl. 36$ Auslandsinvestitionen pro-Kopf in Russland zwischen 1989 und 1996 gegenüber 266$ in ehemaligen Ostblockstaaten). Nur 1,6 % der Unternehmen waren Joint-ventures, aus ihnen gingen nur 5% der industriellen Produktion hervor. Der Grund für die Zurückhaltung liegt in der großen Korruption in den administrativen Strukturen und in der hohen Kriminalitätsrate. Eine groben Überblick über die Stagnation der Wirtschaft bietet die folgende Tabelle: Russland ist wirtschaftlich nach wie vor ein Entwicklungsland, dessen wirtschaftliches Niveau noch weit hinter dem der EU-Beitrittsländer 2004 liegt. Die galoppierende Inflation Anfang der neunziger Jahre konnte zwar unter Kontrolle gebracht werden, der Preis dafür waren aber monate-, sogar jahrlang nicht ausbezahlte Löhne oder Pensionen. 5 Nach einer sprunghaften Teuerung im September 1998 und einer Abwertung des Wechselkurses zum Dollar entschied sich die Regierung für stabilisierende Maßnahmen und zu größerer regulierender Einflussnahme auf die Wirtschaft, um die katastrophalen Folgen der Schocktherapie abwenden zu können, ein Kurs, der auch unter der Präsidentschaft von Vladimir Putin fortgesetzt wird. Seit 1998 gibt es allerdings jährliche Wachstumszahlen von ca. 6%, was zu einem großen Teil auf hohe Weltmarktpreise für Rohstoffe (Erdöl, Edelmetalle) und auf die Teuerung von 1998 zurückzuführen ist. Einige Reformen wurden erfolgreich in Angriff genommen (Grunderwerbsrecht, Senkung der Steuerlast, Entbürokratisierung), in seiner zweiten Ära wird Putin vor allem dafür sorgen müssen, dass die breite Masse der Bevölkerung wesentliche Verbesserungen ihres derzeit noch sehr niedrigen Lebensstandards bemerken wird (Gesundheitsversorgung, soziale Sicherheit, kommunale Dienste (Strom-, Wasserversorgung, Heizung). Am Land sind derzeit zwei Drittel der Haushalte ohne fließendes Wasser, 85% ohne Warmwasser, ¾ haben keine Zentralheizung. 6 Massenmedien seit 1985 Eine allgemeine, atmosphärische Liberalisierung, die nach 1985 zunehmend zu bemerken war, führte zunächst insbesondere dazu, dass JournalistInnen in vereinzelten Printmedien mutiger wurden, und Materialien veröffentlichten, für die man wenige Jahre zuvor noch auf Initiative von Parteigremien entlassen worden wäre. Zentrale Medien für diesen liberalen Ansatz, der im Zuge der Perestrojka immer klarer zum Ausdruck kommt, waren einerseits die monatlich erscheinende Literaturzeitschrift "Новый мир" - eine der sogenannten "dicken Zeitschriften" ("толстый журнал"), andererseits das illustrierte Wochenmagazin "Огонёк" ("Flämmchen") und insbesondere auch die Wochenzeitung "Московские новости" ("Moscow News"). Die Zeit seiner Zeitung habe etwa 1987 begonnen, meint etwa der damalige "Московские новости"-Chefredakteur Egor Jakovlev, der auch in den neunziger Jahren eine wichtige Rolle als Chefredakteur der liberalen Wochenzeitung "Общая газета" (ab 1992) spielen sollte. "Wir hatten es alle sehr eilig", meint Jakovlev und der damalige Vorwurf des Gorbačev'schen Chefideologen Aleksandr Jakovlev, jede Ausgabe würde so produziert, als ob sie die letzte wäre, sei absolut gerechtfertigt gewesen. Selbst bis 1989 sei es nicht unüblich gewesen, aus öffentlichen Einrichtungen angerufen und aufgefordert zu werden, einen Artikel nicht zu bringen, weil das "Probleme bringen würde", und wenn man es trotzdem tat, wurde man etwa zum Chefideologen oder zum Zentralkomiteevorsitzenden der KPdSU zitiert und gerügt. Zudem war immer wieder geplant gewesen, den Chefredakteur aus inhaltlichen Gründen zu feuern, konkret sollte Egor Jakovlev noch im August 1989 entlassen werden, was dann allerdings nicht umgesetzt wurde, da auch die Partei mögliche Reaktionen der in der späten Perestrojka-Zeit sehr aktiven Leserschaft befürchtete. 1991/1992 war es mit diesen offenen und klaren Zensurmaßnahmen seitens der offiziellen noch kommunistischen Politik vorbei, andererseits wurde es jedoch für die gesamte russische Printmedienlandschaft nötig, sich zu finanzieren, Investoren zu finden. Hauptinvestoren wurden Banken und große Industriekonzerne, die spätestens seit den Präsidentschaftswahlen 1996 (bei denen Boris El’cin - unterstützt von einer mächtigen Wahlkampagne mit aktiver Unterstützung mancher Medien wie etwa der auflagestarken Boulevardzeitung "Московский комсомолец" zum zweiten und letzten Mal zum Präsidenten gewählt worden war) auch ihren inhaltlichen und politischen Einfluss geltend machen wollten ("кто платит тот и музыку заказывает." – „Wer bezahlt, kann auch die Musik bestellen, die gespielt werden soll.“) Dies in einem qualitativen Unterschied zu westlichen, etablierten Medien, die über ausreichend Eigenkapital verfügen oder gesetzlich formal vor direkten Einflussnahmen geschützt sind und deshalb nicht in einem derartigen Abhängigkeitsverhältnis wie in Russland stehen bzw. stehen sollten. Ein weiterer Einschnitt war die wirtschaftliche Krise des August 1998, in folge derer zahlreiche Banken in ernste wirtschaftliche Schwierigkeiten kamen oder auch bankrott gingen und deshalb ihr Kapital u.a. aus Medienprojekten abzogen, was zur Schließung von Tageszeitungen ("Русский телеграф"), aber insbesondere von innovativen Zeitschriften ("На посту", "Столица", "Русский журнал") führte. Allerdings – und das ist von großer Bedeutung – entstanden in Folge dieser Krise zahlreiche Medienprojekte im Internet, die im virtuellen Raum praktisch kostenlos zu produzieren waren (keine Druck- und Vertriebskosten). Die unten angeführten wichtigen Medien der neunziger Jahre prägten die massenmediale Landschaft