Grenzenlos gesund?

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Schwerpunkt
Gesundheitspolitik in der EU
Grenzenlos gesund?
Von Petra Spielberg
I
mmer noch müssen Patienten, die sich zu einer Behandlung im EU-Ausland entschließen, mitunter große Schwierigkeiten überwinden. Bürokratie,
Misstrauen in die ärztliche
Kunst ausländischer Spezialisten sowie abschlägige Bescheide
für die Übernahme der Kosten
einer Behandlung im Ausland
können die Freizügigkeit der
Patienten behindern. Und das,
obwohl ihnen dieses Recht
nach dem EG-Vertrag zusteht.
Der Europäische Gerichtshof
(EuGH) in Luxemburg hat dies
ebenso wie die grundsätzliche
Pflicht der Krankenkassen, die
Kosten für eine Auslandsbehandlung zu übernehmen,
mehrfach bestätigt.
Vor sechs Jahren stellten Ärzte
bei Marie Fjellerup Brustkrebs
fest. Die Operation und die anschließende Chemotherapie verliefen erfolgreich. Drei Jahre
später aber hatten sich in Leber
und Hüfte der Dänin Metastasen
gebildet. Die Ärzte vom Herlev
Klinikum bei Kopenhagen behandelten Marie Fjellerup erneut mit Chemotherapien. Doch
der Krebs schritt voran. Die Bitte der Patientin, es mit einer anderen Therapie zu versuchen,
wurde abgelehnt.
Marie Fjellerup wandte sich in
ihrer Verzweiflung schließlich an
die Krebsspezialisten der Universitätsklinik Frankfurt am Main.
Dort riet man ihr zu einer Kombination aus Chemo- und Laserinduzierter Thermotherapie. Die
zuständige dänische Behörde
lehnte jedoch eine Übernahme
der Kosten für die Auslandsbehandlung ab. Marie Fjellerup
verkaufte ihr Auto und lieh sich
von Freunden Geld, um sich privat in Frankfurt behandeln zu
lassen. Im Oktober 2006 begannen die Ärzte der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität mit der
Therapie.
Das Wunder geschah. Nach wenigen Monaten verschwanden
die Metastasen. Seit Sommer
letzten Jahres ist der Krebs nicht
wieder zurückgekehrt. Auch der
bürokratische Kleinkrieg mit den
dänischen Behörden fand ein
glückliches Ende. Die zuständige
Kommune kam, vom Erfolg der
Behandlung überzeugt, schließlich doch noch für die Kosten
auf. „Ich hoffe, dass meine Erfahrung auch anderen Patienten
Mut macht, sich im Ausland behandeln zu lassen, wenn sie in
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ihrer Heimat nicht die medizinische Versorgung bekommen
können, die sie sich wünschen“,
sagt Marie Fjellerup heute.
BSE brachte die Wende in der
Gesundheitspolitik
In mehr als der Hälfte der 27 EULänder, so eine Kommissionsbeamtin, werde das Recht auf Auslandsbehandlung aber nach wie
vor mit Füßen getreten. Heißt das
zugleich, dass die Staaten eine
grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung für überflüssig
halten? Nein! Denn der Schutz
der Gesundheit der knapp 480
Millionen EU-Bürger über Ländergrenzen hinweg hat in den
letzten Jahren enorm an Bedeutung gewonnen.
Ein kleiner Rückblick macht dies
deutlich: Bei der Gründung der
Europäischen Gemeinschaft
(EG) im Jahr 1957 spielte das
Thema Gesundheit so gut wie
keine Rolle. Ausnahme bildeten
Maßnahmen zum Schutz von Arbeitnehmern. Mit Beginn der
90er Jahre unternahmen die
EG-Länder erste zaghafte Anläufe, auch auf gesundheitspolitischem Gebiet enger zusammen
zu arbeiten. So verpflichteten
sich die Regierungen der Gemeinschaft mit dem Vertrag von
Maastricht im Jahre 1992 erstmals, gemeinsame Anstrengungen zur vorbeugenden Bekämpfung bestimmter Krankheiten,
wie Aids und Krebs zu unternehmen.
