SE Inferentialismus und Naturalismus Dr. Thomas Auinger WS 2007/08 Michael Bärnthaler, am 24. Jänner 2008 Abschnitt 1.4.5 über Normative Sanktionen Brandom möchte eine nichtnaturalistische, das spezifisch Normative des Begriffsgebrauchs nicht auf Nichtnormatives reduzierende Theorie des Normativen entwerfen.1 Seine von Kant und Wittgenstein sich herleitende Vorgehensweise erfordert es, dass einerseits der normative Status von Begriffen über eine normative Einstellung des Subjekts gegenüber diesen Begriffen vermittelt ist (Kant: Handeln nach Vorstellungen von Regeln, vgl. 1.4, insbesondere 1.4.1), und dass andererseits diese normative Einstellung, die sich positiv als Anerkennung einer Norm äußert, nicht gedacht wird als explizites Jasagen zu einer expliziten Norm (intellektualistischplatonistisches Verständnis), sondern vielmehr als eine Form der impliziten Anerkennung in der Praxis (Wittgenstein: Normen-Pragmatismus, vgl. insbesondere 1.3.3). Gemäß der in Abschnitt 1.4.3 skizzierten Herangehensweise2 kommt als drittes Element zu diesem kantianisch-wittgensteinianischen Ansatz der gleichermaßen grundlegende Begriff der Sanktion hinzu: „Drittens wird dieses Betrachten oder Behandeln als richtig oder unrichtig, diese Billigung oder Mißbilligung in der Praxis [d.i. die normative Einstellung, die sich positiv als Anerkennung äußert] in Begriffen positiver und negativer Sanktionen [meine Hervorhebung], von Belohnen und Bestrafen erläutert.“3 In Abschnitt 1.4.5 erläutert Brandom seinen Ansatz normativer Sanktionen als ein System von Belohnungen und Bestrafungen (die im Zufügen von Gutem bzw. Schlechtem bestehen), welche insofern wesentlich normative Signifikanz haben, als die vorausgesetzte Begriffe des Guten und des Schlechten einen normativen Sinn haben, der erst über eine zusätzliche naturalistische Hypothese, die das Gute auf das zurückführt, was faktisch angestrebt wird, beseitigt werden könnte. Eine solche naturalistische Reduktion ist nicht zwingend, und Brandom will sie vermeiden. „Ein retributiver [d.i. ein solcher, der eine Geschichte über die Genese des Normativen erzählt] Zugang zum Normativen bedarf überhaupt keiner naturalistischen Wendung.“ (EV 89) 1 2 3 Vgl. EV 80. EV 80. SE Inferentialismus und Naturalismus Dr. Thomas Auinger WS 2007/08 Michael Bärnthaler, am 24. Jänner 2008 In vielen Fällen besteht die Belohnung oder Bestrafung auch auschließlich in „eine[r] Änderung des normativen und nicht des natürlichen Status,“4 d.h. in der belohnenden oder bestrafenden Distribution von Rechten und Pflichten. Brandom bringt ein instruktives Beispiel: Noch einmal zurück zum Fall des Erkennens einer praktischen Norm, die in einer Gemeinschaft in Kraft ist, gemäß der man zum Betreten einer bestimmten Hütte ein Blatt eines bestimmten Baumes vorzeigen muß. Wie zuvor bemerkt, kann die beurteilende Reaktion, die die Anerkennung einer solchen Norm (die dem Status entsprechende Einstellung) durch die Gemeinschaft konstituiert, gelegentlich nichtnormativ beschreibbar sein – derjenige, der die Norm verletzt, bezieht Stockschläge, das normverletzende Verhalten wird negativ verstärkt. Die Bestrafung kann aber zum Beispiel auch darin bestehen, daß andere Handlungen für unangemessen erklärt werden – jemand, der die Norm verletzt, darf nicht am wöchentlichen Fest teilnehmen.5 In diesem Fall haben wir es mit einer internen Sanktion zu tun, also einer solchen Sanktion, die nur in normativen Begriffen spezifiziert werden kann (sie ist nur normativ intelligibel). Wenn wir davon ausgehen, dass derjenige, dem in obigem Beispiel verboten wurde, am wöchentlichen Fest teilzunehmen, bei unerlaubtem Festbesuch schließlich mit Stockschlägen bestraft wird, so haben wir es mit einer direkt nichtnormativ intelligiblen Sanktion zu tun. Wir sehen, wie eine Kette von normativ intelligiblen Sanktionen an ihrem Ende in einer externen Sanktion verankert ist (die auch nichtnormativ intelligibel ist). In diesem Beispiel sind also die direkt normativ intelligiblen Sanktionen (Verbot des Festbesuchs) auch indirekt nichtnormativ intelligibel. Wir haben ein Netz von durch interne Sanktionen verbundenen Normen vor uns, das an gewissen Punkten durch externe Sanktionen gestützt wird. Aber „auch diese Restriktion kann gelockert werden,“6 so Brandom; es könne auch holistische Systeme von „Normen bis auf den Grund“7 geben, nicht mehr gestützt durch externe Sanktionen.8 4 EV 90. Ebd. 6 EV 91. 7 Ebd. 8 Brandom verweist hier auf das dritte Kapitel seines Buches, in dem ein Beispiel für ein solches System angeführt wird. 5 SE Inferentialismus und Naturalismus Dr. Thomas Auinger WS 2007/08 Michael Bärnthaler, am 24. Jänner 2008 Weshalb dies möglich ist, erläutert Brandom mit einem Hinweis auf Wittgensteins Analogie zur Längenmessung9 und indem er auf drei Ebenen verweist, auf denen Performanzen diskutiert werden können: 1. auf der Ebene der expliziten Normen, 2. auf der Ebene der impliziten Normen, 3. auf der Ebene faktischer Regularitäten. Eine Theorie über gewisse faktische Regularitäten auf der dritten Ebene ist zwar notwendige Bedingung dafür, dass auf der zweiten und dritten Ebene Performanzen in einem normativen Diskurs analysiert werden können, keine solche Theorie ist aber in der Lage, diesen normativen Diskurs zu ersetzen. Brandom reformuliert hier Wittgensteins Erkenntnis, die dieser am Beispiel der Längenmessung veranschaulichte. Die Gleichsetzung der zweiten mit der dritten Ebene kennzeichnet eine naturalistische Theorie, Brandom geht es jedoch darum, den spezifischen Charakter der impliziten Normen (auf der zweiten Ebene) herauszuarbeiten. Deren Pointe: „Daß wir lernen können, zum Beispiel bei der Anwendung von Begriffen auf neue Fälle so gut wie immer gleich zu reagieren, ist eine notwendige Bedingung dafür, daß es eine Praxis gibt, die bestimmt, was in solchen Fällen richtig und unrichtig ist. Das heißt aber nicht, daß das Richtigsein in dieser Übereinstimmung besteht, wie der reduktive Ansatz sozialer Regularitäten behauptet.“ (EV 94) 9