PROPHYLAXEdialog Informationen zur Oralprävention in der Praxis Wissenschaftlicher Beirat: Nr. 2/2001 Prof. Dr. Hans-Jürgen Gülzow, Hamburg Prof. Dr. Elmar Hellwig, Freiburg Prof. Dr. Thomas M. Marthaler, Zürich PD Dr. Stefan Zimmer, Berlin Dr. Bernd Heinz, Hamburg Dr. Siegwart Peters, Leichlingen Frühdiagnostik von Parodontalerkrankungen Klinische Parameter und weiterführende Untersuchungen/ Von Dr. Jens Martin Herrmann und Dr. Julia Vonholdt Die in den letzten Jahren besonders sche Schlüsselfunktion zu. Während die mit dem Community Periodontal Index Gingivitis durch professionelle Zahn- of Treatment Needs (CPITN) gewonne- reinigung, Instruktion und Motivation nen Daten über die Parodontitispräva- des Patienten vollständig reversibel ist, lenz bei Erwachsenen deuten darauf hin, bedarf die Parodontitis einer komple- dass gegenüber früheren Befürchtungen xen, mitunter chirurgischen Therapie. die aggressiven, progredienten Paro- Fortsetzung auf Seite 3 dontitiden auf eine relativ kleine Gruppe in der Bevölkerung beschränkt sind. In vielen westlichen Ländern (SCHURCH et al., 1988) aber auch weltweit (Pilot et al., 1994) leiden etwa 30 bis 50 Prozent der Erwachsenen an einer schweren, chronischen Parodontitis mit generalisierten Zahnfleischentzündungen verlaufen meist ohne Schmerzen – erstes Anzeichen ist Zahnfleischbluten Sondierungstiefen über 6 mm (HUGO- Die Gingivitis weist weltweit sowohl einen Rückgang der Parodontopathien bei Kindern als auch bei Erwachsenen hindeuten, besteht ein sehr großer Be- eine Prävalenz zwischen 60 und fast 100 handlungsbedarf, der nicht zuletzt durch Prozent auf (HUGOSON et al., 1982, die Diskrepanz zwischen beantragten CUTRESS, 1986). Die Gingivitisdiagno- Parodontalbehandlungen und epide- stik erfolgt üblicherweise unter Verwen- miologischen Daten erklärt wird (ALMAS dung et al., 1991, MICHEELIS et al., 1999). verschiedener Indexsysteme. SON & JORDAN, 1982). Obwohl die mit dem CPITN gewonnenen Daten auf Neben der Plaque- oder Zahnsteinakkumulation dienen vor allem Farbe oder Die Parodontitis entsteht immer auf Provokationsblutung als Parameter. Der- dem Boden einer Gingivitis. Da dies zu artige Messgrößen sind bei der Bewer- progressiven, irreversiblen Substanzver- tung durch den Behandler nicht frei von lusten führt, kommt der Früherkennung subjektiven Einflüssen. initialer Entzündungen eine diagnosti- Nr. 2/01 Inhalt Frühdiagnostik v. Parodontalerkrankungen Dr. Jens M. Herrmann/Dr. Julia Vonholdt 1 Über die Möglichkeiten, Ergebnisse aus der Grundlagenforschung in praxisrelevante Verfahren umzusetzen Prof. Dr. Elmar Hellwig 2 Kariesprophylaxe in Norwegen Prof. Dr. Bjørn Øgaard 5 Hartgewebedefekte Prof. Dr. Andrej M. Kielbassa/ Dr. Hendrik Meyer-Lückel 7 Weichgewebedefekte Prof. Dr. Ulrich Peter Saxer 9 Stellungnahme zur Kariesprophylaxe mit Fluoriden 11 Impressum 12 Fluoride – seen from different perspectives 13 Mundgesundheit und Oralprophylaxe bei Migranten Ramazan Salman 15 Eine Information der GABA meridol® Forschung 1 Schwerpunktthema Frühdiagnostik von Parodontalerkrankungen Fortsetzung von Seite 1 Der parodontale ScreeningIndex (PSI) basiert auf dem CPITN. Im Gegensatz zu diesem wird bei Erwachsenen der PSI an allen Zähnen mesial, distal, oral und Mit Hilfe des parodontalen Screening- vestibulär erhoben, der höchste Code in Index (PSI) kann bei jedem Patienten un- einem Sextanten des Gebisses wird abhängig vom Lebensalter bereits in der dokumentiert. Bei Kindern und Jugend- ersten Sitzung binnen weniger Minuten lichen beschränkt sich die Untersuchung eine eventuelle parodontale Behand- auf Molaren und