Einführung in die Mathematik II (Elementare Prinzipien der Analysis

Werbung
Fachbereich Informatik und Mathematik
ISMI - Institut für Stochastik
& Mathematische Informatik
Einführung in die Mathematik II
(Elementare Prinzipien der Analysis)
WS 2008/09
H. Dinges
26. Januar 2009
INHALTSVERZEICHNIS
i
Inhaltsverzeichnis
I
Metrische Räume; Konvergenz; Vollständigkeit.
I.1 Die Vervollständigung eines metrischen Raums . . . . .
I.2 Iterierte Abbildungen und das Fixpunktprinzip . . . .
I.3 Die Summabilität von Reihen . . . . . . . . . . . . . .
I.4 Funktionen, die durch Potenzreihen dargestellt werden
II Stetigkeit; Topologische Räume
II.1 Gleichmäßig stetige Funktionen auf metrischen Räumen
II.2 Hausdorff-Räume mit abzählbarer Basis . . . . . . . .
II.3 Stetige Funktionen auf kompakten Räumen . . . . . . .
II.4 Der Satz von Stone-Weierstraß . . . . . . . . . . . . . .
II.5 Konkrete Approximationen; ‘Regularisierung’. . . . . .
II.6 Von Euler’s Analysis zum allgemeinen Funktionsbegriff
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
III Integration; Messbare Räume
III.1 Vom Cauchy-Integral zum Daniell-Integral . . . . . . . . . . . . . . . . .
III.2 Die Struktur eines Wahrscheinlichkeitsraums . . . . . . . . . . . . . . . .
III.2.1 Mengensysteme für die Maßtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . .
III.2.2 Meßbare Abbildungen und messbare Funktionen . . . . . . . . . .
III.3 Inhalte, Maße, bestimmte und unbestimmte Integrale . . . . . . . . . . .
III.3.1 Der Kegel der Inhalte und der Vektorraum der Treppenfunktionen
III.3.2 Die Integration nichtnegativer messbarer Funktionen . . . . . . .
III.3.3 Unbestimmte Integrale und totalstetige Maße . . . . . . . . . . .
III.4 Konvergenzsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
III.4.1 Fastsichere und stochastische Konvergenz
. ." . . . . . . . . . . . .
!
p
III.4.2 Normkonvergenz und die Räume L Ω, A, µ . . . . . . . . . . . .
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
.
.
.
.
5
6
15
23
29
.
.
.
.
.
.
39
43
49
57
63
67
75
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
87
88
95
95
102
105
105
110
117
125
125
131
INHALTSVERZEICHNIS
II
39
Stetigkeit; Topologische Räume
Mit dem Begriff eines Kontinuums verbindet sich die Vorstellung von einer lückenlosen
Menge von Möglichkeiten oder Zuständen, wo man ohne Sprünge (‘kontinuierlich’) von
einem Zustand zum anderen übergehen kann. Die Vorstellungen des Übergangs sind das
ursprüngliche Motiv für den Begriff der Stetigkeit (‘continuity’ im Englischen).
Schon im Altertum hat man spezielle stetige Kurven untersucht; bei Newton und seinen Nachfolgern wurden die Kurven dann meistens als ‘Funktionen’ der Zeit verstanden.
Die Versuche, eine strenge mathematische Theorie der stetigen Funktionen und des kontinuierlichen Übergangs zu entwickeln, waren aber erst im 19. Jahrhundert erfolgreich.
Die formale Definition der Stetigkeit, die sich schliesslich im Laufe des 19. Jahrhunderts
durchgesetzt hat, lässt das ursprüngliche Motiv der Begriffsbildung nicht ohne weiteres
erkennen; man nennt sie manchmal die statische Definition der Stetigkeit. Diese Definition
hat ihren Vorläufer in der Stetigkeitsdefinition von B. Bolzano aus dem Jahr 1817.
Nach einer richtigen Erklärung nämlich versteht man unter der Redensart, daß
eine Funktion f (x) für alle Werte von x, die inner- oder ausserhalb gewisser
Grenzen liegen, nach dem Gesetze der Stetigkeit sich ändere, nur soviel, daß,
wenn x irgend ein solcher Wert ist, der Unterschied f (x + ω) − f (x) kleiner
als jede gegeben Größe gemacht werden könne, wenn man ω so klein, als man
nur will, annehmen kann.
Diese Vorform der abstrakten Stetigkeitsdefinition bleibt in der Vorstellungswelt der
Funktionen auf einem Intervall. Eine naheliegende Variante im allgemeineren Kontext der
metrischen Räume wird üblicherweise die εδ-Definition der Stetigkeit genannt. In dieser
‘Einführung’ wollen wir nicht bei den metrischen Räumen bleiben. Die natürliche Heimat
des modernen Stetigkeitsbegriffs ist die Theorie der topologischen Räume. Dort geht es
nicht nur um stetige Funktionen, sondern allgemeiner um stetige Abbildungen von einem
beliebigen topologischen Raum in einen beliebigen topologischen Raum.
Auch wenn wir uns hier in der Analysis II vornehmlich mit den stetigen Funktionen auf
Hausdorff-Räumen mit abzählbarer Basis (HRaB) befassen, wird deutlich werden, dass
der Stetigkeitsbegriff weit hinaus trägt über das ursprüngliche Anliegen von Bolzano, die
Analysis des 18. Jahrhunderts auf ein begrifflich sauberes Fundament zu stellen.
Andererseits wird klar werden, dass der Stetigkeitsbegriff für sich allein nicht allzuviel leistet für die Fundierung der Infinitesimalrechnung. Die von Bolzano und Cauchy
angestrebte Fundierung benötigt ganz wesentlich ein gründliches Verständnis für gewisse
spezielle Eigenschaften der klassischen Definitionsbereiche. Diese waren zu Beginn des
19. Jahrhunderts zunächst als intuitiv gegeben angenommen worden, was zu erheblichen
Schwierigkeiten führte. Sie wurden im Prozess der Arithmetisierung der Analysis streng
gefasst, um dann im 20. Jahrhundert in weitere Kontexte übertragen zu werden.
Wir werden uns in diesem Abschnitt II mit einigen für ein Verständnis des Kontinuums
relevanten Eigenschaften von topologischen Räumen befassen.
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
40
II.1
Stetigkeit; Topologische Räume
Einführung in die Mathematik II
Gleichmäßig stetige Funktionen auf metrischen Räumen
Für Funktionen auf einem metrischem Raum definiert man Stetigkeit folgendermaßen:
(Wir betreiben das Folgende auch als eine Übung im Umgang mit Quantoren. Die Quantorenschreibweise leistet eine Disziplinierung des Denkens und Formulierens, welche in der
Analysis äusserst wichtig ist.)
!
"
Definition Es sei f (·) eine reellwertige Funktion auf einem metrischen Raum S, d(·, ·) .
Man sagt
f (·) ist stetig im Punkt P̃
⇐⇒ |f (P ) − f (P̃ )| < ε für alle P in einer vollen Umgebung von P̃
#
$
⇐⇒ ∀ε > 0 ∃ δ > 0 ∀ P d(P, P̃ ) < δ ! |f (P ) − f (P̃ )| < ε .
f (·) ist stetig auf S
#
⇐⇒ ∀P̃ ∈ S ∀ε > 0 ∃ δ > 0 ∀ P d(P, P̃ ) < δ
⇐⇒ f (·) ist stetig in jedem Punkt P̃ ∈ S
f (·) ist gleichmäßig stetig auf S
#
⇐⇒ ∀ε > 0 ∃ δ > 0 ∀P̃ , P ∈ S d(P, P̃ ) < δ
$
! |f (P ) − f (P̃ )| < ε .
$
! |f (P ) − f (P̃ )| < ε .
Ganz analog definiert man für Abbildungen in einen metrischen Raum:
!
"
!
"
Definition Es seien S, d(·, ·) und T, e(·, ·) metrische Räume, und es sei ϕ : S → T
eine Abbildung. Man sagt
ϕ ist stetig im Punkt P̃
!
"
⇐⇒ e ϕ(P ), ϕ(P̃ ) < ε für alle P in einer vollen Umgebung von P̃
$
#
!
"
⇐⇒ ∀ε > 0 ∃ δ > 0 ∀ P d(P, P̃ ) < δ ! e ϕ(P ), ϕ(P̃ ) < ε .
ϕ ist stetig auf S
⇐⇒ ϕ ist stetig in jedem Punkt P̃ ∈ S
#
⇐⇒ ∀P̃ ∈ S ∀ε > 0 ∃ δ > 0 ∀ P d(P, P̃ ) < δ
$
! e(ϕ(P ), ϕ(P̃ )) < ε .
#
d(P, P̃ ) < δ
$
! e(ϕ(P ), ϕ(P̃ )) < ε .
ϕ ist gleichmäßig stetig
⇐⇒ ∀ε > 0 ∃ δ > 0 ∀P̃ , P ∈ S
Satz (Die Fortsetzung einer gleichmäßig stetigen Abbildung)
!
"
!
"
!
"
¯ ·) seine Vervollständigung. T, e(·, ·) sei
Sei S, d(·, ·) ein metrischer Raum und S̄, d(·,
ein vollständiger metrischer Raum.
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
II.1 : Gleichmäßig stetige Funktionen auf metrischen Räumen
41
Wenn ϕ : S → T gleichmäßig stetig ist, dann existiert genau eine stetige Fortsetzung
auf S̄. Diese Fortsetzung ϕ̄ : S̄ → T ist gleichmäßig stetig.
Beweis
1. Wenn eine Abbildung ψ in P̃ stetig ist, dann konvergiert offenbar für jede gegen P̃
konvergierende Folge die Folge der Bildpunkte gegen ψ(P̃ ).
lim Pn = P̃
n→∞
=⇒
lim ψ(Pn ) = ψ(P̃ ).
n→∞
Es gibt also höchstens eine stetige Fortsetzung auf den vervollständigten Raum.
2. Für äquivalente Cauchyfolgen sind die Bildfolgen äquivalente Cauchyfolgen. Deswegen und wegen der Vollständigkeit des Zielraums erhalten wir tatsächlich eine
Fortsetzung ϕ̄.
3. Wenn e(ϕ(P ), ϕ(P̃ )) < ε für alle P, P̃ ∈ S mit d(P, P̃ ) < δ,
¯ Q̃) ≤ δ.
dann gilt e(ϕ̄(Q), ϕ̄(Q̃)) ≤ ε für alle Q, Q̃ ∈ S̄ mit d(Q,
Das beweist die gleichmäßige Stetigkeit von ϕ̄.
Sprechweise:
!
"
!
"
Eine Abbildung ϕ : S, d(·, ·) −→ T, e(·, ·) heisst Lipschitz-stetig zum Streckungsparameter α, wenn gilt
∀P1 , P2 e(ϕ(P1 , ϕ(P2 )) ≤ α · d(P1 , P2 ).
Eine Abbildung heisst Lipschitz-stetig, wenn es einen Streckungsparameter gibt; eine
Lipschitz-stetige Abbildung nennt man auch eine dehnungsbeschränkte Abbildung. Eine dehnungsbeschränkte Abbildung ist offenbar gleichmäßig stetig.
Eine Lipschitz-stetige Abbildung zu einem Streckungsparameter α < 1 heisst auch eine
α-Kontraktion. Zur Erinnerung: Der Banach’sche Fixpunktsatz handelt von α-Kontraktionen eines vollständigen metrischen Raums in sich.
Beispiele
1) Es ist eine wichtige Eigenschaft der Zahlengeraden, dass jede auf einem endlichen
abgeschlossenen Intervall stetige Funktion dort gleichmäßig stetig ist. (Wir werden
das später beweisen.) Wenn Bolzano und Cauchy von stetigen Funktionen sprachen,
dann dachten sie an solche Funktionen. Sie bedachten nicht, dass es auf beschränkten
(abgeschlossenen) Teilmengen von Q sehr wohl Funktionen gibt, die in jedem Punkt
stetig aber doch nicht gleichmäßig stetig sind. Ein Beispiel wäre etwa die in jedem
rationalen Punkt stetige Funktion f (x) = x21−2
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
42
Stetigkeit; Topologische Räume
2) Die Funktion
f (x) =
Einführung in die Mathematik II
√
x für x ∈ [0, 1]
ist gleichmäßig stetig, aber nicht Lipschitz-stetig; der Differenzenquotient
%
%
%
%
%f (x2 ) − f (x1 ) %
1
=√
√
|x2 − x1 |
x2 + x1
kann nämlich nicht gleichmäßig durch eine Zahl α abgeschätzt werden.
3) Ein Beispiel für eine unstetige Linearform auf dem normierten Raum der trigonometrischen Polynome ist die Auswertung in einem Punkt (etwa im Nullpunkt).
&
&
V * f (t) =
cn eint
+−→
l(f ) =
cn = f (0).
'N int
Betrachten wir z. B. die ‘Dirichlet-Funktionen’ DN (t) =
−N e . Wenn aN =
1
o( √N ), dann gilt ,aN · DN , → 0. Andererseits liefert die Auswertung im Nullpunkt
die Werte aN · (2N + 1).
4) Sei X0 der Vektorraum der trigonometrischen Funktionen ohne konstanten Term.
, · , sei eine der p-Normen. ϕ : X0 −→ X0 sei die Stammfunktionsbildung
#&
$ & 1
ck eikt .
ϕ
ck eikt =
ik
1
.
Für jede der Funktionen ek (t) = eikt gilt ,ek , = 1 und ,ϕ (ek ), = |k|
ϕ(·) ist eine Lipschitz-stetige Abbildung mit dem Streckungsfaktor 1.
5) Hinweis: Die Differentiation auf dem Prähilbertraum (X0 , , · ,2 )
#&
$ &
ψ :ψ
ikck · eikx
ck eikx =
ist eine unstetige Abbildung. Dennoch spielt dieser Operator eine wichtige Rolle,
insbesondere in der Quantenmechanik. Der Operator
h̄ ∂
(·) heisst der Impulsoperator,
i ∂x
wenn er auf Funktionen angewendet wird, welche im Ortsraum den Zustand eines
quantenmechanischen Systems beschreiben. Siehe
Feynman, Vorlesungen über Physik“, Band III, Quantenmechanik, Kapitel 20: Ope”
ratoren.
Warnung: Eine stetige Linearform auf einem normierten Vektorraum nennt man
auch eine beschränkte Linearform. Bei dem Wort beschränkt muss man nun aber aufpassen; es kommt in vielen Zusammenhängen in verschiedenen Bedeutungen vor. Neben
der Beschränktheit einer Linearform werden uns insbesondere die folgenden Begriffe der
Beschränktheit weiter interessieren:
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
II.1 : Gleichmäßig stetige Funktionen auf metrischen Räumen
43
Sprechweisen (beschränkte und totalbeschränkte metrische Räume)
!
"
Eine Teilmenge B eines metrischen Raums S, d(·, ·) heisst beschränkt, wenn sup{d(P, Q) :
P, Q ∈ B} < ∞, wenn sie also ‘endlichen Durchmesser’ hat. Eine Abbildung in einen metrischen Raum heisst beschränkt, wenn die Bildmenge endlichen Durchmesser hat.
Eine Teilmenge B eines metrischen Raums heisst totalbeschränkt, wenn man sie für
jedes ε > 0 mit endlich vielen ε-Kugeln überdecken kann.
Man zeigt leicht den
Satz
!
"
1. Wenn S, d(·, ·) totalbeschränkt ist, dann besitzt jede Folge (Pn )n∈N eine Teilfolge,
die Cauchy-Folge ist.
!
"
2. Wenn S, d(·, ·) nicht totalbeschränkt ist, dann existiert für ein genügend kleines ε̃
eine unendliche Menge von Punkten, die paarweise einen Abstand > ε̃ besitzen.
{Pn : n ∈ N} mit
d(Pn , Pm ) > ε̃ für n .= m.
Formulierung der Stetigkeit mit weniger Quantoren: Volle Urbilder
!
"
!
"
Gegeben sei eine Abbildung ϕ : S, d(·, ·) −→ T, e(·, ·) von einem metrischen Raum in
einen metrischen Raum. Für festes P, ε, δ betrachten wir die Mengen (‘offene Kugeln’)
Uδ = {P : d(P, P̃ ) < δ},
Vε = {Q : e(Q, ϕ(P̃ )) < ε}
#
$
und die Aussagen
Aε,δ,P̃ =
d(P, P̃ ) < δ ! e(ϕ(P ), ϕ(P̃ )) < ε
.
Die Aussage Aε,δ,P̃ ist offenbar genau dann wahr, wenn für alle P ∈ Uδ der Bildpunkt in
Vε liegt, d. h. wenn das volle Urbild von Vε die Menge Uδ umfasst. Somit gilt
ϕ ist stetig im Punkt P̃
⇐⇒
∀ε > 0 ∃ δ > 0 ϕ−1 (Vε ) ⊇ Uδ .
Satz :
Die Abbildung ϕ(·) ist genau dann in P̃ stetig, wenn gilt
!
