Unkomplizierte Harnwegsinfektionen: von der S3 Leitlinie zu pflanzlichen Arzneimittel Andreas Hensel Universität Münster Institut für Pharmazeutische Biologie und Phytochemie Unkomplizierte Harnwegsinfektionen „uncomplicated urinary tract infections“, UTI • Die am weitesten verbreiteten Infektionserkrankungen • US: > 8 Millionen Fälle pro Jahr • US: > 2.4 Milliarden US $ pro Jahr • Hohe Recurrence-Rate • Haupterreger (> 75 %): uropathogene Escherichia coli (UPEC) Klebsiella sp. Proteus mirabilis Pseudomonas aeruginosa Staphylococcus sp. Uropathogene E. coli (UPEC) Virulenzfaktoren Adhäsine z.B. Type 1 Fimbrien fimH P-Fimbrien pap Irreführung des Immunsystems des Wirts z.B. Kapselantigen LPS Autoaggregation flu Beweglichkeit, Fitness fliC Toxine z.B. Hämolysin Eisen-“Sammel“System z.B. Siderophore Begünstigende Faktoren Frauen: Kurze Harnröhre anatomische Nähe zwischen Harnröhrenöffnung und Anus sexuelle Aktivität Schwangerschaft Geburt Menopause Männer: Harnabflussstörungen (z.B. Prostata-Hyperplasie, Prostataadenom), u.a. Generell: Diabetes, Harnabflussstörungen, Katheder, Steine, u.a. S3-Leitlinie: antibiotische Behandlung Unkomplizierte Cystitis: Antibiotika-Behandlung sollte empfohlen werden Eine untere Harnwegsinfektion (Zystitis) wird angenommen, wenn sich die akuten Symptome nur auf den unteren Harntrakt beziehen, z.B. neu aufgetretene Schmerzen beim Wasserlassen, imperativer Harndrang, Pollakisurie, Schmerzen oberhalb der Symphyse. Pyelonephritis: Antibiotika-Behandlung so rasch als möglich Eine obere Harnwegsinfektion (Pyelonephritis) sollte dann angenommen werden, wenn sich bei den akuten Symptomen z.B. auch ein Flankenschmerz, ein klopfschmerzhaftes Nierenlager und/oder Fieber (> 38°C) finden. Rezidivierende Harnwegsinfektion ≥ 2 symptomatischen Episoden innerhalb von 6 Monaten oder ≥ 3 symptomatische Episoden innerhalb von 12 Monaten Harnwegsinfektionen bei Männern sollten in der Regel als komplizierte Infektionen eingeschätzt werden, da die Prostata mit betroffen sein kann. Bei der akuten unkomplizierten Zystitis sollte eine antibiotische Therapie empfohlen werden. aber: Bei Patientinnen mit leichten/mittelgradigen Beschwerden kann die alleinige symptomatische Therapie als Alternative zur antibiotischen Behandlung erwogen werden. Eine partizipative Entscheidungsfindung mit den Patienten ist notwendig Bei unkomplizierter Zystitis soll vorzugsweise eines der folgenden Antibiotika eingesetzt werden: Fosfomycin Nitrofurantoin Nitroxolin Pivmecillinam Trimethoprim Fluorchinolone und Cephalosporine sollen nicht als Antibiotika der ersten Wahl bei der unkomplizierten Zystitis eingesetzt werden. Bei häufig rezidivierender Zystitis der Frau kann Mannose empfohlen werden. Alternativ können verschiedene Phytotherapeutika (z.B. Präparate aus Bärentraubenblättern (maximal 1 Monat), Kapuzinerkressekraut, Meerrettichwurzel, erwogen werden. Aus der Gruppe der für die Therapie der unkomplizierten Harnwegsinfektion prinzipiell geeigneten oralen Antibiotika bzw. Antibiotikaklassen - Aminopenicilline in Kombination mit einem Betalaktamase-Inhibitor Cephalosporine der Gruppe 2 und 3, Fluorchinolone, Fosfomycin-Trometamol Nitrofurantoin, Nitroxolin, Pivmecillinam, Trimethoprim bzw. Cotrimoxazol ist die Gefahr für mikrobiologische Kollateralschäden in Form von Selektion multiresistenter Erreger oder einem erhöhten Risiko für eine Clostridium difficile assoziierte Colitis bei Fluorchinolonen und Cephalosporinen am höchsten. Phytopharmaka bei Harnwegsinfekten Harnwegsdesinfizientien Bärentraubenblätter (Wirkstoff Arbutin) Meerrettichwurzel / Kapuzinerkresse (Wirstoffe Senföle) Antiadhäsive Drogen Orthosiphonblätter Cranberry-Fruchtextrakt Mannose Harntreibende Drogen Birkenblätter Brennesselblätter Goldrutenkraut (Echte, Kanadische, Riesengoldrute) Hauhechelwurzel Liebstöckelwurzel Queckenwurzelstock Schachtelhalmkraut Wacholderbeeren: Wirkung durch Nierenreizung Antientzündliche Drogen Kamillenblüten Schafgarbenkraut Harnwegsinfekte: Zusatzempfehlungen Viel Trinken Wärmeapplikation bei Schmerzen Unterkühlung vermeiden Vollständige, regelmäßige Entleerung der Blase Miktion nach Geschlechtsverkehr Keine übertriebene Genitalhygiene Antientzündliche Drogen als Tee: Kamillenblüten Schafgarbenkraut Antimikrobielle Drogen Bärentraubenblätter Arctostaphylos uva ursi Ericaceae Wirkstoff Arbutin Hydrochinon-Glucosid Darmmucosa - GlucoseO OH OH OH Hydrochinon Arbutin Darmmucosa, Leber OH O Glucuronsäure Bakterien in Blase max. 1 Woche, max. 5 x pro Jahr Ausscheidung über Niere, gut wasserlöslich, untoxisch OH OH TOXISCH, BAKERIZID Senfölglycosidhaltige Drogen Kapuzinerkressekraut, Tropaeolum majus, Ericaceae Meerrettichwurzel, Armoracia rusticana, Brasicacae BAKERIZID Kapuzinerkresse Meerrettichwurzel Kapuzinerkressekraut pulv. Merrettichwurzel pulv. Senfölglycoside Prodrugs Magen, Dünndarm: Myrosinase aus den Drogen wird im wässrigen Milieu aktiv Wirkstoffe Bildung der Isothiocyanate Resorption im Dünndarm Exkretion über die Niere, Blase BAKERIZID Antiadhäsive Drogen Pathogen Spezifische Erkennung Wirtszelle Adhäsion Invasion Infektion Antibiotika hochspezifisch hohe Resistenz-Induktion Pathogen Spezifische Erkennung Wirtszelle Pflanzenreich wenig spezifisch keine Resistenz-Induktion Adhäsion Invasion Infektion Antibiotika hochspezifisch hohe Resistenz-Induktion Cranberry (Vaccinum macrocarpon) Kranichbeeren Angeblich Blockade des Andockens UPEC an Blasengewebe (Blockade PapG Protein) ? Wirkstoffe ? Angeblich Polyphenole (Proanthocyanidine, PACs) ????? Klinische Belege ???? “Cranberry products were not significantly different to standard antibiotic treatment for preventing UTI in 3 studies, but the evidence for a potential significant benefit seems to small for a clear recommendation for prevention of UTI, due to the use of not-standardized cranberry products for the clinical investigations and the high drop-out numbers of patients during the long term studies….!” Weist Urin von mit Cranberry behandelten Gesunden antiadhäsive Eigenschaften gegenüber uropathogenen E. coli auf (ex vivo Studie) ? Ex vivo antiadhäsive Aktivität von Urin gegenüber UPEC (Stamm NU14), gewonnen von 4 freiwilligen Probanden nach 4 und 7tägiger Gabe eines standardisierten Cranberryextractes (V.m.) 120 S0: Kontrollwert, Tag 0 S1: Tag 4 S2: Tag 7 ** Relative adhesion [%] 100 80 * 60 40 20 0 1 SS00 SS1 1 SS22 Cranberry Trockenextrakt (Extract High PAC Special, Frutarom, Belgien) n = 4 Probanden Dosierung: 600 mg Cranberryextrakt pro Tag von Tag 1 bis 7 Rafsanjany N, Sendker J, Brandt S, Dobrindt U, Hensel A (2015) Journal of Agricultural Food Chemistry. 63, 8804-8818. Ex vivo antiadhäsive Aktivität von Urin gegenüber UPEC (Stamm CFT073), gewonnen von 16 freiwilligen Probanden nach Gabe eines standardisierten CranberryExtraktes 160% 140% 120% 100% 80% 60% 40% 20% 0% Tag 0 2 4 6 8 NutriCran® (Ref: EK036155) Trockenextrakt der Charge 90S_06155 n = 16 Probanden Dosierung: 600 mg Cranberryextrakt pro Tag von Tag 1 bis 8 Bisheriger Stand der Kenntnisse zu Cranberry • Antiadhäsive Effekte von Cranberryzubereitungen hängen sehr stark vom Phänotyp des UPEC-Erregers ab: dies kann die hohe Variabilität von klinischen Studienergebnissen