Inzisivi. Wird am lungsbedürftigkeit festgestellt werden. Anfang in einem Sextant der Code „4“ Der Index, der Bestandteil jeder einge- erreicht, kann direkt zum nächsten Messung erfolgt mit einer Parodontal- henden Basisuntersuchung sein sollte, Sextanten weitergegangen werden. Die sonde, am besten mit der WHO-Sonde Tabelle 1: Die Codes des PSI. Zusätzlich zu diesen Codes sollen die entsprechenden Zahlen mit einem Sternchen „*“ versehen werden, sofern weitere pathologische Befunde (Furkationsbeteiligung, erhöhte Zahnbeweglichkeit, mukogingivale Probleme und Rezessionen, die den schwarz eingefärbten Teil der WHO-Sonde erreichen) entdeckt werden. Das schwarze Band der WHO-Sonde bleibt im tiefsten Sulkus des WHO-Sonde (Abb.). Mit ihrem kugelförmigen Ende lassen sich auch der Zustand von Restaurationen beurteilen sowie Konkremente ertasten. Nach DIAMANTI-KIPIOTI et al. Sextanten vollständig sichtbar. Es sind kein Zahnstein oder (1993) ist ein Indexsystem, das seine defekte Restaurationsränder vorhanden. Das Gingivagewebe ist Bewertung auf einzelne Referenzzähne gesund, d. h. ohne Blutung auf Sondierung. stützt, einem vollständigen Screening Code 0 unterlegen, da bis zur Hälfte der Das schwarze Band der WHO-Sonde bleibt bei der höchsten Son- behandlungsbedürftigen Stellen über- dierungstiefe des Sextanten vollständig sichtbar. Kein Zahnstein sehen werden. ALBERS et al. (1994) oder defekte Füllungsränder werden entdeckt. Bei der Untersu- gaben für die Erhebung des PSI im chung kommt es zur Blutung nach vorsichtigem Sondieren. gesamten Gebiss einen durchschnittli- Code 1 chen Zeitaufwand von 2,30 bis 3,15 Das schwarze Band der WHO-Sonde bleibt bei der höchsten Son- Minuten an. Das Indexsystem kann dierungstiefe des Sextanten vollständig sichtbar. Supra- oder sub- sowohl zur Früherkennung als auch in gingivale Beläge bzw. defekte Füllungsränder werden festgestellt. der Nachsorge eingesetzt werden. Parodontale Behandlungsnotwendigkeiten Code 2 oder Befundveränderungen während Das schwarze Markierungsband der Sondenspitze ist in der tief- der unterstützenden Parodontitisthera- sten Tasche des Sextanten zum Teil sichtbar. pie können zuverlässig entdeckt werden. Die PSI-Codes „1“ und „2“ entsprechen einer Gingivitis, die in der Code 3 Regel neben einer professionellen Das schwarze Band der Sondenspitze verschwindet vollständig Zahnreinigung und Unterweisungen in und deutet darauf hin, dass die Sondierungstiefe über 5,5 mm adäquater Mundhygiene keine weiter- liegt. führenden Behandlungen erfordern. Bei zusätzlichen Lokalbefunden, die beim Code 4 PSI mit „*“ gekennzeichnet werden – hier sind vor allem Gingivarezessionen Nr. 2/01 3 Schwerpunktthema PROPHYLAXEdialog und Furkationsbeteiligungen zu nen- Mitbehandlung des Lebenspartners in gische Methoden überprüft werden. nen –, muss genauso wie bei Code „3“ Betracht gezogen werden. Im Falle des IL-1beta liegt mittlerweile und „4“ unbedingt eine ausführliche ein praktisch einsetzbares Testkit vor. Diagnostik zum vollständigen Erfassen Immunologische und biochemische Detaillierte Informationen hierzu sind der parodontalen Destruktionen nach Techniken liefern zusätzlich Hinweise bei der Deutschen Gesellschaft für Initialbehandlung erfolgen. Dazu ge- über Zusammenhänge zwischen der Ent- Parodontologie (DGP) erhältlich (vgl. hören Sondierungsblutung (SB), Sondie- stehung einer Gingivitis oder dem Vor- www.DGParo.de). rungstiefe (ST), Gingivalrand (GR) und anschreiten einer marginalen Parodon- Attachmentniveau (AL). Da es sich bei titis sowie der Aktivität proteolytischer Eine prophylaxeorientierte Zahnheil- der Parodontitis