„Auf den Treffen der für Gesundheit und Soziales zuständigen Minister spielten gesundheitliche Themen dennoch
weiterhin keine große Rolle“,
Schwerpunkt
sagt Hans Stein, damals Ministerialrat im Bundesministerium
für Gesundheit in Bonn.
Die große Wende kam Mitte
der 90er Jahre. Auslöser war die
BSE-Krise, die von Großbritannien aus den europäischen
Kontinent erfasst hatte. Schlagartig wurde den politisch Verantwortlichen in der EG klar,
dass die immer enger werdenden
wirtschaftlichen Verflechtungen
und die zunehmende Mobilität
der Arbeitnehmer auch mit erhöhten Gesundheitsgefahren
einhergehen.
Gesundheitsschutz ist fester
Bestandteil der EU-Politik
Ein weiteres Zusammenwachsen
der Wirtschaftsgemeinschaft war
ohne gezielte Maßnahmen zum
Gesundheitsschutz der Bevölkerung nicht mehr denkbar. Die
Zuständigkeiten und Aufgaben
der Gemeinschaft in der Gesundheitspolitik wurden daher stetig
ausgeweitet und vertraglich festgeschrieben. Ferner richtete die
Europäische Kommission 1999
eine neue für Gesundheit und
Verbraucherschutzthemen zuständige Abteilung ein: die
Generaldirektion Sanco.
Inzwischen ist der grenzüberschreitende Gesundheitsschutz
ein fester Bestandteil der EUPolitik. Die Maßnahmen beschränken sich dabei nicht auf
den eng umrissenen gesundheitspolitischen Aktionsradius
der EU, der in erster Linie auf
die Prävention von Krankheiten
und die Koordinierung und
Kontrolle der zwischenstaatlichen Aktivitäten abzielt. Auch
andere Politikfelder, wie die Arbeits- und Beschäftigungspolitik,
die Unternehmenspolitik, die
Wettbewerbs- und Binnenmarktpolitik sowie die Forschungspolitik mischen beim Gesundheitsschutz mit. Beispiele hierfür sind
Maßnahmen zur Bekämpfung
des Alkohol- und Nikotinmissbrauchs, gemeinschaftsweite
Programme gegen Infektionser-
krankungen oder Krebs sowie
Initiativen gegen die zunehmende Fettleibigkeit der Europäer.
Ferner regeln Gesetze, welche
Qualitäts- und Sicherheitsstandards innerhalb der EU für Bluttransfusionen oder für den Umgang mit menschlichen Geweben und Zellen gelten. Ein
entsprechendes Regelwerk für
Organtransplantationen ist in
Vorbereitung. Darüber hinaus
gibt es EU-weit gültige Pestizidgrenzwerte für Babynahrung
und solche für den Chemikaliengehalt in Kinderspielzeug. Eine
weitere Verordnung regelt die
Versorgung von Kindern mit
Arzneimitteln usw. usf.
Nicht alles macht indessen Sinn.
„Manchmal“, so der CDU-Europaabgeordnete Peter Liese,
„schießt die EU-Kommission mit
ihren Vorschlägen übers Ziel
hinaus.“ Beispiel: Der jüngste
Änderungsvorschlag der Behörde
zur EU-Strahlenschutzrichtlinie.
Die geplante Verschärfung des
Gesetzes zum Schutz von Arbeitnehmern vor elektromagnetischen
Feldern hätte nach Meinung von
Ärzten den diagnostischen
Einsatz der Magnetresonanztherapie in der Medizin unmöglich gemacht. Der zuständige
EU-Kommissar Vladimir Spidla
lenkte glücklicherweise ein und
verschob die Neufassung.
