Rebirth 03. 05. 2014 Seite 1 Risikoabschätzung Daniela K. gehört

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Rebirth 03. 05. 2014
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Risikoabschätzung
Daniela K. gehört zu den “neuen Müttern” - mit 34 Jahren ist sie noch nicht einmal die älteste
Teilnehmerin im Geburtsvorbereitungskurs. Sie ist jetzt in der 35. Schwangerschaftswoche; die
früheren “Geheimnisse” sind längst gelüftet. Daniela weiß, dass es ein Junge wird; sie hat alle
Vorsorgeuntersuchungen wahrgenommen, die weitgehend unauffällig gewesen sind. Bei der ersten
Kontrolle hatte ihr Frauenarzt eine Urinkultur angelegt, in der B-Streptokokken gewachsen waren –
3 500/ml.
Daniela nimmt derzeit Vitaminpräparate und Eisensubstitution; sie ist nicht allergisch, raucht nicht
und trinkt keinen Alkohol. Auch von Drogen hat sie sich immer ferngehalten. Daniela ist MTA in
einem großen klinisch-chemischen Labor. Auch nachdem sie mit ihrem Partner Jens
zusammengezogen ist, hat sie weitergearbeitet und erst zu Beginn der Schwangerschaft aufgehört.
Sie wohnt in einem Einfamilienhaus in Nieder-Eschbach, zum Haushalt gehören auch eine Katze
und ein Hund. Auch wenn Daniela die beiden Haustiere mitgebracht hat, werden sie derzeit von
Jens versorgt. Daniela hat immer gerne gereist, zuerst allein, seit 11 Jahren zusammen. Dabei haben
sie kaum eine der bekannten Reiseziele ausgelassen; die letzten Reisen führten nach Yucatan und
Thailand, sind aber schon länger als ein Jahr vorbei.
Danielas Mutter ist 58 Jahre alt und gesund, ihr Vater ist mit 59 Jahren (vor jetzt 4 Jahren) am
zweiten Herzinfarkt verstorben. Sie hat einen gesunden Bruder und eine ältere Schwester; diese hat
in den letzten Jahren zwei Fehlgeburten gehabt.
Daniela hatte die Menarche mit 12 2/12 Jahren; zwischen dem 18. und 31. Lebensjahr hat sie mit
der Pille verhütet. Es hat zwei Jahre benötigt, bis sie schwanger geworden ist, eine – wie Daniela
fand – etwas lange Zeit.
In der letzten Woche hat Daniela eine verstopfte Nase ohne weitere Symptome; sie hat auch die
Temperatur gemessen – 36,8°C. Jetzt ist sie in der 37. Schwangerschaftswoche, und an einem
Freitag morgen beginnen bei ihr die Wehen. Daniela läßt sich gegen 10.00 Uhr von Jens in das
Geburtshaus bringen, welches sie sich ausgesucht haben, und benachrichtigt die Hebamme.
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Im Geburtshaus angekommen, werden die Wehen stärker. Die Hebamme leitet ein CTG ab, das
zuerst normal ist. Aber nach anfänglich normalem Geburtsfortschritt tritt das Kind nicht weiter vor.
Nach 24 Stunden Wehen wird Daniela in die geburtshilfliche Abteilung des Kreiskrankenhauses
verlegt; hier wird versucht, die Wehentätigkeit anzuregen.
Die bei der Verlegung abgenommenen Blutwerte lauten:
HK 34.5% (36 – 46%)
Hb 10.8 g/dl (12 – 16)
Thrombozyten 255 000/µl (150 000 – 400 000)
Leukozyten 8 800/µl (4 500 – 11 000)
Auch unter Stimulation sistiert der Geburtsfortschritt; Prof. Brugue, der leitende Arzt der
Geburtshilfe, bespricht 30 Stunden nach Beginn der Geburt das weitere Vorgehen mit Daniela in
einem Aufklärungsgespräch.
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Nach zwei weiteren Stunden zeigt das CTG für das Kind eine Herzfrequenz von 250/min an; nach
einer Oxytocin-Gabe und den nachfolgenden Wehen treten späte Dezelerationen auf, so dass Prof.
Brugue noch am gleichen Abend gegen 20.00 Uhr eine Sectio caesarea durchführt. Zwei Stunden
später wird Peter geboren – Geburtsgewicht 3230 g, APGAR-Score nach 1 Minute 8, nach 5
Minuten 9. Die 480 g wiegende Placenta wird aufgrund der bisherigen Krankheitsgeschichte zur
Untersuchung in die Pathologie geschickt. Makroskopisch erscheint sie normal.
Am nächsten Morgen klagt Daniela über Frösteln, die Temperatur ist auf 38,4°C gestiegen.
