Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 18 Europäische Integration Deutsche Hegemonialpolitik gegenüber Westeuropa 1920 - 1960 Wallstein Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus (ehemals Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik) Bd. 18 »Europäische Integration« Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus Bd. 18 Europäische Integration Deutsche Hegemonialpolitik gegenüber Westeuropa 1920-1960 WALLSTEIN VERLAG Gedruckt mit Unterstützung der Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich HerausgeberInnen und Redaktion: Christoph Dieckmann, Christian Gerlach, Wolf Gruner, Anne Klein, Beate Meyer, Armin Nolzen, Babette Quinkert, Thomas Sandkühler Herausgeber und verantwortlicher Redakteur dieses Bandes: Thomas Sandkühler Postanschrift der Redaktion: Dr. Thomas Sandkühler, Universität Bielefeld, Fakultät Geschichtswissenschaft und Philosophie Postfach 100 131, 33501 Bielefeld © der Texte bei den AutorInnen © dieser Ausgabe Wallstein Verlag, Göttingen 2002 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Adobe Garamond Umschlaggestaltung: Basta Werbeagentur, Steffi Riemann Druck: Hubert & Co, Göttingen ISBN (Print) 978-3-89244-607-1 ISBN (E-Book, pdf ) 978-3-8353-2202-8 4 Inhalt Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 bo stråth/thomas sandkühler Europäische Integration. Grundlinien und Interpretationen . . . . . . . . . . 19 marc buggeln Währungspläne für den europäischen Großraum. Die Diskussion der nationalsozialistischen Wirtschaftsexperten über ein zukünftiges europäisches Zahlungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 sabine gillmann Die Europapläne Carl Goerdelers. Neuordnungsvorstellungen im nationalkonservativen Widerstand zwischen territorialer Revision und europäischer Integration . . . . . . . . . . . . . . . 77 olaf breker Ordoliberalismus – Soziale Marktwirtschaft – Europäische Integration. Entwicklungslinien einer problematischen Beziehung . . . . . . . . . . . . . . 99 Fundstück marc buggeln Europa-Bank oder Dollar-Freihandel? Westdeutsche Auseinandersetzungen über eine Europäische Währungsunion zu Beginn der fünfziger Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 annie lacroix-riz Frankreich und die europäische Integration. Das Gewicht der Beziehungen mit den Vereinigten Staaten und Deutschland, 1920-1955 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 patricia commun Von der deutschen Besatzung zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl? Lothringen und die deutsch-französische Handels- und Wirtschaftspolitik, 1931-1952 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 stefan frech/thomas gees/blaise kropf/martin meier Bilaterale Arrangements und korporatistischer Entscheidungsprozeß. Schweizerische Außenwirtschaftspolitik und europäische Integrationskonzepte 1930-1960 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 5 Rezensionen Joël Kotek, Pierre Rigoulot, Das Jahrhundert der Lager (Kiran Klaus Patel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Johannes Vossen, Gesundheitsämter im Nationalsozialismus (Wolfgang Ayaß ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Diana Schulle, Das Reichssippenamt (Wolfgang Ayaß) . . . . . . . . . . . . . 257 Norbert Fasse, Lebenslauf des Reichsrundfunkintendanten Heinrich Glasmeier (Daniel Uziel ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Gisela Miller-Kipp (Hg.),»Auch du gehörst dem Führer« (Dagmar Reese) . . . . 261 Gerald D. Feldman, Die Allianz und die deutsche Versicherungswirtschaft (Hartwig Stein) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Fritz Bauer Institut (Hg.), »Arisierung« im Nationalsozialismus (Bernhard Rosenkötter) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Bernhard Lorentz, Industrieelite und Wirtschaftspolitik 1928-1950 (Marc Buggeln) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 Holger Berschel, Bürokratie und Terror. (Armin Nolzen) . . . . . . . . . . . . 271 Wolfgang Dierker, Der Sicherheitsdienst der SS und seine Religionspolitik (Armin Nolzen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Michael Wildt, Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes (Armin Nolzen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Dieter Pohl, Holocaust (Harald Focke). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Martin Dean, Collaboration in the Holocaust (Dan Michman) . . . . . . . . . 282 Richard Overy, Die Wurzeln des Sieges (Christian Gerlach) . . . . . . . . . . . 285 Norbert Frei (Hg.), Karieren im Zwielicht (Anne Klein) . . . . . . . . . . . . . 287 Fritz Bauer Institut (Hg.), »Gerichtstag halten über uns selbst …« (Anne Klein) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Volker Zimmermann, NS-Täter vor Gericht (Anne Klein) . . . . . . . . . . . . 287 Carlos Collado Seidel, Angst vor dem »Vierten Reich« (Bernd Rother) . . . . . . 290 Stanley Payne, Geschichte des Faschismus (Christian Jansen) . . . . . . . . . . 291 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Personenregister 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Ankündigung Bd. 19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 7 8 Editorial Mit der Einführung einer Gemeinschaftswährung, des Euro, in diesem Jahr ist Europa eine handgreifliche Realität geworden, zumindest in den Portemonnaies der Bürgerinnen und Bürger der Eurozone. Die Entstehung der heutigen Europäischen Union war ein langer Prozeß, der nach dem Zweiten Weltkrieg begann.1 Die europäische Integration, der Zusammenschluß verschiedener europäischer Staaten unter vornehmlich wirtschaftlichen Zwecksetzungen bei gleichzeitiger Abtretung nationaler Souveränitäten an eine gemeinsame supranationale Behörde, nahm von der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 1951/52 ihren Ausgang, setzte sich mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft durch die Römischen Verträge von 1957 fort und mündete nach den nördlichen (Beitritt Großbritanniens, Irlands und Dänemarks 1973) und südlichen Erweiterungsrunden (Beitritt Griechenlands 1981, Portugals und Spaniens 1986) mit dem Vertrag von Maastricht 1991 schließlich in die Europäische Union (EU). 1995 traten Finnland, Schweden und Österreich bei. Die europäische Integration erscheint, allen strukturellen Problemen der EU zum Trotz, als eine Erfolgsgeschichte, wobei die Wahrnehmungen der einzelnen Bürgerinnen und Bürger, von Unternehmern, Beschäftigten und Gewerkschaften, von großen und kleinen Mitgliedsländern sicher divergieren können. Die Integration hat den Frieden in Europa gesichert und den Wohlstand vermehrt, sie hat zur Demokratisierung vormals autoritär regierter Länder beigetragen und die Grenzen innerhalb der Union durchlässig gemacht, wovon sich jeder Reisende unmittelbar überzeugen kann. Die ständig wachsende Durchlässigkeit der Länder fördert das kulturelle Verständnis in Europa und eröffnet auch den einzelnen Bürgerinnen und Bürgern größere Spielräume für persönliche Freiheit. Die konsequente Kehrseite dieses Prozesses zum Ausgleich von Interessen und Spannungen nach innen stellten Abgrenzungen nach außen dar, darunter stets ein aggressiver Handelsprotektionismus, unter dem Vorzeichen des Kalten Krieges namentlich eine gegen die Sowjetunion gerichtete Politik west- und zentraleuropäischer Hegemonie über den Kontinent, neuerdings die Zurückweisung von Arbeits- und Sozialmigranten aus Ost- und Südosteuropa und eine politische Beteiligung am USamerikanischen Konflikt mit islamischen Ländern (der vielfältige Hintergründe hat, darunter die Sicherung von Ressourcen) unter dem Stichwort »Terrorismusbekämpfung«. Die EU und ihre Administration weisen nach wie vor ein eklatantes Defizit an demokratischer Kontrolle und Selbstbestimmung auf, und die durch die bevorstehende 1 Alan S. Milward, The Reconstruction of Western Europe 1945-1951, London 1984; Wilfried Loth, Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration 1939-1957, Göttingen 1996; Frank R. Pfetsch, Die Europäische Union. Geschichte, Institutionen, Prozesse, München 1997; Werner Weidenfeld (Hg.), Europa-Handbuch, Gütersloh 1999; Wolfgang Schmale, Geschichte Europas, Wien 2000. 9 editorial »Osterweiterung« der EU notwendig gewordenen Strukturreformen sind immer wieder nationalen Sonderinteressen zum Opfer gefallen.2 Wenn sich die »Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus« nun erstmals mit der europäischen Integration befassen, hat das jedoch andere Gründe. Auch die Einführung der Gemeinschaftswährung und das Europa-Jahr 2002 sind nur äußere Anlässe für diese Themenwahl. Für uns war vielmehr maßgeblich, daß die zeitgeschichtliche Forschung der letzten Jahre die Konturen einer gesamteuropäischen Faschismuserfahrung herausgearbeitet hat, die für den Integrationsprozeß der Nachkriegszeit nicht folgenlos geblieben sein kann.3 Der Zweite Weltkrieg und die NSBesatzungspolitik haben nicht nur Deutschland, sondern Europa insgesamt nachhaltig geprägt. Das ist meist mit Blick auf Pläne und Konzeptionen der nationalen Widerstandsbewegungen für eine europäische Einigung in friedenssichernder Absicht betont worden.4 Eine andere Dimension der europäischen Faschismuserfahrung wird dagegen gern ausgeblendet: Daß unter der Herrschaft des »Dritten Reiches« Strukturen der europäischen Wirtschaftsintegration geschaffen wurden, die Kontinuitäten oder Ähnlichkeiten zur Nachkriegszeit aufweisen5, daß wirtschaftliche und politische Eliten in Deutschland und im von Deutschland besetzten bzw. abhängigen Ausland, teils sogar im Lager der Alliierten, den nationalsozialistischen Plänen für eine »Neuordnung Europas« viel abgewinnen konnten und daher oft bereitwillig kollaborierten6, daß, wie Karl-Heinz Roth in einer programmatischen Rezension formuliert hat, der »europäische Großwirtschaftsraum« der Jahre 1940 bis 1944 möglicherweise »ein Projekt war, in dem sich die Wirtschaftseliten der besetzten Territorien und der ›neutralen‹ 2 Vgl. nur Ralf Dahrendorf/François Furet/Bronislaw Geremek, Wohin steuert Europa? Ein Streitgespräch, Frankfurt a. M. 1993. 