"
∀ (Pn )n : Pn → P̃ ! ϕ (Pn ) → ϕ(P̃ ) .
Beweis :
1) Wenn ϕ(·) in P̃ stetig ist, dann gilt die Aussage.
!
"
2) ϕ(·) unstetig in P̃ =⇒ ∃ε > 0 ∀δ > 0 ∃P : d(P, P̃ ) < δ ∧ e ϕ(P ), ϕ(P̃ ) ≥ ε .
Sei ε∗ ein solches ε. Wähle zu δ = n1 ein Pn mit der angegebenen Eigenschaft. Die
Folge (Pn )n konvergiert gegen P̃ ; die Bildfolge hält Abstand ≥ ε∗ von ϕ(P̃ ).
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
44
Stetigkeit; Topologische Räume
Einführung in die Mathematik II
Didaktischer Hinweis
Die εδ-Definition der Stetigkeit (in einem Punkt P̃ ) heisst in Didaktikerkreisen die statische Definition der Stetigkeit. Die im Satz genannte Definition auf der Grundlage aller
(gegen P̃ ) konvergierenden Folgen nennt man die dynamische Stetigkeitsdefinition. Man
behauptet, dass sie für Anfänger leichter fassbar ist. Die auf Bolzano (1817) zurückgehende εδ-Definition hat sich aber als wesentlich praktischer erwiesen. Die Definition passt u.
a. sehr gut in den Kontext der normierten Vektorräume.
Stetige Linearformen auf einem normierten Vektorraum
Eine Linearform l(·) auf einem normierten Vektorraum heisst eine beschränkte (oder auch
eine stetige) Linearform, wenn sie auf der Einheitskugel beschränkt ist. Die beschränkten
Linearformen kann man auch auf andere Weise charakterisieren:
Satz
!
"
Es sei l(·) eine Linearform auf dem normierten Vektorraum V, , · , .
l(·) sei beschränkt auf der Einheitskugel. Es sei α = sup{|l(v)| : ,v, ≤ 1}. Es gilt dann
1. l(·) ist stetig im Nullpunkt
2. l(·) ist gleichmäßig stetig
3. l(·) ist Lipschitz-stetig zum Streckungsparameter α.
Ausserdem gilt: Wenn eine Linearform im Nullpunkt stetig ist, dann ist sie auf der Einheitskugel beschränkt.
Wir beweisen nur die letzte Aussage: Wenn die Linearform l(·) im Nullpunkt stetig
ist, dann gibt es ein δ > 0, sodass |l(v)| ≤ 1 für alle v mit ,v, < δ. Dann ist l(·) offenbar
Lipschitz-stetig zu einem Streckungsparameter α ≤ 1δ .
'
! Die "Menge V aller beschränkten Linearformen auf einem normierten Vektorraum
V, , · , heißt der (topologische) Dualraum. Dieser Dualraum ist ein normierter Vektorraum mit der dualen Norm: ,l, = sup{|l(v)| : ,v, ≤ 1}. Man beweist leicht den
Satz Der Dualraum eines normierten Vektorraums, ausgestattet mit der dualen Norm
ist ein vollständiger normierter Vektorraum (also ein Banachraum).
Operatornorm: Eine lineare Abbildung ϕ von einem normierten Vektorraum in einen
normierten Vektorraum heisst beschränkte lineare Abbildung (oder auch beschränkter linearer Operator), wenn gilt ,ϕ, = sup{,ϕ(v), : ,v, ≤ 1} < ∞. Dieses Supremum heisst
die Operatornorm. Mit Vektorräumen beschränkter linearer Operatoren befasst man sich
in der Funktionalanalysis.
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
II.2 : Hausdorff-Räume mit abzählbarer Basis
II.2
45
Hausdorff-Räume mit abzählbarer Basis
Der Begriff des topologischen Raums ist eine Verallgemeinerung des Begriffs des metrischen Raums. Im Kontext der topologischen Räume kann man den Begriff der konvergenten Folge bilden; ein brauchbarer Begriff ist das allerdings nur im Kontext der HausdorffRäume mit abzählbarer Basis. Ein Analogon zum Begriff der Cauchy-Folge gibt es in
topologischen Räumen nicht; es gibt also auch nicht den Begriff der Vollständigkeit.
Der Kontext der topologischen Räume ist die natürliche Heimat des Stetigkeitsbegriffs.
Hier in der elementaren Analysis interessiert uns weniger die weiterreichende Anwendbarkeit eines erweiterten Stetigkeitsbegriffs; uns kommt es hauptsächlich darauf an, die
Transparenz der Schlüsse und Konstruktionen dadurch zu steigern,dass wir uns von den
Metriken lösen.
Beim verallgemeinerten Zugang zum Begriff der Stetigkeit spielt das System der offenen Mengen eine zentrale Rolle. Wir erörtern den allgemeinen Stetigkeitsbegriff nicht
zuletzt deswegen, weil der Umgang mit Mengensystemen zu den Grundfertigkeiten eines
Mathematikers gehört.
Definition
Eine Menge S wird zu einem topologischen Raum, indem man ein Mengensystem U
als das System der offenen Mengen auszeichnet. Von U ist zu fordern
(i) ∅, S ∈ U
(ii) U1 , U2 ∈ U ⇒ U1 ∩ U2 ∈ U
(iii) Uα ∈ U für alle α ∈ I (Indexmenge) ⇒
(
α
Uα ∈ U
Man sagt kurz: Eine Topologie über S ist ein Mengensystem U, welches gegenüber finiter
Durchschnittsbildung und beliebiger Vereinigungsbildung abgeschlossen ist.
Die Elemente von U heissen die offenen Mengen. Die Komplemente der offenen Mengen heissen die (bzgl. der gegebenen Topologie) abgeschlossenen Mengen.
Ein Teilsystem B von U heisst eine Basis der Topologie, wenn jede offene Menge
als Vereinigung von Mengen aus B gewonnen werden kann.
Beispiel (Die von einer Metrik erzeugte Topologie)
Sei d(·, ·) eine Metrik auf der Grundmenge S. Eine Menge der Form {P : d(P, P̃ ) < r}
heisst eine offene Kugel. (Genauer heisst diese Menge die offene Kugel um den Punkt P̃
mit dem Radius r).
Eine Menge U heisst offen bzgl. der Metrik d(·, ·), wenn es zu jedem P̃ ∈ U eine Kugel
um P̃ gibt, die ganz in U liegt.
P̃ ∈ U ⇒ ∃r > 0 {P : d(P, P̃ ) < r}.
Offenbar ist das System B aller offenen Kugeln eine Basis der Topologie.
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
46
Stetigkeit; Topologische Räume
Einführung in die Mathematik II
Sprechweise (Metrisierbarkeit)
Eine Topologie U auf der Menge S heisst metrisierbar, wenn es eine Metrik d(·, ·) gibt,
sodass die bzgl. dieser Metrik offenen Mengen die Elemente von U sind.
Bemerke: Wenn eine Topologie metrisiert werden kann, dann gibt es sehr viele Metriken, die das Verlangte leisten, bequemere und unbequemere, solche mit guten Eigenschaften und solche mit weniger guten Eigenschaften. Manchmal aber nicht immer lohnt sich
die Suche nach besonders guten Metriken. Eine wichtige Klasse metrisierbarer Räume ist
die Klasse derjenigen Räume, die sich so metrisieren lassen, dass sie vollständig sind; auch
da gibt es dann wieder viele Metriken, die das Verlangte leisten.
Definition (Abzählbare Basis)
Man nennt einen topologischen Raum einen topologischen Raum mit abzählbarer Basis,
wenn eine abzählbare Basis existiert, wenn also ein abzählbares System offener Menge B
existiert, sodass jedes U ∈ U die Vereinigung aller der in U enthaltenen Mengen ∈ B ist.
Satz (Separable metrische Räume)
Wenn es in einem metrischen Raum S eine abzählbare Teilmenge M gibt, die überall dicht
ist, wenn es also zu jedem P ∈ S in M )eine gegen P konvergierende Folge
* gibt, dann ist
das Mengensystem aller Kugeln B = B<r (P̃ ) : P̃ ∈ M, r rational eine abzählbare
Basis. ( Man spricht in diesem Fall von einem separablen metrischen Raum.)
Der Beweis liegt auf der Hand.
Konstruktion (Erzeugte Topologie)
Es sei S ein Mengensystem über der Grundmenge S mit S * ∅, S. Offensichtlich gibt es ein
kleinstes S umfassendes Mengensystem U, welches gegen finite Durchschnittsbildung und
beliebige Vereinigungsbildung abgeschlossen ist. Dieses U nennt man die von S erzeugte
Topologie über S.
Bemerke: Man kann die Elemente U der von S leicht beschreiben. Es sind diejenigen
Mengen U, die sich als Vereinigung von endliche Durchschnitten der Menge aus S darstellen lassen. Wenn S durchschnittsabgeschlossen ist, dann ist S eine Basis der erzeugten
Topologie.! Bemerke
auch: Wenn ein Erzeugendensystem S der Topologie U abzählbar ist,
"
dann ist S, U ein topologischer Raum mit abzählbarer Basis; das System S' , welches
aus allen finiten Durchschnitten von Mengen in S ist in der Tat eine abzählbare Basis.
Konstruktion (Produkttopologie)
!
"
!
"
Seien S1 , U1 und S2 , U2 topologische Räume. Betrachten wir das System S aller
‘Rechtecke’ U1 × U2 und die davon erzeugte Topologie über dem cartesischen Produkt
S = S1 × S2 . Sie heisst die Produkttopologie.
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
II.2 : Hausdorff-Räume mit abzählbarer Basis
47
Bemerke: Wenn B1 eine Basis von U1 ist, und B2 eine Basis von U2 , dann ist das System aller Rechtecke B1 × B2 mit Bi ∈ Bi eine Basis der Produkttopologie. Wenn B1 und
B2 durchschnittsstabil sind, dann ist auch das System aller Rechtecke durchschnittsstabil.
Offener Kern und abgeschlossene Hülle
!
"
Es sei S, U ein topologischer Raum. Zu jeder Menge A ⊆ S gibt es eine größte offene
Teilmenge; die Menge Ao heisst der offene Kern von A. Es gibt auch eine kleinste
abgeschlossene Obermenge; man nennt sie die abgeschlossene Hülle von A; sie wird
häufig mit Ā bezeichnet, wir wollen sie hier (vorübergehend) auch mit Aa bezeichnen. Die
Differenzmenge Aa \ Ao heisst der topologische Rand der Menge A. (Das Komplement
von A wird häufig mit !A bezeichnet; wir schreiben auch Ac .)
!
"
Lemma Es sei S, U ein topologischer Raum. Für jede Menge A ⊆ S gilt dann
Aac = Aco ,
Aca = Aoc .
Beweis: A ⊆ Aa , Aac ⊆ Ac ;.
Da die offene Menge Aac in Ac enthalten ist, ist sie im
offenen Kern enthalten:
Aac ⊆ Aco .
o
c
oc
A ⊆ A, A ⊆ A ;
Da die abgeschlossene Menge Aoc die Menge Ac umfasst, umfasst
sie auch deren abgeschlossene Hülle: Aoc ⊇ Aca
Wenn wir diese Überlegungen auf die Komplementärmenge anwenden, dann erhalten wir
Acac ⊆ Ao ,
Acoc ⊇ Aa .
Komplementbildung liefert die noch fehlenden Inklusionen Aca ⊇ Aoc ,
Aco ⊆ Aac .
Sprechweisen: (Innere Punkte und Berührpunkte)
Wenn ein Punkt P in Ao liegt, dann heisst er innerer Punkt von A.
Wenn ein Punkt P in Aa liegt, dann heisst er Berührpunkt von A.
Der Sachverhalt aus dem Lemma kann auf vielerlei Weisen in Worten ausgedrückt
werden: P ∈ Aac ⇐⇒ P ∈
/ Aa ⇐⇒ P ∈ Aco . P gehört nicht zur abgeschlossenen Hülle Aa
genau dann, wenn P im Inneren des Komplements !A liegt. P ist genau dann Berührpunkt von A, wenn er nicht im Inneren des Komplements !A liegt, d. h. wenn in jeder
Umgebung von P mindestens ein Punkt von A liegt.
Sprechweise: (Umgebungen eines Punkts)
Wenn Ao * P , dann wird A eine Umgebung von P genannt. Die Gesamtheit aller offenen
Umgebungen eines Punkt P bezeichnen wir mit UP . Das Lemma sagt uns:
P ∈ Aa
⇐⇒
∀U ∈ UP
A ∩ U .= ∅.
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
48
Stetigkeit; Topologische Räume
Einführung in die Mathematik II
Punktetrennung
Definition: Ein toplogischer Raum heisst ein Hausdorff-Raum, wenn die Topologie
das folgende Trennungsaxiom erfüllt
(iv) Zu je zwei Punkten gibt es disjunkte Umgebungen; in Formeln
∀P .= Q ∃ U ∈ UP , V ∈ UQ
U ∩ V = ∅.
Einen Hausdorff-Raum
!
"mit abzählbarer
!
" Basis nennen wir kurz einen HRaB.
Bemerke: Wenn S1 , U1 und S2 , U2 Hausdorff-Räume mit abzählbarer Basis sind, dann
ist auch der Produktraum ein HRaB.
Definition: Eine Punktfolge (Pn )n in einem HRaB heisst eine konvergente Folge, wenn
es einen Punkt P̃ gibt, sodass in jeder Umgebung von P̃ schließlich alle Pn liegen.
∃P̃
∀U ∈ UP̃
∃N
∀n ≥ N
Pn ∈ U.
Wir werden im Folgenden sehen, dass der Begriff der konvergenten Folge im Kontext
der HRaB-Räume ein nützlicher Begriff ist.
Bemerke: Das Haussdorff’sche Trennungsaxiom garantiert, dass die einpunktigen Mengen abgeschlossen sind und dass eine Folge höchstens einen Grenzwert besitzt. Man notiert
in diesem Fall limn Pn = P̃ oder auch kurz Pn → P̃ .
Eine Folge in A nennen wir (im Folgenden) kurz eine A-Folge.
Satz
Für jede konvergente A-Folge liegt der Grenzwert in der abgeschlossenen Hülle Aa .
Zu jedem Punkt in der abgeschlossenen Hülle von A gibt es eine A-Folge, die dagegen
konvergiert.
Beweis: Wenn Pn → P̃ , dann liegen in jeder Umgebung schliesslich alle Pn ; da die Pn in
A liegen, gibt es also in jeder Umgebung von P̃ Punkte von A und damit gilt P ∈ Aa .
Für den Beweis der zweiten Aussage benötigen wir ganz wesentlich die Existenz einer
abzählbaren Basis. Wählen wir eine Abzählung einer solchen Basis, und sei U1 , U2 , . . . die
Teilfolge derjenigen Mengen, die P̃ enthalten. Jede der Mengen U1 ∩ U2 ∩ . . . ∩ Un enthält
Punkte von A. Wählen wir einen solchen Punkt Pn für n = 1, 2, . . . , so erhalten wir eine
A-Folge, die offenbar gegen P̃ konvergiert.
Stetigkeit in topologischen Räumen
Die folgenden Definitionen der Stetigkeit fallen offenbar mit den bekannten Definitionen
zusammen, wenn der zugrundeliegende topologische Raum ein metrischer Raum ist
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
II.2 : Hausdorff-Räume mit abzählbarer Basis
49
Definition
!
"
• Eine reellwertige Funktion f (·) auf einem topolgischen Raum S, U heisst stetig
im Punkt P̃ , wenn gilt
{P : |f (P ) − f (P̃ )| < ε} ist Umgebung von P̃ für jedes ε > 0.
"
!
"
!
• Eine Abbildung topologischer Räume ϕ : S1 , U1 −→ S2 , U2 heisst stetig im
Punkt P̃ , wenn für jede Umgebung von ϕ(P̃ ) das volle Urbild eine Umgebung von
P̃ ist;
ϕ stetig im Punkt P̃ ⇐⇒ ∀ U2 ∈ Uϕ(P̃ ) ϕ−1 (U2 ) ∈ UP̃ .
• Die Abbildung ϕ heisst stetig auf dem Raum S1 , wenn sie in jedem Punkt stetig
ist, und das bedeutet
ϕ stetig auf S1
⇐⇒
∀ U2 ∈ U2
ϕ−1 (U2 ) ∈ U1 .
(“Volle Urbilder offener Mengen sind offen”)
Bemerke: Wenn die Topologie im Zielraum von einem Mengensystem T erzeugt ist, und
das volle Urbild jeder Menge aus T offen ist, dann ist die Abbildung stetig. Das System
aller vollen Urbilder offener Mengen ist nämlich in jedem Fall eine Topologie auf dem
Raum S1 ; wenn nun für alle Mengen aus T die vollen Urbilder aller U1 - offen sind, dann
sind auch für alle Mengen in der erzeugten Topologie die vollen Urbilder offen.
