Bleib bei mir, Ingrid! „Ich liebe dich morgens, ich liebe dich mittags, ich liebe dich abends und ich liebe dich nachts. Ich liebe dich so sehr, dass es mir weh tut, wenn du nicht bei mir bist. Lass mich nie wieder allein, mein Schatz.“ „Ich liebe dich auch, und ich verspreche dir, dass ich dich nie wieder allein lassen werde. Komme, was wolle. Auch ich will keine Sekunde meines Lebens mehr ohne dich sein, mein Liebster.“ Ingrid hat Tränen in den Augen. „So eine wundervolle Liebeserklärung.“ Sie schluchzt leise vor sich hin… Dann greift sie entschlossen zur Fernbedienung ihres Fernsehers, die vor ihr auf dem Wohnzimmertisch liegt und schaltet den Fernseher aus. Eine ganze Weile bleibt sie noch in ihren Lieblingssessel gekuschelt sitzen. Der Film eben hatte etwas tief in ihrem Innern berührt und tief aus ihrer Erinnerung kommen jetzt Gedanken hervor, die sie vor langer Zeit in den äußersten Winkel ihres Herzens verbannt hatte. Gedanken an die glücklichste Zeit in ihrem Leben, Gedanken voller Liebe, Zärtlichkeit aber auch Gedanken voller Schmerz und Einsamkeit – Gedanken an die Zeit, in der sie und Gernot noch ein Paar waren. Wie glücklich war Ingrid damals, als sie erkannte, dass Gernot ihre Liebe erwiderte. Nichts hatte sie sich damals mehr gewünscht. Denn dass sie ihn liebte, hatte sie schon erkannt, als er seinen ersten Herzinfarkt gehabt hatte. Die Angst, ihn für immer zu verlieren, hatte sie erkennen lassen, dass er für sie nicht nur Chef und langjähriger Kollege war, sondern dass er der Mann war, den sie über alles liebte. Lange hatte es gedauert, bis sie dann tatsächlich ein Paar geworden waren. Immer wieder hatte ihnen das Schicksal einen Streich gespielt. Zum einen war da Gernots tiefe innere Angst davor, zu seinen Gefühlen für einen anderen Menschen zu stehen und zum anderen, dass zwischenzeitlich Arno, Ingrids Ex-Ehemann aufgetaucht war und Ingrids Leben gehörig in Unordnung gebracht hatte. Arnos Medikamentendiebstahl hatte damals das kollegial-freundschaftliche Verhältnis zwischen Gernot und Ingrid sehr abkühlen lassen, so dass es schwer für beide war, zu ihrer alten Ungezwungenheit zurückzukehren. Irgendwann aber hatten sie es geschafft, die Vergangenheit vergangen sein zu lassen und sich auf den anderen einzulassen. Gernot hatte sich zu Anfang ihrer Beziehung sehr viel Mühe gegeben, Ingrid an seinem Leben teilhaben zu lassen. Im Laufe der Zeit hatte er allerdings immer häufiger „vergessen“, dass es in seinem Leben eine Frau gab, die ihn so liebte, wie er war, mit all seinen Ecken und Kanten. Allerdings ging das dann soweit, dass Ingrid für Gernot nur noch zu zählen schien, wenn er sie zum Repräsentieren auf offiziellen Veranstaltungen an seiner Seite brauchte. Da hatte Ingrid all ihre Kraft zusammengenommen und hatte sich von Gernot getrennt, obwohl sie ihn immer noch über alles liebte. Aber sie wollte sich für die Liebe zu Gernot nicht selbst opfern und versuchte, sich durch die Trennung ihren letzten Rest Selbstachtung zu bewahren. Unendlich schwer war es ihr an jenem Abend gefallen, Gernot ihren Entschluss mitzuteilen, dass es das Beste für sie beide wäre, wenn sie sich trennen würden. Sie hatte Mühe gehabt, ihren Entschluss auch umzusetzen, als sie seinen Blick aufgefangen hatte. Auch wenn er nie ein Wort darüber verloren hatte, musste ihn ihr Entschluss sehr verletzt haben. Allerdings hatte er nie ein Wort darüber verloren und auch nur einen schwachen Versuch unternommen, sie an diesem Abend umzustimmen. Danach hatte er nie wieder auch nur eine Andeutung gemacht, dass sie mehr für ihn war als eine langjährige Kollegin und vielleicht eine gute Kameradin, die ihm im hektischen Klinikalltag schon oft hilfreich zur Seite gestanden hatte. Und niemals hatte sie von Gernot so eine hinreißende Liebeserklärung wie die eben im Film bekommen. Eigentlich konnte Ingrid sich nur an zwei Gegebenheiten erinnern, bei denen Gernot ihr gesagt hatte, dass er sie liebte. Das war einmal ganz zu Beginn ihrer Beziehung, als die „Wolli-Sisters“ versucht hatten, Gernot zu umgarnen und sie Barbara Grigoleits Versuch, ihm bei der Abwehr der Schwestern zu helfen, gründlich missverstanden hatte. Und das andere Mal hatte er ihr zwei Tage vor ihrer Trennung gesagt, dass er sie liebte. Allerdings hatte diese Liebeserklärung nichts mehr an Ingrids zu diesem Zeitpunkt bereits getroffener Entscheidung ändern können, weil er zwar sagte, dass er sie liebte, aber eigentlich das genaue Gegenteil tat – er hatte sie schon im nächsten Moment wieder einmal beiseite geschoben. Unaufhörlich laufen Ingrid Tränen über die Wangen. Es tut Ingrid sehr gut, sich einmal all die Traurigkeit aus dem Herzen zu weinen und nachdem die Tränen lange Zeit später versiegt sind, fühlt Ingrid sich wie befreit. Die ganze Zeit seit ihrer Trennung von Gernot hatte sie nicht weinen können, doch jetzt hatte sie endlich das Gefühl, dass das Kapitel der unglücklichen Beziehung mit Gernot abgeschlossen war. Vielleicht, so überlegt Ingrid, als sie sich jetzt auf den Weg in ihr Schlafzimmer macht, vielleicht ist das eine gute und solide Basis, Gernot wieder ohne Vorbehalte begegnen zu können. Denn lieben würde sie ihn, solange sie lebte, da ist sich Ingrid sehr sicher. Und vielleicht bekamen sie irgendwann in ferner Zukunft noch einmal eine Chance auf ein gemeinsames, glückliches Leben. Und das wollte Ingrid dann beginnen, ohne die Altlasten aus der damaligen Zeit mit sich herumzuschleppen. Sie ist sich sicher, heute hat sie den ersten Schritt dafür getan. Nun lag es an der Zeit und vor allem an Gernot, ob sich der Traum vom Glück für Ingrid erfüllen würde. Ingrid für ihren Teil ist auf jeden Fall fest