Großes Gefälle zwischen den
Versorgungsniveaus
Der einzelne Bürger kriegt von
all dem meist wenig mit. Für ihn
zählt in der Regel nur, dass er im
Krankheitsfall eine optimale medizinische Betreuung erhält und
das möglichst nahe an seinem
Wohnort. Doch wie gut und wie
schnell ein Patient versorgt wird,
hängt – bei allen Bemühungen,
den Gesundheitsschutz in der
EU zu verbessern – entscheidend
davon ab, wo er lebt.
Denn die Kluft zwischen den
gesundheitlichen Versorgungsniveaus der einzelnen EU-Länder ist nach wie vor groß. In Bul-
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garien und Rumänien beispielsweise, den jüngsten EU-Mitgliedern, sterben etwa dreimal so
viele Menschen an Herzkreislauferkrankungen wie im EUDurchschnitt. Ähnlich hoch sind
die Zahl der Krebstoten sowie
die Sterblichkeitsraten bei Säuglingen und jungen Müttern.
Szenario prophezeit einheitliche Minimalversorgung für alle
Der Grund: Welche Leistungen
in welcher Qualität und zu welchem Preis zur Verfügung stehen,
bestimmen die Regierungen der
Länder. Die EU darf hier nicht
mitreden. Das führt zu unterschiedlichen medizinischen Standards, beispielsweise bei der Behandlung von Brustkrebspatientinnen. „In Polen wird den erkrankten Frauen in 98 Prozent
der Fälle die vom Tumor befallene Brust amputiert. In Frankreich
dagegen behalten drei Viertel der
Patientinnen ihre Brust“, berichtet Karin Jöns. Die SPD-Europaabgeordnete setzt sich seit Jahren
intensiv für eine Verbesserung der
Krebsversorgung in der EU ein.
Glaubt man hingegen den Ergebnissen einer Studie des europäischen Beratungsunternehmens Health Consumer Powerhouse (HCP), dann wird sich die
medizinische Betreuung in der
EU in wenigen Jahren so weit
angeglichen haben, dass auf Kosten der gesetzlichen Krankenkassen überall nur noch eine Basisversorgung zu vergleichbaren
Qualitätsstandards zur Verfügung
steht. Das jedenfalls prophezeien
die befragten 130 Patientenorganisationen aus 24 europäischen
Ländern. Auch werde es für die
meisten EU-Bürger im Jahr 2020
selbstverständlich sein, notwendige medizinische Leistungen im
Ausland nachzufragen, so ein weiteres Ergebnis der HCP-Studie.
Noch aber sieht die Realität
anders aus. Noch entfällt nur
knapp ein Prozent aller Leistungen der Sozialversicherungssysteme in der EU auf Patienten
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Schwerpunkt
aus dem Ausland. Am meisten
nachgefragt werden nach einer
Umfrage der TK Baden-Württemberg Arzneimittel, gefolgt von
Kuren, Heil- und Hilfsmitteln
sowie Zahnersatz. Erst dann folgen ambulante Leistungen und
Krankenhausbehandlungen.
Am häufigsten nutzen Patienten,
die in einer so genannten Euregio, dem Grenzgebiet zwischen
zwei oder mehr europäischen
Seit März 2008 im Amt:
Androulla Vassiliou, EU-Kommissarin für Gesundheit aus Zypern
Ländern, leben, medizinische
Leistungsangebote im Ausland.
In einer solchen Euregio, wie die
im deutsch-niederländisch-belgischen Dreiländereck, garantieren
Kooperationsabkommen zwischen niedergelassenen Ärzten,
stationären Einrichtungen und
den Kostenträgern dies- und jenseits der Grenzen einen reibungslosen Ablauf der medizinisch bedingten Auslandsaufenthalte.
Mehr Rechte für die Patienten
Gründe für die geringe Inanspruchnahme von medizinischen
Leistungen fern der Heimat sind
zum einen sprachliche und psychologische Barrieren. Zum anderen blockiert die Weigerung von
Kassen, eine Genehmigung für
stationäre Leistungen zu erteilen
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beziehungsweise die Kosten für
Auslandsbehandlungen zu übernehmen, die Freizügigkeit der Patienten. Zahlreiche Beschwerden
bei den europäischen Verbraucherzentralen belegen dies.