Beispiel: Da das System aller offenen Intervalle die übliche Topologie auf der reellen
Achse erzeugt, hat man Stetigkeit der reellwertigen Funktion f (·) genau dann, wenn für
jedes offene Intervall das volle Urbild offen ist; {P : a < f (P ) < b } ist offen für alle
a < b.
Satz
Wenn die Abbildungen ϕ : D → E und ψ : E → F stetig sind, dann ist auch die zusammengesetzte Abbildung ψ ◦ ϕ(·) : D → F stetig.
Wenn die Abbildungen ϕ : D → E und ψ : D → F stetig sind, dann ist auch die
Abbildung (ϕ, ψ) : D → E × F stetig.
Wenn die Abbildung ϕ in P̃ stetig ist und die Abbildung ψ in Q̃ = ϕ(P̃ ), dann ist die
zusammengesetzte Abbildung in P̃ stetig.
Wenn die Abbildungen ϕ und ψ in P̃ stetig sind, dann ist auch (ϕ, ψ) in P̃ stetig.
Beispiel: Wenn f und g stetige reellwertige Funktionen auf dem Definitionsbereich D
sind, dann sind auch die punktweise Summe f + g, das punktweise Produkt f · g, das
punktweise Maximum f ∨ g und das punktweise Minimum f ∧ g stetige Funktionen.
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
50
Stetigkeit; Topologische Räume
Einführung in die Mathematik II
Die Supremumsnorm auf der Menge der stetigen beschränkten Funktionen
Was eine beschränkte Funktion ist, haben wir oben
erklärt.
Der! Vektorraum
!
"
" aller beschränkten stetigen Funktionen auf einem HRaB S, U sei mit C (S, U), R bezeichnet.
Wir wollen ihn mit der Supremumsnorm ausstatten.
#
"
,f , = sup{|f (P )| : P ∈ S}.
Man schreibt auch ,f ,∞ .
Hinweis. Es handelt sich nicht nur um einen Vektorraum; wir haben sogar eine Funktionenalgebra. Offenbar gilt nämlich: Wenn f, g beschänkte stetige Funktionen sind , dann sind
auch die Summe f + g und das (punktweise) Produkt f · g stetige beschränkte Funktionen
und es gilt
,f + g,∞ ≤ ,f ,∞ + ,g,∞ ;
,f · g,∞ ≤ ,f ,∞ · ,g,∞.
Die punktweise Multiplikation soll uns hier noch nicht interessieren. Wir beweisen zunächst
einmal den
Satz
!
"
Der Vektorraum C (S, U), R der beschränkten stetigen Funktionen ist vollständig bezgl.
der Supremumsnorm.
Beweis: Wir müssen zeigen, dass zu einer Folge beschränkter stetiger Funktionen (fn )n ,
die bzgl. der Supremumsnorm eine Cauchy-Folge ist, eine beschränkte stetige Funktion f˜
gibt mit ,fn − f˜,∞ → 0. Wir wissen
∀ε < 0 ∃N ∀ n, m ≥ N ∀P
|fn (P ) − fm (P )| < ε.
Offenbar ist für jedes feste P ist die Zahlenfolge (fn (P )) eine Cauchyfolge; ihren Limes
nennen wir f¯(P ). Für die Funktion f¯(·) gilt nun
∀ε < 0 ∃N ∀ n ≥ N ∀P
|fn (P ) − f¯(P )| ≤ ε.
also ,fn − f¯,∞ → 0. Wir müssen zeigen, dass f¯ in jedem Punkt P̃ stetig ist. Das geht so:
Zu ε > 0 wählen wir N so groß, dass ,fn − f¯,∞ < 3ε , und wählen eine Umgebung U von
P̃ so klein, dass für alle P ∈ U gilt |fn (P ) − fm (P )| < 3ε . Wir haben nun für alle P ∈ U
¯ ) − f¯(P̃ )| ≤ |f(P
¯ ) − fN (P )| + |fN (P ) − fN (P̃ )| + |fN (P̃ ) − f¯(P̃ )| < ε.
|f(P
Hinweis: Ebenso beweist man den folgenden allgemeineren
!
"
!
"
Satz Es
sei
S,
U
ein
HRaB
und
E,
e(·,
·)
ein vollständiger metrischer Raum. Der
!
"
Raum C S, E aller beschränkten stetigen Abbildungen von S in E ist vollständig bzgl.
der Metrik ,ϕ, ψ,∞ = sup{e(ϕ(P ), ψ(P )) : P ∈ S} (‘Metrik der gleichmäßigen Konvergenz’).
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
II.2 : Hausdorff-Räume mit abzählbarer Basis
51
Ergänzung
Neben den stetigen reellwertigen Funktionen werden wir uns in der Integrationstheorie
auch für die (nichtnegativen) unterhalbstetigen Funktionen interessieren. Dort interessiert
man sich nicht für gleichmäßige Konvergenz, sondern für ‘monotone’ Konvergenz.
!
"
Definition Es sei f (·) eine Funktion mit Werten in R ∪ {+∞} auf einem HRaB S, U
Man definiert
f (·) unterhalbstetig auf S
⇐⇒ {P : f (P ) > λ} offen für jedes reelle λ;
f (·) unterhalbstetig im Punkt P̃
⇐⇒ f (P ) > f (P̃ ) − ε für alle P in einer Umgebung von P̃
#
$
⇐⇒ ∀ε > 0 ∃ δ > 0 ∀ P
d(P, P̃ ) < δ ! f (P ) > f (P̃ ) − ε .
Eine Funktion g(·) nennt man oberhalbstetig, wenn −g unterhalbstetig ist. Bemerke, dass
oberhalbstetige Funktionen den Wert −∞, aber nicht den Wert ∞ annehmen können.
Eine Funktion h(·) ist offenbar genau dann stetig, wenn sie sowohl unterhalb- als auch
oberhalbstetig ist. Man zeigt leicht
1. f (·) ist genau dann unterhalbstetig in P̃ , wenn für alle gegen P̃ konvergierenden
Folgen (Pn )n gilt
lim inf n→∞ f (Pn ) ≥ f (P̃ ).
2. f (·) ist genau dann unterhalbstetig auf S, wenn f (·) in jedem Punkt unterhalbstetig
ist.
3. Wenn f1 (·) und f2 (·) in P̃ unterhalbstetig sind, dann ist auch das punktweise Minimum f (·) = (f1 ∧ f2 )(·) in P̃ unterhalbstetig.
4. Wenn f1 (·), f2(·), . . . in P̃ unterhalbstetig sind, dann ist auch f (·) = supn fn (·) in P̃
unterhalbstetig.
5. Die Indikatorfunktion einer Menge A ist genau dann unterhalbstetig, wenn A eine
offene Menge ist.
Hinweis: Die unterhalbstetigen konvexen Funktionen auf dem Rn werden uns bei anderer
Gelegenheit intensiv beschäftigen.
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
52
Stetigkeit; Topologische Räume
Einführung in die Mathematik II
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
II.3 : Stetige Funktionen auf kompakten Räumen
II.3
53
Stetige Funktionen auf kompakten Räumen
Schon in der Grundvorlesung Analysis I wird den Studierenden deutlich gemacht, dass die
kompakten Mengen in einer Theorie der Stetigkeit eine wichtige Rolle spielen. Wenn man
da, was durchaus üblich ist, die kompakten Teilmengen des Rn als die Mengen charakterisiert, die beschränkt und abgeschlossen sind, dann halten wir das für einen didaktischen
Fehler. Für diejenigen Studierenden, die noch nicht reif erscheinen für die Betrachtungsweisen der Punktmengentopologie, empfehlen wir die Erklärung: ‘Eine Teilmenge eines
metrischen Raums wird kompakt genannt, wenn sie vollständig und totalbeschränkt ist.
Für eine Teilmenge des Rn bedeutet das, dass sie beschränkt und abgeschlossen ist.’
Hier, in unserer auf Verallgemeinerung und Abstraktion zielenden Herangehensweise wollen wir uns zu diesen Aussagen vorarbeiten, ausgehend von der professionellen, für beliebige topologische Räume passenden Definition der Kompaktheit. Dabei wollen wir auch dem
für HRaB’s passenden Begriff der Folgenkompaktheit unsere Aufmerksamkeit schenken.
Definition
!
"
Ein topologischer Raum S, U heisst kompakt, wenn es zu jeder offenen Überdeckung
eine endliche Teilüberdeckung gibt.
Offensichtlich äquivalent sind die beiden folgenden Bedingungen
- Wenn {Fα : α ∈ I} eine Familie abgeschlossener
Mengen ist mit
+
existieren Indizes α1 , . . . , αN sodass n Fαn = ∅.
+
α
Fα = ∅, dann
- Wenn eine Familie abgeschlossener Mengen {Fα+ : α ∈ I} die ‘endliche Durchschnitsseigenschaft’ besitzt, ∀N+∀(α1 , . . . , αN )
n Fαn .= ∅, dann hat die Familie
einen nichtleeren Durchschnitt α Fα .= ∅.
Die letztere Version ist besonders gut geeignet für die Beweise der folgenden wichtigen
Sätze.
Satz
Jede unterhalbstetige Funktion f (·) auf einem kompakten Raum nimmt ihr Minimum an.
Beweis: Sei c̃ das Infimum aller Funktionswerte. Für jedes α > c̃ gilt Fα = {P :
f (P ) ≤ α} .= ∅. Wenn
f unterhalbstetig ist, dann sind die Fα abgeschlossen. Wegen der
+
Kompaktheit ist Fα = {P : f (P ) = c̃} nicht leer.
Satz (‘Satz von Dini’)
Sei (fn )n ein Folge stetiger Funktionen auf einem kompakten Raum, welche in jedem Punkt
absteigend nach 0 konvergiert, fn (P ) 9 0 für alle P .
Dann konvergiert die Folge gleichmäßig gegen die Nullfunktion, ,fn ,∞ 9 0.
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
54
Stetigkeit; Topologische Räume
Einführung in die Mathematik II
Beweis:
Es sei (fn ) eine absteigende Folge nichtnegativer stetiger Funktionen, die nicht gleichmäßig
gegen die Nullfunktion konvergiert. Wir zeigen, dass es Punkte P̃ gibt, in welchen die
Funktionswerte nicht gegen den Wert 0 absteigen.
Wenn die absteigende Folge nicht die Eigenschaft hat
∀ε > 0 ∃N ∀n ≥ N
sup{fn (P ) : P ∈ S} < ε,
dann gibt es ein ε∗ > 0 und beliebig große n, sodass
Fn = {P : fn (P ) ≥ ε∗ } =
. ∅.
Die Fn bilden eine absteigende Folge abgeschlossener Mengen. Wegen der Kompaktheit
von S ist der Durchschnitt nicht leer. In den Punkten des Durchschnitts bleiben die
Funktionswerte echt positiv.
Definition (Kompaktheit)
Eine Teilmenge A eines topologischen Raums heisst kompakt, wenn jede offene Überdeckung von A eine endliche Teilüberdeckung besitzt.
Der folgende Satz besagt, dass die Kompaktheit von A eine ‘innere’ Eigenschaft dieser
Menge ist, also nicht von den Verhältnissen ausserhalb von A beeinflusst ist. Um das zu
präzisieren, benötigen wir den Begriff der Spurtopologie.
Satz
!
"
Sei A irgendeine Teilmenge des topologischen Raums S, U . Das Mengensystem UA =
{U ∩ A : U ∈ U} macht die Menge A zu einem topologischen Raum. Dieser topologische
Raum ist genau dann kompakt, wenn die Menge A kompakt ist.
Sprechweisen Die Elemente von UA werden üblicherweise die A-offenen Mengen genannt; ihre Komplemente in A heissen die A-abgeschlossenen
!
"Mengen. Man beachte, dass
A-abgeschlossene Mengen i. Allg. nicht abgeschlossen in S, U sind. Beispielsweise ist die
Menge A selbstverständlich A-abgeschlossen, auch wenn S \ A nicht zu U gehört: Das
Mengensystem UA heisst die Spurtopologie oder auch die Relativtopologie über A.
Der Beweis des Satzes liegt auf der Hand.
!
"
!
"
Bemerke: Wenn S, U ein HRaB ist, dann ist auch A, UA ein HRaB.
Satz
Eine stetige Abbildung bildet jede kompakte Mengen auf eine kompakte Mengen ab.
Anders gesagt: Stetige Bilder kompakter Mengen sind kompakt.
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
II.3 : Stetige Funktionen auf kompakten Räumen
55
Beweis
Sei ϕ : (D, U) −→ (E, V) eine stetige Abbildung, und sei K ⊂ D eine kompakte Menge.
Wenn {Vα : α ∈ I} eine offene
! "Überdeckung der Bildmenge L = ϕ(K) ist, dann bilden
die vollen Urbilder Uα = ϕ−1 Vα sind eine offene Überdeckung von K. Diese besitzt eine
endliche Teilüberdeckung Uα1 , . . . UαN . Die entsprechenden
Mengen
Vα1 , . . . VαN sind eine
!(
"
offene Überdeckung von L = ϕ(K); denn wegen ϕ−1 n Vαn ⊇ K gilt ϕ(P ) ∈ L für alle
P ∈ K.
Satz
In einem Raum mit abzählbarer Basis gibt es zu jeder offenen Überdeckung einer Menge
A eine abzählbare Teilüberdeckung von A.
Beweis
Es sei {Uα } eine offene Überdeckung von A, und es seien V1 , V2 . . . diejenigen Elemente
einer vorgegebenen aufgezählten Basis, die ganz in einem Uα enthalten sind. Wir wählen
zu diesen Uα Obermengen aus der gegebenen Überdeckung. Diese bilden eine abzählbare
Teilüberdeckung von A; denn da jeder Punkt in mindestes einem Uα∗ liegt, liegt er in
mindestens einem der Vk und somit in der dazu ausgewählten Obermenge Uαk .
Definition (Folgenkompaktheit)
Ein HRaB heisst folgenkompakt, wenn jede Punktfolge (Pn ) eine konvergente Teilfolge
besitzt.
Satz
Ein HRaB ist genau dann kompakt, wenn er folgenkompakt ist.
Beweis
Sei (Pn )n eine beliebige Folge in einem kompakten Raum; und sei F die abgeschlossene
Hülle der Punktmenge A = {Pn : n ∈ N}. Für N +
= 1, 2, . . . sei FN die abgeschlossene
Hülle von {Pn : n ≥ N}. Der Durchschnitt F∞ = N FN ist eine nichtleere Teilmenge
von F . Da wir uns in einem HRaB befinden, gibt es zu jedem Punkt in F∞ eine dagegen
konvergierende Teilfolge der gegebenen Folge.
Sei umgekehrt S nicht kompakt und sei U1 , U2 , . . . eine offene Überdeckung des Grundraums,
(N welche keine endliche Teilüberdeckung besitzt. Für jedes N ist das Komplement
von 1 Un nicht leer. Wir wählen wir daraus einen Punkt PN und wir führen die Annahme
zum Widerspruch, dass (PN ) eine gegen einen Punkt P̃ konvergierende Teilfolge besitzt:
Da der angenommene Grenzwert P̃ in einem der Uk liegt, gilt Pn ∈ Uk für schliesslich alle
n in der Teilfolge, und das steht im Widerspruch zur Konstruktion der PN .
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
56
Stetigkeit; Topologische Räume
Einführung in die Mathematik II
Satz
Jeder folgenkompakte metrische Raum ist vollständig.
Beweis
Insbesondere jede Cauchyfolge besitzt in unserem folgenkompakten Raum eine konvergente Teilfolge. Wenn eine solche Teilfolge gegen P̃ konvergiert, dann konvergiert offenbar
die gesamte Cauchyfolge dagegen.
Warnung:
Der Begriff der Folgenkompaktheit ist ein unangemessener Begriff für topologische Räume,
die keine abzählbare Basis besitzen. Topologische Räume, die nicht Hausdorff-Räume mit
abzählbarer Basis sind, sollen uns in dieser Einführung nicht weiter interessieren. Wenn
wir es mit metrischen Räumen zu tun haben, dann wollen wir hier (um die Intuition zu
festigen) immer nur an separable metrische Räume denken, selbst dann, wenn wir die
Separabilität für einen Beweisgang nicht benötigen.
Satz
Jede stetige Funktion auf einem folgenkompakten metrischen Raum ist gleichmäßig stetig.
Beweis
Es sei f (·) eine Funktion, die nicht gleichmäßig stetig ist. Wir zeigen, dass es einen Punkt
P̃ gibt, in dem f unstetig ist.
!
" !
"
f nicht gleichmäßig stetig ⇐⇒ ∃ε > 0 ∀δ > 0∃P, Q d(P, Q) < δ ∧ |f (Q) − f (P )| ≥ ε
Wählen wir ε∗ und zu einer Nullfolge δn 9 0 Punkte Pn , Qn mit d(Pn , Qn ) < δn und
(|f (Qn ) − f (Pn )| ≥ ε∗ . Wegen der Folgenkompaktheit können wir eine Teilfolge wählen,
sodass für ein gewisses P̃ entlang dieser Teilfolge gilt
∀δ > 0 ∃N ∀nk > N
d(P̃ , Pnk ) < δ, d(P̃ , Qnk ) < δ, (|f (Qnk ) − f (Pnk )| ≥ ε∗ .
f (·) ist also im Punkt P̃ unstetig.
