Solitär im Süden

Werbung
OUTDOOR
58 WOCHENENDE
Freitag, 19. August 2016
Solitär
im Süden
Die 4103 Meter hohe Barre des Ecrins erhebt sich in einem der
wildesten Winkel Frankreichs. Sie ist der südlichste Viertausender
der Alpen und besticht durch einen atemraubenden Ausblick
vom Gipfel, der alle umliegenden Berge weit überragt.
VON CAROLINE FINK (TEXT UND BILDER)
Berge und noch mehr Berge: Morgendämmerung im Aufstieg zur Barre des Ecrins mit Blick
Die Normalroute auf die Barre des
Ecrins ist eine dieser unendlichen Geschichten. Fast drei Kilometer lang zieht
sie sich über den Glacier Blanc zum Fuss
des Berges, danach folgt eine Schneeflanke, die vor allem eines verspricht:
700 Höhenmeter Monotonie. Ein Versprechen, das sie an diesem frühen Morgen auch hält. Einen Schritt nach dem
anderen steigen wir höher, die Steigeisen knirschen im Schnee, die Gedanken kreisen im Leerlauf. Derweil
schleicht die Morgendämmerung um
uns, erste Konturen tauchen auf – Eisabbrüche und Spalten in der Nähe, Gipfel in der Ferne. Irgendwann hebe ich
den Arm, knipse die Stirnlampe aus und
falle zurück in den Trott.
Doch für diesen Gipfel lohnt sich
jeder Schritt. Denn die 4103 Meter hohe
Barre des Ecrins ist ein Solitär unter den
Viertausendern. Einst der höchste Berg
Frankreichs – in der Zeit, als der Montblanc mitsamt Savoyen ganz zu Italien
gehörte –, kommt ihr heute nach wie vor
die Ehre des südlichsten Viertausenders
der Alpen zu. Wichtiger indes: In ihrem
Reich ist sie eine Herrscherin. Die
Nachbargipfel überragt sie um mehrere
hundert Meter, und der britische Alpinist Francis Fox Tuckett bezeichnete sie
bereits 1863 als «real monarch of the
entire group».
Wildes Alpenwunderland
Dennoch blieb diese Ecke der Dauphiné lange Zeit unbekannt. Erst im
19. Jahrhundert entdeckten Geografen
das Pelvoux-Massiv – und bis heute ist es
eines der wildesten Gebiete der Alpen.
Was uns bei Sonnenaufgang auf eindrückliche Weise vorgeführt wird. Als
wären wir über Nacht in ein wildes
Wunderland gestiegen, sehen wir nur
eines: Berge und noch mehr Berge. Wir
bleiben stehen und blicken um uns. Auf
die Meije, deren Felszacken im ersten
Sonnenlicht wie eine honigfarbene Kathedrale himmelwärts streben, auf die
Felsfluchten der Grande Ruine, auf
Hunderte von Gipfeln, deren Namen
wir nicht kennen. Es ist, als blickten wir
durch Raum und Zeit in die Ewigkeit
des Alpenbogens. In diesem Moment
geht mir ein Satz durch den Kopf, den
der britische Alpinist Francis Fox
Tuckett (1834–1913) vor über 150 Jahren
formulierte: «Die Gipfel des Pelvoux
sind eine der schönsten und eindrucksvollsten Kombinationen von
Wildheit und Erhabenheit, die ich jemals gesehen habe.»
Francis Fox Tuckett ist einer der Ersten, die sich in alpinistischem Sinn für
die Ecrins interessieren. Was ihn den
Plan schmieden lässt, das Gebiet während zweier Wochen zu erkunden. Denn
obwohl die Barre des Ecrins bereits in
«McCulloch’s Geographical Dictionary»
von 1841 mit korrekter Höhenangabe
vermerkt ist, bleibt die Gliederung des
Massivs unbekannt – dies in einer Zeit,
als in der Schweiz bereits 28 Viertausender bestiegen sind.
So zieht Tuckett im Juli 1862 mit den
Führern Peter Perren und Michel Croz
los, angetrieben von alpiner Erkundungslust und wissenschaftlicher Neugier: Mit im Gepäck haben sie gemäss
Tucketts Notizen nicht nur Schlafsäcke,
einen «tragbaren Kochapparat» sowie
«portable Suppe», einen zähflüssigen
Fleischextrakt, sondern auch je zwei
Thermometer und Barometer sowie
einen Theodoliten für topografische
Vermessungen.