Nach dem Willen der EU-Kommission soll damit bald Schluss
sein. Anfang Juli hat die Behörde
einen Richtlinienvorschlag vorgelegt, der die Rechte der Patienten in der EU stärken soll. Danach sollen die staatlichen Kostenträger grundsätzlich dazu verpflichtet werden, die Kosten für
ambulante oder stationäre Auslandsbehandlungen zu übernehmen – und zwar in Höhe der heimischen Erstattungssätze. Grundlage hierfür bilden die Urteile des
EuGH zur Patientenmobilität.
Der Vorschlag sieht weiterhin vor,
die Information der Versicherten
über die medizinischen Versorgungsangebote und die Qualität
der Leistungen zu verbessern. Ansprechpartner hierfür sollen nationale Kontaktstellen sein.
Doch damit nicht genug. Denn
die EU-Kommission will mit dem
Regelwerk zugleich die Modernisierung der Gesundheitssysteme
vorantreiben. So sollen sich die
Mitgliedsländer unter anderem
dazu verpflichten, Standards für
die Qualität und Sicherheit medizinischer Behandlungen zu erstellen. Die Kommission will es
sich zudem vorbehalten, zusammen mit Vertretern der Länder
eine Liste „stationärer und hoch
spezialisierter sowie kostenintensiver“ Leistungen zu erstellen,
für deren grenzüberschreitende
Inanspruchnahme die Patienten
möglicherweise eine Vorabgenehmigung einholen müssten.
Auch soll die Richtlinie innovativen Medizintechnologien und
telemedizinischen Anwendungen
zu mehr Akzeptanz verhelfen.
Harmonisierung nein –
Annäherung ja
Dies alles soll nicht auf dem
Wege der Harmonisierung geschehen, wie EU-Gesundheits-
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kommissarin Androulla Vassiliou
nicht müde wird zu betonen,
wohl wissend, dass die EU damit
ihren vertraglich festgeschriebenen Handlungsspielraum in der
Gesundheitspolitik überschreiten
würde. Zweifelsohne aber soll
die Richtlinie dafür sorgen, dass
sich die gesundheitlichen Versorgungsniveaus weiter annähern.
Inwieweit es wirklich dazu
kommt, lässt sich noch nicht
absehen. Denn die von Europaabgeordneten und EU-Regierungen geäußerte Kritik, der
Kommissionsvorschlag unterhöhle den Solidaritätsgedanken
und gefährde die Stabilität der
Gesundheitssysteme, lässt erahnen, dass die Mitgesetzgeber
einige Vorschriften noch abmildern werden.
Ebenfalls zweifelhaft ist, ob das
geplante Regelwerk die geforderte Rechtssicherheit bei Auslandsbehandlungen bringen
wird. Details des Vorschlags,
wie die geplante Definition
stationärer Leistungen und die
damit verbundene Option, Vorabgenehmigungen zu verlangen,
könnten vielmehr zu neuen
Rechtsunsicherheiten führen.
„Am Ende muss wieder der
EuGH entscheiden“, so Hans
Stein.
Es liegt nun an den europäischen Mitgesetzgebern, all dies
klar zu regeln und dabei allzu
starken Ambitionen der EUKommission, sich in einzelstaatliche gesundheitspolitische
Kompetenzen einzumischen,
einen Riegel vorzuschieben.
Der Versuch, den Zug in Richtung Angleichung der Gesundheitssysteme aufzuhalten, würde
hingegen das weitere Zusammenwachsen der EU-Staaten
in Frage stellen.
Petra Spielberg,
Fachjournalistin für
Gesundheits- und Sozialpolitik
Redaktion Wiesbaden/Brüssel
E-Mail: [email protected]
www.europa-transparent.eu
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