dazu entschlossen, nicht mehr, wie in den vergangenen Monaten, mit Gernot über jede Kleinigkeit zu streiten, sondern ihm zu zeigen, wie viel er ihr immer noch bedeutete. Damit wollte sie gleich morgen früh beginnen. Als Gernot an diesem Morgen zum Dienst kommt, begegnet er Ingrid im Foyer, die gerade die Stationspost am Empfang abgeholt hat. Ihm ist heute so gar nicht nach einem Streit mit Ingrid zumute. Diese ewigen Streitereien über irgendwelche belanglosen Dinge hatten seinen Nerven in der letzten Zeit sehr zugesetzt und gestern Abend hatte er entschieden, sich und Ingrid keine Gelegenheit mehr zu geben, sich über Kleinigkeiten zu streiten. Dazu, so ist ihm jetzt endlich klar geworden, ist ihm Ingrid viel zu wichtig – immer noch, und zwar nicht nur als Kollegin, sondern vor allen Dingen als Teil seines Lebens. Mit einem knappen „Morgen.“ geht er an Ingrid vorbei. Seit sie immer häufiger stritten, hatte er sich meistens auf so eine knappe Begrüßung beschränkt. Umso erstaunter ist Gernot jetzt, als Ingrid schnellen Schrittes hinter ihm her kommt und ihn anspricht. „Guten Morgen, Gernot. Hast Du was dagegen, wenn wir gemeinsam nach oben fahren?“ Ingrid deutet mit der Hand auf die sich öffnende Aufzugtür. „N-nein, wieso denn?“ Gernot gerät beinahe ins Stottern, so erstaunt ist er. „Schön.“ Ingrid lächelt ihn an, nachdem sie den Aufzug betreten haben und die Tür sich hinter ihnen geschlossen hat. Als er Ingrids Blick auffängt und das Lächeln auf ihrem Gesicht sieht, durchströmt Gernot ein Gefühl der Wärme, dass er lange nicht mehr in sich gespürt hat. Genauer gesagt seit dem Tag, an dem Ingrid ihn verlassen hat. Unbeholfen steht er da und überlegt, wie er mit dieser Situation umgehen soll. Doch wieder einmal ist es Ingrid, die die Initiative ergreift. „Hast Du heute schon die Zeitung gelesen? Am nächsten Wochenende gastiert Johannes Heesters hier in Leipzig. Das Stück heißt „Ein gesegnetes Alter.“ Hättest Du nicht Lust, mich dorthin zu begleiten?“ Sie greift in ihre Kitteltasche und zieht eine Eintrittskarte heraus, die sie Gernot hinhält. Regungslos steht Gernot vor ihr. Ingrid lädt ihn ein, den Abend mit ihr zu verbringen? Wieso tut sie das? Er hatte sich ihr gegenüber in der letzten Zeit nicht gerade nett verhalten und trotzdem will Ingrid mit ihm gemeinsam etwas unternehmen? „Gernot?“, unterbricht Ingrid seine Gedankengänge. „Sehr gerne.“ Gernot greift nach der Eintrittskarte, die Ingrid ihm noch immer hinhält und lächelt sie jetzt liebevoll an, während er ihr einen Blick aus seinen unwiderstehlich blauen Augen zuwirft, der Ingrids Gefühle Achterbahn fahren lässt. „Aber nur…“, Gernot tritt näher an sie heran und legt ihr die Hand auf den Arm, „…wenn ich dich vorher zum Abendessen einladen darf.“ „Einverstanden.“ Ingrid ist froh, dass sich in diesem Moment die Aufzugtür öffnet und Gernot die Hand von ihrem Arm nehmen muss, um seine Tasche hochzunehmen. Wie Feuer hatte seine Berührung auf ihrer Haut gebrannt und am liebsten wäre sie ihm in die Arme gesunken und hätte ihn ganz nah bei sich gespürt. Auch Gernot hatte diese Berührung sehr genossen, aber Ingrid hier auf der Stelle in seine Arme zu ziehen, hatte er sich dann doch nicht getraut, denn er konnte ihre Reaktion nicht abschätzen. So gehen sie beide ihrer Wege und die Arbeit spannt beide so sehr ein, dass sie sich bis zum späten Freitagabend außer bei der Visite nicht mehr sehen. Für den späten Freitagabend ist die allwöchentliche Dienstplanbesprechung von Ingrid und Gernot angesetzt. Pünktlich um 18 Uhr betritt Ingrid Gernots Vorzimmer. Da Barbara bereits Feierabend hat, geht sie direkt auf seine Bürotür zu und klopft an. Als keine Antwort kommt, öffnet Ingrid vorsichtig die Tür und tritt ein. Das Büro ist dunkel, und Ingrids Augen brauchen eine Weile, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt haben. Sollte Gernot die Dienstplanbesprechung vergessen haben und schon nach Hause gegangen sein. Ingrid blickt sich suchend um und glaubt im nächsten Moment, ihr Herz bliebe stehen. Gernot hängt zusammengesunken in seinem Sessel und reagiert zunächst nicht, als Ingrid leise seinen Namen ruft. Sie legt ihm die Hand auf die Schulter und rüttelt ihn leicht. „Gernot!“ Durch Ingrids nun lauteres Rufen und die Berührung ihrer Hand erwacht Gernot. Irritiert blickt er sich um. „Entschuldige, ich muss wohl eingeschlafen sein.“, sagt er leise und steht aus dem Sessel auf, um sich zu strecken. Ihm fällt Ingrids besorgter Blick auf. „Es ist alles in Ordnung, Ingrid.“, errät er ihre Gedanken und registriert es mit verhaltener Freude, dass Ingrid sich um ihn Sorgen macht. Ingrid ist glücklich, dass es Gernot tatsächlich gut geht, und wundert sich, dass er scheinbar ihre Sorgen, die sie sich eben um ihn gemacht hatte, erraten hat. Früher hatte er immer gewisse Probleme damit gehabt, sich in sie oder ihre Gedanken hineinzuversetzen. ‚Denk nicht an früher, denk an die Zukunft.’, ermahnt Ingrid sich nun selber, als ihr ihre Vorsätze vom Vortag einfallen. Die nächsten zwei Stunden verbringen Ingrid und Gernot mit dem ‚Dienstepuzzle’, wie Ingrid es immer nennt. Endlich ist es ihnen gelungen, alle Personalengpässe zu meistern und Gernot lehnt sich müde in seinem Stuhl zurück. Ingrid, die neben ihm sitzt, blickt ihn eine Weile aufmerksam an. „Wir sollten für heute Feierabend machen, Gernot. Du siehst müde aus.“ „Du aber auch.“, grinst Gernot Ingrid an. „Danke für das Kompliment.“, erwidert Ingrid. „So war das nicht gemeint…“, versucht Gernot, sich zu entschuldigen. Ingrid, die seine Äußerung als Scherz aufgefasst hat, legt ihm die Hand auf den Arm. „So habe ich es auch nicht verstanden.“ „Na, umso besser.