Satz
Ein metrischer Raum mit abzählbarer Basis ist genau dann folgenkompakt und damit
kompakt, wenn er totalbeschränkt und vollständig ist.
Beweis
Der Raum sei totalbeschränkt.!(Er
" trivialerweise auch separabel.) Zu jedem εn
' ist dann
aus einer summablen Nullfolge
εn < ∞ sei eine endliche Überdeckung mit εn -Kugeln
gewählt.
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
II.3 : Stetige Funktionen auf kompakten Räumen
57
Sei (Pn ) irgendeine Folge. In mindestens einer der ε1 -Kugeln liegen unendlich viele
Folgenelemente; wählen wir eine solche ε1 -Kugel U1 und darin ein Folgenelement Pn1 . In
mindestens einem der Durchschnitte von U1 mit einer unserer ε2 -Kugeln liegen unendlich
viele Folgenelemente; wählen wir eine solche ε2 -Kugel U2 und darin ein Pn2 mit n2 >
n1 . In mindestens einem der Durchschnitte von U1 ∩ U2 mit einer unserer ε3 -Kugeln
liegen unendlich viele Folgenelemente; wählen wir eine solche ε3 -Kugel und darin ein
Folgenelement Pn3 mit n3 > n2 . . . . Die Folge (Pnk )k ist eine Cauchy-Folge. Wenn der
Raum vollständig ist, dann konvergiert sie. Zu jeder Folge gibt es also eine konvergente
Teilfolge. Ein metrischer Raum, der nicht vollständig ist, ist keinesfalls folgenkompakt.
Wenn ein metrischer Raum nicht totalbeschränkt ist, dann gibt es ein ε∗ > 0 sodass der Raum nicht mit endlich vielen ε∗ -Kugeln überdeckt werden kann. Wähle P1
/ B(P1 , ε∗).. . . Wähle
irgendwie,
der ε∗ -Kugel mit dem Mittelpunkt P1 , P2 ∈
(nP2 ausserhalb
Pn+1 ∈
/ 1 B(Pk , ε∗ ). . . . Dies kann man beliebig fortsetzen, weil die ε∗ -Kugeln nicht
den ganzen Raum überdecken. Die Pn haben paarweise eine Abstand > ε∗ . Es gibt keine
konvergente Teilfolge. Ein metrischer Raum, der nicht totalbeschränkt ist, ist also gewiss
nicht folgenkompakt.
Beispiel (Die kompakten Teilmengen des Rn )
Beschränkte Teilmengen des Rn sind totalbeschränkt; abgeschlossene Teilmengen sind
vollständig. Eine Teilmenge des Rn ist also genau dann (folgen)-kompakt, wenn sie beschränkt und abgeschlossen ist. Unsere Sätze präzisieren den ‘Satz von BolzanoWeierstraß’, der besagt, dass jede beschränkte Punktfolge im Rn eine konvergente
Teilfolge besitzt. Unsere Sätze verallgemeinern auch den ‘Satz von Heine-Borel’,
welcher besagt, dass jede offene Überdeckung einer beschränkten abgeschlossenen Teilmenge des Rn eine endliche Teilüberdeckung besitzt.
Wir wenden uns wieder dem Begriff der Kompaktheit in allgemeinen topologischen
Räumen zu. Abzählbare Basen werden nicht benötigt; Folgen kommen nicht ins Spiel.
Wir befassen nochmals mit der Punktetrennung.
Satz
In einem kompakten Raum ist jede abgeschlossene Teilmenge kompakt.
In einem Hausdorff-Raum ist jede kompakte Teilmenge abgeschlossen.
Beweis
Gegeben sei eine abgeschlossene Teilmenge A des kompakten Raums (S, U). Sei {Uα ∩ A}
eine Überdeckung von A mit A-offenen Mengen, wobei wir annehmen können, dass die Uα
offen sind. Wenn wir zu den Uα noch die offene Menge !A hinzunehmen, dann haben wir
eine offene Überdeckung unseres kompakten Raums. Es existiert eine endliche Teilüberdeckung Uα1 , . . . UαN . Die A-offenen Mengen Uαk ∩ A sind eine endliche Teilüberdeckung
der gegebenen A-offenen Überdeckung von A.
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
58
Stetigkeit; Topologische Räume
Einführung in die Mathematik II
Die endlichen Mengen sind in jedem topologischen Raum kompakt; in einem HausdorffRaum sind sie auch abgeschlossen. Die zweite Aussage folgt, wenn wir für jedes kompakte
A zeigen, dass es für jedes Q ∈
/ A eine Umgebung gibt, die disjunkt zu A ist. Wir wollen
die folgende schärfere Aussage beweisen:
Satz (Die Trennung von kompakten disjunkten Teilmengen)
Wenn K und L disjunkte kompakte Teilmengen eines Hausdorff-Raums sind, dann existieren disjunkte offene Mengen U und V mit U ⊇ K und V ⊇ L.
Beweis
Zu jedem Punktepaar P, Q mit P ∈ K und Q ∈ L existieren disjunkte offene Mengen
UP,Q , VP,Q mit UP,Q * P und VP,Q * Q. Wir wählen solche Paare offener Mengen. Wenn
Q fixiert ist, dann ist {UP,Q : P ∈ K} eine offene Überdeckung der kompakten
Menge
(
K. Es+existiert eine endliche Teilüberdeckung UP1 ,Q , . . . , UPM ,Q . Für ŨQ = UPm ,Q und
ṼQ = VPn ,Q gilt ŨQ ⊇ K und {ṼQ : Q ∈ L} ist eine offene Überdeckung der kompakten
Menge
wir daraus eine endliche Teilüberdeckung ṼQ1 , . . . , ṼQN und setzen wir
( L. Wählen +
V = ṼQn , U = ŨQn , so haben wir disjunkte offene Umgebungen von K und L, wie
gewünscht.
Sprechweise Man sagt von einem Hausdorff-Raum, dass er Urysohns Trennungseigenschaft besitzt, wenn es zu jedem disjunkten Paar abgeschlossener Mengen F1 und F2
disjunkte offene Umgebungen gibt: U1 * F1 , U2 * F2 , U1 ∩ U2 = ∅. Wir haben eben
gesehen, dass die kompakten Hausdorff- Räume Urysohns Trennungseigenschaft besitzen.
Hinweis auf Metrisierbarkeit
Satz (Die Trennung disjunkter abgeschlossener Mengen in einem metrischen Raum)
Jeder metrische Raum besitzt Urysohns Trennungseigenschaft.
Beweisidee: Wir betrachten die Funktion f1 (Q) = inf{d(P, Q) : P ∈ F1 }. f1 (·), der
‘Abstand von F1 ’, ist eine stetige Funktion, die auf F1 verschwindet und auf !F1 strikt
positiv ist. Wir definieren entsprechend f2 (P ) = inf{d(P, Q) : Q ∈ F2 }. Die Mengen
U1 = {P : f1 (P ) < f2 (P )},
und U2 = {P : f2 (P ) < f1 (P )}
leisten das Verlangte.
Zur Information: Das berühmte ‘Lemma von Urysohn’ besagt im Wesentlichen: Ein
HRaB ist genau dann metrisierbar, wenn er Urysohns Trennungseigenschaft besitzt. Den
Beweis überlassen wir der Vorlesung über Punktmengentopologie.
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
II.4 : Der Satz von Stone-Weierstraß
II.4
59
Der Satz von Stone-Weierstraß
Wir studieren den Raum C(E, R) aller stetigen reellwertigen Funktionen auf einem kompakten Hausdorff-Raum (E, T). Alle diese Funktionen sind beschränkt, und die Supremumsnorm , · ,∞ macht C(E, R) zu einem Banachraum. (Die Vollständigkeit wurde oben
bewiesen.) Weiter ist zu sagen: Das punktweise Produkt zweier stetiger Funktionen ist
eine stetige Funktion. C(E, R) ist in der Tat eine Banachalgebra. Es gilt nämlich
,λ · f , = |λ| · ,f ,
,f + g, ≤ ,f , + ,g,
,f · g, ≤ ,f , · ,g, .
Wir betrachten nun Teilmengen dieser Funktionenalgebra, und zwar in erster Linie
solche Teilmengen M, welche die Punkte trennen in dem folgenden Sinn
• Man sagt von einer Menge M von Funktionen über der Grundmenge E, dass sie die
Punkte trennt, wenn gilt
∀ x .= y ∈ E ∃ f ∈ M : f (x) .= f (y) .
Man sieht sofort: Die Menge der stetigen Funktionen über einem metrisierbaren
Raum E trennt die Punkte.
• Ein wichtiges Argument für den Metrisierungssatz von Urysohn besagt: Wenn ein
HRaB Urysohns Trennungsaxiom erfüllt, dann gilt: Für jedes disjunkte Paar abgeschlossener Mengen A, B existiert eine stetige Funktion mit Werten zwischen 0 und
1 mit
{x : f (x) = 1} = A,
{x : f (x) = 0} = B.
Die Menge der stetigen Funktionen auf solchen Räumen trennt also die Punkte.(Ohne Beweis!)
Sprechweise:
Sei M eine Menge von Funktionen über einer Grundmenge E.
Man sagt von einer Funktion h(·), daß sie durch M-Funktionen in jedem Punktepaar
approximiert werden kann, wenn gilt
!
" !
"
∀ ε > 0 ∀ x, y ∈ E ∃ f ∈ M : |f (x) − h(x)| < ε ∧ |f (y) − h(y)| < ε .
Als eine Art Vorstufe zum berühmten Satz von Stone-Weierstraß beweisen wir den
Satz
Sei E ein kompakter Hausdorff-Raum und M eine Menge stetiger reellwertiger Funktionen auf E, die gegen Minimums- und Maximumsbildung abgeschlossen ist.
Jedes stetige h(·), welches in jedem Punktepaar durch M-Funktionen approximiert werden
kann, kann auch gleichmäßig auf E approximiert werden.
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
60
Stetigkeit; Topologische Räume
Einführung in die Mathematik II
Beweis
Zu ε > 0 und x .= y sei fxy (·) ∈ M so gewählt, daß
|h(x) − fxy (x)| < ε und |h(y) − fxy (y)| < ε .
Betrachten wir die Mengen
)
Ux,y : = ) z :
Vx,y : = w :
*
fx,y (z) < h(z) + ε *
fx,y (w) > h(w) − ε
.
Bemerke: Diese Mengen) sind offene Umgebungen
sowohl von x als auch von y.
*
Fixiere y. Die Familie Ux,y : )x ∈ E ist eine offene
* Überdeckung von E. Es existiert
eine endliche Teilüberdeckung
U
:
i
=
1,
2,
.
.
.
,
n
.
xi y
)
*
Setze fy (·) = min fxi y (·) : i = 1, . . . , n . fy (·) ist auf allen Uxi y und damit auf +
ganz E
kleiner als h(·) + ε. Auf Vxi y ist fxi y (·) größer als h(·) − ε; fy (·) ist daher auf Vy = n1 Vxi y
größer als h(·) − ε.
Die Schar {Vy : )y ∈ E} ist eine offene
* Überdeckung von E. Es existiert eine endliche
Teilüberdeckung Vyj : j = 1, . . . , N . Setze f (·) = max {fyi : j = 1, . . . N} . Auch
f (·) ist auf ganz E kleiner als h(·) + ε. f (·) ist auf allen Vyj und damit auf ganz E
größer als h(·) − ε. Wir haben also ein f ∈ M mit |f − h| (z) < ε für alle z .
Im Beweis des Satzes von Stone-Weierstraß werden wir den folgenden Hilfssatz benützen,
welcher auf der uns bereits bekannten Approximation der Quadratwurzelfunktion beruht.
Hilfssatz
Zu jedem
ein gerades Polynom P (x) = a2 x2 + a4 x4 + . . . + a2N x2N ,
% ε > 0 existiert
%
sodaß % |x| − P (x) % < ε für alle |x| ≤ 1 .
√
Beweis: Man beachte |x| = x2 . Nach dem vereinfachten Newton-Verfahren zur Bestimmung der Lösung y(x) für die Gleichung y 2 − x = 0 in der Nähe von y0 = 1 betrachtet
man ( für festes x ∈ [0, 1]) die Abbildung
√
√
( x, 1) * y +−→ ϕ(y) = y − 12 (y 2 − x) ∈ ( x, 1).
√
√
√
√
√
√
Es gilt ϕ(y) − x = y − x − 12 (y 2 − x) = (y − x) · (1 − 12 (y + x) < (y − x) · (1 − x).
Betrachten wir nun auf dem Einheitsintervall die Funktionenfolge y0 (x) = 1, . . . , yn+1(x) =
ϕ(yn (x)), . . .. Es√handelt sich um eine Folge von Polynomen, die auf dem Einheitsintervall
nach y∞ (x) = x absteigt. Es handelt sich um gleichmäßige Konvergenz. Die geraden
Polynome Pn (x) = yn (x2 ) streben also auf dem Intervall [−1, 1] gleichmäßig gegen die
Betragsfunktion |x|.
Corollar
Sei f eine Funktion mit Werten in [−1, +1].% Zu jedem
% ε > 0 gibt es dann eine Funktion
2
4
2N
%
|f | − fε % < ε auf dem ganzen Raum.
fε = a2 f + a4 f + . . . + a2N f , sodaß
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
II.4 : Der Satz von Stone-Weierstraß
61
Hilfssatz (Von der Funktionenalgebra um Vektorverband)
Sei A eine Algebra stetiger beschränkter Funktionen, und sei Ā ihre abgeschlossene Hülle
bezgl. der Supremumsnorm. Es gilt dann
f, g ∈ Ā =⇒ f ∧ g, f ∨ g ∈ Ā.
Beweis: Man beachte f ∨ g = 12 (f + g) + 12 |g − f |, f ∧ g = 12 (f + g) − 21 |g − f |.
Es genügt also zu zeigen f ∈ A =⇒ |f | ∈ Ā . Dabei können wir uns auf die Funktionen
mit ,f ,∞ ≤ 1 beschränken; und dafür ist das Corollar anwendbar.
Ein Vektorraum von reellwertigen Funktionen, welcher gegen punktweise Maximumsund Minimumsbildung abgeschlossen ist, wird auch ein Vektorverband genannt. Unser
Hilfssatz kann also folgendermaßen ausgesprochen werden: Wenn A eine Algebra stetiger
beschränkter Funktionen ist, dann ist die abgeschlossene Hülle bzgl. der Supremumsnorm
ein Vektorverband.
Theorem ( Satz von Stone-Weierstraß“)
”
Sei A eine Teilalgebra von C(E, R), welche die Punkte von E trennt. Für den gleichmäßigen Abschluß Ā gibt es dann genau zwei Möglichkeiten.
Fall 1. Es existiert ein x̃ ∈ E, in welchem alle f ∈ A verschwinden und Ā ist die
Gesamtheit aller in x̃ verschwindenden stetigen Funktionen.
Fall 2. Ā = C(E, R) , d.h. jede stetige Funktion auf E kann durch Funktionen aus
der Algebra gleichmäßig approximiert werden.
Beweis:
1) (Vorbemerkung) Im Fall 1 betrachten wir die Algebra
à : = {f + const : f ∈ A} .
Dies ist eine Funktionenalgebra nach Fall 2. Wenn wir Fall 2 erledigt haben, dann lösen
wir das Problem, ein stetiges h(·) mit h (x̃) = 0 bis auf ε zu approximieren zunächst
mit fε (·) + Cε ∈ Ā. Nachdem diese Funktion insbesondere im Punkt x̃ um weniger als ε
abweicht, haben wir |Cε | < ε; fε (·) ist daher eine 2ε-Approximation von h(x).
2) Im Fall 2 des Theorems, wenn es also keinen Punkt gibt, in welchem alle Funktionen
verschwinden, leistet A noch mehr als nur die Punktetrennung. Es gilt offenbar
!
" !
"
∀ x .= y ∀ a, b ∈ R ∃ f ∈ A : f (x) = a ∧ f (y) = b .
Jede stetige Funktion lässt sich also in jedem Punktepaar approximieren. Der Satz von
oben löst das Problem: Jede stetige Funktion kann durch Elemente des erzeugten Vektorverbands gleichmäßig approximiert werden.
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
62
Stetigkeit; Topologische Räume
Einführung in die Mathematik II
Wir formulieren das Resultat nochmals in Worten: Der Satz von Stone-Weierstraß liefert eine notwendige und hinreichende Bedingung dafür, daß eine Teilalgebra A in C(E, R)
dicht liegt, also eine notwendige und hinreichende Bedingung dafür, daß man jede stetige
Funktion durch Elemente in A gleichmäßig approximieren kann.