3 Nacht über Europa. Die Okkupationspolitik des deutschen Faschismus (1938-1945). Achtbändige Dokumentenedition, hg. von einem Kollegium unter Leitung von Wolfgang Schumann, Köln 1990 ff.; Horst Kahrs (Hg.), Modelle für ein deutsches Europa. Ökonomie und Herrschaft im Großwirtschaftsraum (= Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Bd. 10), Berlin 1992. 4 Walter Lipgens, Europa-Föderationspläne der Widerstandsbewegungen, 1940-1945. Eine Dokumentation, München 1968; Wilfried Loth, Sozialismus und Internationalismus. Die französischen Sozialisten und die Nachkriegsordnung Europas 1940-1950, Stuttgart 1977; Frank Niess, Die europäische Idee – aus dem Geist des Widerstands, Frankfurt a. M. 2001. 5 Helge Berger/Albrecht Ritschl, Die Rekonstruktion der Arbeitsteilung in Europa. Eine neue Sicht des Marshallplans in Deutschland 1947-1951, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 43 (1995), S. 473-519. 6 Robert O. Paxton, Vichy France. Old Guard and New Order, 1940-1944, New York 1972; Gerhard Hirschfeld/Patrick Marsh (Hg.), Kollaboration in Frankreich. Politik, Wirtschaft und Kultur während der nationalsozialistischen Besatzung 1940-1944, Frankfurt a. M. 1991; Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Politische Säuberung in Europa. Die Abrechnung mit Faschismus und Kollaboration nach dem Zweiten Weltkrieg, München 1991; Pieter Lagrou, The Legacy of Nazi Occupation. Patriotic Memory and National Recovery in Western Europe, 1945-1965, Cambridge 2000. 10 editorial Staaten der nazistischen Vormachtstellung unterordneten, weil sie das deutsche Modell der Depressionsüberwindung für alternativlos hielten.«7 Dieser Fragestellung gehen im vorliegenden Band Historikerinnen und Historiker aus Deutschland, Frankreich, Schweden und der Schweiz nach – mit unterschiedlichem thematischem Fokus, unterschiedlichen Methoden und keineswegs einheitlichen Ergebnissen. Das kann auch gar nicht anders sein, denn genuin europäische Forschungen über Kontinuitäten zwischen der NS-Hegemonialpolitik gegenüber Westeuropa und der europäischen Integration der Nachkriegszeit sind bislang kaum durchgeführt worden. Die Zeitgeschichtsschreibung in den genannten Ländern hat zwar die europäische Integration bis zu den Römischen Verträgen, weniger im Rahmen der European Freetrade Association (EFTA), zunehmend als Thema ›entdeckt‹.8 Sie hat es aber meist unterlassen, den Zweiten Weltkrieg systematisch einzubeziehen. Sofern Kontinuitäten herausgestellt wurden, handelte es sich einerseits um säkulare Wachstumstrends, die im Krieg lediglich unterbrochen worden seien9, andererseits um die prägende Wirkung der Weltwirtschaftskrise und der Zwischenkriegszeit auf das politische Handeln aller Beteiligten, seien sie nun Nationalsozialisten gewesen oder auch nicht. Ob ein Modell der »Depressionsüberwindung« als potentiell gelungen betrachtet wurde, leitete sich fast durchgängig von Erfahrungen der zwanziger und frühen dreißiger Jahre ab. Welchen Stellenwert aber Krieg und Besatzung in diesem Prozeß hatten, ob im Zweiten Weltkrieg, unter den Bedingungen deutscher Hegemonie auf dem Kontinent, ›Lösungen‹ definiert wurden, die in den Augen maßgeblicher Wirtschaftseliten als zukunftsfähig gelten konnten, und welche Folgen dies hatte, wurde meist nicht eigens thematisiert. Die in der heftigen »Modernisierungs«-Debatte diskutierte Frage, ob der Krieg eine beschleunigende oder gar konstitutive Bedeutung für die Weichenstellungen der Nachkriegszeit hatte10, wurde kaum auf Europa bezogen. Auch ist dort der Trend zu einer stärkeren Durchlässigkeit der Epochengrenzen, die die Bedeutung des Kriegsendes 1945 in Frage stellt – unter sozialgeschichtlicher Perspektive wird eher eine Transformationsphase von der Spätphase des NS-Regimes 7 Karl-Heinz Roth, Lieber Hitler als Blum. Zeitenwende in der französischen Kollaborationsforschung. Die Historikerin Annie Lacroix-Riz setzt neue Maßstäbe und wird dafür exkommuniziert, in: Junge Welt, 21.6.2001. Vgl. auch den Beitrag von Annie Lacroix-Riz in diesem Band. 8 Ludolf Herbst/Werner Bührer/Hanno Sowade (Hg.), Vom Marshallplan zur EWG. Die Eingliederung der Bundesrepublik in die westliche Welt, München 1990; Ludolf Herbst, Option für den Westen. Vom Marshallplan bis zum deutsch-französischen Vertrag, München 1989. Vgl. auch Milward, Reconstruction (wie Anm. 1). 9 Werner Abelshauser, Wirtschaft in Westdeutschland 1945-1948. Rekonstruktion und Wachstumsbedingungen in der amerikanischen und britischen Zone, Stuttgart 1975; Ders., Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland (1945-1980), Frankfurt a. M. 1983; zur Kritik der »Rekonstruktionsthese« vgl. Berger/Ritschl, Rekonstruktion (wie Anm. 5). 10 David Schoenbaum, Die braune Revolution. Eine Sozialgeschichte des Dritten Reiches, Köln 1968; Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1977; Michael Prinz (Hg.), Nationalsozialismus und Modernisierung, Darmstadt 1991. 11 editorial bis Ende der vierziger Jahre konstatiert11 – noch nicht angekommen. Die deutsche Forschung betont die Rolle der Vereinigten Staaten und die deutschlandpolitische Dimension der europäischen Nachkriegsprozesse; sie geht implizit oder ausdrücklich davon aus, daß 1945 ein neues Kapitel begann, dessen Vorgeschichte geringere Bedeutung hatte. Das ist insofern bemerkenswert, als sich die Historiographie der damaligen DDR – stellvertretend seien hier die Arbeiten von Dietrich Eichholtz und Wolfgang Schumann genannt – schon seit den sechziger Jahren intensiv mit der nationalsozialistischen »Neuordnung« Europas beschäftigt und die Fortdauer einschlägiger Vorhaben von Industrieunternehmen, Verbänden und Ministerien über das Kriegsende hinweg betont hatte.12 Dieser an sich vielversprechende Ansatz litt aber unter den Erkenntnisschranken marxistisch-leninistischer Geschichtswissenschaft: Die Rolle des Staates wurde systematisch unterbelichtet, der Primat der Wirtschaft und kapitalistischer Verwertungsinteressen wurde als gegeben vorausgesetzt, aber nicht empirisch überprüft; welche Folgen solche Planungen für die deutsche Politik in den besetzten Gebieten hatten, ob und wie sie umgesetzt wurden, blieb vielfach undiskutiert, und in punkto Kontinuität dominierte das Interesse an einer Entlarvung ›brauner‹ Verbindungslinien in das bundesdeutsche Establishment. »Europa« blieb letztlich ein ideologisches Überbauphänomen. Dies hat in Verbindung mit dem Kalten Krieg die Rezeptionschancen des DDRmarxistischen Ansatzes nachhaltig gemindert. Ähnliches gilt für den Versuch von Reinhard Opitz in der Bundesrepublik der siebziger Jahre, die nationalsozialistische »Neuordnung« seit 1940 in den langfristigen Rahmen von »Europastrategien des deutschen Kapitals« einzuordnen.13 Dabei ist es im Grunde bis heute geblieben. Nur wenige Historikerinnen und Historiker, unter ihnen Karl-Heinz Roth, haben sich um eine produktive Aufnahme marxistischer Ansätze bemüht und diese empirisch vertieft.14 Was jedoch nach wie vor fehlt, ist eine Ausweitung der früher allzu sehr auf Planungen und auf Deutschland beschränkten Perspektive, mithin eine europäische Integration der Kontinuitätsdebatte, zu der dieser Band einen Beitrag leisten will. 11 Martin Broszat/Klaus-Dietmar Henke/Hans Woller (Hg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1988. 12 Konzept für die »Neuordnung« der Welt. Die Kriegsziele des faschistischen deutschen Imperialismus im zweiten Weltkrieg. Von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Wolfgang Schumann, Berlin 1977; Dietrich Eichholtz, Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft; 3. Bde., Berlin (Ost) 1969-1996. Vgl. auch Anm. 3. 13 Reinhard Opitz (Hg.), Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945, Köln 1977. 14 Karl Heinz Roth, Wirtschaftliche Vorbereitungen auf das Kriegsende und Nachkriegsplanungen, in: Eichholtz, Kriegswirtschaft; Bd. 3 (wie Anm. 12), S. 509-611; Werner Röhr/Brigitte Berlekamp (Hg.), »Neuordnung Europas«. Vorträge vor der Berliner Gesellschaft für Faschismus- und Weltkriegsforschung 1992-1996, Berlin 1997; Werner Röhr/Brigitte Berlekamp/ Karl Heinz Roth (Hg.), Der Krieg vor dem Krieg. Ökonomik und Politik der »friedlichen Aggressionen« Deutschlands 1938/1939, Hamburg 2001. 