nach dem Ende der Sowjetunion entscheidend mit. Wobei hinzugefügt werden muss, dass sich Beginn der Ära Putin (August 1999 - Premierminister, Jänner 2000 Ausführender der Amtsgeschäfte des Präsidenten der RF, März 2000 Präsident der RF) einiges gewandelt hat, einige vormals von formal unabhängigen Medienmagnaten 7 kontrollierte Print- und elektronische Medien sind von Putin-nahen Unternehmen übernommen worden. Eine Situation, angesichts derer selbst der ehem. russische Presseminister Michail Lesin von einer vorhandenen Bedrohung für die Pressefreiheit sprach. "Сегодня" ("Heute"): Erschien zwischen 23. Februar 1993 und 17. April 2001. Integraler Bestandteil der Mediengruppe "MediaMOST" des Medienmagnaten und Bankiers Vladimir Gusinskij, der mittlerweile im Exil lebt. Eine liberal ausgerichtete Tageszeitung, die sich insbesondere in der Anfangsphase durch eine sehr avancierte Kulturberichterstattung auszeichnete, die aus Kostengründen allerdings 1996 eingestellt wurde. (Archiv der Jahre 2000 und 2001 unter http://www.segodnya.ru/) im Internet. Ebenfalls zur MediaMost-Gruppe zählt die Wochenzeitschrift "Итоги" ("Resümees"), die nach dem Vorbild westlicher Nachrichtenmagazine ab 1996 erschien, in inhaltlicher Kooperation mit dem amerikanischen "Newsweek". Mit der Übernahme von MediaMOST im April 2001 durch den Kremlnahen Gazprom-Konzern wurde praktisch die gesamte Redaktion von "Итоги" entlassen, die im Dezember 2001 eine neue Wochenzeitschrift "Еженеделный журнал" ("Wöchentliches Journal") auf den Markt brachten. Nach dem Aderlass der alten "Итоги" hat die Zeitschrift an Bedeutung verloren. ("Итоги" im Internet - auch mit Artikeln vor 2001: http://www.itogi.ru/ , "Еженеделный журнал": http://www.ej.ru/) "Коммерсантъ daily" ("Händler") mit hartem Zeichen ("ъ") am Ende, das orthographisch auf eine gleichnamige Zeitung im vorsowjetischen Russland hinweist. Gegründet von Vladimir Jakovlev, dem Sohn des "Московские новости"-Chefredakteurs Egor Jakovlev, erscheint ab Jänner 1990 zunächst die Wochenzeitung "Коммерсантъ weekly", ab 1992 die Tageszeitung "Коммерсантъ daily". Die Zeitung, die sich – daher auch die Bezeichnung – auf Wirtschaft konzentrieren wollte, wurde in folge auch in anderen Gebieten wie Politik und Kultur zu einem der wichtigen Printmedien des Landes. Sie hat sich zweifelsohne als Qualitätsmedium etabliert und hält bei einer Auflage von 100.000. Mittlerweile legendär ist der sogenannte "стиль Коммерсанта", der sich durch zynische Berichterstattung und sehr wortspielreiche Artikeltitel - die jeweils von der Redaktion festgelegt werden. (Genaueres zur Geschichte von "Коммерсантъ": http://www.kommersant.ru/about.html) Was Fernsehsender betrifft, sind insbesondere zwei Privatsender zu erwähnen, die 2000/2001 mit der Ära Putin entweder durch feindliche Übernahmen stark verändert wurden, bzw. gänzlich abgeschalten wurden. "НТВ", ehemals Teil der MediaMOST-Gruppe, war für die Fernsehästhetiken der Neunziger prägend und entwickelte sich zu einem qualitativen Privatfernsehsender, der in ganz Russland empfangen werden kann. Zu wichtigen Fernsehsendungen, die von "НТВ" entwickelt worden, zählten "Куклы" ("Puppen") - eine "Spitting image"-Variante, in der vor allem russische PolitikerInnen durch den Kakao gezogen wurden, die Krimiserie "Улица разбитых фонарей" ("Die Straße zerschlagener Laternen"), die Sonntagabend-Politsendung "Итоги" mit dem wetternden Chefmoderator Evgenij Kiselev, 1999-2001 vor allem gegen Putin. Mit der Übernahme von MediaMOST durch Gazprom im April 2001 wurde ein Großteil der Belegschaft von "НТВ" ausgetauscht, Kiselev ging zum Privatsender "ТВ6", dem 2003 die Lizenz entzogen wurde. Vorrangiges Ziel dahinter war allerdings zweifellos die mediale Entmachtung des Medienmagnaten und „prototypischen“ Oligarchen Boris Berezovskij, der nach Putins Wahl zum Präsidenten diesen oftmals frontal attackiert hatte. "ТВ6" selbst hatte sich durch eine sehr zeitgenössische Ästhetik ausgezeichnet, wie durch teils mittlerweile in Russland legendäre Trashfernsehsendungen westlichen Stils wie z.B. "Знак качества" ("Qualitätszeichen", beliebige sozial-exhibitionistische Gäste konnten sich eine Minute lang selbst porträtieren), "Дорожный патруль" ("Wegpatrouille", Verbrechensfernsehen) und auch "За стеклом" ("Hinter Glas", die russische "Big Brother"-Variante). Auf dem Printsektor gibt es eigentlich keinen einheitlichen Informationsraum mehr: Die wenigen überregionalen Zeitungen haben nur relativ geringe Auflagen (Argumenty i fakty 8 Mio. (Boulevard), Komsomolskaja pravda (6 Mio), Moskovskij Komsomolec (4,5 Mio), Ekspress-gazeta (3,5 Mio), Trud (ehem. Gewerkschaftszeitung, heute Gazprom), Izvestija (ehemaliges Regierungsorgan der Sowjetunion), Pravda (ehemalig. Parteiorgan der KpdSU) (zw. 1 u. 2. Mio) 8 Auf regionaler und lokaler Ebene existiert eine wirklich unübersehbare Anzahl von Zeitungen, die allerdings meist in ihrer politischen Berichterstattung von der örtlichen Administration beeinflusst werden. Die großen Fernsehkanäle ORT (Pervyj kanal) und RTR (Rossija) sind mehrheitlich in Staatsbesitz, NTV ist im (Mehrheits-)Besitz des staatsnahen Unternehmens Gazprom, das auch das TV-Netzwerk TNT ökonomisch kontrolliert. Daneben die noch wirklich „privaten“ Kanäle STS, AST, Ren-TV und Mus-TV (30% Quote), die sich jedoch politisch nicht artikulieren. DAS FERNSEHEN IST DEMNACH GLEICHGESCHALTET. Im Radio sieht die Lage etwas bunter aus, da hier in der Form zumindest zweier Kanäle, Radio Svoboda und Echo Moskvy auch regimekritische Standpunkte zu Wort