um eine ortsspezifische Enzyme in der Sulkusflüssigkeit (DARANY kunde setzt voraus, dass Befunde und Erkrankung handelt, sollten diese Para- et al., 1992, PREISS et al., 1994, ELEY et Krankheitssymptome meter an vier, besser sechs Stellen pro al., 1996, HERRMANN et al., 2001). rechtzeitig erkannt werden. Eine aus- Zahn erhoben werden. Auch der Furkationsbefall (FK) muss im Rahmen der ausführlichen Diagnostik erfasst werden. Weiterführende Untersuchungen vom Zahnarzt führliche Anamnese hilft, die individuelGenetische Marker und ihre Rolle als len Risiken (Tabelle 2) eines Patienten Risikofaktoren für die Pathogenese stan- zu bestimmen. Familiäre Häufungen von den in den letzten Jahren im Mittel- Zahnbetterkrankungen können hierbei punkt der parodontalen Forschung. Ein ebenso wie Grunderkrankungen, Ge- einmaliger Test reicht hierbei aus, um wohnheiten und mögliche Umweltein- Besonders bei der aggressiven Paro- eine seit der Geburt und über das ganze flüsse erfragt werden. dontitis ist neben der Erhebung der kli- Leben hinweg unveränderliche Informa- nischen Parameter eine mikrobiologi- tion zu erfassen. Eine Risikoevaluation Nach heutigem Kenntnisstand ist zu sche Diagnostik indiziert. Die nach dem kann schon im Kindesalter, vor dem fordern, dass im Rahmen der mindes- World Workshop of Periodontology Durchtritt der (bleibenden) Zähne, erfol- tens jährlichen zahnärztlichen Untersu- (1989) als Parodontopathogene klassifi- gen. Diese Information kann dazu bei- chung auch eine PSI-Dokumentation zierten Keime Actinobacillus actinomy- tragen, die Frequenz eines individuellen erfolgt. Darüber hinaus müssen Sondie- cetemcomitans, Porphyromonas gingi- Prophylaxeprogramms zu bestimmen, rungstiefen ≥4 mm einmal jährlich nach- valis und Bacteroides forsythus können so dass gemäß dem vorhandenen Risiko sondiert werden. In Abhängigkeit der neben weiteren durch verschiedene die Entstehung von Erkrankungen ver- Sondierungsblutung sollte eine Nachbe- molekularbiologische Untersuchungs- hindert wird. Erbliche Dispositionen u. a. handlung erfolgen (LANG et al., 1990). verfahren sicher erkannt werden. Kom- bei Zytokinen, Mediatoren und Rezep- merzielle Tests (DNA-Sonden-Technik, toren, hier sind zum Beispiel Inter- Die Einbeziehung der Eigenverant- Polymerase-Kettenreaktion (PCR), u. a.) leukin 1 (IL-1), Interleukin 4, TNF-alpha, wortlichkeit des Patienten in die Be- ermöglichen den Nachweis geringster FCgamma-RIIa Polymorphismen zu nen- mühungen des Zahnarztes bei der Mengen der Bakterienerbsubstanz. Nach nen, Behandlung einer Gingivitis oder margi- können durch molekularbiolo- heutigem Kenntnisstand ist in manchen Fällen eine alleinige mechanische Therapie nicht in der Lage, diese Keime dauerhaft und vollständig zu beseitigen. Der Zahnarzt erhält durch diese Tests Informationen, die ihm bei der Auswahl der Antibiotika helfen. Die Eradikation der Keime sollte nach erfolgter Medikamentengabe abschließend erneut überprüft werden. In diesem Zusammenhang muss auch eine Untersuchung und evtl. 4 nalen Parodontitis kann durch gezielte Tabelle 2: Risikofaktoren für die Schwere der marginalen Parodontitis ➔ Grunderkrankungen und Immunschwächen (z. B. Diabetes mellitus, Osteoporose, AIDS, u. a.) ➔ Gewohnheiten (z. B. Nikotinkonsum) ➔ Stress ➔ genetische Faktoren Information gefördert werden. In der unterstützenden Parodontitistherapie helfen so Befundauswertung, Motivation und Instruktion neben den praktischen Behandlungsmaßnahmen, Erkrankungsrezidiven vorzubeugen. Korrespondenzadresse: Dr. Jens Martin Herrmann Poliklinik für Parodontologie Schlangenzahl 14 35392 Gießen Nr. 2/01