12 editorial Die Voraussetzungen für dieses Unternehmen sind günstig, weil namentlich in Frankreich und in der Schweiz neue Forschungen über Besatzungspolitik, Kollaboration und ›neutrale‹ Kooperation erschienen sind, die das Thema der europäischen Integration zumindest berühren.15 Andererseits hat sich ein Teil der deutschen wirtschafts- und politikgeschichtlichen Forschung intensiv mit ordnungspolitischen Konzepten und Weichenstellungen der vierziger und fünfziger Jahre befaßt, die Bezüge zur Kriegszeit und zur europäischen Integration aufweisen – man denke nur an die Vorgeschichte der sozialen Marktwirtschaft seit 1943, an die NS-Währungsplanung und -politik in Deutschland und den besetzten Gebieten oder an die Auswirkungen von Kapitalverflechtungen und ›Arisierungen‹ während des Krieges.16 Deutschland und Westeuropa, ordnungspolitische Entwürfe und wirtschaftspolitische Praxis, bilden daher den Schwerpunkt des vorliegenden Bandes. Kontinuitäten der »europäischen Integration« verdienen auch deshalb neuerlich Erwägung, weil die neuere NS-Forschung betont, daß auch zahlreiche Nicht-Nationalsozialisten die deutsche Expansions-, Ausbeutungs- und Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg mitgeprägt haben, diese Politik wie ihre Vertreter also möglicherweise nicht einfach nur als »braun« einzustufen sind. Wir haben es vorgezogen, das Europa-Thema konzentriert statt in der ganzen Breite möglicher Fragestellungen und Gegenstände anzugehen, um den Forschungsstand zu dokumentieren, Vergleiche zu ermöglichen und einen Dialog zwischen der deutschen und der ausländischen Zeitgeschichtsforschung über Kontinuitäten zwischen dem »Dritten Reich« und dem Europa der Nachkriegszeit in Gang zu bringen, der längst überfällig ist. Drei Themenstellungen ziehen sich durch alle hier versammelten Aufsätze: 1. Die Montanunion (EGKS) von 1951/52 war institutionell und auch hinsichtlich ihres ›funktionalistischen‹ Integrationsmodus Ausgangspunkt und Vorbild aller Erweiterungen der europäischen Gemeinschaft17 mit Ausnahme der EFTA, die die Integration mit dem Mittel einer gesamteuropäischen Zollunion zu erreichen suchte. Wenn demnach ›braune‹ Wurzeln der EGKS, also realgeschichtliche Zusammenhänge zwischen der Kohle- und Stahlpolitik während des Krieges in Deutschland, im deutsch besetzten Frankreich, in Italien und in den späteren Benelux-Staaten aufgewiesen werden könnten, wäre dies für die Gesamtinterpretation der europäischen Nachkriegsintegration folgenreich. John R. Gillingham und andere haben auf Kontinuitäten von den Stahlkartellen der Zwischenkriegszeit zur EGKS hingewiesen: Nur weil alle Beteiligten auf die jahrzehntelange Praxis von grenzüberschreitenden Preis- und Mengenabsprachen zurückgreifen konnten, hatte die Montanunion überhaupt eine Realisierungs15 Vgl. die Nachweise in den Beiträgen von Patricia Commun, Annie Lacroix-Riz und Stefan Frech u. a. in diesem Band. 16 Michael Brackmann, Vom totalen Krieg zum Wirtschaftswunder. Die Vorgeschichte der westdeutschen Währungsreform 1948, Essen 1993; Frank Bajohr, »Arisierung« in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933-1945, Hamburg 1997. 17 Klaus Schwabe (Hg.), Die Anfänge des Schuman-Plans 1950/51. Beiträge des Kolloquiums in Aachen, 28.-30.5.1986, Baden-Baden 1988. 13 editorial chance.18 Andererseits war die EGKS unter der Ägide des französischen Plankommissars und eigentlichen Architekten der Montanunion, Jean Monnet, kartellfeindlich angelegt. Ihre »Hohe Behörde« sollte wirtschaftsliberale Wettbewerbselemente institutionalisieren und stieß daher auf erbitterten Widerstand im Lager der Arbeitgeber und der Stahlproduzenten.19 Ferner gab es beiderseits des Rheins das Ideal einer schwerindustriellen Verbundwirtschaft zwischen Lothringen und dem Ruhrgebiet.20 Letztlich stand die Montanunion in engem Zusammenhang mit den französischen Sicherheitsinteressen, mit der Politik der Vereinigten Staaten und der Deutschlandpolitik jener frühen Nachkriegsjahre. War, so wäre von hier aus zu fragen, der Zweite Weltkrieg nur eine Etappe innerhalb der langen Kartelltradition, oder hatte er einen höheren Stellenwert für den Neuansatz nach 1945? Welche Rolle spielten bei der Gründung und Realisierung der Montanunion Industrielle und Unternehmen, die von der deutschen Besetzung Frankreichs profitiert oder, auf französischer Seite, mit dem Besatzer kollaboriert hatten? Wurden während des Krieges Versuche unternommen, einen wirtschaftlichen Zusammenschluß Lothringens mit dem Ruhrgebiet, vielleicht auch mit dem Saarland, zu realisieren, der auf dem Weg zur EGKS mehr als nur Episode war? Inwieweit orientierte sich die Haltung der Bundesrepublik zur Montanunion an Erfahrungen aus dem »Dritten Reich«? Gab es ein spezifisch nationalsozialistisches Wettbewerbsmodell, das in die Montanunion einfloß? Welchen Einfluß hatten die Vereinigten Staaten auf die Gründung der EGKS? 2. Die NS-Währungs- und Außenhandelspolitik, insbesondere das 1940 begründete multilaterale Clearing, war in mancher Hinsicht eine Vorwegnahme der Europäischen Zahlungsunion (EZU), deren Bedeutung für das westdeutsche »Wirtschaftswunder« erst neuerdings herausgearbeitet wurde.21 Welche Rolle spielten das Clearing und die nationalsozialistische Währungspolitik während des Krieges und wurden nach 1945 Versuche unternommen, hieran wieder anzuknüpfen? Wie reagierte das Ausland auf die deutschen Vorstöße zu einer europäischen Währungseinheit, wie wurden diese wahrgenommen? 3. In der deutschen Zeitgeschichtsforschung ist seit langem herausgearbeitet worden, daß auch gesellschaftliche Gruppierungen, die in Opposition zum NS-Staat standen, dessen politische Zielsetzungen partiell geteilt haben.22 Dies gilt ähnlich, wenn auch in geringerem Ausmaß, für die Widerstandsbewegungen in den von Deutschland be18 John Gillingham, Coal, Steel and the Rebirth of Europe 1945-1955. The Germans and the French from Ruhr Conflict to Economic Community, Cambridge 1991. 19 Matthias Kipping, Zwischen Kartellen und Konkurrenz. Der Schuman-Plan und die Ursprünge der europäischen Einigung 1944-1952, Berlin 1996. 20 Constantin Goschler/Christoph Buchheim/Werner Bührer, Der Schumanplan als Instrument französischer Stahlpolitik. Zur historischen Wirkung eines falschen Kalküls, in: VfZ 37 (1989), S. 171-206. 21 Vgl. die Nachweise in Marc Buggelns Einleitung zum »Fundstück« in diesem Band. 22 Bayern in der NS-Zeit, hrsg. v. Martin Broszat, Elke Fröhlich, Anton Grossmann, Hartmut Mehringer und Falk Wiesemann; 6 Bde., München 1979-1984; Hans Mommsen, Alternative zu Hitler. Studien zur Geschichte des deutschen Widerstandes, München 2000. 14 editorial setzten Gebieten, die bis 1943 eine in den Grundzügen übereinstimmende Vision der europäischen Nachkriegsordnung entwarfen und dann mit den in vielerlei Hinsicht anderen politischen Zielsetzungen der Alliierten konfrontiert waren.23 Welche Europavorstellungen gab es im deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus? Wie hingen dort europapolitische Orientierungen und ordnungspolitische Entwürfe für die Nachkriegszeit zusammen? Inwieweit reflektierten diese die angenommene Realität eines von Deutschland gewonnenen Krieges, wie stellten sie sich auf den absehbaren Sieg der Alliierten ein? Neben diesen thematischen Schwerpunkten gibt es Einzelaspekte, die sich durch verschiedene Aufsätze ziehen: etwa die Kriegstätigkeit des späteren Bundeswirtschaftsministers und Bundeskanzlers Ludwig Erhard, die ordoliberale Wirtschaftslehre, die Frage von grenzüberschreitender Wirtschaftszusammenarbeit im »Großwirtschaftsraum«. Andere Aspekte des Europa-Themas mußten vernachlässigt werden. Die nationalsozialistische Großraum- und Europaideologie24 ist nicht mit einem eigenen Beitrag vertreten; sie wird nur da behandelt, wo sie von ausländischen Akteuren politikbestimmend rezipiert wurde. Die »Mitteleuropa«-Problematik, die vor dem Hintergrund der politischen Umbrüche seit 1989 vermehrtes Interesse findet25, wäre einen eigenständigen Band wert gewesen, sie wird hier aber zugunsten des westeuropäischen Fokus ausgeblendet. Die angemaßte ›europäische Integration‹ in Freiwilligenverbänden der Wehrmacht und der Waffen-SS26 hätte ebenfalls ein interessanter, wenngleich noch zuwenig erforschter, Gegenstand sein können. Schließlich wäre es von hohem Interesse, wie Europapläne des europäischen Widerstands mit NS-Neuordnungskonzepten zusammenhingen und wie sie die Europapolitik der Nachkriegszeit beeinflußten. Alle diese Fragen müssen weiteren Forschungen vorbehalten sein. Bo Stråths und Thomas Sandkühlers Überblick über Grundlinien der europäischen Integration vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart kombiniert ideengeschichtliche und realgeschichtliche Überlegungen. Die Autoren gehen von einem flexiblen Kontinuitätsbegriff aus. Sie zeichnen wichtige Etappen des europäischen Europabildes und der tatsächlichen Integration nach, stellen wesentliche wissenschaftliche Interpretationen vor und beziehen diese auf die übergreifende Fragestellung des vorliegendes Bandes. Dieser Aufsatz soll dazu dienen, die nicht informierten Leserinnen und Leser in die Geschichte der europäischen Integration und ihren historiographischen Niederschlag einzuführen. Marc Buggeln zeigt in seinem Aufsatz über die deutschen Währungspläne von 1940 die interne Rivalität zwischen verschiedenen Teilen der deutschen Regierungsbürokratie und die Verbindung der aus dieser Rivalität erwachsenden Entwürfe mit dem Schema des deutschen Großwirtschaftsraums auf. Ferner demonstriert Buggeln, wie nah einige 23 Loth, Weg (wie Anm. 1), S. 9-27. 