kommen. Sie sind auch über Internet zu empfangen: und http://www.svobodanews.ru/ und http://www.echo.msk.ru/ Einige aktuelle Links auf Internet-Zeitschriften: http://www.gazeta.ru/ ; http://www.grani.ru/ ; http://www.polit.ru/ ; http://www.litera.ru/ Einen sehr gut fassbaren Überblick über die jüngsten Entwicklungen in russischen Politik, Gesellschaft und Wirtschaft bieten die online erscheinenden Russlandanalysen: http://www.russlandanalysen.de 9 Veränderungen in der russischen Literatur Die üblichen Periodisierungen der sowjetrussischen Literatur in „Tauwetter“ (ottepel', 1953– 1962), „Stagnationszeit“ (zastoj, 1964–1985) und Perestrojka (1986–1991) verdanken sich den Veränderungen in der sowjetischen Politik, bedingt sind sie aber auch für die Literatur von Bedeutung. Nach dem Tod Stalins wurden die Kriterien des Sozialistischen Realismus zwar nicht mehr eingemahnt und Verstöße gegen dessen Normen nicht mehr in aller Härte verfolgt, bis zur Perestrojka jedoch blieb die Literatur ein Feld von politischer Auseinandersetzung, welches vor allem über Zensurinstanzen geregelt wurde. Um ein Werk offiziell publizieren zu können, musste es verschiedene Prüfinstanzen passieren, von den Lektoren in den allesamt staatlichen Verlagen bis zur Hauptverwaltung für Literatur- und Verlagsangelegenheiten ("Glavnoe upravlenie po delam literatury i izdatel’stv"), die schlechthin jedes Druckwerk zu begutachten hatte. Wer auf offizielle Veröffentlichung Wert legte, musste gleichsam von vorne hinein mit diesen Instanzen rechnen, was einer Verinnerlichung der offiziellen Kritik bzw. der Selbstzensur gleichkam. Bei den LeserInnen bewirkte die Rezeption von publizierten Werken eine Art von Zwischen-den-Zeilen-Lesen, denn verschiedene Themen und Kritikpunkte konnten nur verhüllt bzw. in sogenannter "äsopischer" Sprache (eine Ausdrucksweise, deren Oberfläche unverfänglich ist, deren semantische Tiefe aber zweideutig aufgefasst werden kann) zum Ausdruck gebracht werden. Die Kriterien für das Erscheinen waren aber keineswegs transparent oder immer vorhersehbar, dennoch war mit ihnen zu rechnen. Durch die staatliche Einflussnahme auf das gedruckte bzw. öffentlich geäußerte Wort bildete sich eine permanente Auseinandersetzung zwischen den Möglichkeiten von offizieller und inoffizieller Literatur, von offener und heimlicher Ausdruckweise heraus, die das kulturelle Leben bis weit in die Perestrojka hinein prägte. Durch die politische Kontrolle über das Schrifttum wurde auch die in Russland seit dem 19.Jh. forcierte Auffassung von Literatur als Medium von moralischen und weltanschaulichen Auffassungen perpetuiert, welche die ethischen Aspekte von Texten vor deren ästhetische Gesichtspunkte stellte. Dies betraf die offizielle wie die inoffizielle Literatur gleichermaßen, da sich über die Literatur aufgrund des Fehlens von anderen Foren ideologische Auffassungen artikulieren mussten. Die von Gorbačev unter der Losung Glasnost' ("Transparenz, Öffentlichkeit") initiierte Öffnung des kulturellen Raums bedeutete die Auflösung der veränderlichen Grenzen zwischen dem öffentlich "Sagbaren" und dessen inoffizieller Kehrseite. Damit konnten de dicto alle Stimmen laut werden, de re jedoch bestimmen nun Sachzwänge (des Marktes, der Konjunktur, des literarischen Feldes) über die Möglichkeiten einer Veröffentlichung. Gorbačev erwartete von den Schriftstellern und Intellektuellen Engagement für Umgestaltung der Gesellschaft, dieser Einladung folgten tatsächlich einige prominente Autoren wie Džingis Ajtmatov, Valentin Rasputin, oder, später, Eduard Limonov, die Politiker aller Couleurs wurden. Die Generation der "Sechziger" (šestidesjatniki), also der in den dreißiger Jahren Geborenen, die das „Tauwetter“ und die Stagnation erlebt hatten und optimistisch an die verändernde Kraft der Literatur bzw. der Publizistik glaubten, erreichte in der Perestrojka kulturelle Schlüsselpositionen (etwa in den Redaktionen von Zeitschriften wie Ogonёk oder Literaturnaja Gazeta oder den "dicken" Literaturzeitschriften wie Novyj Mir oder Znamja, in denen nun auch bislang unterdrückte Werke der europäischen Literatur erscheinen konnten: Kafka, Orwell, Joyce etc.) Konkret bedeutete die Perestrojka auch, dass bislang verbotene oder nur einem kleinen Kreis von kulturell Privilegierten zugängliche Werke erschienen, was zur verspäteten Publikation von Samizdat oder Tamizdat-Literatur führte. So erschien Boris Pasternaks Roman Doktor Živago erstmals 1987 in Russland, obwohl er bereits 1957 auf Italienisch publiziert wurde und Pasternak 1958 den Nobelpreis erhielt (den Pasternak allerdings ablehnte). Nun erschienen auch auf sowjetischem Papier erstmals die Werke der damals noch 10 lebenden Nobelpreisträger Aleksandr Solženicyn („Archipel Gulag“, „Im ersten Kreis der Hölle“, „Krebsstation“ u.a.) und des Lyrikers Iosif Brodskij (Joseph Brodsky). Solženicyn entschloss sich schließlich 1994 zur (triumphalen) Rückkehr nach Russland, wo er 2008 verstarb, während Brodskij in New York 1996 verstarb (begraben in Venedig, Insel S. Michele). Ähnliches gilt für zahlreiche andere AutorInnen und Autoren, deren Texte von der westlichen Slawistik längst kanonisiert waren, dem Gros der russischen Leser aber weitgehend unbekannt geblieben waren, weil sie entweder nur geringen Auflagen gedruckt und oft nur privilegierten Käuferschichten oder gar nur Ausländern in Devisenläden erhältlich waren (etwa Osip Mandel'štam, Marina Cvetaeva, Anna Achmatova, Ivan Bunin, Michail Bulgakov, Evgenij Zamjatin, Vladimir Nabokov, Andrej Platonov, die