Zu diesem Heft © Schattauer 2010 Debatten und fachliche Konsequenzen nach Winnenden Der sogenannte „Amoklauf“ in Winnenden hat alle Menschen in Deutschland, ja viele sogar weltweit, stark bewegt. Die hohe internationale Wahrnehmung solcher Ereignisse, welche mit ihren verstärkenden Effekten eventuell auch schon Teil des Problems ist, zeigte sich z. B. darin, dass bei uns nur eine Stunde nach der Tat die ersten Hilfsangebote des National Trauma Networks aus den USA per E-Mail eingetroffen waren. Im klinischen Kontext waren wir schnell mit vor „Amokläufen“ besorgten Eltern und Lehrern, Polizisten, Staatsanwälten und sogenannten „Trittbrettfahrerfällen“ beschäftigt. Die Bezeichnung „Amoklauf“ finde ich zwar problematisch, denn das Wort Amok kommt aus dem malaiischen und bedeutet wörtlich „in blinder Wut angreifen und töten“. Nach den psychiatrischen Klassifikationsschemata ICD-10 (Forschungskriterien) und DSM-IV wird Amok zu den kulturabhängigen Syndromen für Indonesien und Malaysia aufgeführt und als dissoziative Episode, welche scheinbar nicht auf eine Provokation reagiert, mit mörderischem oder erheblich destruktivem Verhalten charakterisiert. Gefolgt wird eine solche Episode von Amnesie oder Erschöpfung, häufig gipfelt der Amoklauf in Suizid. Während im DSM-IV von einer Periode des Grübelns als Vorläufer gesprochen wird, wird in der ICD-10 von einer dissoziativen Trancestörung, also einer Störung des Bewusstseins der Identität und des Gedächtnisses ausgegangen. Auf jeden Fall weißen beide Definitionen auf die kulturellen Spezifika und einen eher nicht bewussten und nicht vor-überlegten, geplanten Handlungsablauf hin. Insofern ist die Bezeichnung Amoklauf für ein Geschehen wie in Winnenden eigentlich definitionsgemäß nicht korrekt. Schließlich hat sich aber die Bezeichnung so gängig eingeführt, dass sie kaum zu vermeiden ist. Ich war in der Folge Mitglied im Expertenkreis von Baden-Württemberg an dem auch die betroffenen Angehörigen beteiligt waren. Der Bericht dieses Expertenkreises wurde im Herbst 2009 vorgelegt und enthielt zahlreiche Forderungen und Vorschläge in ganz unterschiedlichen Feldern (www.baden-wuerttemberg.de/fm7/2028/Bericht_ Expertenkreis_Amok_25-09-09.pdf). Ein Sonderausschuss des Landtags in BadenWürttemberg hat sich ebenfalls der Aufarbeitung und der möglichen politischen Konsequenzen gewidmet und im Frühjahr 2010 seine Ergebnisse präsentiert. Neben dieser gesellschaftlichen Debatte und politischen Aufarbeitung wurde uns aus kinder – jugendpsychiatrisch/psychotherapeutischer Sicht schnell deutlich, dass wir eine fachliche Debatte über solche Ereignisse brauchen, denn es stellten sich doch sehr viele Fragen zur Psychopathologie solcher Täter, zu den Folgen für die Opfer, zu den Einflüssen von Medien oder aber auch z. B. zur grundsätzlichen Rolle von Ärzten und zur Schweigepflicht im Kontext von Amokläufen. Mich hat es beeindruckt welcher Druck von Medien oder von Strafverfolgungsbehörden teilweise auf Kolleginnen und Kollegen ausgeübt wurde und wie dann, z. B. in einer psychiatrischen Klinik die Tatsache der Behandlung und auch weitere Angaben nach dem Tod des Täters in Winnenden gegenüber der Öffentlichkeit bekannt gegeben wurden. Aus diesem Grund hatten wir Ende vergangenen Jahres zu einem Symposium nur für Psychiater, Kinder- und Jugendpsychiater, Psychotherapeuten, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und Schulpsychologen eingeladen, welches sehr schnell überbucht war. Mehrere Hundert Personen kamen kurz vor Weihnachten nach Ulm, um ihren Weiterbildungsbedarf zu stillen und sich zu informieren. Im vorliegenden Themenheft, welches aus dieser Tagung hervorgegangen ist, beschreibt der Beitrag von Britta Bannenberg aus Gießen, ebenfalls Mitglied im Expertenkreis zum Amoklauf, aus kriminologischer Sicht die Charakteristika von Amokläufern und Amokläufen. Reinmar du Bois aus Stuttgart, gibt praktische psychopathologisch fundierte Hinweise zur Gefährlichkeitseinschätzung von Jugendlichen, welche mit solchen Taten drohen. Marc Allroggen und Mitarbeiter, Ulm, fokussieren auf Narzissmus in der Psychopathologie bei sogenannten Tritt- Prof. Dr. Jörg Fegert, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Ulm Nervenheilkunde 7–8/2010 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-11-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 413 414 Zu diesem Heft brettfahrern. Da nicht wenige Täter in ihren Tagebüchern und anderen Spuren im Internet betonen, dass sie gedemütigt, gekränkt wurden oder Opfer von Mobbing waren befassen sich Nina Spröber und Mitarbeiter, Ulm, mit der Thematik des Bullying und der modernen Variante des Cyberbullying. Paul Plener und Mitarbeiter , Ulm, greifen die Debatte um Computerspiele und Gewalt auf und stellen das Ausmaß des heutigen Medienkonsums dar. Michael Kölch und Mitarbeiter, Ulm, gehen der Frage, die teilweise von Journalisten an Experten gestellt wurden, nach, ob bekannte Effekte der Verhaltensaktivierung und SSRI bei depressiven jugendlichen Patienten die Gefahr für Amoktaten erhöhen könnten. Eine systematische Übersicht zu psychischen Folgen von Schulamokläufen für die Betroffenen überlebenden Kinder und Jugendlichen und ihre Familien geben Veronica Kirsch und Mitarbeiter, Ulm, und ergänzen in einer wissenschaftlich. Weiterhin behandeln Andrea Kemper und Kollegen, Ulm, aus medizinethischer und rechtlicher Sicht die Frage des Bruchs der ärztlichen Schweigepflicht in Androhungssituationen. Es hat sich deutlich gezeigt, dass in der Praxis schwierige Güterabwägungen zwischen der notwendigen Vertraulichkeit zum Erhalt der Arzt-Patientenbeziehung bzw. Psychotherapeuten-Patientenbeziehung und der Verhinderung von potenziellen Straftaten mit massiven Folgen in der Alltagspraxis erfolgen müssen. Einer der dichtesten Momente auf dieser Tagung war der Beitrag aus Betroffenensicht von Hardy Schober und Gisela Mayer vom Aktionsbündnis in Winnenden, der uns Profis und Helfer damit konfrontiert, wie schmerzhaft mancher helferische Aktionis- mus von den Betroffenen erlebt wurde. Dies sollte ebenfalls für uns eine Mahnung sein, hier uns mit dem empirischen Wissen zum Umgang nach Großschadensereignissen stärker einzumischen, um sekundäre Traumatisierungen durch nicht wirksame oder belastende Interventionen zu reduzieren. Wir hoffen, mit diesem Themenheft zu einer differenzierteren Betrachtung beigetragen zu haben und konkret Information und Weiterbildung in ganz unterschiedlichen Bereichen durch die publizierten Übersichten an die Leser der Nervenheilkunde weiterzugeben. J. Fegert, Ulm Nervenheilkunde 7–8/2010 © Schattauer 2010 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-11-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. 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