Und ihre Mission gelingt. Sie durchkreuzen das Gebiet und überqueren als
Erste mehrere hochalpine Pässe. Nur ein
Wunsch bleibt unerfüllt: die Erstbesteigung der Barre des Ecrins. Als Tuckett
und seine Führer den Gipfel vom Glacier Blanc aus erstmals erblicken, glauben sie noch an das Unterfangen: «Eine
flüchtige Überprüfung bestärkte uns in
der Hoffnung, dass eine Besteigung
möglich sein würde», so Tuckett. Doch
auf dem Glacier Blanc sinken sie im weichen Schnee knietief ein, und frische
Lawinenkegel in der Nordflanke des
Berges lassen sie zurückschrecken. Sie
geben ihr Ziel auf und gehen stattdessen
als Erkunder des Pelvoux in die Geschichte des Alpinismus ein. Nicht viel
anders geht es ein paar Wochen später
dem Botaniker William Mathews (1828–
1901) und dem Geologen Thomas
George Bonney (1833–1923). Mit dem
Ziel, die Barre des Ecrins erstmals zu besteigen, heuern auch sie Michel Croz
und seinen Bruder Jean-Baptiste Croz
an. Sie schaffen es, den Bergschrund zu
überwinden, und gelangen bis zum Fuss
des felsigen Gipfelaufbaus, doch am vereisten Gipfelgrat scheitern auch sie.
FRANKREICH
Refuge des Ecrins
c
Gla
ie r
Bla
nc
Barre des Ecrins
(4102 m)
Pré de Madame Carle
FRANKREICH
P E LV O U X - M A S S I V
Grenoble
ITALIEN
Turin
Briançon
Kein Meter geschenkt
Nun aber scheint die Barre des Ecrins
die Alpinisten erst recht nicht mehr loszulassen, und so steht zwei Jahre später
die Crème de la Crème des britischen
Alpinismus am Start: der junge und
ambitionierte Edward Whymper, der
ein Jahr später das Matterhorn erstbesteigen wird, Horace Walker, dessen
Schwester Lucy Walker dereinst als
erste Frau auf dem Matterhorn steht,
Adolphus Warburton Moore sowie der
Grindelwalder Bergführer Christian Almer und – einmal mehr – Michel Croz,
der im Jahr darauf bei der Erstbesteigung des Matterhorns ums Leben kommen wird.
Diesmal sollte es gelingen, doch auch
die zu ihrer Zeit stärksten Führer und
Alpinisten beissen sich die Zähne am
höchsten Berg der Dauphiné aus. Den
Bergschrund überwinden sie schnell,
doch am Ostgrat des Gipfelaufbaus
scheitern auch sie. Zurück beim Bergschrund, entscheiden sie sich für ein
Couloir, welches direkt durch die Nord-
Refuge du Glacier Blanc
100 Kilometer
1 Kilometer
NZZ-Infografik/cke.
Gut zu wissen
Anreise: Über Turin oder Chambéry
nach Briançon und weiter via Ailefroide
zum Chalet Refuge du Pré de Madame
Carle (1847 m), wo die Strasse beim
Parkplatz endet. Ab Briançon gibt es
nur wenige Verbindungen des öffentlichen Verkehrs.
Übernachtung: Chalet Refuge du Pré
de Madame Carle, Telefon: +33
4 92 23 44 21, www.refuge-predemadamecarle.com. – Refuge du Glacier Blanc,
Telefon: +33 4 92 23 50 24, www.refugeduglacierblanc.ffcam.fr. – Refuge
des Ecrins, Telefon: +33 4 92 23 46 66,
www.refugedesecrins.ffcam.fr.
Normalroute: Von Pré de Madame
Carle via Refuge du Glacier Blanc zum
Teil über den Glacier Blanc ins Refuge
des Ecrins (L, 4,5 Stunden); weiter über
den Glacier Blanc und die Nordflanke
des Berges in die Brèche Lory, über den
Westgrat zum Gipfel und auf der gleichen Route wieder zurück (WS+, 7 Stunden); in der Flanke zum Teil Eisschlag;
der Grat ist stark abhängig von den Verhältnissen.