24 Jean Freymond, Le IIIe Reich et la réorganisation économique de l’Europe 1940-1942. Origines et Projets, Leiden 1974. 25 Vgl. die Nachweise im Beitrag von Bo Stråth und Thomas Sandkühler in diesem Band. 26 Die Studie von Hans Werner Neulen, An deutscher Seite. Internationale Freiwillige von Wehrmacht und Waffen-SS, München 1992, ist apologetisch. 15 editorial dieser Pläne den Ideen für eine internationale Währungsordnung nach dem Krieg standen, wie sie zur selben Zeit John M. Keynes entwickelte. Man kann hier allerdings weniger von einem direkten Einfluß als vielmehr von parallel entwickelten Ideen sprechen, was natürlich das Kontinuitätselement in der Währungsfrage nicht in Abrede stellt. Die beiden folgenden Aufsätze behandeln aus ideengeschichtlicher Perspektive Deutschland- und Europapläne deutscher Oppositioneller während des »Dritten Reiches«. Sabine Gillmann beschreibt und analysiert die in der bisherigen Forschung stark vernachlässigten Europapläne des maßgeblichsten Vertreters des nationalkonservativen Widerstands, Carl Goerdeler. Goerdeler, der nach Herkunft und politischer Sozialisation dem annexionistischen Lager zugerechnet werden kann, rang sich im Laufe des Krieges zu der Überzeugung durch, daß Europas Zukunft auf einem gleichberechtigten Zusammenleben der europäischen Staaten beruhen müsse. Dies hat aber Goerdeler nicht daran gehindert, für Deutschland auch weiterhin einen Hegemonialstatus zu fordern. Seine Europapläne waren eine Mischung aus Elementen der Paneuropa-Idee Richard Graf Coudenhove-Kalergis, der deutschen Mitteleuropaideologie und der von den Widerstandsbewegungen entwickelten Visionen für ein Nachkriegseuropa. Innerlich widersprüchlich, erlaubten Goerdelers Europapläne keine Anknüpfung nach 1945. Sie waren, so Gillmann, »zunächst Reaktion primär auf innenpolitische Entwicklungen, begründet in der Hoffnung auf eine Rückkehr zu rechtsstaatlichen und wirtschaftsliberalen Prinzipien durch den von einer Europäischen Gemeinschaft ausgeübten Druck auf das NS-Regime; nach der Kriegswende Reaktion auf die absehbare Niederlage und alliierte Forderungen.« Olaf Breker geht dem Einfluß der sogenannten Freiburger Schule des Ordoliberalismus auf die Genese der sozialen Marktwirtschaft und der europäischen Integration nach. In Absetzung von früheren Deutungen, daß die soziale Marktwirtschaft aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus hervorging, zeigt Breker auf, wie stark die »Freiburger« durch gutachterliche und sonstige Tätigkeiten in die nationalsozialistische »Neuordnung Europas« involviert waren, die sie als Chance nutzen wollten, um ihrem Verständnis einer liberalen Wettbewerbsordnung zur Durchsetzung zu verhelfen. Dieser Befund deckt sich in Teilen mit Ludolf Herbsts und Michael Brackmanns These, daß die soziale Marktwirtschaft in Planungs- und Beraterzirkeln des NS-Staates seit 1943 vorgedacht wurde. Andererseits relativiert Breker den Einfluß Ludwig Erhards, dem Herbst und Brackmann, übereinstimmend mit Erhards eigener Wahrnehmung, die »Vaterschaft« der Sozialen Marktwirtschaft wesentlich konzedieren. Vom Ordoliberalismus der Kriegszeit zur europäischen Integration der Nachkriegszeit, so Breker, führten indirekte Verbindungslinien: die »Freiburger« paßten ihre nationalökonomische Lehre dem Europa der Nachkriegszeit an, wie sie sie zuvor dem NS-Staat angedient hatten. Letztlich verloren sie aber auf der ganzen Linie: Im Laufe der fünfziger Jahre setzte sich ein stärker korporatives Verständnis von sozialer Marktwirtschaft durch, wie andererseits die europäische Integration nicht die Rückkehr zum weltweiten Freihandel einläutete, auf die die Ordoliberalen und auch Ludwig Erhard gehofft hatten. Von hier aus könnte man fragen, ob das in der Montanunion 1951/52 realisierte Wettbewerbsverständnis möglicherweise ›braune‹ Wurzeln im frühen Ordoliberalismus hatte, der ja 1940/41 noch der nationalsozialistischen »Neuordnung« Europas ver- 16 editorial pflichtetet gewesen war. Mit den Entstehungsbedingungen der EGKS beschäftigen sich zwei französische Historikerinnen. Annie Lacroix-Riz, die in Frankreich mit einem vielbeachteten und kontrovers diskutierten Buch über die französische Wirtschaftskollaboration unter deutscher Besatzung hervorgetreten ist27, ordnet die Montanunion in die lange Tradition der europäischen Kartelle ein, die seit der Zwischenkriegszeit von deutschen Unternehmen dominiert waren. Hiervon grenzt Lacroix-Riz die nach außen hin gegen Kartellisierungen gerichtete Politik der Vereinigten Staaten ab und untersucht, welchen Einfluß die USA und die Bundesrepublik auf die Entstehung der Montanunion hatten. Frankreich, so Lacroix-Riz’ Resultat, war unter dem doppelten Druck der Vereinigten Staaten und Deutschlands, das von den USA vorrangig wieder aufgebaut wurde, zu keinem Zeitpunkt in der Lage, seine vitalen Sicherheitsinteressen durchzusetzen, weil sich die französische Außen- und Innenpolitik dem Schutz von Kapitalinteressen verpflichtet sah, die Arbeitgeber- und Produzentenverbände beiderseits des Rheins verfolgten. Sie integrierten Europa auf ihre Weise, nämlich zu Lasten der Arbeiterbewegung, die im Frankreich der Kollaborationszeit als »innerer Feind« identifiziert und bekämpft worden war. In dieser Hinsicht bestand eine Kontinuität von der Zwischenkriegszeit und besonders der Vichy-Ära her bis in die Montanunion, die nach Lacroix-Riz’ Forschungen alles andere als ein Wettbewerbsmodell war: Es handelte sich vielmehr um ein Superkartell im Geiste des Zweiten Weltkrieges, das die europäische Integration der Nachkriegszeit von vornherein auf ein falsches Gleis gesetzt habe. Patricia Commun verfolgt ein doppeltes Erkenntnisinteresse. Sie untersucht einerseits vor dem Hintergrund eines Berichts über die französische Forschung zur EGKS, ob während der deutschen Besetzung Lothringens Versuche unternommen wurden, einen Wirtschaftsverbund zwischen der deutschen, luxemburgischen und französischen Montanindustrie zu errichten, der die spätere Montanunion vorweggenommen haben könnte. Hierbei zeigt sich, daß die Wirtschaftspolitik des Gauleiters der Saarpfalz, Josef Bürckel, über die traditionellen Ansätze einer deutsch-französischen Verbundwirtschaft seit der Zwischenkriegszeit hinauswies und einige ›moderne‹ Elemente enthielt, die sich später in der Montanunion wiederfinden lassen. Zum anderen geht Commun den Aktivitäten Ludwig Erhards und Robert Schumans in Lothringen nach. Erhard diente Bürckel verschiedentlich als Gutachter und unterstützte dessen Ambitionen; der spätere französische Außenminister Schuman, der die Montanunion mit dem nach ihm benannten Schumanplan im Mai 1950 auf den Weg brachte, war in Lothringen flüchtlingspolitisch aktiv. Erhard, der seinerzeit dem leichtindustriellen Lager angehörte, und Schuman sind sich zwar nicht persönlich begegnet, wurden aber in Lothringen auf das Problem von Kohlelieferungen für die französische Stahlindustrie aufmerksam und erhielten auf diese Weise wichtige Anstöße für ihre spätere Wirtschaftspolitik in Sachen Kohle und Stahl. Offen muß derzeit bleiben, warum Ludwig Erhard die EGKS in den fünfziger Jahren vehement ablehnte, wenn er in den vierziger Jahren an dem Versuch ihrer besatzungspolitischen Vorwegnahme beteiligt war. 27 Annie Lacroix-Riz, Industriels et banquiers français sous l’Occupation: la collaboration économique avec le Reich et Vichy, Paris 1999. 17 editorial Das Verhältnis der Schweiz zu NS-Deutschland hat infolge der Auseinandersetzungen über die »Raubgold«-Problematik erst in den letzten Jahren Beachtung gefunden. Stefan Frech, Thomas Gees, Blaise Kropf und Martin Meier, allesamt frühere wissenschaftliche Mitarbeiter der vom Schweizer Bundesrat eingesetzten Expertenkommission zur Erforschung der Finanzbeziehungen zwischen der Eidgenossenschaft und den Achsenmächten, analysieren die Haltung der Schweiz zum multilateralen Clearing des »Dritten Reiches« und präsentieren auf diese Weise eine interessante Außensicht auf die von Marc Buggeln vorgestellten Währungskonzepte. Schweizer Wirtschaftseliten, die dank einer durchweg korporatistischen Struktur auf die außenhandelspolitischen Entscheidungen ihres Landes maßgeblichen Einfluß nehmen konnten, waren einerseits hellsichtig, indem sie die hinter der ›kooperativen‹ und gemeineuropäischen Propaganda des NS-Staates verborgenen Macht- und Herrschaftsansprüche des großen deutschen Nachbarn zutreffend wahrnahmen. Andererseits kam die Schweiz den deutschen Ansprüchen durchaus entgegen und nahm am mehrseitigen Clearing teil, das bis weit über das Kriegsende hinaus Bestand hatte. Interessanterweise nahmen die Schweizer Wirtschaftsvertreter die mit der EGKS angebahnte europäische Integration unter supranationalen Vorzeichen als Fortsetzung der deutschen Dominanz wahr und blieben deshalb gegenüber dieser Integration bis 1960 skeptisch, als die Schweiz sich mit dem Beitritt zur EFTA vorsichtig gegenüber Europa öffnete. Auch in diesem Band der »Beiträge« drucken wir zwei bisher unbekannte Dokumente als »Fundstück« ab, die Marc Buggeln mit einer kurzen Einführung versehen hat. Es handelt sich um Konzepte und Stellungnahmen zum Problem einer europäischen Gemeinschaftswährung aus dem Jahr 1951. Ein »europäisches