Ertrunken, erschlagen, verdurstet

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M I G R AT I O N
Ertrunken, erschlagen,
verdurstet
Mit Patrouillen wollen Italien und Libyen Flüchtlinge abschrecken.
So aber lassen sich neue Tragödien kaum verhindern,
denn die Schlepper wählen dann andere, gefährlichere Routen.
E
später 70 Kilometer westlich in Scoglitti an
Land gespült wird, mit 165 Menschen an
Bord. Genau wie jenes, das einige Stunden
zuvor nahe der libyschen Küste gekentert
war. 20 Überlebende trieben zwischen den
Leichen ihrer Weggefährten im Wasser. Sie
hatten sich westlich von Tripolis bei stürmischer See auf den Weg gemacht.
Die Internationale Organisation für Migration schätzt die Zahl der Ertrunkenen
dort auf mindestens 230, darunter 69 Frauen und 2 Kinder. Gefunden wurden bislang
etwa 100 Leichen. Neue Gräber auf diesem
„Mittelmeer“ genannten Friedhof vor den
Toren Europas.
Ein zweites Fischerboot mit 357 Menschen wurde kurz vorm Kentern von dem
neapolitanischen Schlepper „Asso 22“ geborgen und zurück nach Tripolis gezogen. Von einer „apokalyptischen Szenerie“ sprach der Kapitän der „Asso 22“, von
Hunderten aneinandergeklammerten, um
Hilfe brüllenden Gestalten, die im Kegel
seiner Suchscheinwerfer auftauchten.
Der Wind trägt nicht nur den Sand der
Sahara nach Sizilien, er trieb die Menschen
immer schon nach Norden, seit jenen Zeiten, als Paulus am Ufer von Malta strandete und Maria Magdalena der Legende
Libysches Flüchtlingsboot vor Tripolis
am 29. März
AFP
s ist der gleiche Sand, vielleicht sogar
derselbe. Leicht rötlich und fein wie
Staub liegt er an den Stränden zwischen Syrakus und Gela: Wüstensand. Wer
es aus der libyschen Sahara bis hierher geschafft hat, ans rettende Ufer Siziliens, der
kennt den Sand, der weiß, wie er schmeckt
und wie er brennt beim Einatmen.
„Sie kamen hier vorbei, und einer hat
mir zugewinkt.“ Carmelo Barbagallo betreibt das Restaurant „La Giara“ am Fischhafen von Portopalo. Er war dabei, als an
der äußersten Südspitze Siziliens am vergangenen Montag 249 Bootsflüchtlinge landeten, in abgetragenen Skianoraks aus irgendwelchen Sammlungen, in den Taschen
noch den Sand von der Flucht und den Lagern in der Wüste. „Drei Schwangere waren dabei“, sagt Barbagallo.
Im Hafenbecken vor ihm liegen drei
Kähne, über und über bemalt mit idyllischen Szenen, Glückssymbolen und Lobpreisungen Allahs. „Keiner versteht, wie
sie es bis hierher geschafft haben“, sagt er,
„ohne Licht auf dem Kahn und ohne Proviant. Sie müssen doch so verzweifelt sein,
dass der Tod ihnen egal ist, oder?“
Auch dieses Boot, so sagt er, kam aus Libyen. Genau wie jenes, das einige Stunden
Flüchtlingsleichen: „Sie müssen so verzweifelt sein, dass der Tod ihnen egal ist“
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nach in der Provence. Seit 1988 sind fast
14 000 Menschen bei der Flucht nach Europa ums Leben gekommen, sie wurden
über Bord geworfen, sind verdurstet oder
wurden erschlagen. Und das ist nur die
Zahl der offiziell registrierten Toten.
Es gibt eine Geopolitik hinter den Bildern von zu Tode erschöpften Schiffbrüchigen. Über Kurs und Fracht der Menschenhändler wird auch in den europäischen Hauptstädten entschieden. Es geht
um Gas, Öl und Uran. Ende März reiste
zum Beispiel Nicolas Sarkozy zu einem
Arbeitsbesuch nach Niger und sicherte
dem französischen Atomkonzern Areva
die strategische Versorgung mit Uran bis
zum Jahr 2030. Es ist auch dieses Uran,
das die Boote füllt: „Aus Niger fliehen die
jungen Männer zu Tausenden vor dem
Krieg um die Kontrolle der Uranvorkommen“, sagt Laurence Hart von der Internationalen Organisation für Migration:
„Sie drängen alle nach Libyen hinein.“
Mit dem libyschen Staatschef Muammar
al-Gaddafi hat Silvio Berlusconi im August 2008 ein Freundschaftsabkommen geschlossen: „Wir werden mehr Gas und
Benzin aus Libyen bekommen und weniger
illegale Einwanderung“, erklärte Berlusconi und sagte fünf Milliarden Dollar Entschädigung für jene Jahre zu, als Libyen
italienische Kolonie war. Der Rüstungskonzern Finmeccanica soll außerdem für
Gaddafi ein Satellitensystem zur Überwachung des Flüchtlingsstroms entwickeln.
Dabei kommt der überwiegende Teil der
illegalen Einwanderer ganz legal per Flugzeug und Touristenvisum nach Italien und
taucht dann unter. Die Bootsflüchtlinge
sind eine Minderheit der Verzweifelten,
ohne jede Chance, bei einem Konsulat vorgelassen zu werden.
Flüchtlingsrouten
ITALIEN
von Afrika nach Europa
In Warschau gibt es die Frontex – die
„Europäische Agentur für die operative
Zusammenarbeit an den Außengrenzen“.
Die von der Bundesrepublik unterstützten
Programme heißen „Hera“ oder „Nautilus“. Es geht darum, Flüchtlinge möglichst
weit vor der Grenze der EU aufzuhalten.