“, lacht Gernot und Ingrid stimmt in sein Lachen mit ein. Lange haben sie nicht mehr so miteinander lachen und reden können und beide genießen es sehr, dass ihre Herzfrequenz zurzeit dieselbe Wellenlänge zu haben scheint. „Also, ab nach Hause.“, sagt Gernot und beginnt, seine Tasche zu packen. Ingrid dreht sich um und geht zur Tür hinüber. „Ingrid?“, hält Gernot sie zurück. „Ja?“ „Darf ich dich gleich nach Hause fahren?“ Ingrid überlegt einen Moment, stimmt dann aber Gernots Vorschlag zu. „Gut, dann können wir auch über morgen Abend sprechen.“, erwidert sie. „Ich geh’ mich nur umziehen. Wir treffen uns dann unten.“ „Alles klar.“ Gernot sieht noch hinter ihr her, wie sie sein Büro verlässt. In Momenten wie solchen ist er sich seiner Gefühle für Ingrid vollkommen bewusst und das versetzt ihn in ein solches Gefühls-Hoch, dass er leise vor sich hin summt, als er sich kurz darauf auf den Weg zum Ausgang macht. Als Ingrid ins Foyer hinunter kommt, staunt sie nicht schlecht. Dort sitzt, die Arme vor der Brust verschränkt und die Beine lang ausgestreckt, ein grinsender Gernot. „Na, dass du auch noch mal Feierabend machst.“, lacht er. „Das sagt gerade der Richtige.“, lacht Ingrid zurück und sie machen sich auf den Weg zu Gernots Auto. Zuvorkommend öffnet Gernot Ingrid die Tür und lässt sie einsteigen, geht um das Auto herum, stellt seine Tasche auf den Rücksitz und setzt sich neben Ingrid. Während der Fahrt reden sie kaum, sondern genießen es stattdessen einfach, den anderen so nah neben sich zu haben. Kurz bevor Gernot in die Kochstraße fährt, unterbricht Ingrid das Schweigen. „Wann und wo wollen wir uns denn morgen Abend treffen?“ „Ich würde vorschlagen, dass ich dich um halb sechs abhole. Die Vorstellung beginnt um acht, also haben wir genügend Zeit, vorher noch etwas essen zu gehen. Was meinst du?“ „Ja, halb sechs ist gut.“ Gernot hält den Wagen vor dem Haus, in dem Ingrids Wohnung ist. „Bis morgen dann. Ich freue mich.“, sagt Ingrid. „Ich mich auch. Bis morgen.“, erwidert Gernot und blickt Ingrid noch nach, bis sich die Haustür hinter ihr geschlossen hat. Der nächste Tag ist für beide dienstfrei und sie beschließen unabhängig voneinander, noch für den Abend etwas passendes zum Anziehen kaufen zu gehen. Ingrid kauft sich ein wunderschönes Abendkleid, schwarz, mit dunkelgrünem Paillettenbesatz am Dekolleté und einem passenden Bolerojäckchen dazu. Dann leistet sie sich noch ein paar neue Schuhe, denn es kann doch sein, dass heute Abend ein neuer Abschnitt in ihrem Leben beginnt. Und diesen Weg in die Zukunft wollte sie nicht mit ihren alten, ausgetretenen Schuhen gehen. Die Vorfreude auf den heutigen Abend ist Ingrid deutlich anzumerken. Um sich etwas abzulenken, geht sie über den Marktplatz und setzt sich in eins der Straßencafes. Sie bestellt sich einen Cappuccino, lehnt sich zurück, schließt die Augen und lässt sich die Sonne aufs Gesicht scheinen. Während Ingrid eingekauft hat, hat auch Gernot seine Besorgungen für den heutigen Abend getätigt. Zuerst hat er einen neuen schwarzen Anzug erstanden, dazu ein Smoking-Hemd mit ‚Vatermörderkragen’, eine Fliege und einen sogenannten ‚Kummerbund’, der um die Taille geschnallt wird und so den Gürtel ersetzt und gleichzeitig den Übergang zwischen Oberhemd und Hosenbund verdeckt. Fliege und Kummerbund sind königsblau und bilden einen wunderbaren Kontrast zu dem Schwarz des Anzuges. Es ist genau dasselbe Blau wie das Hemd, das Ingrid immer so an ihm gemocht hatte, geht es Gernot durch den Kopf. ‚Das Blau passt so gut zu deinen Augen…’, hatte sie ihm immer gesagt. Gernot lächelt bei dem Gedanken daran und freut sich schon darauf, den Abend mit Ingrid zu verbringen. Nachdem er alle Einkäufe erledigt hat, geht er über den Marktplatz und will zurück zu seinem Auto, als er in einem der Straßencafes ein ihm wohlbekanntes Gesicht entdeckt. Er geht hinüber und stellt sich an den Tisch. „Hallo!“, sagt er leise und beugt sich hinunter, um Ingrid einen sanften Kuss auf die Stirn zu geben. Ingrid, die noch immer mit geschlossenen Augen dagesessen hatte, zuckt durch diese unerwartete Bewegung zusammen. Sie blinzelt in die Sonne und erkennt Gernot vor sich. „Hallo!“, erwidert sie und lächelt ihn an. „Trinkst du einen Kaffee mit mir?“ „Gern.“ Gernot stellt seine Einkaufstüte neben den Stuhl und setzt sich. Mit einem Blick auf Ingrids Tüten sagt er: „Na, hast du dir was schönes gekauft?“ Ingrid grinst. „Wird nicht verraten.“ Gernot bestellt beim Ober, der an ihren Tisch kommt, ebenfalls einen Cappuccino. „Und du? Was hast du gekauft?“ „Tut mir leid.“, grinst Gernot nun ebenfalls. „Da wirst du bis heute Abend warten müssen.“ Für eine Weile hängen beide ihren Gedanken nach, bis Ingrid das Gespräch auf den Abend bringt. „Wo wollen wir denn essen gehen?“ „Was hältst du von unserem Italiener?“ „Eine gute Idee.“ In dem Restaurant hatten sie zusammen manch schönen Abend verbracht und Ingrid war seitdem sie sich von Gernot getrennt hatte, nie wieder dort gewesen. Gernot dagegen hatte in den letzten Wochen dort wiederholt einen Abend verbracht, und bei einem Glas Wein über seine gescheiterte Beziehung zu Ingrid nachgedacht. Hier hatte er auch die Entscheidung getroffen, dass er Ingrid zurückgewinnen wollte, und zwar unter Einsatz aller Mittel, die ihm zur Verfügung stehen. Dazu gehörte vor allen Dingen die Überraschung, die er im Anschluss an den Theaterabend für Ingrid bereithielt. Nicht ahnend, dass auch Ingrid eine Überraschung für ihn bereithält, lächelt Gernot still vor sich hin. „Woran denkst du gerade?“, dringt Ingrids Stimme an sein Ohr. „An dich.