Oberiuten um Daniil Charms und Aleksandr Vvedenskij u.v.a.). Im Zuge der radikalen marktwirtschaftlichen Reformen unter der Präsidentschaft von El'cin kam es jedoch auch zu einer grundlegenden Veränderung am Buchmarkt selbst. Das Verlagswesen verlor mit der staatlichen Kontrolle zugleich auch substantielle finanzielle Unterstützung und musste sich nach kommerziellen Kriterien richten. Das Leserinteresse bestimmte nun die Verlagsprogramme, was einen Boom von sog. Massen- oder Trivialliteratur (zuerst aus dem Westen, dann zunehmend von russischen AutorInnen) nach sich zog, letztendlich jedoch auch zu einer Differenzierung des Verlagswesens und des literarischen Feldes in Ziel- bzw. Interessensgruppen führte. Die territoriale Ausdehnung Russlands und ein noch wenig effizientes Vertriebssystem ließen rasch auch die Bedeutung des Internet als Medium von literarischen Texten erkennen: Mittlerweile organisiert sich das literarische Leben stark auch über das Internet (über Wettbewerbe, Diskussionsforen, Ratings, Sites, online-Bibliotheken, Blogs, Foren etc.). Die (aus westlicher Sicht) "Normalisierung" des kulturellen Lebens bedingte auch die Emanzipation der künstlerischen Literatur von ideologischen bzw. gesellschaftspolitischen Fragen, für die nun andere Medien (v.a. die Massenmedien Rundfunk und Fernsehen) die Plattform abgeben. Politische, gesellschaftskritische, soziologische, ökologische, philosophische Fragestellungen können nun direkt geäußert werden und bedürfen keiner literarischen Verpackung, um eine Öffentlichkeit erreichen zu können. Zumal unter der "Normalisierung" des literarischen Lebens auch eine Pluralisierung zu verstehen ist, ist es innerhalb dieser knappen Zusammenfassung unmöglich, eine die Breite des literarischen Spektrums erfassende Darstellung zu geben. Daher sei hier nur kurz auf Tendenzen hingewiesen, die mit der totalitären Vergangenheit in Zusammenhang stehen. Die erwähnte Herausbildung einer Massenliteratur unter marktwirtschaftlichen Bedingungen unterscheidet sich von der massenhaft produzierten Literatur der Sowjetzeit dadurch, das nicht mehr eine politische Zielvorgabe die Orientierung abgibt, sondern der Geschmack der LeserInnen, der natürlich von deren Lebensumständen geprägt ist. Unter dieser Perspektive ermöglicht die Betrachtung von sogenannter Trivialliteratur auch Rückschlüsse auf die gesellschaftspolitische Situation. Der außergewöhnliche Erfolg der Kriminalromane von Aleksandra Marinina, deren Heldin eine Frau als Kriminalbeamtin ist, verdankt sich wohl auch dem aktuellen Wandel der Rolle der Frau in Russland; Fragen der Gender-Diskussion (kulturell bedingte Geschlechtsidentitäten, -Identifizierungen) werden mit der Darstellung von kriminellen Vorgängen im zeitgenössischen Russland verbunden und so einer breiten Leserschaft nahe gebracht. Die meist in einem vorrevolutionären Russland spielenden Detektivromane von B. Akunin hingegen verdanken ihren Erfolg wohl dem Umstand, dass in ihnen die Sowjetperiode ausgeklammert bleibt und mit einer geschickten Kombinationstechnik von Schreibweisen des 19.Jhs. ein imaginäres (paralleles) Russland geschaffen wird, in welchem die Leser die Übeltäter ausfindig machen dürfen (was allemal einfacher ist als in der aktuellen Gegenwart). 11 Das Russland der Ära El'cin und Putin, welches seine großen wirtschaftlichen Probleme mittels der Ideologie vom Wiederanknüpfen an seine einstige "präsowjetische" Größe zu überspielen hofft und große Summen in Repräsentationsobjekte wie die neu errichtete Erlöserkathedrale investiert, hat die Aktualität und Relevanz von literarischen Schreibweisen befördert, die im gegenwärtigen russischen Diskurs gerne als postmoderne Schreibweisen bezeichnet werden. Mit "postmodern" wird als Begriff eine Abgrenzung von traditionelleren "realistischeren" Erzählmustern geprägt, die russische "postmoderne" Literatur beschäftigt sich bevorzugt mit der Bedeutung von kulturellen Mustern und Stereotypen sowie deren Funktionieren in einer Gesellschaft. Der Erfolg der Postmoderne in Russland, der auch in zahlreichen literatur- und kulturwissenschaftlichen Publikationen seinen Niederschlag findet, ist nicht nur auf eine immanente Polemik mit der Realitätsauffassung des Marxismus zurückzuführen, die den Triumph der sozialen Praxis, die die Realität umgestalten wird, proklamiert, sondern auch auf eine Auseinandersetzung mit der Praxis der sozrealistischen Zeichensysteme, die (von jeglicher Realität abgekoppelt) utopisch-ideale Wirklichkeiten konstruierte. Die Postmoderne geht im Gegensatz dazu davon aus, dass eine Annäherung an Realitäten nur über Zeichen, Bilder und Namen erfolgen könne und verlagert das Interesse auf diskursive Verfahren, die (Schein)Realitäten herstellen. Um diese Problematik anschaulich vor Augen zu führen, werden in der Postmoderne mit Vorliebe Verfahren verwendet, die das Bruchstückhafte betonen und Zitate, readymades, Collage oder Bricolage verwenden. (Christine Engel) Aktuelle Autoren der Postmoderne wie Viktor Pelevin oder Vladimir Sorokin können dabei auf die Tradition des sowjetischen Untergrunds seit den späten sechziger Jahren zurückgreifen, als die sogenannte Soc-Art und der Moskauer Konzeptualismus sich künstlerisch mit dem Funktionieren von Texten und Bildern in einem Gesellschaftssystem befasst haben. Während diese Tendenzen damals marginal waren, da sie vor allem im kleinen Kreis von Insidern in Moskau stattfanden und mit einer kleinen Verzögerung im Westen rezipiert wurden (wie die Künstlerkarriere von Il'ja Kabakov zeigt), landen Viktor Pelevin und Vladimir Sorokin mit ihren Büchern mittlerweile Bestsellererfolge. 