Der damalige Innenminister Otto Schily
hatte im Jahr 2004 die Finanzierung von
Lagern für Asylbewerber in Nordafrika mit
EU-Mitteln angeregt: „Afrikas Probleme
müssen in Afrika gelöst werden“, sagte er.
Das Innenministerium in Rom hat zu
diesem Zweck Ägypten und Tunesien mit
Küstenwachbooten, Geländewagen, Nachtsichtgeräten und Polizeitechnik ausgerüstet, dazu Schulungen organisiert. Libyen
seinerseits kündigte vor einem Jahr an, die
Hütten und Zeltstädte auf seinem Territorium zu zerstören und „alle illegalen
Ausländer in Libyen unverzüglich zur Ausweisung zusammenzubringen“. Seit Gaddafi im Februar zum Präsidenten der Afrikanischen Union ernannt wurde, ist dieser Eifer offenbar etwas eingeschlafen.
Hilfsorganisationen hatten von Deportationen in die Wüste berichtet, von Haftlagern in Libyen und im Senegal, in denen
misshandelt und vergewaltigt wird, wo
Kinder ohne ausreichende Ernährung vegetieren. Wer aus diesen Lagern kommt,
für den hat die nächtliche Überquerung
des Mittelmeers in einem Fischerkahn
wahrscheinlich einiges an Schrecken verloren. Die Zahl der in Italien gelandeten
Boatpeople stieg jedenfalls im vergangenen Jahr stark an, auf 36 952 Menschen.
In dieser Woche nun soll ein Vorauskommando der italienischen Polizei nach
Libyen reisen, um die Logistik für die
gemeinsamen Patrouillen von insgesamt
sechs Schiffen vorzubereiten. Erstmals
Suwara
Tripolis
aus
Mali
NIGER
Bengasi Mittelmeer
Kairo
LIBYEN
aus
Nigeria
ÄGYPTEN
aus
Somalia
TSCHAD
SUDAN
500 km
werden damit Grenzschützer aus einem
EU-Land in den Hoheitsgewässern Libyens
aktiv. Wer aufgegriffen wird, kommt in die
libyschen Abschiebelager – ohne jede Gelegenheit, einen Asylantrag zu stellen, wie
es die italienische Verfassung garantiert.
Innenminister Roberto Maroni von der
Lega Nord erklärte, die illegale Einwanderung aus Libyen werde enden, sobald
am 15. Mai die Patrouillen starteten. Nichts
ist ungewisser. Klar ist nur, je strenger die
Kontrollen werden, desto riskantere Routen nehmen die Schlepper, desto mehr
Menschen kommen bei der Flucht ums
Leben.
Seit Frontex erfolgreich die Passage von
Senegal auf die Kanarischen Inseln blockiert, müssen Flüchtlinge den Umweg
durch die Sahara und Libyen nehmen. Und
seit das Datum „15. Mai“ im Umlauf ist,
schicken die Menschenhändler in Libyen
ihre Boote noch schnell aufs Meer, bei
jedem Wetter und bis zum Sinken beladen
mit Menschen. Es ist wie beim Ausverkauf.
Der 24-jährige Hussein Gopalgong,
Agrarstudent aus Bangladesch, hat es hinter sich. Eingepackt in einen polartauglichen Skianorak steht er jetzt da, wohin
sie alle wollten, die Gekenterten und Toten. Am Tor des Aufnahmelagers von Cassibile, südlich von Syrakus. 1000 Dollar hat
ihn die Passage von Tripolis übers Meer
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REUTERS
Quelle: BBC
Malta Sizilien
Lampedusa
gekostet, das Asylverfahren läuft, er hat
eine erkennungsdienstliche Identität bekommen. Das Leben kann beginnen.
Neben ihm steht Tonino, der 47-jährige
Verwalter vom Umzugsdepot „Magliocco
& Söhne“ nebenan, ein Mann mit gepflegtem grauem Spitzbart. Tonino sagt das, was
alle Italiener denken, wie er sagt. Er redet
von eingeschleppter Tuberkulose, von Aids
und vom angeblichen Dolce Vita der Lagerbewohner, von ihrer Arroganz, ihren
Geschäften und dem Geld, das ihnen hinten und vorne hineingeschoben werde:
„Aber wenn du den Mund aufmachst, bist
du gleich Rassist. Keiner sagt etwas, die
Politiker nicht, die Medien, die Richter.
Dafür muss es einen Grund geben, nicht?“
Hussein Gopalgong hört höflich zu. Sein
Italienisch ist noch dürftig. „Die kennen
die Gesetze doch besser als unsereins. Und
wenn ihr Asylantrag abgelehnt wird, verabschieden sie sich in die Büsche. Da …!“
Tonimo zeigt auf die andere Seite des
Bahndamms, wo unter einem Johannisbeerbaum eine Hütte aus Planen und Brettern zu sehen ist. Der Anblick scheint ihn
versöhnlicher zu machen. „Es sind arme
Schweine. So wie wir“, sagt Tonino.
In Sizilien weiß man, wie es ist, in die
Fremde getrieben zu werden. Die Zeitung
„Gazzetta del Sud“ hat an diesem Morgen
gemeldet, dass die Zahl der Auswanderer
in der Provinz Ragusa wieder zugenommen habe: „Das Gespenst der Emigration
ist wieder da“, lautete die Überschrift.
„Wenn es hier zu einem Krieg kommt,
wird es ein Krieg unter uns Armen sein, so
wie immer. So ist es doch, oder?“, fragt Tonino. Hussein Gopalgong lächelt aus seiner
Fellkapuze heraus, nickt vorsichtig und
scheint verdammt glücklich, einfach nur
hier zu sein.
Alexander Smoltczyk
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