VORWORT In der Philosophie wird oft behauptet, wir würden die Wirklichkeit durch einen Schleier wahrnehmen. Manche halten diesen Schleier für durchsichtig und glauben daher an die Existenz des Wahrgenommenen. Andere hingegen halten ihn für undurchdringlich, und da sie sich vergeblich bemühen, ihn zu entfernen, werden sie zu Skeptikern oder ergehen sich in phantasievollen, aber unbeweisbaren Spekulationen über die vom Schleier verdeckte Wirklichkeit. Wieder andere nützen das Vorhandensein des Schleiers geschickt aus; sie geben vor, bestimmte Eigenschaften der Wirklichkeit zu erkennen, und erklären alles, was sie nicht sehen wollen, zu einer Täuschung, die erst durch den Schleier hervorgerufen wird. Jeder zieht dabei die Grenze zwischen Wirklichkeit und Täuschung nach seinem Gutdünken, was verständlicherweise zu chronischen Unstimmigkeiten führt. Im Europa des 17. Jahrhunderts einigten sich eine Handvoll Naturwissenschaftler und Philosophen – darunter Größen wie Galilei, Descartes, Boyle und Locke – auf eine Grenzziehung, die nach und nach immer größere Verbreitung fand, bis sie zum beinahe selbstverständlichen Hintergrund unserer Kultur wurde. Durch den Schleier, so wurde nun behauptet, seien Eigenschaften wie Ausdehnung, Form und Bewegung klar und deutlich zu erkennen. Farbe, Klang, Geruch, Geschmack sowie Wärme und Kälte seien jedoch ein Beitrag des Schleiers zur Wahrnehmung. Nur der Schleier sei farbig, nicht aber die Wirklichkeit. Wirklich seien Raum und Bewegung, aber nicht Klang und Geruch. So entstand die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten. Das Verhältnis von Leib und Seele, die Psychologie der Wahrnehmung, die neurowissenschaftliche Erklärung des Bewußtseins, die Grundlagen der Naturwissenschaft, die Ontologie der materiellen Wirklichkeit, das Wesen des Todes – das sind nur ein paar der Problemkreise, in denen man sich ohne Kenntnis der Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten nicht sicher bewegen kann. Es lohnt sich daher, die Gründe für diese Unterscheidung zu untersuchen und die eine oder andere kritische Frage zu stellen. Für Menschen, die sich professionell mit Philosophie beschäftigen wollen, lohnt es sich umso mehr, als das Thema in jedem Philosophiestudium mehr als einmal vorkommt (oder vorkommen sollte), nämlich typischerweise in Lehrveranstaltungen zur Erkenntnistheorie, zur Metaphysik und natürlich zur Geschichte der Philosophie, aber auch zur Moralphilosophie oder zur Wissenschaftstheorie. Am Ende einer Lehrveranstaltungsstunde, in der ich über dieses Thema gesprochen hatte, wurde ich nach vertiefender Literatur gefragt. Meine Recherchen ergaben, daß es zwar unzählige verstreute Artikel und Buchkapitel, aber keine Gesamtdarstellung gibt. Die meisten Einzeldarstellungen besitzen überdies den Nachteil, daß 8 Vorwort sie sich lediglich mit Lockes Version der Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten beschäftigen und vielleicht noch mit Berkeleys Kritik daran. Weniger historisch ausgerichtete Beiträge wiederum sind meist einseitig. Ich habe daher versucht, ein Buch zu schreiben, das jede Einseitigkeit möglichst vermeidet, und zwar in dreifacher Hinsicht: sowohl was das Interesse der Leserinnen und Leser angeht, als auch hinsichtlich der Mischung von historischer und systematischer Zugangsweise sowie von detaillierter Argumentation und großzügigem Überblick. Erstens: Das Buch enthält eine philosophische Untersuchung, die neue Beiträge zum Thema „primäre und sekundäre Qualitäten“ macht und alte bewertet. Es kann aber auch als Lehrbuch gelesen werden, in dem man über das Thema erfährt, was man als Studentin oder Student der Philosophie wissen sollte. Wer dieses Ziel verfolgt, sollte vor allem die Kapitel 1-5 und 13-18 lesen, wobei für einen raschen Überblick das erste Kapitel und der zweite Abschnitt des letzten genügen dürften. Wer sich hingegen für die Philosophie des Geistes, besonders für das Leib-Seele-Problem und naturalistische Lösungsansätze interessiert, aber der