12 Film Die grundsätzlichen Tendenzen kultureller und gesellschaftlicher Entwicklungen gelten auch für die sowjetischen und postsowjetische Filmindustrie. Eine sukzessive Auflösung der ökonomischen Basis ging zunächst mit einer Liberalisierung und dem Verlust staatlicher inhaltlicher Kontrolle einher. Entwicklung des sowjetischen/russischen Kino der letzten eineinhalb Jahrzehnte, zwei Aspekte: Produktion Bereits Anfang der Achtziger mehrten sich Vorzeichen einer Krise, das Kino, das zuvor für den Staat gewinnträchtig gewesen war, machte Verluste (die staatlichen Ausgaben waren höher als die Boxoffice-Einnahmen) . Insbesondere betraf dies die "nationalen" Filmstudios (in besonderem Ausmaße das georgische - trotz der allgemeinen hohen künstlerischen Einschätzung), auf Kosten der zentralen Filmstudios Mos- und Lenfilm wurden die nationalen Filmstudios in erhöhtem Ausmaß subventioniert. Zum Zeitpunkt der Perestrojka nahmen zudem die Besuchszahlen merklich ab - womit man sich damals von staatlicher Seite aber überhaupt nicht beschäftigte, die Anzahl der Filme, die von mehr als 5 Millionen Besuchern im Kino gesehen wurde, nahm sukzessiv deutlich ab. Bei einem damaligen durchschnittlichen Kinopreis von 0,3 Rubel (wovon 8% an die Filmstudios zurückflossen) war ein Film erst ab 8,5 Millionen Besuchern für das Filmstudio gewinnbringend, für die gesamte Filmindustrie erst ab 17 Millionen. Allerdings sank etwa der Prozentanteil jener Filme, die von mehr als 20 Millionen Besuchern gesehen worden waren, merklich, von 1986 auf 1987 von 14 auf 3%. Die Liberalisierung in der späten Perestrojka-Zeit, die die Künstler vom Diktat der Partei befreite, führte zu einem sprunghaften Ansteigen unabhängiger Initiativen und 88/89 entstanden die ersten Filme, die von unabhängigen Studios und Kooperativen hergestellt worden waren. Diese unabhängigen Studios (~200) produzierten in 3-4 Jahren einige hundert Spielfilme, mit dem Höhepunkt 1990-91. Insgesamt wurden 500 Filme hergestellt, die teils schon von Banken und Kooperativen, aber auch mit Schwarzgeld finanziert worden waren, nur noch 10% der Filme waren zu diesem Zeitpunkt mit staatlichen Mitteln finanziert worden. Allerdings folgte in diesem Fall aus der großen Quantität eine ebensolche Qualität. Ab 1992 stiegen die Kosten für Filmproduktionen sprunghaft an (50-70 Mill. RUR), andererseits war der Vertrieb oftmals schwierig - was allerdings eben nicht mehr ideologische, sondern wirtschaftliche Gründe hatte. Auch die Zahl der Produktionen ging merklich zurück: 178 (1992), 137 (1993), 68 (1994), 46 (1995), 35 (1996). Ein leichter Anstieg war erst wieder ab 1997 zu bemerken (1997: 48), 1998 wurde ca. 60 Filme gedreht, Tendenz in den folgenden Jahren steigend. Distribution Im Verlaufe des 20.Jh. war die Anzahl an Kinofilmprojektoren sukzessive gestiegen. Ab 1987 kann allerdings von Anfang vom Ende des sowjetischen Filmdistributions- und -vorführwesen gesprochen werden, was sowohl mit inneren, als auch mit äußeren Gründen zu tun hat. Einerseits hatte der Staat eine Preissteigerung der Kinokarten verhindert und derart quasi Besuchern etwas dazugezahlt, andererseits wäre zur Abdeckung der Ausgaben und für Investitionen (um etwa technisch am letzten westlichen Stand zu bleiben) mehr Geld nötig 13 gewesen. 1987 gab es in der SSSR etwa lediglich 2 Kinos mit Dolby-Sound (Rossija, Oktjabr'). Verbunden mit den Preissteigerungen nach 1991 kam es auch zu einer kontinuierlichen wie drastischen Verteuerung der Kinokarten. In Folge nahm der Besuch drastisch ab: Waren 1991 noch 1.5 Milliarden Karten verkauft worden, waren es 1992 600 Millionen, 1993 300 Millionen. Erst in den späten Neunzigern - u.a. mit verbesserter Ausstattung - nahm der Kinobesuch wieder zu. Auch wenn im Vertrieb zu einem Großteil Hollywood'sche Blockbuster am Programm waren. Es war und ist wirtschaftlich effizienter, Hollywood'sche Filme, die dank großangelegter internationaler Kampagnen eine gewisse Bekanntheit erlangen, zu zeigen, als Werke unbekannterer russischer Cineasten, hinter denen in der Regel keinerlei vergleichbare Kampagne steht. Aufbruchsstimmung am Beispiel von "Assa" (1988) Zu zwei exemplarischen Filmausschnitten aus Sergej Solov'evs "Асса" ("Assa", 1988), der auch von der Anzahl der Kinobesucher relativ erfolgreich war (17.8 Millionen Besucher, damals nur der 13. Platz in der sowjetischen Hitliste von 1988), der allerdings eine Generation mitprägte und in dem die inhaltliche Liberalisierung deutlich wird - erstmals werden Elemente der noch "nichtoffiziellen", "nonkormistischen" Kunst als prägendes Stilelement benutzt. Einerseits mit dem Soundtrack (erstmals waren sowjetische Pop- und Rockgruppen wie Akvarium, Kino in einem Werk der sowjetischen Massenkultur präsent), andererseits wurde auch auf die bildende Leningrader Kunst zurückgegriffen, unter anderem wurden – was damals zweifelsohne sensationell war, zur Visualisierung der turbulente Träume des jugendlichen Helden des Filmes - Bananan – Underground-Filme des sogenannten "Паралелльное кино" ("Paralleles Kino") verwendet. Ein zentraler Dialog aus Assa zwischen Bananan und der weiblichen Hauptfigur Alika über den Sinn von Bananans Leben lässt sich, wie auch vieles andere im Film, als die Einstellung einer ganzen Generation auffassen, eine Generation, die der Moskauer Autor Viktor Pelevin Ende der Neunziger im gleichnamigen Roman als "Generation П" (P etwa wie Pepsi...) bezeichnet. "Алика: если ты нормальный, ты же