Beispiel 1
Jedes Polynom mit reellen Koeffizienten in einer Unbestimmten liefert eine stetige reellwertige Funktion auf dem kompakten Einheitsintervall E = [0, 1]. Die Gesamtheit dieser
polynomialen Funktionen ist eine Teilalgebra A ⊆ C(E, R).
Da die Algebra der Polynome die Punkte in [0, 1] trennt, ist der Abschluß Ā der ganze
Raum C(E, R). Jede stetige reellwertige Funktion auf [0, 1] läßt sich also durch polynomiale Funktionen gleichmäßig approximieren.
Beispiel 2
Jedes trigonometrische Polynom liefert eine stetige komplexwertige Funktion auf dem
kompakten Raum E = R/2π. Die reellen trigonometrischen Polynome bilden eine Algebra
(bzgl. punktweiser Addition und Multiplikation). Da die Algebra der trigonometrischen
Polynome die Punkte in R/2π trennt, kann der
! Satz von
" Stone-Weierstraß angewendet
werden. Der Abschluß Ā ist der ganze Raum C R/2π , R . Für komplexe stetige Funktionen betrachtet man Real- und Imaginärteil getrennt. Jede stetige 2π-periodische Funktion
läßt sich also gleichmäßig durch trigonometrische Polynome approximieren.
Beispiel 3
Jede stetige Funktion f (x, y) auf R2 mit f (x + mπ, y + nπ) = f (x, y) für alle m, n ∈ Z
lässt sich durch Linearkombinationen der Funktionen ei(kx+ly) mit k, l ∈ Z gleichmäßig
approximieren.
Hinweise: Die bekannte Approximation von 2π-periodischen Funktionen durch ihre
Fourier-Polynome verfolgt nicht das Ziel der gleichmäßigen Approximation. Sie leistet
(in einer optimalen Weise) die Approximation in der quadratischen Norm, und das für
beliebige quadratisch integrierbare 2π-periodische Funktionen.
Bei genauerer Betrachtung stellt sich heraus, dass es stetige 2π-periodische Funktionen
gibt, für welche die Folge der Fourier-Polynome nicht in allen Punkten konvergiert–von
gleichmäßiger Konvergenz kann also überhaupt nicht die Rede sein. Beispiele findet man
in der Spezialliteratur, z. B.
Zygmund: Trigonometric Series I, Cambridge 1959, Seite 298
Möglicherweise noch lehrreicher ist ein (für uns hier nicht zugänglicher) Existenzbeweis
aufgrund eines allgemeinen Prinzips der Funktionalanalysis, des sog. ‘principle of uniform
boundedness’. Siehe z. B.
Heuser, Funktionalanalysis, Teubnerverlag, Seite 269.
Das sind aber hier nicht unsere Themen.
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
II.5 : Konkrete Approximationen; ‘Regularisierung’.
II.5
63
Konkrete Approximationen; ‘Regularisierung’.
Die folgenden Approximationen arbeiten mit speziellen Funktionen, die auch in anderen
Zusammenhängen von Interesse sind. Wir stützen uns dabei auf Begriffe der elementaren
Stochastik, wie Erwartungswert, Varianz und Tschebyschev’s Ungleichung.
Satz (Die Bernsteinpolynome)
Sei f (·) eine stetige Funktion auf dem abgeschlossenen Einheitsintervall und
f
(n)
(x) =
n
&
k=0
f ( nk ) ·
! n" k
x (1 − x)n−k
k
für
x ∈ [ 0, 1].
!
"
Die Folge f (n) (·) n konvergiert dann gleichmäßig gegen f (·).
Vorbemerkungen
- Die Funktion f (n) (·) heisst das n-te Bernstein-Polynom zu f (·).
! "
- Die Polynome p(x) = pn,k (x) = nk xk (1 − x)n−k für k = 0, · · · , n heissen die elementaren Bernsteinpolynome der Ordnung n. Mittels partieller Integration weist man
1
hat.
leicht nach, dass jedes von ihnen den Integralwert n+1
- Die Linearkombination der elementaren Bernsteinpolynome mit den Koeffizienten
f ( nk ), den f -Werten in den ‘Stützstellen’, ergibt das Bernstein-Polynom f (n) (·).
- Die Abbildung, die jedem stetigen f (·) ihr Bernstein-Polynom der Ordnung n zuordnet, ist eine lineare Abbildung in den (n + 1)-dimensionalen Vektorraum aller
Polynome vom Grad ≤ n.
Beweis des Satzes
In der elementaren Stochastik lernt man: Wenn Z1 , Z2 , . . . unabhängige Zufallsgrößen sind
mit Wsx (Z = 1) = x = 1 − Wsx (Z = 0), dann gilt für die Summe Sn = Z1 + · · · + Zn
!
" ! "
Ws(Sn = k) = Ws n1 (Z1 + · · · + Zn ) = nk = nk xk (1 − x)n−k für k = 0, · · · , n.
Anders gesagt: Wenn man ein Experiment mit der Erfolgswahrscheinlichkeit x n-mal
unabhängig wiederholt, dann ist die Häufigkeit der Erfolge eine binomialverteilte Zufallsgröße Sn .
Der Wert des Bernsteinpolynoms im Punkt x kann
! 1als "ein Erwartungswert (‘unter der
(n)
Hypothese x’) interpretiert werden: f (x) = Ex f n Sn . In der elementaren Stochastik
zeigt man
%
"
"
!
"
!%
!
1
1
varx n1 Sn = n1 x(1 − x) ≤ 4n
;
Wsx % n1 Sn − x% ≥ δ < δ12 4n
.
Ex n1 Sn = x;
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
64
Stetigkeit; Topologische Räume
Einführung in die Mathematik II
Für ‘großes’ n ist die Binomalverteilung auf eine! ‘kleine’
Umgebung des Erwartungswerts
"
konzentriert. Der entscheidende Beitrag zu Ex f Snn kommt von den Werten der relativen
Häufigkeit in der ‘kleinen’ Umgebung Uxδ = { y : |y − x| < δ }.
Die Funktion f (·) ist beschränkt und gleichmäßig stetig. Wenn |f (x)| ≤ M für alle x und
|f (y) − f (x)| < ε für alle x, y mit |y − x| < δ, dann gilt
$
#%
%
% (n)
%
% f (x) − f (x) % = Ex %f ( 1 Sn ) − f (x)%; { 1 Sn ∈ U δ } +
x
n
n
#%
$
%
+ Ex %f ( n1 Sn ) − f (x)%; { n1 Sn ∈
/ Uxδ }
!
"
!
"
≤ ε · Wsx { n1 Sn ∈ Uxδ } + 2M · Ws { n1 Sn ∈
/ Uxδ }
1
≤ ε + 2M · δ12 4n
.
Zu
vorgegebenem
% (n)
% ε gibt es eine (von x unabhängige !) Zahl N, sodass für n ≥ N gilt
% f (x) − f (x) % < 2ε. Der Satz ist bewiesen.
Erste Hinweise auf die Beta- und die Gammafunktion
- .−1
,1 k
1
k! · (n − k)!
n
n−k
Wir haben gesehen 0 x (1 − x)
dx =
=
.
n+1 k
(n + 1)!
Allgemeiner betrachtet man für α, β > 0 das sog. ‘Erste Euler’sche Integral’
/ 1
B(α, β) =
xα−1 (1 − x)β−1 dx;
0
und man nennt die Funktion B(·, ·) die Betafunktion.
Die Betafunktion ist eng verwandt mit der berühmten Gammafunktion Γ(·). Für positive
Argumente α ist diese durch das sog. ‘Zweite Euler’sche Integral’ gegeben.
/ ∞
Γ(α) =
xα−1 e−x dx.
0
Die Gammafunktion erfüllt die Funktionalgleichung α · Γ(α) = Γ(α + 1). Weiter gilt
Γ(n + 1) = n! für n = 0, 1, 2, 3, . . .. Die Gammafunktion interpoliert also die ‘Fakultätsfunktion’; und man kann zeigen, dass sie eine logarithmisch konvexe Interpolation ist. Im
Abschnitt über glatte konvexe Funktionen werden wir zeigen, dass die Gamma-Funktion
in der Tat (bis auf einen Faktor) die einzige logarithmisch konvexe Funktion ist, welche die obengenannte Funktionalgleichung erfüllt. Aus diesem bemerkenswerten Satz (der
auf H. Bohr zurückgeht) kann man auf sehr einfache Weise interessante Formeln für die
Gammafunktion und die Betafunktion herleiten. Beispielsweise zeigt man leicht
B(α, β) =
Γ(α) · Γ(β)
Γ(α + β)
für alle α, β.
Das Integral der elementaren Bernstein-Polynome ergibt sich als Spezialfall.
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
II.5 : Konkrete Approximationen; ‘Regularisierung’.
65
Approximierende trigonometrische Polynome
Satz: Es sei f (·) eine reellwertige stetige 2π-periodische Funktion mit den Fourier, 2π −int
1
Koeffizienten cn = 2π
e
f (t)dt. Und es sei
0
f (N ) (t) =
N
&
−N
(1 −
|n| +
)
N
· cn eint .
!
"
Die Folge f (N ) (·) N konvergiert dann gleichmäßig gegen f (·).
Bemerkung:
f (t) =
f
(N )
Wenn die Folge der Fourier-Koeffizienten summabel ist, dann gilt
∞
&
−∞
(t) =
1
a
2 0
cn eint = 21 a0 +
∞
&
!
k=1
1
)
N
"
ak cos(kt) + bk sin(kt) .
"
!
"
+ (1 −
a1 cos t + b1 sin t + (1 − N2 ) a2 cos 2t + b2 sin 2t + · · ·
!
"
· · · + N1 aN −1 cos(N − 1)t + bN −1 sin(N − 1)t .
!
In diesem Fall ist die gleichmäßige Konvergenz offensichtlich.
Für den Beweis des Satzes holen wir weiter aus. Wir betrachten (der Übersichtlichkeit
wegen) zuerst Funktionen auf R, bevor wir uns unserem konkreten Problem mit den
stetigen Funktionen auf R/2π zuwenden.
Integralkerne
,
Es sei P (s, t) ≥ 0 stetig auf R × R mit P (s, t) dt = 1 für alle s.
Für jede beschränkte stetige Funktion
f (·) definieren wir die ‘P -transformierte’ Funktion
,
∗
˜
˜
f = P f als das Integral f (s) = P (s, t)f (t) dt. (Man sollte sich hier vielleicht an die
lineare Algebra erinnern. Der Funktion f entspricht dort eine Spalte, und dem ‘Kern’
P (·, ·) entspricht eine stochastische Matrix, d. h. eine Matrix mit nichtnegativen Einträgen, bei welcher jede Zeilensumme den Wert 1 hat.) Die lineare Abbildung P ∗ bildet
offenbar die konstanten Funktionen in sich ab. Ausserdem gilt ,P ∗f ,∞ ≤ ,f ,∞ .
Besonderes Interesse verdient der Fall P (s, t) = p(s − t), wo p(·) eine nichtnegative
Funktion mit dem Integralwert = 1 ist.,In diesem Fall erinnert
die Konstruktion nämlich
,
˜ = p(s − t)f (t) dt = f (s − u)p(u) du,. Die Formel
an ein Faltungsintegral; es gilt f(s)
fasst man gern in die folgenden Worte: Die Funktion f˜ ergibt sich, indem man die Verschobenen der Funktion f mit der Wahrscheinlichkeitsdichte p(u) du mittelt. Wenn p(·)
eine ‘glatte’ Funktion ist, die ausserhalb einer ‘kleinen’ Umgebung des Nullpunkts ’klein’
ist, dann kann man die Transformation f +−→ f˜ = P ∗f als eine Regularisierung verstehen:
f˜(s) ist der gewichtete Mittelwert der Funktionswerte von f in einer ‘kleinen’ Umgebung
von s. Die Operation ‘glättet’ oder ’regularisiert’ die Funktion.
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
66
Stetigkeit; Topologische Räume
Einführung in die Mathematik II
In der Stochastik präsentiert man die Werte regularisierter Funktionen als Erwartungswerte
˜ = E f (s − U) wo U die Dichte p(u)du hat.
f(s)
Beliebt ist z. B. die Regularisierung mit einer zentrierten Normalverteilung
/
1
2
1
f˜(s) = E f (s − σZ) = f (s − u) √2πσ
e− 2σ2 u du.
Wenden wir uns nun den Funktionen und den Dichten auf R/2π zu. Es sei P (s, t) ≥ 0 für
, 2π
1
alle s, t ∈ R/2π mit 2π
P (s, t)dt = 1 für alle s.
0
,
˜ = 1 T +π P (s, t)f (t)dt
Für jede 2π-periodische Funktion f (·) ist dann die Funktion f(s)
2π T −π
eine 2π-periodische Funktion, wobei der Wert von T keine Rolle spielt.
Besonderes Interesse verdient der Fall P (s, t) = p(s − t), wo p(·) eine nichtnegative 2π, 2π
1
periodische Funktion ist mit dem 2π
p(t)dt = 1. In diesem Fall gilt
0
/
/
1
1
˜
f(s) =
p(s − t)f (t)dt =
f (s − u)p(u)du,
2π
2π
wobei das Integral über eine volle Periode zu erstrecken ist.
Faltung über R/2π
Hier ergibt sich eine willkommene Gelegenheit, wieder einmal über die Faltung zu sprechen. Während wir früher in der algebraischen Theorie der trigonometrischen Polynome
summable Koeffizientenfolgen gefaltet haben (Stichwort ‘Cauchy-Produkt’), wollen wir
hier Gewichtungen mit integrablen Dichten auf dem kompakten Raum R/2π falten.
Seien f (·) und g(·) 2π-periodische Funktionen mit
1
,f ,1 :=
2π
/+π
|f (s)|ds < ∞ ,
−π
1
,g,1 :=
2π
/+π
|g(s)|ds < ∞ .
−π
Man nennt solche f (·) und g(·) Dichten von Gewichtungen über R/2π. Für Dichten von
Gewichtungen definiert man das Faltungsprodukt über R/2π “
”/
1
f (s) · g(t − s)ds für R/2π,
h(t) =
2π
wo die Integration über irgendein Intervall der Länge 2π zu erstrecken ist. Man beweist
leicht, dass die Norm des Faltungsprodukts ,h,1 nicht größer ist als das Produkt der
Normen.
Sehr spezielle komplexe Gewichtungen ergeben sich aus den 2π-periodischen Funktionen
en (s) = eins ; n = 0, ±1, ±2, . . . . Die paarweisen Faltungsprodukte sind leicht auszurechnen
0
0 falls n .= m
en ∗ em =
en falls n = m
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
II.5 : Konkrete Approximationen; ‘Regularisierung’.
67
1
Weitere interessante komplexe Gewichtungen auf R 2π ergeben sich aus den trigonome+N
'
trischen Polynomen h(·) =
an · en (·). Wenn man eine solche Gewichtung mit em (·)
−N
faltet, dann ergibt sich ein Vielfaches von em (·). Es gilt nämlich offenbar
(h ∗ em ) (·) = am · em (·),
mit
1
am =
2π
/+π
h(s) · e−ims ds
−π
Aus der Bilinearität der Faltungsoperation ergibt sich nun der
Satz:
Das Falten trigonometrischer Polynome spiegelt sich in der punktweise Multiplikation der
Koeffizientenfolgen.
#&
$ #&
$ &
an en ∗
bm em =
(an · bn ) en .
Man sollte sich hier an den bekannten analogen Satz erinnern:
Satz:
Die punktweise Multiplikation trigonometrischer Polynome spiegelt sich in der Faltung
der Koeffizientenfolgen (Cauchy-Produkt).
Hinweis:
Die Idee der Faltung von Gewichtungen auf R/2π eröffnet eine neue Sicht auf FourierKoeffizienten und Fourier-Polynome: In der Wahrscheinlichkeitstheorie definiert
man für
, ins
jede Gewichtung dµ(·) die Folge der sog. charakteristischen Koeffizienten φn = e dµ(s);
und man assoziiert dazu trigonometrische Polynome
gN =
N
&
−N
φn e−ins ,
GN =
&!
1−
"
|n| +
φn e−ins .
N
(Trotz der formalen Ähnlichkeit spricht man in diesem Zusammenhang nicht von FourierKoeffizienten und approximierenden Fourier-Polynomen für die Gewichtung dµ(·); man
beachte auch, dass eins durch e−ins ersetzt erscheint). Die Begriffsbildungen und Notationen aus der Stochastik sollen hier aber nicht weiter verfolgt werden. Man findet sie
lehrbuchmäßig ausgearbeitet unter dem Stichwort ‘Satz von Herglotz’.
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
68
Stetigkeit; Topologische Räume
Einführung in die Mathematik II
Im Geiste dieses Ansatzes assoziieren wir mit der stetigen 2π-periodischen Funktion
h(·) für jedes N die trigonometrischen Polynome
hN (s) =
+N
&
an eins
−N
1
mit an :=
2π
/+π
h(s) · e−ins ds
−π
N
" &!