“, antwortet Gernot wahrheitsgemäß. Ein leises „Oh“ entfährt Ingrid und sie blickt verlegen zu Boden. Ingrid weiß nicht, wie sie Gernots Verhalten einordnen soll. Zuerst der sanfte Kuss vorhin, jetzt seine Äußerung, dass er an sie gedacht habe und dann diese unwiderstehlichen Blicke aus seinen wundervollen blauen Augen. Auf der einen Seite ist Ingrid überglücklich, dass Gernot sich ihr gegenüber so verhält, auf der anderen Seite macht sich in ihr ein mulmiges Gefühl breit. Was, wenn trotz aller Bemühungen alles so würde wie früher? ‚Positiv denken, Ingrid. Dieses Mal muss es einfach gut gehen.’, denkt Ingrid bei sich und hebt ihren Blick wieder. Erst jetzt fällt ihr auf, dass Gernot sie die ganze Zeit angesehen hat. „Ich habe in der letzten Zeit sehr viel an dich – an uns – gedacht, Ingrid.“, sagt Gernot leise zu ihr und legt seine Hand auf ihre, die neben ihrer Cappuccinotasse auf dem Tisch liegt. Ingrid glaubt zu träumen. Ausgerechnet ihr verschlossener, eigenbrötlerischer Gernot beginnt jetzt hier in einem Straßencafe mit ihr über seine Gefühle zu reden. Ingrid legt ihre andere Hand auf seine, die ihre noch immer festhält. Sie stellt keine Fragen, sondern hört ihm einfach zu. „Weißt du, Ingrid, ich weiß schon sehr lange, dass ich damals so ziemlich alles falsch gemacht habe, was ich nur falsch machen konnte. Und ich schäme mich unendlich dafür, dass ich nie auch nur den Versuch gemacht habe, dich zu halten, als du dich von mir trenntest. Das tut mir unendlich leid, genauso wie die Tatsache, dass ich nie wirklich Zeit für dich, für uns, gehabt habe.“ Er blickt lange auf ihre Hände, die noch immer ineinander verschlungen auf dem Tisch liegen. Ingrids Hand streichelt sanft über seine. „Ich habe auch Fehler gemacht. Ich habe dir keine Chance gegeben, es anders zu machen, sondern dich vor vollendete Tatsachen gestellt. Das war nicht fair und ich habe vom ersten Tag an bereut, mich von dir getrennt zu haben.“ Lange sehen sie sich an. Endlich ist Klarheit zwischen ihnen, was ihre Trennung anbelangt. Aber sich gegenseitig zu gestehen, dass sie immer noch sehr viel füreinander empfinden, dass schaffen sie nicht – noch nicht. „Wenn wir uns jetzt aber nicht beeilen, ist unsere Zeitplanung für heute Abend im Eimer.“, lacht Ingrid etwas später und bezahlt ihren und Gernots Cappuccino. „Danke für die Einladung.“, grinst Gernot. „Gern geschehen.“, lächelt Ingrid ihn an. Gernot fährt Ingrid noch schnell nach Hause und fährt dann in sein Haus, um zu duschen und sich für den Abend umzuziehen. Er hat Ingrid versprochen, sie in einer Stunde abzuholen. Auch Ingrid beeilt sich. Nach dem Duschen zieht sie das neue Kleid und die neuen Schuhe an und ist gerade fertig, als Gernot an ihrer Türe schellt. Sie greift nach ihrem Handtäschchen und geht hinunter auf die Straße, wo Gernot schon auf sie wartet. Als Ingrid aus der Haustür tritt, stockt Gernot der Atem. Wunderschön sieht Ingrid aus. Doch auch Ingrid blickt ihn bewundernd an. Dieses Blau von Fliege und Kummerbund ist genau das Blau, dass sie an Gernot schon immer so geliebt hat. Gernot reißt seine Augen von Ingrid los und kommt ein paar Schritte auf sie zu. „Darf ich Gnädigste bitten, in mein bescheidenes Vehikel einzusteigen?“ Ingrid ergreift seinen Arm und lässt sich zum Auto führen. „Danke sehr, mein Herr.“, geht sie auf Gernots Spiel ein. „Gnädigste sehen heute Abend bezaubernd aus.“ „Danke gleichfalls.“, grinst Ingrid. Während der Fahrt entspinnt sich eine fröhliche Unterhaltung zwischen den beiden, und als Gernot den Wagen vor dem italienischen Restaurant parkt, wundern sich beide, dass sie schon da sind. Über die Gegenwart des anderen hatten sie kurzfristig das Gefühl für Raum und Zeit völlig verloren, so sehr hatten sie die Nähe des anderen genossen. Nach einem wundervollen Essen machen sie sich auf den Weg ins Theater, verkürzen sich die Wartezeit bis zum Beginn der Vorstellung mit einem Glas Sekt und suchen dann ihre Plätze auf. Ingrid ist verzaubert von dem hunderteinjährigen Johannes Heesters, der in dem Stück die Hauptrolle spielt, einen Rentner, der „erst“ sechsundneunzig ist. So bemerkt sie auch gar nicht, dass Gernots Blick mehr an ihrem Gesicht haftet als auf der Bühne das Geschehen zu verfolgen. Gernot ist einfach hingerissen von Ingrid. Er kann seinen Blick nicht losreißen von ihrem Gesicht, das er so liebt. Erst kurz vor der Pause blickt Ingrid zu Gernot hinüber und stellt fest, dass er sie wohl schon eine ganze Weile beobachtet hat. „Gefällt dir das Stück?“ „J-ja, sehr.“ Gernots Stimme klingt rau und er fühlt sich ertappt. „Dann ist’s ja gut.“, lächelt Ingrid zu ihm hinüber. Auch nach der Pause konzentriert sich Gernot wesentlich mehr auf Ingrid, die er am liebsten im nächsten Augenblick in seine Arme ziehen würde, als auf das Theaterstück. Als die Vorstellung zu Ende ist, und Gernot aufsteht, hält Ingrid ihn am Arm zurück. „Warte noch einen Moment.“ Gernot setzt sich wieder und blickt Ingrid fragend an. Nachdem alle anderen Gäste das Theater verlassen haben, steht Ingrid auf, greift nach Gernots Hand und zieht ihn mit sich. „Wo willst du mit mir hin?“ Doch Ingrid antwortet nicht und bleibt unmittelbar vor einer Tür stehen. „Komm.“ Sie klopft an und auf ein kraftvolles „Hereinspaziert!“ öffnet sie die Tür. „Hallo, Ingrid.“, kommt eine Stimme aus einem der Sessel, die am Fenster stehen. „Hallo, Johannes.“ Ingrid geht auf Johannes Heesters zu. Noch immer hält sie Gernots Hand in der ihren. „Schön, dich wiederzusehen, Kleine.“, lacht Johannes Ingrid an. „Schön, dich wiederzusehen, mein Großer.