живешь неестественной жизнью./ Бананан: а я вообще не живу жизнью. жизнь грустна. работа - дом. работа - могила. я живу в заповедном мире моих снов. а жизнь, что жизнь: практически жизнь это только окошко, в которое время от времени выглядываю./Алика: а что там видно? Бананан: так, так ни фига. муть всякая." ("alika: bist doch normal und lebst so ein unnatürliches leben./bananan: ich lebe eigentlich überhaupt kein leben. das leben ist traurig. arbeit, dann nach hause. arbeit, dann ins grab. ich lebe im museum meiner träume. aber leben, was ist das leben: praktisch nur ein fensterchen, aus dem ich von zeit zu zeit hinausblicke./alika: und was sieht man da? /bananan: na ja, überhaupt nichts. lediglich düsternis.") Bananan wird schließlich von seinem Alikas mafiösen Lebensgefährten ermordet, und um seine Stelle als Hotelmusiker bewirbt sich in der letzten Szene des Filmes der legendäre sowjetische Rockmusiker Viktor Coj, Leadsänger von Кино. Er befände sich in einer furchtbaren Lage, meint die Verwaltungsbeamte des Hotels, weil er über kein Diplom einer Musikhochschule verfüge, keinerlei anderwertige Bestätigungen vorweisen könne. Dennoch darf er vorspielen. 14 In der letzten Szene des Filmes spielen Coj und Band ein programmatisches Lied. Zunächst befinden sich die Musiker in der Hotelhalle, ein Kameraschwenk zeigt aber mitten im Lied, dass die Gruppe in der Tat vor Tausenden begeisterten ZuseherInnen spielen, dass mit dem "Wir" des Liedtextes nicht bloß die Musiker, sondern eine ganze Generation gemeint ist: вместо тепла зелень стекла, вместо огня - тэн. из сетки календаря выхвачен день. красное солнце сгорает дотла, день догорает с ним, на пылающий город падает тень. anstelle von wärme, grün des glases anstelle von feuer, schatten aus dem kalender ist ein tag herausgerissen die rote sonne verbrennt bis auf den grund der tag verbrennt mit ihr und auf die staubige stadt fällt schatten. перемен требуют наши сердца, перемен требуют наши глаза. в нашем смехе и в наших слезах и в пульсации вен... перемен, мы ждем перемен. veränderungen verlangen unsere herzen veränderungen verlangen unsere augen in unserem lachen und unseren tränen und im pulsieren der venen veränderungen, wir warten auf veränderungen электрический свет продолжает наш день и коробка от спичек пуста, но на кухне, синим цветком, горит газ. сигареты в руках, чай на столе,эта схема проста. и больше нет ничего - все находится в нас. [...] elektrisches licht verlängert unseren tag und die zündholzschachel ist leer aber in der küche brennt in blauer farbe gas zigaretten in der hand, tee am tisch dieses schema ist einfach und sonst gibts nicht mehr - alles ist in uns. Neue ideologischen Vorgaben in der zweiten Hälfte der Neunziger Auch wenn sich die postsowjetische Massenkultur tendenziell dem dominierenden unpolitischen Gestus westlicher Popkulturen angenähert hat, lässt sich die Veränderung des ideologischen Zeitgeistes im Laufe der Neunziger insbesondere an deren Rezeption ablesen. In besonderem Maße trifft das auf den russischen Film zu, ab Mitte der neunziger Jahre wurden zunehmend Spielfilme produziert, die – und deren Erfolg – sich eindeutig vor dem Hintergrund einer entstehenden neuen russischen Ideologie verstehen lassen. Explizit trifft dies auf Aleksandr Rogožins "Особенности национальной охоты" ("Die Besonderheiten der nationalen Jagd", 1995) bzw. "Особенности национальной рыбалки" ("Die Besonderheiten der nationalen Fischerei", 1998) zu, Filme, in denen nationale Stereotypen zelebriert werden, aber auch auf Nikita Michalkovs "Сибирский цирюльник" ("Der Barbier von Sibirien", 1999), der u.a. zeigt, dass die "nationale Idee" offensichtlich in den Genen liegt. Aber auch institutionell wurden Ende 1997 mit der Übernahme des Vorsitzes des Sojus kinematografistov durch den Regisseur und Kulturpolitiker Michalkov auch institutionell die Weichen für ein neues nationales Kino gestellt. Auf dem 4. Kongress des Verbandes im Mai 1998 machte Michalkov schließlich auch die neue politische Linie des Verbandes deutlich, trat für eine Synchronisierung der Rettung von russischem Kino und russischem Vaterland ein: "Die Wiedergeburt des Kinos ist eine Frage der nationalen Sicherheit", der Zuseher werde für Filme zahlen, die erfüllt von Liebe zum Vaterland seien und den einfachen russischen Menschen verherrlichten. Derartige Filme würden in Hinkunft auch vom Fonds des Verbandes subventioniert werden." 15 Link: Sehr umfangreiche Informationen über den sowjetischen bzw. russischen Film finden sich in "Kirill & Mefod" Kino-Enzyklopädie: http://mega.km.ru/cinema/ Literaturhinweis: Кудрявцев, Сергей (1998): "Свое кино". Дом Ханжонкова. Москва. (Bei Herwig Höller nachfragen) 16 Popkultur Aufgrund der zunehmenden Vielfalt der Pop/Rock/Techno usw.