Meinung ist, über die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten selbst schon genug zu wissen, findet möglicherweise mit den Kapiteln 4-6 sowie 9-12 das Auslangen. Und wer sich schließlich vorwiegend mit metaphysischen und erkenntnistheoretischen Fragen sehr allgemeiner Natur beschäftigen möchte, dem seien besonders die Kapitel 7-9 ans Herz gelegt. Selbstverständlich gibt es noch andere Wege für speziell Interessierte, wem aber wie mir die Verbindungen zwischen primären und sekundären Qualitäten, der Philosophie des Geistes und der Naturwissenschaft am Herzen liegt, der wird wohl nicht darum herumkommen, einen Großteil der Kapitel zu lesen. Zweitens: Man kann über primäre und sekundäre Qualitäten nicht schreiben, ohne die Geschichte der Philosophie zu Rate zu ziehen. Das habe auch ich getan, doch an keiner Stelle standen dabei historischexegetische Ziele im Vordergrund. Es ist daher möglich, daß historischen Persönlichkeiten von mir Auffassungen unterschoben wurden, die sie in Wirklichkeit gar nicht vertraten. Dies erschreckt mich nicht, weil es mir wie gesagt um die Sache und nicht um die korrekte Geschichtsschreibung ging. Für welche Interpretation sekundärer Qualitäten Descartes plädierte, ist z.B. eine Frage, die für mich hinter die Frage zurücktrat, welche Interpretationen es überhaupt gibt und ob man sie auch heute noch akzeptieren kann. Eine rein historische Untersuchung der Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten müßte ganz anders aussehen; vor allem dürfte sie nicht auf die Philosophie des 17. und des 20. Jahrhunderts beschränkt bleiben, was bei mir mit wenigen Ausnahmen der Fall war. Sie müßte beispielsweise auch Thomas Reid und Arthur Schopenhauer berücksichtigen, um einen Philosophen des 18. und einen des 19. Jahrhunderts zu nennen, Vorwort 9 die sich beide mit dem Thema beschäftigt haben, von mir aber nicht einmal erwähnt wurden.1 Drittens: Getreu meiner Überzeugung, daß gute Philosophie zwar den Überblick nicht verlieren darf, aber den Einzelheiten einigermaßen gerecht werden muß, habe ich mich manchmal auf Argumentationen eingelassen, deren Lektüre nicht immer ganz einfach ist. Schwierigkeiten dürfte sie vor allem Menschen bereiten, die „große Würfe“ und rhetorische Glanzlichter für wichtiger erachten als Wahrheitssuche, Begründung, begriffliche Schärfe und Widerspruchsfreiheit. Umgekehrt habe ich mich bemüht, die Detailverliebtheit und das besessene Umkreisen des immer gleichen Arguments zu vermeiden, die in manchen philosophischen Schulen zum guten Ton gehören. Ich wollte den Wald vor lauter Bäumen nicht aus den Augen verlieren, was mir möglicherweise die Verachtung der Holzfäller einbringen wird, die stets nur den Baum sehen, den ihre Axt gerade bearbeitet. Doch ich hege auch Sympathie für die Axt, daher wird mich der Vogel nicht verstehen, der die Axt nicht sieht, weil er elegant über dem Wald dahinschwebt. Mein Vorbild ist der Vogel, der hin und wieder Zwischenlandungen macht, um selbst zur Axt zu greifen. Dieses Buch ist die um zwei Kapitel gekürzte und leicht überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift. Von Hans Goller, Uwe Hentschel, Reinhard Kamitz, Hans Kraml, Veit Pittioni und Edmund Runggaldier wurden mir Kommentare und Korrekturen zur Verfügung gestellt, was zu einigen Verbesserungen geführt hat. Neben ihnen danke ich allen Mitgliedern des Instituts für Philosophie der Universität Innsbruck, die mir die Arbeit ermöglicht und erleichtert haben, sowie allen Studierenden, die mich innerhalb und außerhalb diverser Lehrveranstaltungen inspiriert und eines Besseren belehrt haben. Daß aber die Arbeit überhaupt begonnen wurde, dafür ist meine Frau Christine verantwortlich. Hätte sie mir nicht eines Abends im „Utopia“ geraten, das Buch nicht mehr nur im Kopf zu schreiben, so wäre es wohl heute noch dort. Für diese Initialzündung, für das abschließende Korrekturlesen und für alles, was dazwischen lag – danke. — 1 Interessierte verweise ich auf Lehrer 1989 und Hörmann 2000.