“, lacht Ingrid zurück und sie und Johannes umarmen sich herzlich. Gernot blickt verständnislos zwischen Ingrid und Johannes Heesters hin und her. Als Ingrid das bemerkt, erklärt sie ihm, woher sie Johannes kennt. „Weißt du, Gernot, während meiner Ausbildung zur Krankenschwester habe ich als Laienschauspielerin in mancher Komödie mitgewirkt. Und dann wurde irgendwann einmal ein junges Mädchen mit roten Zöpfen gesucht, dass eine Mini-Rolle in einem Stück übernehmen sollte, in dem Johannes auftreten würde. So haben wir uns kennen gelernt und seitdem treffen wir uns immer mal wieder, wenn Johannes in der Nähe von Leipzig gastiert oder ich in die Nähe von München komme.“ Gernot ist erstaunt. Jetzt kennt er Ingrid schon über 35 Jahre, aber immer wieder entdeckte er ihm bislang unbekannte Seiten an ihr. „So, und Sie sind also der Mann, dem Ingrid ihr Herz geschenkt hat?!“, wendet sich Johannes Heesters nun an Gernot, der ihn perplex anschaut und unfähig ist, auch nur ein Wort herauszubringen. Woher weiß dieser Mann über Ingrids Gefühle für ihn Bescheid? Gehörte Ingrids Herz wirklich immer noch nur ihm? Ein kaum beschreibbares Glücksgefühl durchflutet Gernot bei dem Gedanken daran, dass Ingrid ihn vielleicht doch immer noch liebt. „Ist der immer so schweigsam, Kleine?“, lacht Johannes laut. „Fast immer.“, erwidert Ingrid leise und schiebt ihre Hand wieder in Gernots. Gernot schaut sie verwundert an und strafft dann seinen Oberkörper. „Ich bin der Mann, der Ingrid über alles liebt, der aber leider immer wieder versäumt hat, ihr das auch zu sagen.“, wendet Gernot sich an Johannes und beobachtet Ingrids Reaktion aus dem Augenwinkel. Er sieht, wie ein glückliches Strahlen in Ingrids Augen tritt und spürt, dass Ingrid seine Hand zärtlich drückt. „Dann sagen Sie es ihr doch jetzt.“ Johannes Heesters lässt sich von seiner Frau, die soeben hereingekommen ist, aus dem Sessel helfen und verlässt mit ihr gemeinsam die Garderobe. „Wir sehen uns morgen, Kleine?“ „Ja, mein Großer.“, antwortet Ingrid, ohne ihren Blick von Gernots Gesicht zu nehmen. Ingrid und Gernot bleiben allein zurück, als Johannes’ Frau die Tür geschlossen hat. „Ist das wahr?“, wendet sich Ingrid an Gernot. „Was?“ „Das, was du eben zu Johannes gesagt hast.“ Gernot grinst sie schelmisch an und kommt auf Ingrid zu. „Was habe ich denn gesagt? Ich kann mich gar nicht erinnern.“ „Gernot!“ Ingrid knufft ihn fest in die Seite. „Aua.“ Gernot greift nach ihren Händen und nimmt diese fest in seine. Lange blickt er Ingrid tief in die Augen, dann beginnt er leise zu sprechen. „Eigentlich wollte ich es dir ja erst nachher sagen, wenn wir alleine sind…“ „Wir sind alleine…“, grinst Ingrid ihn an. „…oder siehst du hier sonst noch jemanden?“ „Ich sehe nur dich.“, sagt Gernot und legt seine Arme um Ingrid. „Und was wolltest du mir sagen?“ „Dass ich dich liebe, Ingrid. Dass du für mich der wichtigste Mensch bist, und dass ich dich nie mehr verlieren möchte.“ Überglücklich strahlt Ingrid ihn an, was Gernot ermutigt, Ingrid noch näher an sich heranzuziehen. „Glaubst du, wir können es dieses Mal schaffen?“, wendet Gernot sich an Ingrid, während seine Hände sanft über ihren Rücken streicheln. „Was schaffen?“ „Miteinander glücklich zu sein.“ „Möchtest Du das denn?“ fragt Ingrid ihn. „Das fragst du noch? Natürlich möchte ich das.“ „Na, Herr Professor…“, grinst Ingrid ihn frech an, „…dazu gehört aber schon etwas mehr, als nur darüber zu reden.“ Gernot errät Ingrids Gedanken sofort und sie versinken in einem endlosen, leidenschaftlichen Kuss. Erst viel später machen sie sich Arm in Arm auf den Weg zu Gernots Auto. Während der Fahrt blickt Gernot immer wieder zu Ingrid hinüber, was Ingrid natürlich nicht verborgen bleibt. Gernot hält den Wagen vor einer heruntergelassenen Bahnschranke an. „Falls du mich fragen willst, ob ich mit zu dir komme… - nein.“, sagt sie und beobachtet ihn aufmerksam. Gernot wirft ihr einen traurigen Blick zu, denn genau das hatte er sie fragen wollen. Belustigt registriert Ingrid Gernots Reaktion. Der wiederum kann sich ihr Grinsen nicht erklären. Doch bevor er der Sache auf den Grund gehen kann, legt Ingrid ihre Hand in seinen Nacken und beginnt, zärtlich darüber zu streichen. Sie lehnt sich an seine Schulter und küsst ihn sanft auf den Hals, was Gernot eine Gänsehaut und ein nicht zu beschreibendes Glücksgefühl beschert. „Aber nichts würde mich glücklicher machen, als wenn du mit zu mir kommst.“ „Ingrid.“ Gernot dreht sich zu Ingrid und küsst sie stürmisch. Leider wird der Kuss durch die hupenden Autos hinter ihnen unterbrochen, denn die Bahnschranke ist wieder geöffnet und die nachfolgenden Autofahrer werden langsam ungeduldig. Ohne Umwege lenkt Gernot den Wagen in die Kochstraße und Hand in Hand steigen sie kurze Zeit später die Treppen zu Ingrids Wohnung hinauf. Als Ingrid ihn kurz darauf in ihr Wohnzimmer führt, staunt Gernot nicht schlecht. „Perfekte Planung, muss ich schon sagen.“, grinst er und lässt sich neben Ingrid auf der Couch nieder. Schon bevor Gernot sie abgeholt hatte, hat Ingrid den Wohnzimmertisch hergerichtet. Neben einem Sektkühler stehen zwei Sektgläser, die Ingrid jetzt befüllt. Sie reicht eins davon Gernot. „Prost.“ Sie hebt ihm ihr Glas entgegen, bevor sie daran nippt. Doch statt zu trinken, nimmt Gernot ihr das Sektglas aus der Hand und stellt es mit seinem zusammen auf den Tisch zurück. Dann nimmt er Ingrids Gesicht in seine Hände und zieht es ganz nah zu sich heran. Er küsst Ingrid so unendlich zärtlich, wie er es noch nie getan hat, und als sie sich eine kleine Ewigkeit später voneinander lösen, sieht er, dass über Ingrids Wangen Tränen laufen. „War der Kuss so furchtbar?“, grinst er Ingrid an und streicht mit seinem Zeigefinger eine Träne von Ingrids Wange fort. Ingrid, die vor lauter Glück weint, schüttelt nur den Kopf und lehnt dann den Kopf an Gernots Schulter. So stehen sie eine ganze Weile eng umschlungen, bis Gernot die Stille beendet. „Ingrid, ich…“ „Ja?