Währungskomitee«, an dem führende Bankiers und Finanzexperten, darunter Hermann Josef Abs, beteiligt waren, entwarf das Modell einer europäischen Währungseinheit, das direkte Bezüge zu einer thematisch übereinstimmenden Denkschrift aus dem Umkreis des I. G. Farben-Konzerns aus dem Jahr 1944 aufweist. Das Bundeswirtschaftsministerium lehnte solche weitreichenden Vorstellungen mit Argumenten ab, die schon in den Auseinandersetzungen des Jahres 1940 aufs Tapet gekommen waren. Der »Euro« wurde in dieser Stellungnahme bereits vorweggenommen – fünfzig Jahre vor seiner Einführung als bare Währung innerhalb der EU. Die »Beiträge«, die seit zwei Jahren mit einer verjüngten Redaktion und einem modifizierten Konzept arbeiten, haben mit dem vorliegenden Band auch den Erscheinungsort gewechselt. Sie erscheinen von nun an im Göttinger Wallstein-Verlag. Dieser Verlagswechsel eröffnet der Zeitschrift, so hoffen wir, noch bessere Rezeptionschancen als in der Vergangenheit und wird ihr, darum sind wir jedenfalls sehr bemüht, auch einen größeren Leserinnen- und Leserkreis bescheren. Weder inhaltlich noch formal wird sich etwas ändern; auch die Abonnements bleiben erhalten. Wir hoffen, daß unsere Entscheidung die Zustimmung unserer bisherigen Leserinnen und Leser, Abonnentinnen und Abonnenten findet und werden uns bemühen, auch weiterhin interessante und anspruchsvolle Forschungen zu präsentieren. Wir danken der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius für die großzügige Unterstützung dieser Publikation. 18 Bo Stråth/Thomas Sandkühler Europäische Integration Grundlinien und Interpretationen 1. Einleitung Es ist inzwischen ein Allgemeinplatz der historischen Forschung geworden, daß Europa nicht als ein normativ abgeleitetes Ideal oder als ein utopisches Bild von Einigung gesehen werden sollte, sondern viel stärker in seiner Zeitgebundenheit, durch die es unter dem Einfluß widerstreitender Interessenkonstellationen Gestalt annahm.1 In der Praxis ist es weniger die geschlossene große Idee von Europa, sondern eine ganze Palette sehr verschiedener Einflüsse, die den europäischen Integrationsprozeß in einer Geschichte formten, die nicht erst 1945 begann. Von besonderem Interesse für diesen Band sind natürlich die Verwicklungen und Kontinuitäten zwischen der NS-Zeit und den Nachkriegsepochen, aber diese Verbindung zwischen vor und nach 1945 sollte in einem breiteren und längeren historischen Kontext betrachtet werden. Grundbegriffe der europäischer Integration lassen sich unterschiedlich definieren, zumal sie auch von den politischen Akteuren der Nachkriegszeit uneinheitlich verwendet wurden. Das gilt zunächst für den Integrationsbegriff selbst.2 Es handelt sich hier um ein sozialwissenschaftliches Schlüsselkonzept, mit dem in den fünfziger und sechziger Jahren die Transformation westeuropäischer Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg, besonders aber die Institutionalisierung von Kooperation zwischen Regierungen auf einer Ebene oberhalb des klassischen Nationalstaates sowie die gleichzeitige Zusammenfassung transnationaler Kommunikationsnetzwerke und organisierter Interessen in Europa erklärt werden sollte. In Anlehnung an den funktionalistischen Mainstream der zeitgenössischen amerikanischen Soziologie3 wollte man eine ruhige, lineare, evolutionäre Entwicklung hin zu höheren oder stärker verdichteten Stufen sozialer Organisation anzeigen. »Integration« wurde ein »In«-Begriff mit hoher politischer Wertzuschreibung. Im Hintergrund stand der Kalte Krieg, in dem sich zugleich die Abgrenzung Europas gegenüber der sowjetischen Einflußsphäre manifestierte. Die politische Integration wurde als Mittel zur Friedens- und Wohlstandssicherung in der westlichen Welt durch intensivierte Kommunikation, Handel und andere wirtschaftliche und politische Netzwerke zwischen Industriegesellschaften begriffen. Der Integrationsbegriff beanspruchte zwar, verallgemeinerbar zu sein, aber seine praktische Anwendung fand ganz über1 Peter Krüger, Europabewußtsein in Deutschland, in: Rainer Hudemann/Hartmut Kaelble/ Klaus Schwabe (Hg.), Europa im Blick der Historiker. Europäische Integration im 20. Jahrhundert: Bewußtsein und Institutionen, München 1995, S. 31-53. – Übersetzung der Textteile Bo Stråths aus dem Englischen von Thomas Sandkühler. 2 Ludolf Herbst, Stil und Handlungsspielräume westdeutscher Integrationspolitik, in: Ludolf Herbst/Werner Bührer/Hanno Sowade (Hg.), Vom Marshallplan zur EWG. Die Eingliederung der Bundesrepublik in die westliche Welt, München 1990, S. 3-18. 3 Vgl. Talcott Parsons, Das System moderner Gesellschaften, München 1972. 19 bo stråth/thomas sandkühler wiegend im westeuropäischen Kontext statt, mit Blick auf die Europäische Gemeinschaft der Römischen Verträge. Die akademische Debatte der fünfziger und sechziger Jahre über die europäische Integration hat das Problem möglicher Verbindungen mit früheren Projekten europäischer Einigung nie wirklich thematisiert, sondern implizit das Jahr 1945 als Beginn einer neuen Ära angesetzt. Die Voraussetzungen dieses Weltbildes änderten sich dramatisch erst in den siebziger Jahren mit dem Zusammenbruch des Weltwährungssystems von Bretton Woods, dem Ölpreisschock, dem Zusammenbruch von Schlüsselindustrien wie Kohle, Stahl und Werften und mit der Entstehung von Massenarbeitslosigkeit. Der Interpretationsrahmen eines ruhigen Wandels zu immer höheren Stadien sozialer Organisation paßte nicht mehr zur Wirklichkeit. Der Begriff der Kontinuität wird herkömmlich als Ausdruck von etwas Statischem und Unveränderlichem gesehen, in Absetzung von Diskontinuität, das für plötzlichen Wandel steht. Er kann aber auch, nach dem Wortsinn des lateinischen continuare (fortsetzen), Wandel anzeigen. Dieses Verständnis eignet sich besonders, um langfristige Tendenzen herauszuarbeiten und Dauer im Wandel, auch über wirkungsmächtige Einschnitte der politischen Geschichte hinweg, zu bezeichnen.4 Ferner ist an Reinhart Kosellecks Unterscheidung zwischen »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizonten« als Eckpunkte eines Spannungsfeldes zu erinnern, in dem politisches Handeln stattfindet und in dem auch Geschichte als Ausdruck historischer Erfahrungen mobilisiert wird. Das war im Verlauf der europäischen Integration in besonderem Maße der Fall, weil sich die politischen Problemhorizonte dieses Projekts immer wieder verschoben und neue Lösungen definiert werden mußten. Statt die europäische Entwicklung in Phasen zu unterteilen, die durch Unterbrechungen früherer Entwicklungen klar voneinander abgegrenzt sind, wird hier eine Sicht des Integrationsprozesses als Bündel von Kontinuitäten bevorzugt, in dem der historische Erfahrungsraum und der Blick auf Europa, den er hervorbringt, beständig neu entstehen, wo diese Sichtweisen je spezifisch miteinander konkurrieren und daher auch im Plural angesprochen werden müssen. Die Frage ist demnach nicht, ob es Kontinuitäten von den vielfältigen Europaprojekten der Zwischenkriegszeit und des Zweiten Weltkriegs her gegeben hat – durch die Erfahrungen der Zwischenkriegsund Kriegsjahre war eine Verbindung notwendigerweise gegeben –, sondern es geht um die Frage, was bestehen blieb und was sich veränderte. 2. Grundlinien der europäischen Integration 2.1. Vom 19. Jahrhundert bis zur Zwischenkriegszeit Die zwanziger Jahre waren ein Jahrzehnt der lebendigen Debatte über Europa und Europas Rolle im globalen Kontext. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten sich zwei konkurrierende und gleichzeitig überlagernde Ideen für internationale oder trans4 Reinhart Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik, mit einem Beitrag von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt am Main 2000. Vgl. Fernand Braudel, On History, London 1969. 20 europäische integration nationale Organisationen herausgebildet: diejenige der europäischen Einigung und diejenige der weltweiten Organisation. Diese Konzepte wurden in der 1923 gegründeten Paneuropa-Bewegung des Grafen Richard Coudenhove-Kalergi und im Völkerbund institutionalisiert. Die sowohl gegen die Vereinigten Staaten als auch gegen die Sowjetunion gerichtete Paneuropa-Bewegung wollte auf dem Weg einer Zollunion die Vereinigten Staaten von Europa von Portugal bis Polen, jedoch unter Ausschluß der UdSSR und Großbritanniens, errichten.5 Von den zwanziger Jahren ausgehend, können die Linien auch noch weiter zurück gezogen werden. So verbindet Peter Krüger die Europaidee in Deutschland mit sozioökonomischen Lagen, innen- und außenpolitischen Konstellationen und öffentlichen Diskursen über dieses Thema6 und kommt zu Neuinterpretationen der Europapolitik Gustav Stresemanns, die Krüger in einen Zusammenhang mit dem großdeutschen Revisionismus jener Zeit und mit Plänen für eine wirtschaftliche und politische Machtposition in Mittel- und Osteuropa stellt. Die Zäsur des Kriegsendes wird bei Krüger nicht problematisiert; er sieht deutliche Unterschiede zwischen dem Europabewußtsein der Nachkriegszeit und den deutschen Europaplänen der Vorkriegs- und Kriegsepoche. Willfried Spohns jüngster Artikel7, Monographien von Wolfgang Burgdorf und Wolfgang Schmale sowie zwei Bücher von Jörg Brechtefeld und Jürgen Elvert über das Mitteleuropa-Konzept vom neunzehnten Jahrhundert bis zur Gegenwart stehen für ein wiederlebtes Interesse an der longue durée von Europakonzepten,8 für die bis vor kurzem Dennis Hays klassische Arbeit aus dem Jahr 1957 maßgeblich war.9 Das Mitteleuropakonzept, so Brechtefeld, verschwand nach dem Zweiten Weltkrieg mehr oder weniger aus der politischen Terminologie, erlangte aber wegen der Desintegration des »Ostblocks« in den achtziger Jahren neue Bedeutung. Es gab, trotz des fast fünfzigjährigen »Dornröschenschlafs« nach dem Krieg und trotz der Realität des Kalten Krieges, das scheinbar keinen Spielraum zwischen Ost und West ließ, in der deutschen Außenpolitik vom Bismarckreich bis zum vereinten Deutschland eine durchgehende Mitteleuropa-Orientierung. 