Mehr Informationen: Bergsportportal
www.camptocamp.org sowie «4000erTourenführer» von Richard Goedeke,
Bruckmann-Verlag, München 2014.
OUTDOOR
Freitag, 19. August 2016
WOCHENENDE 59
«Der liebe Gott hat uns
heraufgeführt und wird
uns auch sicher hinuntergelangen lassen.»
Christian Almer
Grindelwalder Führer, 1826–1898
über die Westalpen bis zum Matterhorn (am Horizont in der Bildmitte).
Die Barre des Ecrins mit ihrer Nordflanke und dem Westgrat rechts des Gipfels.
seite des Gipfelaufbaus führt – das heutige Whymper-Couloir. Almer und Croz
schlagen dazu über eine Stunde lang
Stufen in Schnee und Eis, bis der Trupp
erschöpft den obersten Teil des Ostgrats
erreicht. Und wenngleich die Entfernung von dort zum Gipfel laut Whymper «lächerlich klein, so lächerlich
klein» ist, wird ihnen kein Meter geschenkt. Zudem fährt allen der Schreck
in die Glieder, als Almer bei einem
Schritt der Schnee unter den Füssen
wegbricht und er stürzt. Whymper befürchtet das Schlimmste. «Aber er fiel
zum Glück auf die richtige Seite und
konnte sich halten.» So erreichen sie
endlich den luftigen Gipfel der Barre
des Ecrins und finden trotz Eile und
strapaziertem Nervenkostüm etwas
Zeit, um die Aussicht zu geniessen. «Ein
Panorama, welches sich über ein Gebiet
wie ganz England erstreckt (. . .) und
selbst in den Alpen nicht oft anzutreffen
ist», so Whymper.
Winzige Zäcklein am Horizont
Anders als die Erstbegeher traversieren
heute die meisten Alpinisten die gesamte Nordflanke am Fuss des Gipfelaufbaus, steigen danach in den Sattel der
Brèche Lory und klettern über den
Westgrat auf den Gipfel. So auch wir.
Wobei die Probleme wie bei Whymper
und Co. auch heute noch am Grat anfangen: Da der Firn in der Brèche Lory absinkt, stehen wir nun vor einer fast senkrechten Felspassage, die zum eigentlichen Grat führt. Eine Pièce de Résistance auf 4000 Metern Höhe, welche
den Puls hochschnellen lässt, während
man sich an improvisierten Fixseilen
hochwuchtet, derweil die Steigeisen
über Felsleisten kratzen. «‹By fair
means› geht anders», denke ich. Doch
der anschliessende Felsgrat, frisch verschneit und eisig, lässt jeden Gedanken
rasch verfliegen. Für gut eine Stunde beschränkt sich die Welt auf Tritte und
Griffe, Pickel und Zackenschlingen, auf
das Klimpern von Karabinern und
immer wieder: Tiefblicke in die Südwand der Barre. Bis auf einmal das Gipfelkreuz vor einem auftaucht. Ein Gipfelkreuz, neben dem wir genau das tun
werden, was alle auf der Barre des
Ecrins tun: über die Aussicht staunen.
Über Labyrinthe von Tälern und Gipfeln unter uns und den Weitblick von
den südlichen Seealpen über das Montblanc-Gebiet bis zu Matterhorn, Täschhorn und Dom, die sich als winzige
Zäcklein am Horizont erheben.
Einziger Wermutstropfen in diesem
Moment ist der bevorstehende Abstieg.
Dieser führt über dieselbe Route und
damit über den verschneiten Westgrat
zurück, womit sich der Kreis zu den
Erstbesteigern schliesst. Auch sie stiegen über diesen Grat hinab in die Firnflanke des Berges. Anders als wir heute
blickten Whymper und seine Gefährten
dieser Passage jedoch furchterfüllt entgegen, wussten sie doch nicht, was sie erwarten würde. «Der liebe Gott hat uns
heraufgeführt und wird uns auch sicher
hinuntergelangen lassen», so versuchte
Almer die Gefährten und wohl sich
selbst zu beruhigen. Was Whymper erst
recht Sorgen bereitete: «Er bewies damit, was er dachte.»