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In der sofortigen Kontrolle des Blutbildes tauchen einige Besonderheiten auf:
HK 36.5% (36 – 46%)
Hb 12.8 g/dl (12 – 16)
Thrombozyten 255 000/µl (150 000 – 400 000)
Leukozyten 28 800/µl (4 500 – 11 000)
Differenzierung:
neutrophile Leukozyten 93% (40 – 70)
Lymphozyten 4% (22 – 44)
Monozyten 3% (4 – 11)
Die Stationsärztin verordnet sofort Clindamycin, woraufhin sich Danielas Befinden aber nicht
besserte. Am nächsten Tag nachmittags – 37 Stunden nach der Sectio caesarea – klagt sie über
Dyspnoe. Der bisher normale Blutdruck beträgt jetzt noch 90 / 50 mm Hg, der Puls schwankt
zwischen 130 und 140 / min.
Auch bis zum nächsten Morgen – Daniela bekommt Volumen und wird engmaschig überwacht –
verschlechtert sich ihr Zustand. Der Blutdruck sinkt weiter ab auf 70 – 80 mm Hg systolisch, die
Temperatur bleibt über 38°C, und die Atemfrequenz ist etwa 25/min. Bei einer Auskultation sind
Rasselgeräusche über beiden Lungenunterlappen hörbar, sowie ein 2/6 Systolikum über Erb. Die
Sectio-Wunde ist reizlos und sauber, ohne Anhalt für eine Suppuration oder Exsudation, das
Abdomen allerdings ist vergrößert, Darmgeräusche sind nur spärlich auskultierbar. Bei der
Palpation ist die Bauchdecke im Bereich des kleinen Beckens gespannt, ansonsten aber weich. Die
Beine sind kühl, ödematös verändert, die peripheren Pulse nur unsicher tastbar.
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Die wieder abgenommenen Laborwerte sind deutlich entzündlich verändert:
HK 30,1%
Hb 10,8 g/dl
Thrombozyten 200 000/µl
Leukozyten 39 500/µl
Neutrophile 62%
Stabkernige 31%
Lymphozyten 2%
Monozyten 4%
Metamyelozyten 1%
Protein 4,1 g/dl
Albumin 1,7 g/dl
Globuline 2,4 g/dl
Calcium 1.9 mmol/l
Andere Laborwerte (Elektrolyte, Glukose, Nierenretentionswerte, Leberfunktionswerte, Laktat)
sind normal. Im EKG ist ein Sinusrhythmus bei 130/min abzulesen, die R-Zacken sind in allen
Ableitungen kleiner als maximal 1 mV, die ST-Strecke ist unspezifisch verändert.
Daniela wird auf die Intensivstation verlegt. Bei der Verlegung wird eine Lungenembolie gesucht,
aber nicht gefunden; im Herzecho sind beide Ventrikel diffus hypokinetisch, die LVEF beträgt 39%,
Mitral-, Pulmonal- und Trikuspidalklappen sind mäßig bis moderat insuffizient.
Ein Sonogramm des Abdomens läßt etwas Aszites erkennen und einen kleinen Pleuraerguss rechts.
Das Abdomen-CT sieht folgendermaßen aus:
Der Uterus ist postpartal vergrößert, leichte Ileuszeichen ohne Obstruktion, wenig Aszites und
etwas subkutanes Emphysem. Hinweise auf einen Abszess lassen sich nicht erkennen.
Im mikrobiologischen Labor wird angerufen, ob die Blutkulturen etwas ergeben haben, aber diese
sind steril. Weitere infektiologische Proben werden abgenommen, und Daniela bekommen
Imipenem/Cilastatin, Vancomycin und Deltaparin.
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Mittlerweile kommt auch das Ergebnis der routinemäßigen Placentauntersuchung aus der
Pathologie:
Übersicht, HE
Dezidua basalis, Ausschnitt
Placenta unterhalb der Dezidua
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“ausgeprägte Entzündungszeichen in der Dezidua basalis mit Neutrophilen- und EosinophilenAnsammlungen, Abszess-Bildung und Nekrose. Kein Nachweis von Mikroorganismen, kein
Hinweis auf eine Chorionamnionitis.
Die Befunde sind nicht typisch, aber vereinbar mit einer aszendierenden peripartalen Infektion.”
In den nächsten Tagen bleibt Daniela fieberfrei, die Auswurffraktion des Herzens steigt auf über
50%. Wegen der Antibiotika kann sie ihren Sohn Peter nicht stillen; auch die Inzision der Sectio
sezerniert etwas Flüssigkeit.
Am nächsten Tag (7 Tage nach der Sectio) wird die OP-Wunde revidiert; das tieferliegende Gewebe
erscheint gut durchblutet, die Faszie ist intakt. Zum besseren Wundverschluss wird etwas Druck
durch Packungen ausgeübt. Am nächsten Tag ist die Umgebung der Inzision gerötet, ebenso wie
andere Bereiche des Abdomens und Thorax. Imipenem/Cilastatin und Clindamycin werden
abgesetzt, Metronidazol und Aztreonam werden dafür gegeben, ohne dass sich Danielas Zustand
bessert.