5 Wilfried Loth, Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration 1939-1957, Göttingen 1996, S. 10. 6 Peter Krüger, Die Ansätze zu einer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in Deutschland seit dem ersten Weltkrieg, in: Helmut Berding (Hg.), Wirtschaftliche und politische Integration in Europa im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1984, S. 149-168, sowie Krüger, Europabewußtsein (wie Anm. 1). 7 Wilfried Spohn, Continuities and Changes of Europe in German National Identity, in: Mikael af Malmborg/Bo Stråth (Hg.), The Meaning of Europe. Variety and Contention within and among Nations, Oxford 2002, S. 285-310. 8 Wolfgang Burgdorf, »Chimäre Europa«. Antieuropäische Diskurse in Deutschland (16481999), Bochum 1999; Wolfgang Schmale, Geschichte Europas, Wien/Köln/Weimar 2000; Jörg Brechtefeld, Mitteleuropa and German Politics. 1848 to the Present, London 1996; Jürgen Elvert, Mitteleuropa! Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung (1918-1945), Stuttgart 1999. 9 Dennis Hay, Europe: The Emergence of an Idea, Edinburgh 1957. 21 bo stråth/thomas sandkühler Die Jahre zwischen der Gründung der Paneuropa-Union in den frühen zwanziger Jahren und der Weltwirtschaftskrise sind als eine »erste Welle« europäischer Integration bezeichnet worden.10 1924 wurde ein Internationales Kommitee für eine europäische Zollunion gebildet, dem kleine Gruppen von Wirtschaftsexperten und Geschäftsleuten angehörten. Der Mitteleuropäische Wirtschaftstag hielt seinen ersten Kongreß 1925 ab. Der Locarno-Pakt des Jahres 1925 steht für einen Versuch, die europäische und die globale Orientierung zu verbinden. Die deutschen Sozialdemokraten nahmen 1926 eine europäische Föderation, die »Vereinigten Staaten von Europa« in ihr Heidelberger Parteiprogramm auf. Im Völkerbund trug Aristide Briand 1929 ähnliche Ideen eines europäischen Bundesstaates vor, um Deutschland an einer Revision der deutschen Ostgrenzen durch wirtschaftliche Machtentfaltung in den Nachfolgestaaten der Donaumonarchie zu hindern. Der Briand-Plan scheiterte an der Zurückhaltung des deutschen Außenministers Gustav Stresemann und an der offenen Absage der Regierung Brüning im Mai 1930.11 Es gab eine Vielzahl von Vorschlägen für unterschiedlichste Formen einer Zollunion, obwohl viele von ihnen nicht europäisch, sondern regional angelegt waren. Vor allem im während der Zwischenkriegszeit von einer langdauernden Wirtschaftskrise betroffenen ehemals Habsburgischen Donauraum hatten Kooperationsprojekte einen hohen Stellenwert. Donau-Integrationsideen schossen wie Pilze aus dem Boden, wobei viele ihrer Urheber schon deshalb eine ausschließlich wirtschaftliche Kooperation favorisierten, weil sich so das Konfliktpotential der teils erst nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten Staaten in der Region umgehen ließ. Nicht nur Geschäftsleute, sondern auch Politiker betrachteten unterschiedliche Formen von Zollunionen als ernstzunehmender denn Föderationsmuster. Mit der Weltwirtschaftskrise änderte sich viel. Die Schemata für Einheit, Frieden und Freihandel brachen zusammen und wurden nach und nach durch den Protektionismus und regionale Pläne für kleinere Zollunionen ersetzt. Die internationalen Kartelle und die wirtschaftliche Macht, die sie repräsentierten, füllten das Vakuum, das die Handlungsschwäche der Politik hinterlassen hatte. 1926 wurde auf Initiative des luxemburgischen Industriellen Émile Mayrisch das Internationale Stahlkartell gegründet, an dem sich die französische, die deutsche, die belgische und die luxemburgische Stahlindustrie sowie die Saarhütten beteiligten.12 Die Paneuropa-Bewegung nahm immer mehr christlich-konservative und autoritäre Züge an und verlor viel von ihrer ursprünglichen Offenheit. Die Pläne der deutschen Nationalsozialisten für ein neues Europa gewannen an Stärke. Hans-Helmut Dietze war einer derjenigen deutschen Rechtstheoretiker, der den expansiven Nationalismus des »Dritten Reiches« mit der angeblichen europäischen Mission eines »antibolschewistischen Kreuzzuges« zu vereinen suchte. Die Beziehungen zwischen 10 David Weigall/Peter Stirk, From the Treaty of Versailles to the Outbreak of World War II. Introduction, in: Dies. (Hg.), The Origins and Development of the European Community, Leicester 1992, S. 5. 11 Loth, Weg (wie Anm. 5), S. 13. 12 Ebd., S. 12. 22 europäische integration den europäischen Völkern durften sich aus Dietzes Sicht nicht nach den mechanistischen Prinzipien eines überholten zwischenstaatlichen Rechts richten, sondern die organische Einfügung der einzelnen Völker in eine Völkergemeinschaft zum Ziel haben, je nach ihrer jeweiligen nationalen Substanz. Deutschlands ewige europäische Aufgabe sei es, durch die Schaffung eines Großdeutschen Reiches den Westen, das wahre Europa, gegen den Osten zu stärken.13 Diese Ideen gründeten sich auf das deutsche Mitteleuropa- und Großraumprojekt. Das sub-europäische Großraumvorhaben erweiterte sich zu einer Europaideologie, die immer stärker in Opposition zur Sowjetunion stand. Dies trifft auch auf Carl Schmitts Europavorstellungen zu. In den frühen zwanziger Jahren als Europa der Neo-Christenheit konzipiert, wandelten sich Schmitts Vorstellungen in den dreißiger Jahren zu einem großdeutsch beherrschten Europa. Europäische Liberale und westliche Sozialisten hätten, so Schmitt, die Saat ökonomischer Rationalität gelegt, die in der Sowjetunion aufgegangen sei. Mitteleuropa stand bei Schmitt in Antithese sowohl zur von der Sowjetunion dominierten östlichen als auch zu der von den USA und Großbritannien dominierten westlichen Welt.14 Gegen den amerikanischen und den britischen Großraum setzte Schmitt den deutschen Großraum. Er lehnte auf der Grundlage des Volks-Konzepts das Völkerrecht ab und bestand auf seinem zwischenstaatlichen Charakter, der die Staaten als primäre Akteure beließ. Mit dem Großraumkonzept verloren die Staaten jedoch diese Eigenschaften; die Großräume wurden selbst Rechtssubjekte. In diesem Zusammenhang bezog sich Schmitt auf die Monroe-Doktrin von 1823 als historisches Beispiel. 2.2. Der Zweite Weltkrieg Die Großraumdebatte der Jahre 1939-1945 läßt sich an den prominenten SS-Juristen Werner Best, Norbert Gürke und Reinhard Höhn illustrieren.15 Das herkömmliche europäische Völkerrecht mit seinem universellen Zuschnitt repräsentierte aus Sicht der Nationalsozialisten keine »echte Völkerrechtsordnung«, sondern es wurde als 13 Hans-Helmut Dietze, The Problem of Europe’s Legal Unity (1938), in: Weigall/Stirk, Origins (wie Anm. 10), S. 17, vgl. dazu auch Elvert, Mitteleuropa (wie Anm. 8). 14 Carl Schmitt, Neutralisierungszeit (1929), in: Ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954: Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958; ders., Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für Raumfremde Mächte: Ein Beitrag zum Reichbegriff im Völkerrecht, 4. Aufl., Berlin 1941; ders., Römischer Katholizismus und politische Form, Berlin 1991. 15 Zu Best Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschaung und Vernunft 1903-1989, 2. Aufl. Bonn 1996. Zur NS-Großraumordnung Jean Freymond, Le IIIe Reich et la réorganisation économique de l’Europe 1940-1942. Origines et Projets, Leiden/ Genf 1974; Mathias Schmoeckel, Die Großraumtheorie. Ein Beitrag zur Geschichte der Völkerrechtwissenschaft im Dritten Reich, insbesondere der Kriegszeit, Berlin 1994; Dan Diner, Rassistisches Völkerrecht. Elemente einer nationalsozialsitischen Weltordnung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 37 (1989), S. 23-56; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland; Bd. III, München 1999, S. 380-392. 