“ Ingrid sieht ihn fragend an. Gernot küsst sie sanft auf den Mund. „Es war ein wunderschöner Tag heute mit dir, Ingrid. Dafür möchte ich dir danken.“ Ingrid sieht ihn prüfend an. „Das war aber nicht das, was du mir eigentlich sagen wolltest, oder?“ „Du kennst mich gut, Ingrid.“ „Na hör’ mal. Es wäre doch auch schlimm, wenn das nicht so wäre. Also, was wolltest du eben sagen?“ „Ingrid, ich…, ich… - bitte schick mich diese Nacht nicht fort, ich könnte es nicht ertragen, ohne dich zu sein.“ „Du Dummer, nie wieder schicke ich dich fort. Ich liebe dich doch. Nichts wünsche ich mir mehr, als morgen früh in deinen Armen aufzuwachen.“, flüstert Ingrid an seinen Lippen, bevor sie ihm diese mit einem Kuss verschließt, der, je länger er dauert, immer fordernder wird. Ingrids Hände unterstützen die Arbeit ihrer Lippen und bald darauf haben beide das Gefühl, im Feuer ihrer Leidenschaft zu verbrennen… In dieser Nacht bekommt Ingrid von Gernot all die Liebeserklärungen zu hören, die ihm früher nie über die Lippen gekommen waren. Plötzlich ist alles ganz einfach, nur weil Ingrid bei ihm ist. Gernot gelingt es mühelos, seine Gefühle für Ingrid in die richtigen Worte zu fassen, und so erfährt Ingrid in dieser Nacht noch so manches über Gernots Innenleben, seine Gedanken und vor allen Dingen über seine Gefühle für sie. Und seinen Worten lässt er Taten folgen, die Ingrid restlos davon überzeugen, dass Gernot sich tatsächlich geändert hat. In dieser Nacht finden beide in den Armen des anderen die vollkommene Erfüllung all ihrer Wünsche und Sehnsüchte. Erschöpft, aber überglücklich liegen beide am nächsten Morgen nach dem Aufwachen nebeneinander. Ingrid liegt mit dem Rücken gegen Gernots Brust und Gernot hat seine Arme um sie gelegt. Es ist Sonntag und sie haben alle Zeit der Welt. Später fällt Ingrid ein, dass sie ja für den Mittag mit Johannes verabredet ist. „Begleitest du mich?“ „Selbstverständlich. Ab sofort werde ich immer an deiner Seite sein.“ „Schön.“, sagt Ingrid und kuschelt sich noch enger in Gernots Arme. Eine Weile bleiben sie so liegen, bis Ingrid plötzlich merkt, dass Gernot seine Hand unter die Bettdecke wandern lässt und beginnt, ihre nackte Haut nach allen Regeln der Kunst zu verwöhnen. Sie dreht sich in seinen Armen zu ihm um und küsst ihn leidenschaftlich. Gernots Hände entfachen in ihr ein Begehren, dem Ingrid nur zu gerne nachgibt und bald darauf fliegen sie gemeinsam zu den Sternen. Dann ist es Zeit, sich für die Verabredung mit Johannes fertig zu machen. Da Gernot erst noch zu sich nach Hause möchte, um sich umzuziehen, will Ingrid sich beeilen. Sie verschwindet nach einem letzten zärtlichen Kuss im Bad und schließt die Tür hinter sich. Mit einem glücklichen Lächeln bleibt Gernot noch einen Moment im Bett liegen, bevor er aufsteht und sich ebenfalls anzieht. Das Rauschen des Wassers im Bad lässt ihn vermuten, dass Ingrid noch unter der Dusche steht. Zu gerne würde er ihr jetzt Gesellschaft leisten. Er überlegt, ob er seine Idee in die Tat umsetzen soll. Da hört das Wasser auf zu laufen. „Zu spät.“, sagt Gernot halblaut zu sich selbst und will gerade sein Oberhemd anziehen, als es im Bad einen fürchterlichen Knall gibt. „Ingrid!!!“, schreit er und rennt auf die Badezimmertür zu. Schnell reißt er die Tür auf und sieht Ingrid vor sich am Boden liegen. Er sinkt neben ihr auf die Knie. „Ingrid. Was ist denn? Sag doch was.“ Aber Ingrid bleibt regungslos liegen. Gernot blickt sich um. Neben Ingrid liegt der Fön und es stinkt nach verbranntem Kunststoff. Schnell erfasst Gernot die Lage. Der Fön muss Ingrid einen Stromschlag versetzt haben, als er durchgebrannt ist. Urplötzlich gewinnt der erfahrene Arzt in Gernot die Oberhand und er überprüft Ingrids Vitalfunktionen. Sie atmet selbständig, ihre Reflexe sind soweit normal, nur ist sie immer noch bewusstlos. Außer einer leichten Verbrennung an der rechten Hand scheint Ingrid unverletzt geblieben zu sein. Schnell alarmiert Gernot den Notarztwagen, der auch fünf Minuten später schon eintrifft. Bis zur Ankunft des Notarztes redet Gernot immer wieder mit Ingrid. „Bleib bei mir, Ingrid! Bleib bei mir!“ In Windeseile wird Ingrid in die Sachsenklinik gebracht, wo sich Gernots beste Ärzte darum bemühen, Ingrid zu stabilisieren. Nach einer Stunde sind alle erforderlichen Untersuchungen gemacht und Ingrid wird auf die ITS verlegt. Da sie noch immer bewusstlos ist, hat Dr. Heilmann angeordnet, dass Ingrid auf der IST ständig per Monitor überwacht werden soll, um im Ernstfall sofort einschreiten zu können. Gernot hat die ganze Zeit seit Ingrids Einlieferung in die Klinik wie gelähmt an einem kleinen Tisch im äußersten Winkel der Cafeteria gesessen. Sein Kopf liegt auf seinen Armen und das Zucken von Gernots Schultern verrät, dass er weint. Die vielen Besucher, die sich heute in der Klinik aufhalten, weil am Sonntag den ganzen Tag Besuchszeit ist, nimmt er gar nicht war. Immer noch sieht er Ingrid regungslos vor sich am Boden liegen. Unaufhörlich laufen Tränen über sein Gesicht und er nimmt zunächst gar nicht wahr, dass Roland Heilmann sich zu ihm gesetzt hat. Erst als dieser ihm tröstend die Hand auf den Arm legt, hebt Gernot den Kopf von seinen Armen. „Heilmann.“ Gernot richtet sich auf und wischt sich die Tränen fort. „Wie geht es Ingrid? Wird sie es schaffen? Wissen Sie schon was Neues?“, bombardiert er Roland mit Fragen. Doch bevor Roland ihm die gewünschten Auskünfte gibt, erkundigt er sich erst nach Gernots Befinden. „Vielleicht sollte ich Ihnen besser ein Beruhigungsmittel geben, Herr Professor.