Am 13. Tag nach der Sectio werden die Laborwerte wiederholt:
HK 23,8%
Hb 7,87 g/dl
Thrombozyten 447 000/µl
Leukozyten 63 600/µl
Neutrophile 83%
Stabförmige 8%
Leukozyten 4%
Monozyten 3%
Metamyelozyten 2%
Fibrinogen 500 mg/dl (150 – 400)
Haptoglobin 304 mg/dl (16 – 199)
Weitere Laborwerte unauffällig
In der körperlichen Untersuchung ist Daniela weiterhin hypoton und tachykard. Im Abdomen-CT
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ist nicht anreicherndes, wenig kontrastiertes Material im Cavum uteri, das endometriale Gewebe ist
irregulär anreichernd. Zusätzlich ist etwas Flüssigkeit im retrovaginalen Raum, ein persistierendes
subkutanes Emphysem und Veränderungen der Absorption im M. rectus abdominis und der
Colonwand, auch erkenntlich an einer aufgehobenen Haustrierung.
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Daniela wird hysterektomiert, mit bilateraler Salpingo-Oophorektomie und Resektion der
Bachwand im Bereich des kleinen Beckens. Der Bauchwanddefekt wird rekonstruiert und mit
Spalthaut vom Oberschenkel gedeckt.
Die pathologische Untersuchung zeigt
Übersicht, Uterus
Ausschnitt Uterus HE
M. rectus abdominis, Ausschnitt
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Auch jetzt finden sich entzündliche Veränderungen im Uterus und im M. rectus abdominis;
pathohistologisch fallen wieder eine massive Infiltration mit Neutrophilen und Eosinophilen auf,
mit lokaler Abszessbildung und Nekrosen. Die Entzündung ist in den Tuben und in Muskel, Serosa
und Haut der Bauchwand ebenfalls nachweisbar. Wieder sind keine Erreger sichtbar, und multiple
Kulturen des resezierten Gewebes bleiben steril.
Trotz Gabe von Antibiotika (Clindamycin, Vancomycin, Imipenem/Cilastation, Doxyzyklin,
Metronidazol, Piperazillin/Tazobaktam) dauert es vier Wochen, bis sich die Wunde schließt und
Danielas Zustand weitgehend normalisiert ist.
Nach zwei Monaten – Daniela kann eigentlich entlassen werden – entwickeln sich auf den
Oberschenkeln etliche hämorrhagische Krusten; weitere Konsile werden angefordert, diesmal
dermatologisch und immunologisch.
Haut
Hautbiopsie
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Die pathologischen Befunde werden noch einmal nachbefundet. Auffällig ist, dass zwar immer eine
massive Entzündungsreaktion aufgetreten ist, aber keine Erreger gefunden werden, und dass alle
Kulturen negativ geblieben sind. Jetzt fällt auch auf, dass nur die Dezidua basalis nekrotisch
gewesen ist, welche zum mütterlichen Anteil der Plazenta gehört, während die anderen
Placentaanteile unverändert waren. Bei einer aszendierenden Infektion nimmt dieser Infekt keine
Rücksicht auf die Gewebeherkunft.
Dieses Muster wird in der Haut manchmal bei Krankheiten beobachtet, bei denen die Neutrophilen
“überaktiv” sind, wie bei der pyogenen Granulomatose oder dem hier vorliegenden SweetSyndrom. Bei allen Krankheiten finden sich inadäquate Neutrophilen-Reaktionen auf leichte Reize
oder Belastungen, ohne dass die Granulozyten selbst erkennbar verändert sind. Die Ursachen sind
teilweise Infektionen (Haut-, Atemwegs- oder GI-Infekte, HIV), Tumoren (paraneoplastisch,
insbesondere bei Leukämie), Medikamente (GM-CSF, all-Trans-Retinsäure) oder Schwangerschaft.
Alternativen wie Pyoderma gangränosum, Crohn oder M. Behcet sind wegen der fehlenden
weiteren Symptome nicht wahrscheinlich.
Für die Diagnosestellung müssen ein dichtes Neutrophileninfiltrat in der Haut und plötzliche
erythematöse bis livide Hautläsionen vorliegen, daneben müssen Granulozytose, Fieber, ein Trigger
und Besserung auf Glukokortikoide gegeben sein.
Daniela bekommt 120 mg/Tag Prednisolon über eine Woche, welches dann schnell auf 60 mg
reduziert wird, sowie Cyclosporin. Unglücklicherweise kam es zur Abstoßung des Hauttransplantats
als Wundheilungsstörung (Pathergie), welches eine zweite Spalthauttransplantation erforderte (die
aber besser einheilte). Andere therapeutische Alternativen sind Dapson, KJ in hohen Dosierungen,
Colchizin, Allopurinol und Thalidomid; bei pädiatrischen Fällen werden auch erfolgreich IVIGGaben verwendet.
Abdominalbefund nach Prednison
nach 6 Monaten
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