23 bo stråth/thomas sandkühler »angelsächsisch« diffamiert, im Gegensatz zum »wahrhaften« oder »germanischen Völkerrecht«. Höhn zufolge bedeutete die Großraumordnung, daß bestimmte geschichtsmächtige Völker für spezifische geographische Bereiche verantwortlich waren. In Europa seien die Leitprinzipien auf die deutsche Großraumidee und Mussolinis Idee vom Römischen Imperium gegründet. Das Großraumkonzept war ein wirtschaftlicher und politischer Kampfbegriff. Einer »chaotischen« liberalkapitalistischen angelsächsischen Ordnung wurde die angeblich planvolle, raumgestaltende Gemeinund Verbundwirtschaft im Donauraum entgegengesetzt. Höhns »Neuordnung Europas« mit »Herren- und Sklavenvölkern« unter deutscher Führerschaft war eurozentrisch, reaktionär, anti-westlich und utopisch. Hier grenzte er sich gegen Carl Schmitt ab, der nicht nur ein Europa unter deutscher Vorherrschaft, sondern auch eine neue Weltordnung des internationalen Rechts anstrebte. Die vorn skizzierten programmatischen Debatten um den deutsch beherrschten »Großraum« waren Teil jener »Neuordnung Europas«, zu der das »Dritte Reich« nach dem deutschen Sieg über Frankreich im Sommer 1940 ansetzte.16 Politisches Ziel war ein »Großgermanisches Reich« von der Kanalküste bis zum Ural, von Narvik bis nach Südosteuropa, dem in der deutschen Propaganda eine »europäische« Bedeutung zugeschrieben wurde. »Europa kämpft gegen den Bolschewismus«, hieß es nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion auf öffentlichen Plakatwänden; nach der Niederlage bei Stalingrad im Februar 1943 unternahm Reichspropagandaminister Joseph Goebbels eine weitere Initiative, um die »Völker Europas« für den Kampf gegen den Bolschewismus zu mobilisieren.17 Demnach war das Deutsche Reich unter Hitlers Führung dazu berufen, das Abendland vor der Barbarei aus dem Osten zu schützen, wie das in den dargestellten Großraum-Schriften bereits vorgedacht war. Man berief sich in diesem Zusammenhang auch auf hunderttausende sogenannte Fremdarbeiter in der Kriegswirtschaft des NS-Staates, die angeblich freiwillig am Aufbau eines »Neuen Europa«18 teilnahmen, tatsächlich aber ganz überwiegend zum Arbeitseinsatz in Deutschland und den besetzten Gebieten gezwungen worden waren. Wirtschaftlich gesehen, bestand die »Neuordnung Europas« aus mehreren Elementen. Einerseits legten deutsche Großunternehmen, darunter der I. G. FarbenKonzern, detaillierte Pläne für die Nachkriegswirtschaft vor, um den deutschen Führungsanspruch in Europa zu realisieren und daraus wirtschaftlichen Profit zu 16 Vgl. Ludolf Herbst, Der Totale Krieg und die Ordnung der Wirtschaft, Die Kriegswirtschaft im Spannungsfeld von Politik, Ideologie und Propaganda 1939-1945, München 1982, S. 127167. 17 Ebd., S. 242-252. 18 Friedrich Didier, Europa arbeitet in Deutschland. Sauckel mobilisiert die Leistungsreserven, Berlin 1943. Vgl. auch das Umschlagfoto zu diesem Band, das einen »Reichsappell« der Deutschen Arbeitsfront (DAF) in Berlin unter dem Motto »Für ein Neues Europa« am 3.5.1943 zeigt. Zur DAF siehe auch Karl Heinz Roth, Die Sozialpolitik des »europäischen Großraums« im Spannungsfeld von Okkupation und Kollaboration (1938-1945), in: Werner Röhr (Hg.), Okkupation und Kollaboration (1938-1945). Beiträge zu Konzepten und Praxis der Kollaboration in der deutschen Okkupationspolitik, Berlin/Heidelberg 1994, S. 461-565. 24 europäische integration schlagen.19 Diese »Wunschprogramme«, die vor allem in der Wirtschaftsgeschichtsschreibung der damaligen DDR aufgearbeitet wurden, beruhten vor allem auf Kapitalverflechtungen, nicht zuletzt mit dem Mittel der »Arisierung« von Unternehmen jüdischer Geschäftsinhaber, und auf der Durchsetzung der deutschen Führerschaft in internationalen Kartellen und Marktvereinbarungen.20 Die angestrebte »Neuordnung« ist denn auch zeitgenössisch als »Großraumkartell« bezeichnet worden, was wiederum maßgeblich zur Anti-Kartellpolitik der Vereinigten Staaten in Europa nach dem Krieg beitrug.21 Das zweite Element der nationalsozialistischen »Neuordnung« bestand in der Ausbeutung der Ressourcen der deutsch besetzten Länder und Gebiete. In diesem Zusammenhang sind die Verschleppung von »Fremdarbeitern« nach Deutschland und namentlich der Raub- und Vernichtungskrieg gegen die UdSSR zu erwähnen, der auf dem Grundprinzip eines den Völkermord an Millionen sowjetischer Staatsangehöriger bewußt einkalkulierenden »Hungerplans« beruhte.22 Dieses Raubprogramm wurde von einem subtileren System des bilateralen Handels- und Verrechnungsverkehrs mit dem Mittel des Clearings flankiert, durch das Deutschland die besetzten und abhängigen Gebiete zwang, Ressourcen zu liefern.23 Diese Importe wurden aber nur zum Teil durch entsprechende deutsche Gegenlieferungen, vor allem von Maschinen und Fertigwaren, kompensiert, so daß das Reich beträchtliche Schulden gegenüber seinen Handels»partnern« aufhäufte. Das europäische Ausland wurde auf diese Weise indirekt zur Kriegsfinanzierung herangezogen.24 Im Unterschied zum »Neuen Plan« des Reichswirtschaftsministers Hjalmar Schacht in den dreißiger Jahren, der einen eindeutigen Schwerpunkt in Südosteuropa hatte, war das deutsche Clearingsystem des Zweiten Weltkrieges, wie neuere Forschungen gezeigt haben, in erheblichem Maße auf Westeuropa, genauer: auf die 19 Vgl. die Edition von Reinhard Opitz, Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945, Köln 1977, S. 653-1007, sowie Werner Röhr, Forschungsprobleme zur deutschen Okkupationspolitik im Spiegel der Reihe »Europa unterm Hakenkreuz«, in: Ders. (Hg.), Europa unterm Hakenkreuz. Analysen, Quellen, Register, Heidelberg 1996, S. 25-343, hier: S. 220265 u. 304-343. 20 Dietrich Eichholtz, Neuordnung Europas, in: Wolfgang Benz/Hermann Graml/Hermann Weiß (Hg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 1997, S. 613 f. 21 Arno Sölter, Das Großraumkartell, Dresden 1941; auszugsweise abgedruckt in: Opitz, Europastrategien (wie Anm. 19), S. 837-856. Vgl. zu den Kartellen auch Volker H. Berghahn, Montanunion und Wettbewerb, in: Berding, Integration (wie Anm. 6), S. 247-270, hier: S. 253 f., sowie den Beitrag von Annie Lacroix-Riz in diesem Band. 22 Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg 1999; ders., Krieg, Ernährung, Völkermord. Forschungen zur deutschen Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1998. 23 Hans-Erich Volkmann, NS-Außenhandel im geschlossenen Kriegswirtschaftsraum (19391941), in: Ders./Friedrich Forstmeier (Hg.), Kriegswirtschaft und Rüstung 1939-1945, Düsseldorf 1977, S. 92-163. 24 Vgl. Willi A. Boelcke, Die Kosten von Hitlers Krieg. Kriegsfinanzierung und finanzielles Kriegserbe in Deutschland 1933-1948, Paderborn 1985. 25 bo stråth/thomas sandkühler Mitgliedsländer der späteren Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), konzentriert. Hier akkummulierte das Reich Clearingschulden von rund 20 Mrd. Reichsmark, gegenüber rund 8,9 Mrd. Reichsmark in Südost- und Osteuropa.25 Dieser Befund ist insofern bemerkenswert, als die Westausrichtung des deutschen Außenhandels im Krieg mit einer tendenziellen Umkehrung der gehandelten Güter einherging. Während aus Südost- und Osteuropa, wie gesehen, vor allem Rohstoffe und Nahrungsmittel eingeführt und im Gegenzug Fertigwaren geliefert wurden (soweit nicht die Ausbeutung, wie in der Sowjetunion, auf schierem Zwang beruhte, der in die Clearingsalden natürlich nicht einging), kamen aus Westeuropa seit 1941 vor allem Halb- und Fertigwaren und ging der Anteil der Fertigwaren am deutschen Export tendenziell zurück. Die nationalsozialistische »Neuordnung« nahm insofern »die Tendenz zur Intensivierung des intra-industriellen Handels vorweg, die in der westdeutschen Handelsbilanz erst in der Mitte der fünfziger Jahre zu beobachten ist. […] Hier zeigt sich deutlich, welches Rekonstruktionspotential für Westeuropa nach dem Krieg in der Wiedererrichtung der deutschen Wirtschaft als eines Importnachfragers lag. Interessanterweise ist dies offenbar nicht […] eine nach dem Krieg neuauftretende Tendenz, sondern der Rückgriff auf ein Importmuster, das unter den ganz anderen politischen Vorzeichen der erzwungenen Arbeitsteilung im NS-›Großwirtschaftsraum‹ während des Krieges schon einmal aufscheint.«26 Ein vergleichbares Kontinuitätsmuster zeichnet sich mit Blick auf das deutsche Projekt einer »Clearingunion« und damit einhergehender währungspolitischer Maßnahmen des Reichswirtschaftsministeriums ab.27 Seit 1940 schloß Deutschland mit verschiedenen Ländern Europas, beginnend mit dem besetzten Belgien, multilaterale Clearingverträge ab, aufgrund derer die bilateralen Zahlungsströme über die Deutsche Verrechnungskasse in Berlin, eine Tochter der Reichsbank, geführt wurden. Die Teilnehmer des multilateralen Clearing konnten ihre Defizite und Überschüsse untereinander verrechnen, wobei Deutschland die Verrechnungskurse vorgab. Diese letztlich nur in Ansätzen realisierte »Zwangsintegration« durch die NS-Verrechnungskasse war technisch gesehen eine direkte Vorwegnahme der ebenfalls auf dem Prinzip des multilateralen Clearings beruhenden Europäischen Zahlungsunion 25 Christoph Buchheim, Die besetzten Länder im Dienste der deutschen Kriegswirtschaft während des Zweiten Weltkriegs. Ein Bericht der Forschungsstelle für Wehrwirtschaft (Dokumentation), in: VfZ 34 (1986), S. 117-145. Die Defizite auf den deutschen Verrechnungskonten gegenüber Frankreich, Italien und den späteren Beneluxländern betrugen Ende 1944 19,65 Mrd. Reichsmark, gegenüber Skandinavien 1,37 Mrd., gegenüber Südosteuropa 4,04 Mrd., gegenüber Osteuropa 4,85 Mrd. Reichsmark. Helge Berger/Albrecht Ritschl, Die Rekonstruktion der Arbeitsteilung in Europa. Eine neue Sicht des Marshallplans in Deutschland 1947-1951, in: VfZ 43 (1995), S. 473-519, hier: S. 495. 26 Ebd., S. 496. 