“ „Ich brauche kein Beruhigungsmittel. Alles, was ich brauche, liegt in einem Bett auf der Intensivstation!!!“, fährt er Roland an. „’Tschuldigung, Heilmann. Sehen Sie es Ihrem Chef nach, dass er im Moment nicht ganz Herr der Lage ist.“ Roland, der seine Vermutung, dass zwischen Ingrid und Gernot wieder mehr ist als reine Freundschaft, bestätigt sieht, klopft Gernot aufmunternd auf die Schulter und erhebt sich. „Wenn Sie wollen, können Sie jetzt zu ihr…“ Noch bevor Roland zu Ende gesprochen hat, läuft Gernot schon aus der Cafeteria hinaus in Richtung ITS und sitzt wenige Minuten später schon an Ingrids Bett. Er legt seine Hand auf ihre und bleibt eine Weile schweigend neben dem Bett sitzen. Dann beginnt er leise zu sprechen. „Vielleicht kannst du mich hören, Liebes, ich weiß es nicht. Aber du sollst wissen, dass ich dich liebe. Du bedeutest mir alles auf der Welt und ohne dich ist mein Leben trostlos und leer. Bleib bei mir, Ingrid!“ Gernot schluckt, denn die aufsteigenden Tränen machen ihm das Sprechen schwer. Er legt sein Gesicht auf Ingrids Arm und weint nun hemmungslos. „Verlass mich nicht, Ingrid. Wir haben doch gerade erst wieder zusammengefunden. Bitte, bleib bei mir!“ Roland hatte ihm gesagt, dass Ingrid zwar außer der leichten Verbrennung an ihrer Hand keine weiteren äußerlichen oder inneren Verletzungen davongetragen hatte, allerdings hatte der Stromschlag Ingrids Herz arg zugesetzt und ob das Gehirn den Stromschlag unbeschadet überstanden hat, war mit Sicherheit erst nach einer Frist von 24 Stunden zu sagen. Als Roland ihm die Wahrheit über Ingrids Zustand beigebracht hatte, hatte Gernot für einen Moment das Gefühl, in ein tiefes, schwarzes Loch zu fallen. Aber dann hatte er sich gesagt, dass Ingrid ihn jetzt mehr brauchte als alles andere. Durch seine Kraft und seine Fürsorge könnte es ihm vielleicht gelingen, sie ins Leben zurückzuholen. Komapatienten schienen nach wissenschaftlichen Erkenntnissen einen sechsten Sinn dafür zu haben, wenn Menschen, die in ihrem Leben eine wichtige Rolle spielten, für sie da waren. Also sitzt Gernot an diesem und auch an den folgenden Tagen ununterbrochen an Ingrids Krankenbett. Und wenn nicht Barbara manchmal vorbeikäme, um ihn mit Getränken und Essen zu versorgen, läge er bald auch in einem Krankenhausbett. Aber er bringt es nicht über sich, das Krankenzimmer und damit Ingrid für länger als fünf Minuten zu verlassen. Was wäre, wenn sie ausgerechnet dann zu sich käme und er wäre nicht bei ihr? Barbara Grigoleit, die nicht länger mit ansehen kann, wie Gernot langsam aber sicher immer mehr verfällt, weiß sich keinen Rat mehr und greift kurz entschlossen zum Telefon. Sie informiert Professor Keller über den Stand der Dinge und bittet ihn um seine Hilfe. Günther sagt sofort zu und ist eine halbe Stunde später in der Klinik. So oft schon hatte Gernot ihm in schweren Stunden beigestanden, jetzt kann er ihm davon endlich etwas zurückgeben, indem er als treuer Freund an seiner Seite ist. Leise betritt er das Zimmer auf der ITS, in dem Ingrid schmal und blass in ihrem Bett liegt. Gernot hat den Kopf neben Ingrid auf das Bett gelegt und ist vor einer Viertelstunde völlig erschöpft eingeschlafen. Günther tritt auf der anderen Seite an Ingrids Bett und beugt sich zu ihr herunter, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben. Dann greift er nach ihrer Hand und hält sie eine Weile in der seinen. Er weiß aus seiner jahrelangen Kliniktätigkeit, wie wichtig Berührungen von bekannten Personen für einen Komapatienten sind. Und wie erstaunt ist Günther, als sich Ingrids Finger plötzlich in seiner Hand zu bewegen beginnen. Unter großen Mühen öffnet Ingrid einen Moment später die Augen und blickt sich suchend um. Günther lächelt sie an, sagt aber nichts. Ingrid soll sich erst mal wieder orientieren, für ein Gespräch unter Freunden würde auch nachher noch Zeit sein. Als Ingrid sieht, dass Gernot seinen Kopf neben ihrem Arm auf dem Bett liegt, huscht ein zärtliches Lächeln über ihr Gesicht. Langsam hebt sie die Hand von der Bettdecke und legt sie auf Gernots Kopf. Zärtlich streicht sie durch seine Haare. Durch diese Berührung erwacht Gernot sofort und hebt den Kopf. Er ist in diesem Moment nicht fähig, auch nur einen Ton heraus zu bringen, aber die Tränen, die jetzt unaufhörlich über seine Wangen rollen, sprechen für sich. „Liebling, nicht weinen.“, hört er Ingrid sagen, während ihre Hand über seine Wange streichelt. Günther, der Ingrids Worte gehört hat, blickt sie fragend an. „Ja, Günther. Wir haben wieder zusammengefunden.“, errät Ingrid seine Gedanken. „Wie schön. Ich freue mich sehr für Euch.“ Günther drückt Ingrid aufmunternd die Hand. „Wird schon wieder, Ingrid. Ich komme nachher noch mal vorbei. Soll ich Dr. Heilmann informieren?“ Ingrid nickt und wendet sich, während Günther das Zimmer verlässt, wieder Gernot zu, dessen Tränen jetzt versiegt sind. Noch immer hat Gernot kein Wort gesprochen, die Kehle ist ihm immer noch wie zugeschnürt. „Gibst du mir bitte was zu trinken?“ Gernot nickt und schüttet Ingrid Mineralwasser in das Glas, das auf ihrem Nachtschrank steht. Er hilft ihr, sich aufzusetzen und reicht ihr dann das Glas. Ingrid trinkt ein paar Schlucke und stellt das Glas zurück auf den Nachtschrank. Sie sieht Gernot eine Weile an. „Sag mal, redest Du nicht mehr mit mir?“, grinst sie ihn an. Gernot versucht, ihr Grinsen zu erwidern, was ihm aber gründlich misslingt. „Was ist denn los? Komm, setz dich mal hierher.“ Ingrid klopft mit der Hand neben sich auf das Bett. Gernot setzt sich zu Ingrid auf die Bettkante und nimmt Ingrids unverletzte linke Hand in seine. „Ich…hatte solche Angst.