erklären. • PACs sind nicht für die klinische Wirkung von Cranberryextrakten verantwortlich (zudem PACs nach oraler Gabe auch nicht absorbiert werden und gar nicht in die ableitenden Harnwege gelangen können!) (Zumdick et al. 2012) Hoher Bedarf an weiterführender Forschung notwendig: Wirkstoffe? Pharmakokinetik ? Standardisierung von Extrakten hin zu hochwertigen, behördlich zulassungsfähigen Phytopharmaka (= Arzneimittel) notwendig ! Orthosiphon stamineus L. Familie Lippenblütlergewächse Blattdroge Katzenbart, Indischer Nierentee, Koemis Koetjing Herkunft: Indonesien Positive Monografie des Herbal Medicinal Product Comitee (HMPC) der EU: „Traditionelle Anwendung zur Durchspülungstherapie bei unkomplizierten Harnwegsinfektionen“ Orthosiphonblätter Extraktion mit Wasser 8 h, 85°C Entfernung des Lösungsmittels (Gefriertrocknung) Trockenextrakt OWE Droge-Extrakt-Verhältnis 5:1 Analytische Standardisierung OWE (HPLC, 330 nm; HPLC-MS/MS) Entfernung von „gerbenden“, adstringenten Tanninen Gerbstofffreier- Extrakt OWE%Tannin Kaffeesäure (1), Cichoriensäure (2) Rosmarinsäure (3) OWE: - kein cytotoxischer Einfluss auf UPEC (mehrere Stämme) - kein hemmender Einfluss auf humane Blasenzellen OWE und OWE%Tannin - hemmen in vitro die bakterielle Adhäsion von UPEC (Stamm NU14) an humane Blasenzellen Beydokthi et al. submitted, Phytomedicine. Relative Adhesion in Bezug auf die unbehandelte Kontrolle (UC = 100%) ** p < 0.01. *** p < 0.001. Mittelwerte ± SD aus 3 unabhängigen Experimenten Einfluß einer 3 Tage Nachbehandlung von Balb/c Mäusen mit OWE (750 mg/kg) auf die Bakterienlast in Blasen- und Nierengewebe nach transurethaler Infektion an Tag 0 mit 2 108 UPEC (Stamm CFT073) Positivkontrolle PC: Norfloxacin Einfluß einer 5 Tage Nachbehandlung von Balb/c Mäusen mit OWE (750 mg/kg) auf die Bakterienlast in Blasen- und Nierengewebe nach transurethaler Infektion an Tag 0 mit 2 108 Bakterien UPEC Stamm CFT073. Positivkontrolle: Norfloxacin * p < 0.1. ** p < 0.01 Fazit: - Orthosiphoextrakt hemmt die bakterielle Adhäsion von UPEC an die Wirtszelle - Dieser mechanistische in vitro Effekt bestätigt sich eindeutig im in vivo Infektionsmodell Was macht OWE aber tatsächlich auf molekularer Ebene mit dem Bakterium? 2 Modelgene: FliC Blasenzelle Einfluß von OWE auf die mRNA – Expression von FimH und FliC in Bakterien, die an Blasenzellen adhärieren und an frei schwimmenden, nicht adhärierten UPECs Down-Regulierung von FimH Hoch-Regulierung von FliC Verminderte Adhäsion Erhöhte Beweglichkeit Beweglichkeit von UPEC im „soft-agar motility assay“ 0.25 % Agar unbehandelte Kontrolle 0.5 % Agar OWE unbehandelte Kontrolle OWE Schlussfolgerung 1 - Wässriger Orthosiphonblattextrakt, wie er in traditionell verwendeten Phytopharmaka eingesetzt wird, hat ausgeprägte antiadhäsive Wirkung gegenüber klinisch relevanten UPEC Stämmen (in vitro und in vivo Infektionsmodell am Tier nach oraler Gabe). Der klinische Einsatz solcher Extrakte kann damit mechanistisch erklärt warden. - Wässriger Orthosiphonblattextrakt scheint hochspezifische Effekte gegenüber UPEC auszulösen, die im Rahmen künftiger biochemischer, mikrobiologischer und phytochemischer Arbeiten definierten molekularen Targets der Bakterien und chemischen Inhaltsstoffen des Extraktes zugeordnet werden müssen. Schlussfolgerung 2 Arzneistoffe aus der Natur: Spannend Innovativ zukunftsträchtig Aber: intensivierte Forschung notwendig, sowie die dazugehörigen Ressourcen Danke Uropathogene E. coli (UPEC) Intrazelluläre Reservoire UPEC Exfoliation Proliferation in Blase Entzündung Adhäsion an Epithelien Intrazelluläre Replikation Invasion