27 Reichsmarschall Hermann Göring beauftragte Funk am 22.6.1940 mit der Vorbereitung einer Clearingunion (ebd., S. 494, Anm. 56). Vgl. dazu auch den Beitrag von Marc Buggeln in diesem Band. 26 europäische integration (EZU), die nach dem Krieg maßgeblich zum deutschen »Wirtschaftswunder« beitrug.28 Es wäre also falsch, anzunehmen, im Krieg sei auf dem Kontinent kein Platz mehr für Ideen und Praktiken der europäischen Integration gewesen. Denn auch in den europäischen Widerstandsbewegungen waren die Diskussion und entschiedene Befürwortung der Integration weit verbreitet. Patriotismus und europäische Einigung, europäische Föderation und eine globale Friedensordnung wurden als komplementär und nicht als sich gegenseitig ausschließend betrachtet. Die europäische Integration, wie sie in den Schriften und Vorschlägen dieser Periode wahrgenommen wurde, stellte eine direkte Herausforderung der nationalen Souveränität dar. Gleichzeitig mochte die Integration, im europäischen oder weltweiten Maßstab, nach Meinung Vieler am besten dadurch erreicht werden, daß man die Rechte und Privilegien der souveränen Staaten nicht direkt einschränkte, sondern durch pragmatische und selektive Integration. Der funktionalistische Ansatz, der in den nachfolgenden Jahrzehnten so einflußreich sein sollte, wurde bereits während des Krieges anvisiert.29 Nationalsozialistische und Widerstands-Versionen europäischer Einigung schlossen sich keineswegs durchweg aus; sie standen mitunter in innerem Zusammenhang, wie eine Arbeitsgruppe an der Universität Hull in einer anspruchsvollen Analyse des Kontinuitätsthemas dargelegt hat. Eine behutsame Historisierung, so M. L. Smith, müsse die Erkenntnis zum Ziel haben, daß auch der nationalsozialistische Versuch, das Schicksal Europas zu diktieren, eine wie auch immer pervertierte und unstabile Form der europäischen Integration darstelle. Der offenkundige Einfluß der Nationalsozialisten auf die Nachkriegsgestalt Europas müsse untersucht werden, statt vorzugeben, er habe nicht existiert.30 Die Forschungsgruppe in Hull konnte an Forschungen Walter Lipgens’ in den sechziger Jahren darüber anknüpfen, wie das Bild des Nachkriegseuropa während der Kriegsjahre Gestalt annahm31 – mit Bezug auf die Paneuropa-Schemata der zwanziger und dreißiger Jahre und besonders auf das deutsche »Neue Europa«. Hitler selbst hatte nur widerstrebend die Verwendung des Europa-Stichwortes gestattet und dazu die offizielle Definition geliefert, Europa sei kein geographischer, sondern ein blutmäßig bedingter Begriff; die wirkliche Grenze zwischen Asien und Europa sei diejenige, »die die germanische von der slawischen Welt trennt«.32 Die verschiedenen Ansätze zur Verwirklichung dieser Pläne machten für die Widerstandsautoren klar, 28 Berger/Ritschl, Rekonstruktion (wie Anm. 25), S. 497, vgl. dazu auch das »Fundstück« in diesem Band und die dort angegebene Literatur. 29 Weigall/Stirk, From the Treaty (wie Anm. 10), S. 24-25. 30 M. L. Smith, Introduction: European Unity and the Second World War, in: Ders./Peter M. R. Stirk (Hg.), Making the New Europe. European Unity and the Second World War, London 1990, S. 1-17. 31 Europa-Föderationspläne der Widerstandsbewegungen 1940-1945. Eine Dokumentation, gesammelt und eingeleitet von Walter Lipgens, München 1968. 32 Ebd., S. 8-9. Vgl. Henry Picker, Hitlers Tischgespräche, hrsg. v. Percy Ernst Schramm, Stuttgart 1951, S. 69-76 (Eintrag v.8.-10.9. 1941) u. 193-198 (Eintrag v. 5.4.1942 abends) mit der 27 bo stråth/thomas sandkühler daß Hitlers Nachkriegsplanung die europäische Einheit verneinte, da »Nichtgermanen« bestenfalls als Hilfsvölker geduldet und ein gleichwertiges Nebeneinander von Völkern a limine ausgeschlossen war. Gegen diese Art von Europa trat die Résistance an. Nach einer Phase teilweiser Verwirrung darüber, den Begriff Europa von den Nationalsozialisten und der Kollaboration besetzt zu finden, gelangte sie zunehmend zu der Einsicht, die Aufgabe Europa sei nicht zu bewältigen, ohne den Europabegriff offensiv zu definieren. Ein Mitglied des Widerstands brachte dies auf den Punkt: »So wirkt die Nazi-Propaganda wie ein Bumerang. Die Waffe wendet sich gegen die, die sie angewandt haben. An der Stelle eines Europas, das unter der Knute eines von seiner Macht berauschten Deutschlands nicht geeint, sondern geknechtet ist, werden wir gemeinsam mit den andern Völkern ein geeintes, auf der Grundlage des Rechts organisiertes Europa in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aufbauen«.33 An Europaplänen für die Nachkriegszeit waren bereits einige der später maßgeblichen Politiker beteiligt, unter ihnen Jean Monnet, der nach dem deutschen Sieg vom Frühsommer 1940 in London eine enge Zusammenarbeit zwischen Frankreich und England anstrebte. Dieses Vorhaben scheiterte aber daran, daß die französische Regierung einen Waffenstillstand mit Deutschland abschloß, was wiederum Großbritannien zu einer engeren Anlehnung an die USA bewegte. In den europäischen Widerstandsbewegungen gab es nach den militärischen Niederlagen jener Zeit ein waches Bewußtsein für das Scheitern des nationalstaatlichen Prinzips, aber auch für die Schwäche der internationalen Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg. Die meisten kamen zu der Folgerung, der Völkerbund habe »zu hoch gegriffen, indem er versuchte, eine weltumspannende Organisation zu schaffen, während Europa noch ein Chaos war.« Er habe »das Dach ohne den Unterbau erstellt«.34 In der neuen Nachkriegsordnung wäre eine supranationale Regierungsbehörde mit Zuständigkeit für Wirtschaft, Frieden und militärische Interventionen gegen jeglichen Versuch, erneut autoritäre Regime zu errichten, unabdingbar. Andernfalls würde internationale Anarchie zurückkehren und der Krieg verewigt. Dies mußte notwendigerweise mit einer Einschränkung der nationalen Souveränitäten einhergehen.35 Der europäische »Unterbau« sollte nach Meinung vieler Widerstands- und Exilpolitiker in regionalen Föderationen über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg bestehen. Mit Blick auf die spätere Montanunion ist hier besonders das Vorhaben einer regionalen Föderation im Westen zu erwähnen, das wiederum Jean Monnet als Kommissar für Lebensmittel- und Waffenlieferungen in der französischen Exilregierung in Algier vorantrieb. Den französischen Sicherheitsinteressen sollte innerhalb einer europäischen Föderation dadurch entsprochen werden, daß die Schwerindustrie einer eindeutigen Gleichsetzung vom Germanischen Reich mit der neu zu schaffenden größeren Einheit »Europa«. 33 Lipgens, Europa-Föderationspläne (wie Anm. 31), S. 11. 34 Ebd. S. 3, sowie Dokumente Nr. 71, 89, 104 und 136. 35 Ebd., Dokumente Nr. 129, 10, 71. 28 europäische integration supranationalen Organisation unterstellt wurde. Vergleichbare Ideen verfolgte der sozialistische Wirtschaftspolitiker André Philip. Charles de Gaulle ordnete im Oktober 1943 an, das Projekt einer westeuropäischen Föderation genauer zu prüfen, dem Frankreich und die späteren Beneluxstaaten angehören sollten; ferner sollte möglicherweise das schwerindustrielle Rhein- und Ruhrgebiet dieser Föderation angeschlossen, also faktisch Frankreich unterstellt werden.36 Ähnliche Überlegungen finden sich bei linkssozialistischen deutschen Exilpolitikern wie Willy Brandt und bei Teilen des nationalkonservativen Widerstands im »Dritten Reich«.37 Wilfried Loth hat darauf hingewiesen, daß »mit den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges bis 1943 eine breite Einigungsbewegung in Europa« entstand. Bei allen Unterschieden im Einzelnen betonte diese übereinstimmend und »häufig mit gleichartigen Begründungen über nationale und weltanschauliche Grenzen hinweg […] das Ungenügen und die Gefährlichkeit des überkommenen nationalstaatlichen Ordnungssystems und die Notwendigkeit föderativer Regelungen. Dieser Konsens galt für die Mehrheit der Exilpolitiker und für die überwiegende Mehrheit der Widerstandseliten in den besetzten Ländern von Frankreich bis Polen, mit Ausnahme einer Minderheit der Konservativen und des kommunistischen Widerstands.«38 Die Debatte über Europa während des Zweiten Weltkrieges setzte die Tagesordnung für die europäische Nachkriegsdebatte. Diese Agenda wurde in einer diskursiven Auseinandersetzung während des Krieges definiert, die in der bisherigen historischen Forschung nicht hinreichend beachtet wurde. Die Bilder von Europa, ob mit oder ohne Verbindung zu einer gedachten Weltordnung, repräsentieren das Konstante. Die Ausformung dieser Bilder hingegen war widersprüchlich; sie wurden kontinuierlich neu definiert. In dieser Perspektive können die Erfahrungen während des Krieges auch nach rückwärts an die Integrationswelle der Zwischenkriegsjahre zurückgebunden werden, da die Nationalsozialisten in den dreißiger Jahren die Definition Europas aus den offenen Debatten im vorangegangenen Jahrzehnt entlehnt hatten.39 2.3. Vom Marshallplan zum Schumanplan Die Integrationswelle der zwanziger Jahre weist einige Ähnlichkeiten zum europäischen Integrationsprojekt der Nachkriegszeit auf. Trotz dieser Kontinuitäten waren die Unterschiede zur bipolaren Weltordnung nach 1945 herausragend, die auf den 36 37 38 39 Loth, Weg (wie Anm. 5), S. 17 f. Vgl. dazu auch den Beitrag von Sabine Gillmann in diesem Band. Loth, Weg (wie Anm. 5), S. 21. Eine ähnliche theoretische Betrachtungsweise der Kontinuitäten bei der europäischen Integration findet sich bei Mikael af Malmborg/Bo Stråth, Introduction: the national meanings of Europe, in: Dies., The Meaning (wie Anm. 7), S. 1-26. Siehe auch Gerard Delanty, Inventing Europe. Idea, Identity, Reality, London 1995, sowie Ders., Social Integration and Europeanization, in: Yearbook of European Studies 12 (1999), S. 221-238. 29