-kulturen in Russland ist ein historischer Überblick über die letzten eineinhalb Jahrzehnte schwer zu geben. Grundsätzlich kann gesagt werden, dass sich im letzten Jahrzehnt eine äußerst vielfältige und sehr aktive Popmusikszene gebildet hat, die teils nach marktwirtschaftlichen Kriterien ausgerichtet ist. Diesbezüglich ist insbesondere in Moskau und St. Petersburg die seit Mitte der neunziger Jahre entstandene Klubszene von zentraler Bedeutung, die eigentlich zum zentralen Auftrittsort avancierte. Interessant dabei erweist sich die Tatsache, dass obwohl St. Petersburg und insbesondere Moskau zentrale Vermittlungsorte (aus Gründen eines traditionellen kulturellen Zentralismus und der Konzentration des Kapitals und damit auch der meisten Plattenfirmen und Medien) der russischen Popmusik sind, eine deutliche Mehrheit der Musikschaffenden aus der Provinz kommt. Die Popmusik dürfte der am meisten – im neutralen Sinne – "provinzielle" Bereich russischen Kulturschaffens sein. Während in den Neunzigern sich die russische Popkultur frei von staatlich-ideologischen Vorgaben entwickeln konnte, sah die Situation Anfang der Achtziger noch gänzlich anders aus, gab es bis in die späten Achtziger staatliche Verfolgungen der Rockszene. In den späten Siebzigern/frühen Achtzigern war eine aktive Rockkultur im Underground entstanden, der mit der Verfügbarkeit von Tonaufnahmegeräten ab 1981/82 auch immer weitere Verbreitung fand, doch ab 1984 schlug der Staat zurück. (Nach Кушнир - Literaturhinweis siehe unten) "Verordnung der Kulturverwaltung der Stadt Moskau vom 28.9.1984. Zur Verstärkung des Kampfes mit dem Einfluss der bourgeoisen Ideologie bzw. zur Erhöhung des ideell-künstlerischen Niveaus von "Vokal-Instrumentalensembles" ("ВИА" "вокально-инструментальный ансамбль") Rockgruppen und Diskotheken, der Organisation der gültigen Kontrolle dieser Kollektive, was Inhalt und Qualität betrifft, empfehlen wir, in Moskau das Abspielen von Schallplatten, KompaktKassetten, Videoklips, Plakaten und anderen Produkten zu verbieten, die das Werk folgender westlicher Gruppen und Interpreten wiedergibt: /75 Gruppen darunter: AC/DC, Black Sabbath, Iron Maiden, Who, Talking Heads, Michael Jackson, Duran Duran, Six Pistols, Kraftwerk, Culture Club... Ausgehend von der Tatsache, dass sich in letzter Zeit das Interesse ausländischer Touristen zum Werk einiger Amateurgruppen "verschärft" hat, und auch der Tatsache der Radioübertragung von Werken in westlichen Organen, erachten wir es als notwendig, in Moskau das Abspielen von Aufnahmen von Gruppen, in dessen Werk ein verzerrtes Bild der sowjetischen Wirklichkeit zugelassen wird bzw. die unserer Gesellschaft fremde Ideale und Interessen vertreten werden, zu verbieten. /37 Gruppen Es ist notwendig anzumerken, dass die angeführte Information über ausländische Gruppen sehr schnell veraltert, denn die Mehrzahl der westlichen Gruppen befindet sich in direkter Abhängigkeit von der politischen Konjunktur und ist fähig seine ideelle Ausrichtung grundlegend zu ändern um der Nachfrage des 17 Marktes und den sozialen Aufträgen westlicher Politiker zu entsprechen, daher kann die vorliegende Liste nicht vollständig sein. Daher wird interessierten Organen empfohlen sich in regelmässigen Abständen mit Publikationen wie "Melody Maker", "New Musical Express", "Billbord" und anderen Musikzeitschriften vertraut zu machen, und auch Werbeexemplare von Schallplatten westlicher Staaten anzuhören, die "Melodija" zur Verfügung gestellt werden. Erst 1987 kam es zum Ende der Verfolgungen, die oft mit der Einberufung in die Armee oder auch der Einweisung in Irrenanstalten endete. Das Ende hatte dabei offensichtlich weniger mit der Durchsetzung liberalerer Ansichten zu tun, als mit der Tatsache, dass mit dem Aufkommen von Videorekordern von offizieller Seite westliche Videos und Filme wie "Emmanuelle" ("Propagandierung von Sex"), "Der Pate" ("Propagandierung einer westlichen Lebensart"), und andere Filme als "Propagandierung von Gewalt" als bedrohlicher empfunden wurden. Literatur: Кушнир, А. (2000): 100 магнитальбомов советского рока. Москва. (Bei Herwig Höller nachfragen) 18 Bildende Kunst An dieser Stelle sei lediglich auf den ökonomischen und sozialen Hintergrund der Entwicklungen insbesondere in Moskauer bildenden Kunst eingegangen. Vorgeschichten: Staatliche Künstlerverbände & "russischer Boom" Im krassen Unterschied zur Zeit danach spielte die Mitgliedschaft in staatlichen Künstlerverbänden zu sowjetischen Zeiten eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Ohne eine derartige Mitgliedschaft (bzw. ohne eine andere (Voll-)Beschäftigung) war es offiziell nicht möglich, sich hauptberuflich mit Kunst zu beschäftigen. Tat man es dennoch, drohten Konsequenzen, etwa Verbannung und bisweilen noch härtere Strafen, wie etwa der Fall Iosif Brodskij zeigte: 1964 wurde der Literat wegen "тунеядство" ("Parasitentum") zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt und musste trotz zahlreicher Proteste eineinhalb Jahre davon abbüssen. Erst im Zuge von Liberalisierungen bzw. dem Zusammenbruch des Systems in den späten Achtzigern wurde es möglich, einfach so keiner "geregelten" Arbeit mehr nachzugehen. Abgesehen von der Berufserlaubnis brachte die Mitgliedschaft auch diverse Privilegien mit sich: Mitglieder des "Союз художников" ("Künstlerunion") hatten z.B. Anspruch auf Ateliers oder auch mehr Wohnraum. Nahezu gleichzeitig mit dem Niedergang der "alten" Strukturen und damit auch der staatlichen Künstlerverbände setzte der sogenannte "russische Boom" am westlichen Kunstmarkt ein. Verbunden mit den Hoffnungen, die in die Gorbačev'sche PerestrojkaPolitik gelegt wurden, zeigte sich der westliche Kunstmarkt plötzlich sehr an nonkonformistischer Kunst aus der Sowjetunion interessiert. Höhepunkt des "russischen Booms" war zweifellos die Sotheby's Auktion am 7. Juli 1988 in Moskau: Ein westlicher Sammler ersteigerte Griša Bruskins Gemälde "Fundamentales Lexikon" für unglaubliche 416000 Dollar. Der Künstler sah davon allerdings im konkreten Fall, wie auch in vielen anderen Fällen, nur sehr wenig. Die Zeit nach dem russischen Boom Wie im Grunde nicht anders zu erwarten, hielt der Boom nonkonformistischer Kunst nicht allzu lange an, bereits Anfang der Neunziger war der "russische Boom" definitiv abgeklungen, hatte allerdings