Doch einige Stunden später stehen
sie heil auf dem Glacier Blanc, erleichtert und übermütig vor Glück über den
gelungenen Abstieg vom Grat. Und wie
die meisten Alpinisten heute entscheiden auch sie sich dafür, noch gleichentags bis nach «Pré de Madame Carle» –
auf Deutsch: Wiese von Frau Carle – abzusteigen. Einer Hochebene unterhalb
des Gletschers, zwischen deren Lärchen
heutzutage ein Gasthaus mit Sonnenterrasse liegt. Damals aber muss die
Wiese der Frau Carle nichts als ein trostloser Ort aus Geröll und Gestrüpp gewesen sein. Bereits Francis Fox Tuckett
fragte sich, welch unheilvolle Tat die
«unbekannte Dame wohl begangen
habe, um solch blanke Verwüstung über
ihr Land gebracht zu haben».
Auch Whymper und seine Gefährten
finden die Wiese von Frau Carle wenig
einladend. Da es bereits dunkel ist,
schlagen Walker, Moore und Almer
dennoch neben einem Felsblock ein
Nachtlager auf. Croz und Whymper indes wollen einen besseren Unterstand
suchen, da Gewitter drohen. So stolpern
sie weiter durch Geröll und verlieren
einander in der Dunkelheit; Whymper
fällt kopfüber in einen Alpenrosenstrauch, und wenig später finden sie einander wieder im Bach liegend. So werden auch sie «dieser Art des Wanderns
so überdrüssig», dass sie bald neben
einem Felsen ein Lager einrichten –
hungrig, nass und müde. Wobei sie laut
Whympers Erinnerungen bald alle
Mühsal vergessen: An einem knisternden Wacholderfeuer sitzend, stopfen sie
ihre Pfeifen und erzählen einander Räubergeschichten. «Bis weit nach Mitternacht.» Doch als wir gegen Abend die
Hochebene beziehungsweise den Parkplatz von Madame Carle erreichen, steigen wir in unseren Mietwagen, kurven
über die Bergstrasse im letzten Licht des
Tages hinab ins nahe Dörfchen Ailefroide und sitzen wenig später vor einem
Fondue.
Berg der grossen Namen
fin. V In jeder Epoche haben Grössen des
Alpinismus ihre Spuren an der Barre des
Ecrins hinterlassen. Nach der Erstbegehung durch Edward Whympers Seilschaft im Jahr 1864 gelingt William
Augustus Brevoort Coolidge 1870 die
erste direkte Begehung durch die Nordflanke des Gipfelaufbaus zum Gipfel; er
– und wahrscheinlich seine Führer
Christian und Ulrich Almer sowie Christian Gertsch – schlägt dazu 500 Stufen in
die vereiste Flanke. Bis heute erinnert
das Coolidge-Couloir an ihren Erfolg.
Acht Jahre später verbucht Frederick
Gardiner die erste führerlose Begehung
der Barre. Auch er ist kein Unbekannter: Ein Freund der Walkers, ist er mit
von der Partie, als Lucy Walker 1871 als
erste Frau auf dem Matterhorn steht; die
Barre besteigt er gemeinsam mit seinen
Cousins Charles und Lawrence Pilkington, beide renommierte Felskletterer
der ersten Stunde in England und
Schottland.
Der Einheimische Pierre Gaspard
und der spätere Skipionier Henri Duhamel durchsteigen 1880 erstmals die
Südwand des Berges. Eine 1400 Meter
hohe Wand, in der in den hundert Jahren
darauf eine Reihe extremer Routen eröffnet wird. Unter anderem sind dies die
1400 Meter lange Voie Diagonale von
Edouard Frendo und Paul Héraud im
Jahr 1941, die erste Begehung des Südpfeilers 1944 durch das Bergsteigerpaar
Jeanne und Jean Franco oder die Erstbegehung der Gabarrou-Marsigny-Rinne durch den Eiskletterpionier Patrick
Gabarrou und François Marsigny im
Jahr 1980. Die bekannteste und am häufigsten begangene Route bleibt indes bis
heute – da technisch wenig schwierig –
die Abstiegsroute der Erstbegeher über
den Westgrat.
Zugehörige Unterlagen
Herunterladen