1!
h0 (·) + h1 (·) + . . . + hN −1 (·) =
1−
HN (s) =
N
0
|n| "+
N
an eins .
Für diese aus der integrablen 2π-periodischen Funktion h(·) abgeleiteten trigonometrischen Polynome gilt nun
Satz :
Das approximierende Fourierpolynom hN (·) entsteht aus f (·) durch Faltung mit dem
Dirichlet-Kern; das Césaro-Mittel HN (·) entsteht durch Faltung mit dem Fejér-Kern.
Beweis
Wir erinnern an die Definition
des Dirichlet-Kerns
DN und des Fejér-Kerns FN . Ausserdem
,
,
1
1
bemerken wir
DN (t)dt = 1 = 2π FN (t)dt. Da der Fejér-Kern nichtnegativ ist,
2π
kann man das Falten mit ihm als eine Regularisierung verstehen.
.
+N
&
1
int
1
sin (N + 2 )t
DN (t)
=
e =
sin 2t
−N
.
1
1
1 i(N + 1 )t
i(N
+
)t
2
2
=
·
e
−e
,
sin 2t 2i
- .
"
1!
1
1
N
2
FN (t)
=
D0 (t) + . . . + DN −1 (t)
=
·
t
2 t · sin
N
N sin 2
2
(h ∗ DN ) (t) =
N
&
(h ∗ FN ) (t) =
&!
−N
(h ∗ en ) (t) =
1−
"
|n| +
N
N
&
−N
an · en (t),
1
an · en =
2π
/
h(s) · FN (t − s)ds.
Die Regularisierung durch Faltung mit FN kann man auf beliebige integrable 2πperiodische Funktionen anwenden. Betrachten wir das
Beispiel (Eulers Sägezahnfunktion)
E(·) sei die 2π-periodische Funktion mit
0
−π − s für s ∈ (−π, 0)
E(s) =
π − s für s ∈ (π, 0)
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
II.5 : Konkrete Approximationen; ‘Regularisierung’.
Die Fourier-Koeffizienten sind a0 = 0 und
/
1
i
an =
E(s)e−ins ds = −
2π
n
69
für n .= 0 .
Das approximierende Fourierpolynom der Ordnung N ist
EN (s) =
+N
&
−N
an eins =
N
&
2
sin(ns) .
n
1
Die Folge der Fourier-Koeffizienten ist nicht summabel. Es ist interessant, auf dem Computer zu sehen, in welchem Sinne die Fourierpolynome EN bzw. ihre Césaro-Mittel doch
gegen die Sägezahnfunktion konvergieren.
Ein ähnlich eindrucksvolles Beispiel liefert die (2π-periodische fortgesetzte) Signumfunktion
.
0
" 4
4 !
1
1
1 für s ∈ (0, π)
· E(s) + E(π − s) =
sin s + sin 3s + sin 5s + . . .
=
−1 für s ∈ (−π, 0)
π
π
3
5
Konsequenzen
'N
|n| +
int
ist die mittels des
Das trigonometrische Polynom h(N ) (t) =
0 (1 − N ) · cn e
(N )
Fejér- Kerns geglättete Funktion: h
= h ∗ FN . Die Wahrscheinlichkeitsgewichtung mit
der Dichte FN ist symmetrisch um den Nullpunkt und legt den größten Teils des Gewichts
in die Nähe des Nullpunkts.
- Wenn, wie es im Satz vorausgesetzt war, h gleichmäßig stetig ist, dann liefert das
gleiche Argument wie bei den Bernstein-Polynomen die gleichmäßige Konvergenz
h(N ) −→ h.
- Wenn h(t) in einem Punkt t̃ stetig ist (und insgesamt beschränkt), dann haben wir
(h ∗ FN ) (t̃) −→ h(t̃).
- Wenn f (·) stückweise stetig ist mit Sprungstellen, dann konvergiert die Zahlenfolge
(h ∗ FN ) (t̃) in jeder Sprungstelle t̃ gegen den Mittelwert zwischen dem rechtsseitigen
und dem linksseitigen Grenzwert.
Bemerkung
Die Faltung mit den ‘Dirichlet-Kernen’ ist keine Glättung, weil die Dirichlet-Kerne nicht
überall positiv sind. Die Faltung liefert die approximierenden Fourier-Polynome, und diese
konvergieren nach einem berühmten Satz von Carleson (1966) für alle p-integrablen h(·),
(p > 1), fast überall im Lebesgue’schen Sinne gegen h. Der Beweis ist sehr delikat.
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
70
Stetigkeit; Topologische Räume
Einführung in die Mathematik II
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
II.6 : Von Euler’s Analysis zum allgemeinen Funktionsbegriff
II.6
71
Von Euler’s Analysis zum allgemeinen Funktionsbegriff
Die Analysis hat eine lange, mehrfach gebrochene Tradition. Es ist eine offene didaktische
Frage, wieviel unsere Anfänger von den alten (möglicherweise als ’natürlich’ oder ‘naheliegend’ eingeschätzten) Denkmustern erfahren oder wissen sollten, um ein adäquates
Verständnis für die aktuelle Analysis zu entwickeln. Man wird hier wohl entsprechend den
Studienzielen zu differenzieren haben.
Geometrisch gegebene und elementar dargestellte Funktionen
Der Calculus von Newton und Leibniz war ein Kalkül der geometrischen Variablen gewesen, von Größen, die explizit mit geometrischen Kurven assoziiert waren; ihr Studium
orientierte sich an intuitiven geometrischen Begriffen. Als man sich im 18. Jahrhundert
von den geometrisch verstandenen Kurven abwenden wollte, begann man die Analysis
als die Untersuchung funktionaler Beziehungen zwischen Zahlen zu betreiben, wobei der
Funktionsbegriff im Wesentlichen durch Galilei’s Darstellung der Naturgesetze inspiriert
war. Man unternahm Versuche, Prinzipien der Arithmetik an die Stelle der geometrischen
Intuition zu setzen.
Eindrucksvolle Anstrengungen unternahm insbesondere Lagrange. In seinem großen
Werk Mécanique analytique (1788), war es ihm gelungen, die Resultate von Euler, d’Alembert und anderen Forschern zu verarbeiten und von einem einheitlichen Standpunkt,
der von ihm weiterentwickelten Variationsrechnung, darzustellen. In seinen Büchern über
Funktionen (1797 und 1801) beschritt Lagrange dann einen ganz anderen Weg. Er versuchte der Infinitesimalrechnung dadurch eine sichere Grundlage zu geben, dass er sie auf
die Algebra reduzierte. Die Abwendung von der geometrischen Intuition in seiner Funktionenlehre war Lagrange so wichtig, dass er im Vorwort betonte, dass man in seinem Werk
keine Figuren, sondern nur algebraische Operationen findet. Lagrange lehnte die Theorie
der Grenzwerte, so wie sie von Newton angedeutet und von d’Alembert formuliert worden
war, ab und baute seine Theorie vollständig auf die Idee der Taylorreihe.
Das entscheidende Defizit von Lagrange’s Funktionentheorie bestand darin, dass die
Konvergenz der Reihen ungenügend beachtet wurde, (ein Defizit, welches nachhaltig erst
1826 durch N. H. Abel behoben wurde).
Der Wunsch nach einer abstrakten Behandlung der stetigen Funktionen (und einer
mathematisch wohlfundierten Theorie des Kontinuums) war natürlich mit dem Scheitern
des Ansatzes von Lagrange nicht erledigt.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, vor Bolzano (1817) und Cauchy (1821), war die Stetigkeit (einer Kurve oder einer Funktion) immer irgendwie an ihre Darstellung geknüpft.
In der frühen Zeit war die Stetigkeit kein Postulat, also keine Annahme, auf welche man
eine Theorie gründen wollte; die Stetigkeit (wie auch die Differenzierbarkeit) erscheint als
eine bemerkenswerte Eigenschaft von vorgefundenen oder irgendwie konkret konstruierten
Funktionen.
Zur Erläuterung der alten Auffassung zitieren wir einige ‘Definitionen’ aus seinerzeit
maßgebenden Lehrbüchern:
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
72
Stetigkeit; Topologische Räume
Einführung in die Mathematik II
• Euler (1748): Eine Function einer veränderlichen Zahlgröße ist ein analytischer Ausdruck, der auf irgend eine Weise aus der veränderlichen Zahlgröße und aus eigentlichen Zahlen oder aus constanten Zahlgrößen zusammengesetzt ist.
• Klügel (1803): Function einer veränderlichen Größe ist der analytische Ausdruck
der Zusammensetzung einer Größe aus dieser veränderlichen Größe und einer oder
mehrerer unveränderlicher. (Satz: Wenn y eine Function von x ist, so ist x auch eine
Function von y. )
Man sollte wissen: ‘Analytische Ausdrücke’ sind bei Euler Gebilde, die durch Anwendung
der gängigen mathematischen Operationen (einschließlich der unendlichen Summen!) entstehen. Dieser Euler’sche Funktionsbegriff (sowie seine Bezeichnung f (x) für den Wert der
Funktion f an der Stelle x) war für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts maßgebend.
Es ist allerdings zu bemerken, dass Euler selbst immer wieder von der offiziellen Definition abwich. In seinen ‘Unterweisungen in der Differentialrechnung’ von 1755 sagt er
z. B.:
• Sind nun Größen auf die Art voneinander abhängig, dass keine davon eine Veränderung erfahren kann, ohne zugleich eine Veränderung in den anderen zu bewirken, so
nennt man diejenige, deren Veränderung man als die Wirkung von der Veränderung
der anderen betrachtet, eine Funktion von dieser; eine Benennung, die sich so weit
erstreckt, dass sie alle Arten, wie eine Größe durch eine andere bestimmt werden
kann, unter sich begreift.
Ebenfalls bemerkenswert ist Eulers ‘Definition’ einer stetigen Funktion im Lehrbuch ‘Institutiones Calculi integralis III’ (1768- 1770) als ‘Kurve, die man mit der freien Hand
zeichnen kann’ ( ‘curva quaecunque libero manu descripta’ ).
Stetigkeit erschien überdies lange Zeit an die Einheitlichkeit der Darstellung geknüpft.
Cauchy hatte gegen Widerstände anzukämpfen, als er darauf bestand, dass es bei einer
Funktion nicht darauf ankommen sollte, wie sie gegeben ist. Es fiel seinen Zeitgenossen
schwer zu akzeptieren, dass Zuordnungen wie


/ ∞
 1 wenn α > 0
2
sin αx
R * α +−→
dx
und
R * α +−→ 0 wenn α = 0

π 0
x

−1 wenn α < 0
!
ein und dieselbe Funktion" sind. Man bezeichnet diese Funktion heute übrigens als die
Signum-Funktion sign(α) .
Die durch Formeln gegebenen Funktionen spielen natürlich bis heute eine wichtige Rolle in den Anwendungen der Mathematik, und sie erfahren zurecht Aufmerksamkeit in
der ersten mathematischen Grundvorlesung. Für Studierende, die sich hauptsächlich für
Anwendungen in der Physik und in den Ingenieurswissenschaften interessieren, werden
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
II.6 : Von Euler’s Analysis zum allgemeinen Funktionsbegriff
73
die explizit gegebenen Funktionen weiterhin im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen.
Das Feld ist allerdings insofern heute wesentlich reicher als zu Eulers Zeiten, weil heute nicht nur Formeln (und die freie Hand) für die Darstellung zur Verfügung stehen,
sondern auch Computerprogramme. Die Studierenden der Mathematik auf der anderen
Seite werden bald zu erfahren haben, dass die explizit analytisch dargestellten und die
geometrisch gegebenen Funktionen heute nicht mehr den Kern der Analysis ausmachen.
Demgemäß werden die Studierenden bald mit Funktionenräumen zu konfrontieren sein;
sie sollten verstehen, dass verschiedene Zielsetzungen verschiedene Präzisierungen oder
Ausgestaltungen des Funktionsbegriffs erfordern. Vervollständigung ist dafür sehr wichtig, z. B. gleichmäßige Konvergenz für die stetigen Funktionen, kompakte Konvergenz für
die durch Potenzreihen dargestellten Funktionen, Normkonvergenz für die trigonometrischen Reihen.– Wenig reelle Analysis braucht man allerdings, wenn es mit gewöhnlichen
Differentialgleichungen und ihren Anwendungen in der Mechanik weitergehen soll, (etwa
im Sinne der wunderbaren Bücher von V. I. Arnold). Hier ist eher die Lineare Algebra
die Grundlagendisziplin.)
Die sog. statische Definition der Stetigkeit
Die Differential- und Integralrechnung (einschließlich der Variationsrechnung) war im 18.
Jahrhundert zu einer eindrucksvollen Blüte gebracht worden. Bei den konkreten Untersuchungen, die sich fast ausschliesslich auf Fragen aus Astronomie und Mechanik bezogen,
hatten sich die Mathematiker nicht allzusehr um die Grundlagen ihrer Arbeit gekümmert.
Geht vorwärts, der Glaube wird sich schon einstellen“ soll d’Alembert gesagt haben. Die
”
positive Entwicklung erschien sich aber gegen Ende des Jahrhunderts zu erschöpfen. Lagrange meinte, die ’Mine der Mathematik’, sei schon sehr tief und man müsse sie wohl
früher oder später aufgeben, falls keine neuen Adern entdeckt würden. In einem Brief an
d’Alembert (1772) meinte er : ‘Scheint Ihnen nicht, dass die erhabene Geometrie ein
wenig dazu neigt, dekadent zu werden?’ ‘Sie hat keine andere Stütze als Sie und Herrn
Euler.’ Im ähnlichem Sinne erklärte 1811 der junge Cauchy: ‘Die Arithmetik, die Geometrie, die Algebra und die transzendente Mathematik sind Wissenschaften, die man als
abgeschlossen betrachten kann; es bleibt nur noch übrig, von ihnen nützliche Anwendungen
zu machen.’
Eine (im Sinne der euklidischen Mathematik) befriedigende Grundlegung des Calculus
war im 18.Jahrhundert nicht gefunden worden. Es gab verschiedene Meinungen dazu. Auf
der einen Seite erklärte 1810 S. F. Lacroix (1765 - 1843), der Verfasser des maßgeblichen
Lehrbuchs Traité du calcul différentiel et du calcul intégral “(2 Bände, 1797): Solche
”
Spitzfindigkeiten, mit denen sich die Griechen abquälten, brauchen wir heute nicht mehr.
Auf der anderen Seite wurde das Fehlen der Grundlagen aber doch von vielen nicht nur als
Schönheitsfehler, sondern auch als ein Hemmnis des Fortschritts empfunden. Man suchte
weiter eine Antwort auf die Frage, welche die Berliner Akademie bereits im Jahr 1784 als
Aufgabe formuliert hatte:
• Die höhere Geometrie benutzt häufig unendlich große und unendlich kleine Größen;
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
74
Stetigkeit; Topologische Räume
Einführung in die Mathematik II
jedoch haben die alten Gelehrten das Unendliche sorgfältig vermieden, und einige
berühmte Analysten unserer Zeit bekennen, dass die Wörter unendliche Größe widerspruchsvoll sind. Die Akademie verlangt also, dass man erkläre, wie aus einer
widersprechenden Annahme so viele richtige Sätze entstanden sind, und dass man
einen sicheren und klaren Grundbegriff angebe, welcher das Unendliche ersetzen
dürfe, ohne die Rechnungen zu schwierig oder zu lang machen.
Zudem hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein didaktischer Gesichtspunkt Gewicht
bekommen. Es war nicht mehr so, dass die Mathematiker ausschliesslich in Salons oder
gelehrten Akademien Gedankenaustausch pflegten; sie wirkten auch als Lehrer an den
Universitäten und technischen Lehranstalten; und für die Vorlesungen sorgten sich viele
Lehrende um einen systematischen Aufbau der Lehrstoffs. Als Professor an der École Polytechnique versuchte Cauchy ab 1820 mathematische Strenge zusammenzubringen (wie
er sagte) mit der Einfachheit, die sich aus der direkten Betrachtung infinitesimal kleiner Größen ergibt. Cauchy verwendete den Grenzwertbegriff von d’Alembert und nutzte
andererseits die Bezeichnungen von Lagrange, allerdings ohne Rekurs auf dessen ‘algebraischen’ Begründungsversuch. Cauchy erklärt, was man sich unter einer stetigen Funktion
vorzustellen hat, folgendermaßen:
Eine Funktion f (x) verhält sich stetig für x zwischen zwei Werten, wenn zwischen
diesen Werten ein infinitesimal kleiner Zuwachs der Variablen einen infinitesimal kleinen
Zuwachs der Funktion hervorruft.
Unter einer infinitesimalen Größe versteht Cauchy
eine Variable mit dem Grenzwert 0.