auch Nachwirkungen hinterlassen. Einerseits stellte der Boom für zahlreiche sowjetische Nonkonformisten das Sprungbrett in den westlichen Kunstmarkt dar und und zahlreiche prominente Nonkonformisten nutzten die Möglichkeit zur Emigration vor allem nach Frankreich, Deutschland und in die USA. Diese Künstler spielten in der Regel in den Neunzigern in Moskau kaum mehr eine Rolle, waren praktisch nicht mehr präsent. Il'ja Kabakov, der sich – wie er selbst immer wiederholt – seit den späten Achtzigern auf einer Dienstreise bis zu seinem Lebensende befindet (Anm. HP: die in Graz 1987 ihren Anfang nahm), brachte es etwa nach dem Ende der Sowjetunion lediglich auf eine einzige Personale in Moskau (Dezember 1998, Art Manege) und war bis Ende der Neunziger in Moskau praktisch nur einem kleinen Kreis von Spezialisten bekannt. Zudem weckte der russische Boom westliches institutionelles Interesse: Ab den späten achtziger Jahren begannen westliche Kulturinstitutionen zunehmend Stipendien an Moskauer Künstler zu vergeben bzw. Ausstellungen Moskauer Kunst ausserhalb Russlands zu organisieren. 19 In der Zeit des Aufbruchs nach dem "russischen Boom" in den frühen Neunzigern fällt praktisch auch die Gründung praktisch aller lokalen Institutionen, die im Verlauf des Jahrzehnts eine wichtige Rolle für den Kunstbetrieb spielen sollten. Einerseits formierte sich Anfang der Neunziger Zentren zeitgenössischer Kunst, zunächst 1991 das Zentrum für zeitgenössische Kunst (CSI) mit eigenem Areal an der Bol'šaja Jakimanka, das formal bis 1995 wirkte. Es entstanden zudem das "staatliche Zentrum zeitgenössischer Kunst" (GCSI), das dem Kulturministerium untergeordnet ist, und 1992 wurde auch die Moskauer Filiale das Soros-Zentrums für zeitgenössische Kunst" (CSIS) eröffnet. Weiters fällt in diese Aufbruchsphase fällt zudem die Gründung der ersten Galerien, die sich dezidiert mit zeitgenössischer Kunst beschäftigen. Darunter auch jene Galerien, welche die gesamten Neunziger hindurch eine wichtige Rolle spielen sollte: Bereits 1989 eröffneten Ajdan Salachova und Aleksandr Jakut die "erste Galerie" (1989-1992), nach deren Ende eröffnete Salachova die Ajdan-Galerie (1992), Jakut seine Jakut Galerie (1993). Marat Gel'man eröffnete seine Galerie 1990, die auf Medienkunst spezialisierte TV-Galerie eröffnete 1991, die L-Galerie 1991 (existierte bis 1998), XL 1993, die "neurussische" Ridžina-Galerie 1991 (Schliessung 1995, Neueröffnung 1999). Manche dieser Galerien waren sicherlich mit einem gewissen kommerziellem Kalkül in Hinblick auf einen möglichen neuen "russischen Boom" gegründet worden. Allerdings stellte sich relativ bald heraus, dass sich der kommerzielle Erfolg zeitgenössischer russischer Kunst deutlich in Grenzen hielt. Die Neunziger hindurch konnte sich im Grunde genommen nie ein eigenständiger Markt für aktuelle Moskauer Kunst etablieren und abgesehen von einzelnen Ausnahmen war auch kaum Interesse seitens der neureichen Oberschicht zu wahrzunehmen. Vom simulierten Wirtschaftsboom bis zum Crash im August 1998 Ab Ende 1995, Anfang 1996 gab es vor allem am Mediensektor bzw. in der Werbung zunehmend Möglichkeiten, in angewandten künstlerischen Bereichen Geld zu verdienen bzw. sich ökonomisch nach Jahren der Armut zumindest etwas zu sanieren. Bildende Künstler betrieben Design, arbeiteten an der visuellen Gestaltung von Zeitschriften und Fernsehsendungen. Photokünstler verdingten sich mit Produktphotographie oder photographierten die Interieurs von Datschas neuer Russen. Verbal begabte Künstler begannen für Massenmedien zu schreiben, die bis zum Crash 1998 Honorare auf westlichem Niveau - teilweise sogar darüber - bezahlten. Jedoch erwies sich der Wirtschaftsboom als ein simulierter, im August 1998 brach das auf westlichen Krediten und kurzfristigen staatlichen Obligationen (GKO) basierende System zusammen. Besonders hart wurde der Bankensektor getroffen, zahlreiche Banken gingen in Konkurs. Da eine Vielzahl von Medienprojekten über Bankkredite finanziert worden waren, wurde diese Projekte alsbald wieder eingestellt - und damit zahlreiche Künstler der Möglichkeit beraubt, Geld am Mediensektor zu verdienen. Ende der 90er Mit dem Crash sahen sich viele Künstler erneut in einer vergleichbaren Situation wie bereits einige Jahre zuvor. Die wirtschaftliche Lage verbesserte sich im Laufe des Jahres 1999 etwas, auch wenn die Verdienstmöglichkeiten für Künstler bedeutend schlechter waren als vor dem August 1998. Ein wenig erleichtert wurde die finanzielle Situation vieler Künstler bzw. der Moskauer im allgemeinen dadurch, dass nach dem Crash die Lebenserhaltungskosten deutlich gesunken sind. In den letzten Monaten des Jahres 1999 fanden zahlreiche Künstler aus der 20 aktuellen Moskauer Kunstszene zumindest kurzfristig und gut bezahlte Beschäftigung in der (erfolgreichen) Wahlkampagne für die "Союз правых сил" ("Union rechter Kräfte"), die vom Galeristen Marat Gel'man mitgeleitet wurde. 21 Fragen: 1. Zeichnen Sie in groben Zügen den Weg von Gorbačevs Perestrojka zu Russland unter der Präsidentschaft von Vladimir Putin! 2. Welche Folgen hatte die Einmischung des Staates in Angelegenheiten Literatur, welche Folgen hatte der Rückzug des Staates aus diesem Bereich? 3. Zeigen sie zentrale Entwicklungen im sowjetischen und postsowjetischen Filmwesen seit Beginn der Perestrojka-Zeit auf! 4. Welche waren die allgemeinen Tendenzen auf unterschiedlichen kulturellen Gebieten (Bildende Kunst, Film Literatur, Popmusik), welche Rollen spielten zu unterschiedlichen Zeiten Ideologie und Ökonomie? 22