“ Wieder stehen Tränen in seinen Augen. Ingrid ist gerührt darüber, wie offen Gernot ihr seine Gefühle zeigt. Tränen oder gar Äußerungen über seine Gefühle hätte er früher nie zugelassen, also schien er tatsächlich fest entschlossen zu sein, sich ihr gegenüber nicht mehr zu verschließen. „Aber es ist doch alles gut gegangen.“ Ingrid nimmt ihre Hand aus Gernots, legt sie abermals auf seine Wange und sieht im tief in seine blauen Augen. „Ja, Gott sei Dank.“, erwidert Gernot und nimmt Ingrids Hand von seiner Wange, um einen zärtlichen Kuss darauf zu hauchen. „Ich dachte, ich würde dich verlieren. Dabei habe ich dich doch gerade erst wiedergefunden. Der Gedanke, dich vielleicht nie wieder umarmen und küssen zu können, war einfach schrecklich.“ „Aber du hast mich nicht verloren, oder?“ „Nein.“ Ingrid grinst ihn frech an. „Dann kannst du mich doch jetzt in die Arme nehmen und…“ Noch bevor Ingrid ihren Satz beenden kann, fühlt sie sich von Gernots Armen umschlungen und seine Lippen suchen begierig die ihren. Während sie seinen Kuss erwidert, öffnet sie mit ihrer unverletzten Hand die obersten Knöpfe seines Hemdes und lässt ihre Hand über seine Brust gleiten. Dieses wahnsinnige Gefühl lässt in Gernot Gedanken erwachen, die so gar nicht in ein Krankenzimmer auf der Intensivstation passen, doch er genießt Ingrids Berührung so sehr, dass er nicht dazu bereit ist, auch nur eine Sekunde darauf zu verzichten. Erst das immer lauter werdende Piepsen des Überwachungsmonitors, an den Ingrid vorsichtshalber angeschlossen war, veranlasst die beiden dazu, sich voneinander zu lösen. Gernot steht auf und schaltet den Monitor ab. Grinsend wendet er sich wieder Ingrid zu. „Oberschwester, passen Sie auf Ihr Herz auf. Solch ein schneller Herzschlag ist nicht normal.“, droht er. „Aber doch nicht ungesund, oder, Herr Professor?“ „Keineswegs.“ Beide lachen herzlich über ihre Neckereien. Dann setzt Gernot sich wieder zu Ingrid auf die Bettkante. „Das ist einer der Momente, in denen mir bewusst wird, wie schön meine Zeit als Stationsarzt doch war.“ Ein spitzbübisches Lächeln liegt um seine Mundwinkel. Ingrid blickt ihn fragend an, doch bevor sie ihn fragen kann, was er damit gemeint hat, öffnet sich die Tür und Roland kommt herein. „Hallo, Ingrid. Schön, dass Sie beschlossen haben, uns noch ein bisschen erhalten zu bleiben.“ Ein Blick auf Ingrid und Gernot genügt Roland, um zu erkennen, dass er hier im Moment nicht gebraucht wird. „Ich komme nachher wieder her.“ Roland verlässt das Zimmer wieder. „Das klappt ja besser, als ich dachte.“, grinst Gernot und sieht Ingrid tief in die Augen. „Dann wollen wir mal.“ Mit unendlich langsamen Bewegungen macht Gernot sich daran, die Schleife von Ingrids „Engelhemdchen“, das alle Patienten auf der Intensivstation angezogen bekommen, zu öffnen. „Gernot?!“ „Jaaa?“ „Was machst du da?“ Mittlerweile hat Gernot die Schleife geöffnet und schiebt Ingrid das „Engelhemdchen“ von den Schultern. „Na, da Heilmann wieder fort ist, kann ich doch Stationsarzt spielen, oder?“ Er haucht auf Ingrids beide Schultern jeweils einen zärtlichen Kuss, bevor er sich daran macht, die Elektroden des Überwachungsmonitors von Ingrids Körper zu entfernen. Auf jede Stelle, von der er eine der Elektroden entfernt, bekommt Ingrid einen sanften Kuss, bevor Gernots Hände zur nächsten Elektrode wandern. „Gernot…“, seufzt Ingrid und ihre Hände fahren durch seine Haare. Als Gernot alle Elektroden entfernt hat, zieht er Ingrid das Hemd wieder an. Um ihr die Schleife im Rücken zubinden zu können, legt Gernot seine Arme um Ingrids Hals. Das nutzt Ingrid dazu, ihm einen leidenschaftlichen Kuss zu geben, der sie sich lange Zeit später atemlos voneinander lösen lässt. Glücklich strahlend halten sie sich noch lange in den Armen… Noch am selben Tag ordnet Roland an, dass Ingrid auf die Normalstation verlegt werden kann und durch Gernots Liebe und Fürsorge erholt Ingrid sich rasch, so dass sie vier Tage später entlassen werden kann. Gernot lässt es sich nicht nehmen, Ingrid selber nach Hause zu fahren und den ganzen Tag mit ihr zu verbringen. Längst ist beschlossen, dass Ingrid wieder zu Gernot in die Villa ziehen wird, und so packt sie an diesem Abend nur ein paar Sachen in eine kleine Tasche und fährt mit Gernot nach Hause. Während Gernot das Abendessen vorbereitet, wandert Ingrid durch die verschiedenen Räume des Hauses und kommt dann wieder zu Gernot in die Küche zurück. Sie tritt ganz nah hinter ihn und legt ihm ihre Arme um die Taille. Als Gernot darauf nicht reagiert, beginnt Ingrid damit, die Knöpfe seines Hemdes zu öffnen und sanft mit den Händen seinen Oberkörper zu streicheln. Dieses wundervolle Gefühl veranlasst Gernot dazu, sich blitzschnell zu Ingrid umzudrehen und sie fest an sich heran zu ziehen. Während sie sich leidenschaftlich küssen, entzünden beider Hände in dem Anderen die Flamme eines unendlichen Begehrens. Das Abendessen ist vergessen und beide erleben eine traumhaft glückliche und mit Liebe und Leidenschaft ausgefüllte Nacht in den Armen des geliebten Partners. Immer wieder stellt Ingrid in der nächsten Zeit fest, dass es Gernot wirklich gelungen ist, sich zu ändern, und sie an sein Innerstes heran zu lassen. Und Gernot erlebt eine ganz neue Ingrid, die aufgrund von Gernots Aufmerksamkeit ihr gegenüber nicht mehr das Gefühl hat, in die zweite Reihe geschoben zu werden, denn sie hat längst erkannt, dass die Klinik keine Konkurrenz für sie in Bezug auf Gernot ist. Nie wieder werden sie die Fehler von damals wiederholen, die dazu führten, dass beide die unglücklichste Zeit ihres Lebens durchwandern mussten. Von nun ab gehen sie Hand in Hand einer glücklichen Zeit in Zweisamkeit entgegen. Ende.