(Einen genaueren Einblick in die Ausdrucksweise findet man z. B. in der Monographie
C. H. Edwards, Jr.: The Historical Development of the Calculus, Springer-Verlag S 309 )
Auch wenn Cauchy’s Bemühen um Strenge nicht wirklich gelungen ist (Cauchy erkannte
beispielsweise weder die Bedeutung der gleichmäßigen Stetigkeit einer Funktion noch die
Relevanz der gleichmäßigen Konvergenz einer Funktionenfolge), so ist doch festzustellen,
dass seine auf Strenge bedachten Lehrwerke Course d’ analyse (1821), und Resumé des
leçons données à l’école royale polytechnique, (1823) ) einen nachhaltigen Einfluss auf die
weitere Entwicklung der Analysis hatten. Man kann sogar mit einem gewissen Recht sagen,
dass Cauchy’s auf den Konvergenzbegriff gegründeter Aufbau der Infinitesimalrechnung
bis heute die Lehrtexte für die Anfänger prägt. Sie wird noch weithin bevorzugt gegenüber
der in technischer Hinsicht weit überlegenen Ausdrucksweise von Weierstraß, die man mit
dem unfreundlich gemeinten Namen Epsilontik belegt hat. Viele Lehrbücher erklären,
Cauchy hätte in seinem Cours d’ analyse den Stetigkeitsbegriff im Wesentlichen genauso
eingeführt wie Bolzano (wobei übrigens von den Mathematikhistorikern nicht geklärt werden konnte, ob Cauchy Bolzanos Arbeit kannte). Eine solche Gleichsetzung muss aber in
Frage gestellt werden; man muss wohl eher Weierstraß rechtgeben, der Cauchy’s Vorstellungwelt der konvergierenden Folgen misstraute und in ihr einen verdächtigen Rückgriff
auf antiquierte Bewegungsvorstellungen, und damit auf unpassende Raum- und Zeitanschauungen sah.
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
II.6 : Von Euler’s Analysis zum allgemeinen Funktionsbegriff
75
Bolzano (1781 - 1848) verbindet seine (oben zitierte) Definition der Stetigkeit mit
einem philosophischen Anspruch. Bolzano kritisiert inadaequate Vorstellungen vom Unendlichen. Er spricht bei keiner Gelegenheit von infinitesimalen Zuwächsen, und er lehnt
für die Analysis konsequent jede geometrische Anspielung ab. Bei Bolzano, den man als
den ersten Pionier der Arithmetisierung der Analysis bezeichnen kann, gewinnt die Stetigkeit einer Funktion den Charakter eines Postulats, dessen Konsequenzen zu studieren
sind. Ein erstes Beispiel ist die Abhandlung : ‘Rein analytischer Beweis des Lehrsatzes,
dass zwischen zwei Werten, die ein entgegengesetztes Resultat gewähren, wenigstens eine
reelle Wurzel der Gleichung liege’. Es geht Bolzano darum, die ‘wahren Gründe’ (wie er
sagt) für den Sachverhalt aufzudecken. Bolzanos Betrachtungen ist auch deswegen höchst
bemerkenswert, weil er bei seiner strengen Argumentation eine ganze Reihe von Prämissen benennt, die anderswo erst viel später explizit formuliert worden sind. Bolzano hält
z. B. fest, es liege in der Bestimmung des Begriffs der reellen Zahl, dass eine nach oben
beschränkte Menge eine kleinste obere Schranke besitzt. Bolzano hatte auch ein Vorstellung von gleichmäßiger Konvergenz. Weiter erkannte Bolzano die Bedeutung konvergenter
Teilfolgen (der sog. Satz von Bolzano–Weierstrass erinnert daran). Bei all dem vermeidet Bolzano nicht nur alle geometrischen sondern auch alle ‘dynamischen’ Anspielungen;
er vermeidet es insbesondere (im Unterschied zu Cauchy), davon zu sprechen, dass eine
Größe irgendwohin strebt. Eine Frucht dieser Abstinenz war anscheinend die, das Bolzano
das Phänomen der gleichmäßigen Stetigkeit benennen (wenn auch leider nicht technisch
kompetent behandeln) konnte. Bolzano hat im Übrigen explizit gemacht, dass die von
ihm gegebene Definition der Stetigkeit nicht unbedingt die Vorstellungen stützt, die man
sich seit Euler üblicherweise von einer stetigen Funktion machte. Er konstruierte (im Jahr
1834) eine Funktion, die auf einem Intervall stetig aber nirgends differenzierbar ist. Ein
Grund, dafür, dass die Ansätze von Bolzano lange unbeachtet blieben, ist einmal der, dass
Bolzano kaum Kontakt zu den Zentren des mathematischen Betriebs hatte. (Seine philosophischen Überlegungen zum Unendlichen in der Analysis wurden wohl erst von G. Cantor
adaequat wahrgenommen.) Während Cauchys Folgerungen aus der abstrakten Definition
der Stetigkeit nach und nach akzeptiert wurden, wurden ‘pathologische’ mathematische
Objekte, wie die stetigen aber nirgends differenzierbaren Funktionen, nicht beachtet. (Die
Bestürzung über solche Objekte setzte erst ein, als sie (um 1861) von Weierstraß in seinen
Vorlesungen vorgestellt und untersucht wurden.) Zu Bolzanos Zeit fehlten offenkundig die
technischen Mittel, einen Bogen zu spannen vom Ringen um ein gründliches Verständnis
des Unendlichen zu einer leistungsfähigen Theorie der stetigen Funktionen. (Ich stütze
mich bei meinen Hinweisen auf Bolzanos Ansätze auf einen Aufsatz von V. Jarnı́k in einer
Festschrift, die das Mathematische Institut der tschechischen Akademie zu Bolzanos 200.
Geburtstag herausgegeben hat.)
Die ‘statische’ Definition der Stetigkeit einer Funktion wurde erst um 1870 von Weierstrass zur Reife gebracht. Weierstrass (1815–1897) vermied wie Bolzano alle Betrachtungen, die auf eine kontinuierliche Bewegung anspielten. Er ersetzte die (in einem gewissen
Sinn dynamische) Ausdrucksweise limx→a f (x) = L durch die ‘statische’ Formulierung: zu
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
76
Stetigkeit; Topologische Räume
Einführung in die Mathematik II
gegebenem ε > 0 existiert eine Zahl δ > 0, sodass |f (x) − L| < ε gilt, falls 0 < |x − a| < δ.
Weierstraß gelang es mit seiner (später so genannten) Epsilontik eine Reihe weiterer Begriffe so herausauszuarbeiten, die sich zu einer in jeder Hinsicht überzeugenden Theorie
fügten. In seinen Berliner Vorlesungen konnte er die grundlegenden Begriffe der Infinitesimalrechnung (wie Minimum, Ableitung, gleichmäßige Konvergenz usw.) endgültig klären.
D. Hilbert schrieb 1926 in seinem Aufsatz ‘Über das Unendliche’ in den Mathematischen
Annalen 95, S. 162- 190.
Wenn heute in Verfolgung der Schlußweisen, die auf dem Begriff der Irrationalzahl und überhaupt des Limes beruhen, in der Analysis volle Übereinstimmung und Sicherheit herrscht und in den verwickeltsten Fragen, die die
Theorie der Differential- und Integralgleichungen betreffen, trotz der kühnsten
und mannigfaltigsten Kombinationen unter Anwendung von Über-, Neben- und
Durcheinander-Häufung der Limites doch Einhelligkeit aller Ergebnisse statthat, so ist das wesentlich ein Verdienst der wissenschaftlichen Tätigkeit von
Weierstraß.
Eine präzise Bestimmung des Systems der reellen Zahlen war eine unabdingbare Voraussetzung für die Weierstraß’sche Theorie der reellen Funktionen. Weierstraß entwickelte etwas derartiges, sein Zugang ist aber nicht populär geworden. Bekannt wurden stattdessen
als Alternativen R. Dedekinds Theorie der Irrationalzahlen und G. Cantor’s Konstruktion
von R durch Vervollständigung.
Die Konstruktion von Dedekind (1831 - 1916) nahm ihren Ausgang von der ‘geometrischen Evidenz’, dass ‘jede Größe, welche beständig, aber nicht über alle Grenzen wächst,
sich gewiß einem Grenzwert nähern muß’. Dedekind nannte das die Stetigkeit der Geraden. Um das in der Analysis immer wieder stillschweigend benutzte Argument stichhaltig
zu machen, machte er sich daran, den Bereich der rationalen Zahlen durch Schöpfung
neuer Zahlen so zu verfeinern, ‘dass das Gebiet der Zahlen dieselbe Vollständigkeit oder,
wie wir gleich sagen wollen, dieselbe Stetigkeit gewinnt, wie die gerade Linie’. Dedekind
sagt:
Mit vagen Reden über den ununterbrochenen Zusammenhang in kleinsten Teilen ist natürlich nichts erreicht; es kommt darauf an, ein präzises Merkmal
der Stetigkeit anzugeben, welches als Basis für wirkliche Deduktionen gebraucht
werden kann. . . . . . . Ich finde das Wesen der Stetigkeit in dem folgenden Prinzip:
Zerfallen alle Punkte der Geraden im zwei Klassen von der Art, daß
”
jeder Punkt der ersten Klasse links von jedem Punkt der zweiten Klasse liegt,
so existiert ein und nur ein Punkt, welche diese Einteilung aller Punkte in
zwei Klassen, diese Zerschneidung der Geraden in zwei Stücke hervorbringt“.
Dedekind will sich nicht auf die Sprechweise einlassen, die Irrationalzahl sei nichts anderes
als der Schnitt selbst. Er besteht darauf, ‘. . . etwas Neues (vom Schnitt Verschiedenes) zu
erschaffen, was dem Schnitt entspricht, und von dem ich sage, daß es den Schnitt hervorbringe, erzeuge. Wir haben das Recht, uns eine solche Schöpfungskraft zuzusprechen.’
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
II.6 : Von Euler’s Analysis zum allgemeinen Funktionsbegriff
77
Die Konstruktionen von R. Dedekind und G. Cantor (1845 - 1918), die keine Scheu
vor dem sog. Aktualunendlichen zeigen, wurden zwar zunächst einmal von wichtigen
Meinungsführern (allen voran L. Kronecker) abgelehnt, fanden aber schliesslich mit dem
Siegeszug von Cantors abstrakter Mengenlehre (und Lebesgue’s Integrationstheorie) im
20. Jahrhundert allgemeine Anerkennung. Sie (und nicht die Bemühungen von Cauchy)
müssen heute als die verlässliche Grundlage der reellen Analysis gelten.
Ergänzend ist zu sagen, dass die ‘Weierstraß’sche Strenge’ nicht nur zu einer mathematisch strengen Theorie der stetigen Funktionen auf einem Intervall führte. Sie lieferte
auch die Grundlage für wegweisende Betrachtungen in Funktionenräumen (man denke an
den Begriff der kompakten Konvergenz) sowie für tiefgreifende Schlussweisen in der Variationsrechnung (man denke an das sog. Dirichlet’sche Prinzip in der Potentialtheorie).
Schon bei Weierstraß zeigt sich die Kraft von Begriffen wie Vollständigkeit und Kompaktheit, von Begriffen also, die in der Analysis des 20. Jahrhunderts entscheidende Bedeutung
gewinnen sollten.
Variable, andere Definitionsbereiche, holomorphe Funktionen
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Idee der stetigen Funktion eng verbunden mit der
durchaus dynamischen Vorstellung, dass das ‘Argument’ (oder die ‘unabhängige Variable’)
den Definitionsbereich, und der war ein Intervall, ‘durchläuft’. Diese Vorstellung klingt
z. B. in den folgenden Definitionen an:
• Dirichlet (1837): Man denke sich unter a und b zwei feste Werthe, und unter x
eine veränderliche Größe, welche nach und nach alle zwischen a und b liegenden
Werthe annehmen soll. Entspricht nun jedem x ein einziges, endliches y, und zwar
so, dass, während x das Intervall von a bis b stetig durchläuft, y = f (x) sich ebenfalls
allmählich verändert, so heißt y eine stetige oder continuirliche Function von x für
dieses Intervall. Es ist dabei gar nicht nöthig, dass y in diesem ganzen Intervall nach
demselben Gesetz von x abhängig sei, . . .
• Duhamel (um 1840). Man nennt Variable jede Größe, welche in der Aufgabe, worin
man sie betrachtet, successive verschiedene Werthe annehmen kann. Unabhängige
Variablen heißen diejenigen, deren Werthe vollkommen willkürlich sind; abhängige Variablen oder Funktionen diejenigen, deren Werthe von anderen Variablen bestimmt werden, mag diese Abhängigkeit beschaffen sein, wie sie will, . . .
Die statische Stetigkeitsdefinition ist eine Absage an diese Vorstellungsweise; denn da ist
nicht die Rede von einer Variablen, die ‘läuft’ oder (continuierlich) sich ‘verändert’. Das
Argument einer Funktion ist vielmehr in völlig statischer Weise durch einen Buchstaben
gekennzeichnet, einen Buchstaben, welcher jedes Element in der vorgegebenen Menge bedeuten kann. Diese Sichtweise auf Funktionen (oder Abbildungen), die man in heutigen
Lehrbüchern (nach einem Vorschlag von Hankel) als den Dirichlet’schen Funktionsbegriff bezeichnet, konnte natürlich erst mit dem Aufkommen der abstrakten Mengenlehre
Anerkennung finden.
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
78
Stetigkeit; Topologische Räume
Einführung in die Mathematik II
• Hankel (1870) : Eine Funktion heisst y von x, wenn jedem Werte der veränderlichen
Größe x innerhalb eines gewissen Intervalls ein bestimmter Wert y entspricht; gleichwohl, ob y in dem ganzen Intervalle nach demselben Gesetze von x abhängt oder
nicht, ob die Abhängigkeit durch mathematische Operationen ausgedrückt werden
kann oder nicht.
• Dedekind (1887) : Unter einer Abbildung f eines Systems S wird ein Gesetz verstanden, nach welchem zu jedem bestimmten Element s von S ein bestimmtes Ding
gehört, welches das Bild von s heißt und mit f (s) bezeichnet wird.
• Hausdorff (1914) : . . . Zuvor betrachten wir eine Menge P solcher Paare, und zwar
von der Beschaffenheit, dass jedes Element a von A in einem und nur einem Paare p
von P als erstes Element auftritt. Jedes Element a bestimmt auf diese Weise ein und
nur ein Element b, nämlich dasjenige, mit dem es zu einem Paar p = (a, b) verbunden
auftritt; dieses durch a bestimmte, von a abhängige, dem a zugeordnete Element
bezeichnen wir mit b = f (a) und sagen, dass hiermit in A (d. h. für alle Elemente von
A) eine eindeutige Funktion von a definiert ist. Zwei solche Funktionen f (a), f '(a)
sehen wir dann und nur dann als gleich an, wenn die zugehörigen Paarmengen P, P '
gleich sind, wenn also für jedes a, f (a) = f ' (a) ist.
Man bemerke, dass Hausdorff alle irgendwie dynamisch klingenden Ausdrucksweisen (wie
‘Zuordnung’ oder ‘Entsprechung’) mit größter Vorsicht geraucht. Bei ihm sind nun auch
ganz allgemeine Mengen als Definitionsbereiche zugelassen. Es gibt keine Anspielungen
auf ein ‘Durchlaufen’ des Definitionsbereichs und es gibt auch keinen Platz mehr für den
Begriff einer stetigen Funktion mehrerer Variabler, für einen Begriff also, auf den man
seit Bolzano und Cauchy einige Mühe verwendet hatte.
Der Preis für die Ausdünnung der Annahmen war natürlich der, dass sich im allgemeinen Funktionsbegriff sehr wenig findet, was als Grundlage für irgendwelche Deduktionen dienen könnte. Eine Konsequenz war die, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts die
Beschreibung der Definitionsbereiche interessanter Typen von Funktionen von Grund auf
neu konzipieren war. Für die Theorie der stetigen Funktionen (und stetigen Abbildungen)
entwickelte man die topologischen Räume, und für die integrablen Funktionen entwickelte
man (etwas später) den Begriff des messbaren Raums. – Die sich hier anschliessenden Entwicklungen nennt man heute die Reelle Analysis. (Die Funktionalanalysis und die Maßund Integrationstheorie kann man als Teilgebiete bezeichnen.)
Es sei hier angemerkt, dass die von Newton initiierte Analysis, die bei Lagrange zu
einem ersten Höhepunkt gekommen war, im 20. Jahrhundert höchst vitale Fortsetzungen
geometrischen Charakters gefunden hat, die wenig Gebrauch machen von den oben skizzierten Bemühungen um einen fundierten Funktionsbegriff. Prominente Gebiete sind die
Theorie der glatten Mannigfaltigkeiten und die Theorie der dynamischen Systeme.
Kehren wir zurück zum Funktionsbegriff um 1800. Man begann sich damals auch für
Definitionsbereiche für analytisch gegebene Funktionen einer Variablen zu interessieren,
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
II.6 : Von Euler’s Analysis zum allgemeinen Funktionsbegriff
79
die keine Intervalle sind. Im Jahr 1811 schrieb Gauß in einem Brief an seinen Freund
Bessel, man beachte zu wenig den Unterschied zwischen Funktionen mit reellem Argument
und solchen mit komplexem Argument.
. . . zuvörderst würde ich jemand, der eine neue Funktion in die Analyse einführen will, um eine Erklärung bitten, ob er sie schlechterdings bloß auf reelle
Größen (reelle Werte des Arguments der Funktion) angewandt wissen will,
und die imaginären Werte des Arguments gleichsam nur als Überbein ansieht
— oder ob er meinem√Grundsatz beitrete, daß man in dem Reiche der Größen
die imaginären a+b· −1 = a+bi als gleiche Rechte mit den reellen genießend
ansehen müsse. Es ist hier nicht von praktischem Nutzen die Rede, sondern
die Analyse ist mir eine selbständige Wissenschaft, die durch Zurücksetzung
jener fingierten Größen außerordentlich an Schönheit und Rundung verlieren
und alle Augenblicke für Wahrheiten, die sonst allgemein gelten, höchst lästige
Beschränkungen beizufügen genötigt sein würde . . . .
Nachdem Gauß durch verschiedene Arbeiten, insbesondere durch seine ‘disquisitiones
arithmeticae’ (1831) das Geheimnis, welches die komplexen Zahlen immer noch umgeben hatte, durch die Darstellung als Punkte einer Ebene ein für allemal beseitigt hatte,
konnte man den Bereich der komplexen Zahlen als ein Kontinuum begreifen. Es konnten nun arithmetische Probleme auch durch die Betrachtung von Kurven gelöst werden,
z. B. von Kurven, bei welchen es geometrisch evident war, dass sie sich schneiden. Gauß
hat sich bekanntlich zuerst in seiner Dissertation (1799) und dann immer wieder mit dem
sog. Fundamentalsatz der Algebra befasst. ( Jedes nichtkonstante Polynom, als Funktion
”
auf der Zahlenebene betrachtet, besitzt mindestens eine Nullstelle.“) Alle Beweise von
Gauß enthielten weitreichende mathematische Ideen; und das war wohl der wesentliche
Grund dafür, dass sie (im Gegensatz zu früheren Beweisansätzen, wie z. B. dem von
d’Alembert) allgemeine Anerkennung fanden, obwohl klar war, dass sie aus rein arithmetischer Sicht defizitär waren. Beim dritten Beweis erklärt Gauß explizit, dass er sich auf
die Prinzipien der Geometrie der Lage (geometria situs) stützt, deren Beweiskraft nicht
geringer seien als die der Größengeometrie. In einer Variante desselben Beweises aus dem
Jahr 1849 ( Beiträge zur Theorie der algebraischen Gleichungen“) äußert sich Gauß etwas
”
ausführlicher:
Im Grunde gehört aber der eigentliche Inhalt der ganzen Argumentation einem
höheren von Räumlichen unabhängigen Gebiete der allgemeinen abstracten
Größenlehre an, dessen Gegenstände die nach der Stetigkeit zusammenhängenden Größencombinationen sind, einem Gebiete, welches zur Zeit noch wenig
ausgebauet ist, und in welchem man sich nicht bewegen kann ohne eine von
räumlichen Bildern entlehnte Sprache.
Genaueres findet man in einem Artikel von A. I. Markuschewitsch ”Die Arbeiten von C.
F. Gauß über Funktionentheorie“ in einem Gedenkband anläßlich des 100. Todestages
(Herausgeber H. Reichardt) Teubner-Verlag 1957.
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
80
Stetigkeit; Topologische Räume
Einführung in die Mathematik II
Die hier von Gauß angesprochene Ideenwelt der Topologie wurde von Riemann in seiner berühmten Dissertation Grundlagen für eine allgemeine Theorie der Functionen einer
”
Komplexen Größe“ erheblich ausgebaut. Grundideen der höchst erfolgreichen ‘geometrischen’ Theorie der analytischen Funktionen waren u. a. die Idee der konformen Abbildung,
die komplexe Differenzierbarkeit, die sog. Cauchy-Riemann’schen Differentialgleichungen
und die harmonischen Funktionen.
Weierstraß setzte dieser geometrischen Theorie seine ebenfalls sehr erfolgreiche ‘algebraische’ Funktionentheorie entgegen, die ganz auf die lokale Darstellung der holomorphen
Funktionen durch Potenzreihen gegründet war. Zur großen Erleichterung der Mathematiker konnte E. Goursat im Jahre 1899 zeigen, dass sich die beiden Theorien auf dieselben
Funktionen beziehen. ( Holomorphie im Sinne von Weierstraß ist dasselbe wie Holomor”
phie im Sinne von Riemann“)
Messen und Integrieren
Nachdem das ‘griechische’ Beharren auf absoluter arithmetischer Strenge die irrationalen
Größen für Jahrhunderte aus der Theorie der Zahlen ausgeschlossen hatte, waren die
Mathematiker des 17. Jahrhunderts endlich doch bereit gewesen, die Irrationalzahlen, die
nur geometrisch interpretiert werden konnten, in arithmetischen Kontexten zuzulassen.
Die ‘symbolische Algebra’ von Vieta (1540 - 1603) und die ‘analytische Geometrie’ von
Descartes (1596 - 1650) förderten die Entwicklung von formalen Techniken, die mehr auf
die Methoden der Berechnung als auf die logische Strenge bedacht waren. Kurven wurden
algebraisch dargestellt, geometrische und infinitesimale Techniken wurden benutzt, um
Probleme der Flächen- und Volumenmessung zu behandeln. Untersuchungen von Kepler
(1571 - 1630), Cavalieri (1598 - 1647) u. a. kann man Vorläufer einer Integralrechnung
verstehen.
Im 18. Jahrhundert, nach Erfindung des Calculus, verstand man die Integration dann
aber in erster Linie als die Umkehrung der Ableitung; eine Funktion f (x) wurde integriert, indem man eine Stammfunktion fand, d. h. eine Funktion F (x) mit F ' (x) = f (x).
Das Integral über ein Intervall [a, b] gewann man, (nach einem zunächst nur heuristisch
verstandenem Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung) als den Zuwachs der
,b
Stammfunktion a f (x)dx = F (b) − F (a).
Die Integration als Grenzfall der Summation ebenso wie das Integral als die Fläche
unter einer Kurve traten in den Hintergrund; solche Bestimmungen galten eher als eine
Näherungsmethode für den Fall, dass es unbequem oder unmöglich erschien, die Stammfunktion zu finden. Es wirkte sich aus, dass weder Limiten von Summen noch Flächen
unter Kurven ausreichend verstanden waren, um eine solide Basis für eine logische Behandlung zu bieten.
Gauß schätzte die Integration als eine Methode, interessante spezielle Funktionen zu
konstruieren. 1801 schreibt er in einem Brief an Schumacher:
Mir ist bei der Integralrechnung immer das weit weniger interessant gewesen, wo es nur auf Substituiren, Transformiren etc. kurz auf einen geschickt
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
II.6 : Von Euler’s Analysis zum allgemeinen Funktionsbegriff
81
zu handhabenden Mechanismus ankommt, um Integrale auf algebraische oder
Logarithmische oder Kreisfunktionen zu reduciren, als die genauere tiefere Betrachtung solcher Transcendenten Funktionen, die sich auf solche nicht zurückführen
lassen. Mit Kreisfunktionen und Logarithmischen wissen wir jetzt umzugehen
wie mit dem 1 mal 1, aber die herrliche Goldgrube, die das Innere der höheren
Funktionen enthält, ist noch fast Terra Incognita. . . .
Es ist übrigens bemerkenswert, dass Gauß in seinem dritten Beweis des Fundamentalsatzes (1816) bereits Kurvenintegrale in der komplexen Ebene benützte; die Geometrie der
Kurven gewann immer größere Bedeutung.
Die Auffassung der Integration als Stammfunktionsbildung konnte als adäquat gelten,
solange nur die Funktionen zu integrieren waren, die (im Sinne von Euler) durch einen
expliziten analytischen Ausdruck gegeben waren.
Cauchy war der erste, der es für notwendig hielt, die Existenz von Integralen und
Stammfunktionen zu zeigen, bevor man sich mit deren diversen Eigenschaften befasste.
Er leistete die Konstruktion (durch die Einschliessung mit ‘Ober- und Untersummen’) für
die gleichmäßig stetigen Funktionen auf einem endlichen Intervall. (Er war übrigens der
Meinung, dass alle beschränkten stetigen Funktionen zugelassen sind, stetige Funktionen,
die nicht gleichmäßig stetig sind, kamen ihm nicht in den Sinn.)
Etwas später fanden auch (mäßig) unstetige Funktionen allgemeine Beachtung, insbesondere durch die Arbeit von Riemann (1826 - 1866) über die Konvergenz von Fourierreihen. P. G. L. Dirichlet (1805 -1859), sein Vorgänger auf dem Lehrstuhl von Gauß in
Göttingen hatte 1829 gezeigt, dass die Fourierreihe zu einer ‘integrablen’ stückweise stetigen 2π-periodischen Funktion f (t), welche nur endlich viele Maxima und Minima besitzt,
in jedem Punkt t0!, in welchem der rechtseitige
und der linksseitige Limes existieren, gegen
"
den Mittelwert 12 f (t0 + 0) + f (t0 − 0) konvergiert. Hier setzte Riemann 1854 an. Er verallgemeinerte die Konstruktion des Integrals von Cauchy auf die Klasse von Funktionen,
die wir heute die Riemann-integrablen Funktionen nennen, was er damit begründete, dass
. . . die Anwendbarkeit der Fourier’schen Reihen nicht auf physikalische Untersuchungen beschränkt [ist]; sie ist jetzt auch in einem Gebiete der reinen
Mathematik, der Zahlentheorie, mit Erfolg angewandt, und hier scheinen gerade diejenigen Funktionen, deren Darstellbarkeit durch eine trigonometrische
Reihe Dirichlet nicht untersucht hat, von Wichtigkeit zu sein.
Die Frage der Darstellbarkeit einer periodischen Funktion durch eine trigonometrische Reihe hat längere Tradition. Im Jahre 1747 publizierte d’Alembert seine Theorie der schwingenden Saite. (Man sagt, dass ihn diese Arbeit zusammen mit Euler und Daniel Bernoulli
zum Begründer der Theorie der partiellen Differentialgleichungen werden ließ.) Während
d’Alembert und Euler die Gleichung utt = c2 · uxx , d. h. die Gleichung für die Auslenkung
u(t, x) zur Zeit t in der Position x, mit dem Ansatz u(t, x) = f (x − ct) + g(x − ct)
lösten, verwendete D. '
Bernoulli (für die in 0 und π eingespannte Saite) trigonometrische Reihen u(t, x) = ∞
1 an · sin nx · cos nct. Es erhoben sich Zweifel an der Zulässigkeit einer solchen Lösung; d’Alembert meinte, dass die anfängliche Gestalt der Saite
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
82
Stetigkeit; Topologische Räume
Einführung in die Mathematik II
u(0, x) = f (x) + g(x) nur durch einen geschlossenen analytischen Ausdruck gegeben
sein dürfte, während Euler der Meinung war, dass man ein ‘beliebige’ stetige Kurve zulassen könnte. Euler, d’Alembert und später auch Lagrange verwarfen die Meinung von
Bernoulli, dass seine Lösung allgemeingültig sei. Bernoulli liess sich nicht beirren durch
die Vermutung, dass die durch die Reihe dargestellte Funktion möglicherweise zu starke analytische Eigenschaften besitze; er meinte, dass unendlich viele Koeffizienten sehr
wohl ausreichten, um ein ‘willkürliche Funktion’ darzustellen. Eine gründliche Behandlung der hier aufgeworfenen Fragen leistete J. Fourier (1768 - 1830) in seiner Theorie der
Wärmeleitung Analytische Theorie der Wärme“ (1822) auf der Grundlage der Gleichung
”
∆u = k· ∂u
. Fourier stellte schon 1807 klar, dass eine ‘willkürliche 2π-periodische Funktion’
∂t
f (x), d. h. bei ihm eine Funktion, die sich im Intervall (−π, π) durch Aneinanderreihung
von stetigen'Kurvenstücken
ergibt, "darstellen lässt durch eine trigonometrische Reihe der
!
a0
Form 2 +
an cos nx + bn sin nx . – Er stiess damit übrigens auf scharfen Widerstand
von Lagrange.
Riemann setzte nun 1854 an der Formel für die Fourierkoeffizienten zur 2π-perodischen
Funktion f (x) an:
/ π
/ π
1
1
an = ·
f (x) · cos nx dx;
bn = ·
f (x) · sin nx dx.
π −π
π −π
Er erklärte, dass man diese Koeffizienten für ‘jede’ integrable Funktion ausrechnen und
dann die daraus gebildete trigonometrische Reihe untersuchen kann. Viele große Mathematiker haben Beiträge zur Konvergenz dieser ‘formalen Fourierreihen’ geleistet; und es
war nicht zuletzt das Studium der ‘Ausnahmemengen’, in welchen die ‘formale Fourierreihe’ nicht konvergiert, die G. Cantor zu seiner abstrakten Mengenlehre anregte. Dabei
hat sich der Integralbegriff von Riemann als ungeeignet erwiesen.
Arbeiten von F. Riesz und E. Fischer aus dem Jahr 1906 haben gezeigt, dass die
Maß- und Integrationstheorie von Lebesgue aus dem Jahr 1901 in Verbindung mit dem
Begriff der Konvergenz im quadratischen Mittel wirklich befriedigende Antworten erlaubt.
Dabei hat sich herausgestellt, dass die zu einer Theorie der trigonometrischen Reihen
passenden ‘willkürlichen Funktionen’ gar keine Funktionen sind, sondern korrekterweise
als Äquivalenzklassen von Funktionen verstanden werden müssen. Diese Äquivenzklassen
repräsentieren die Elemente
des (oben immer wieder studierten)
! der Vervollständigung
"
normierten Vektorraums V, || · ,2 der trigonometrischen Polynome.
Ein Fazit: Die Fragen nach dem Wesen einer (stetigen) Funktion einer Veränderlichen,
die im Anschluss an die Arbeiten von Euler und Lagrange heftig diskutiert wurden, haben
sich im Laufe des 19. Jahrhunderts nach und nach verflüchtigt. Sie haben Platz gemacht
für eine lange Reihe von Theorien, die mit Funktionen oder Funktionsklassen der verschiedensten Art operieren.
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
Index
Äquivalenzklassen, 8
absolutstetig
im Sinne von Vitali, 122
Banachraum, 10
Berliner Akademie, 73, 75
Borel-Stieltjes-Maß, 101
Borelmenge, 98
Cantor
-Funktion, 122
Cauchy-Folge, 7
äquivalente, 8
Dirichlet-Kern, 83
Dreiecksungleichung, 5
Dualbruchentwicklung, 45
Dynkin-System, 96
Ereignis, 99
Eulers Sagezahnfunktion, 84
Integral
unbestimmtes, 117
integrierbar
gleichgradig, 115
Integrierbarkeit
gleichmäßige, 115
Kegel
Riesz’scher, 106
konvergente Folge, 8
Konvergenz
fastüberall, 13
Lemma
von Borel-Cantelli, 128
Limessuperior
einer Mengenfolge, 118
Lipschitz-stetig, 50
Loomis, 100
Mächtigkeit, 45
messbar
Faltungsprodukt, 82
Abbildung, 102
fastsicher oder fastüberall, 104, 114, 119, 120,
Borel-, 117
123, 125
Daniell-, 93
Fejér-Kern, 83
Funktion, 102, 104, 112
Fourier-Koeffizienten, 83
Menge, 95, 112
Fourier-Reihe
Raum, 95
formale, 13
Metrik, 5
Fundamentalsatz der Differential- und Integralrechnung, 122
Newton-Abbildung, 17
Funktion
nichtabzählbar, 44
p-summable, 115
Norm, 5
absolutstetige, 118
Nullmengenideal, 99
Hahn-Jordan-Zerlegung, 120
Partition, 96
Hauptsatz der Differential- und Integralrech- Potenzmenge P(M), 45
nung, 122
Riesz’scher Kegel, 107
Hilbertraum, 10
Inhalt, 106
Sägezahnfunktion, 84
134
III.4 : Von Euler’s Analysis zum allgemeinen Funktionsbegriff
Signumfunktion, 84
Stammfunktion, 117
Summabilität
gleichmäßige oder gleichgradige, 115
translationsinvariant, 6
Vektorraum
normiert, 5
Vervollständigung, 9, 10
vollständig, 8
Wahrscheinlichkeitsmaß, 98
Wahrscheinlichkeitsraum, 100
diskreter, 101
Zufallsgröße, 104, 125
@ Prof. Dr. H. Dinges, Einführung in die Mathematik II (SS 2008), 26. Januar 2009
135
Herunterladen