B. Lapatki: Neue Therapieansätze Kieferfehlstellungen für die Korrektur von Zahn- und Zusammenfassung In den vergangenen Jahren wurden in der Kieferorthopädie neue methodische Ansätze entwickelt und etabliert, welche die therapeutischen Möglichkeiten beträchtlich erweitert haben. Hierzu zählen die sog. skelettale Verankerung kieferorthopädischer Apparaturen mittels Minipins, die Lingualapparatur d.h. die unsichtbare Zahnspange mit „innen“ liegenden Brackets sowie die transparenten herausnehmbaren Spangen (sog. Aligner). In Zukunft könnten auch sog. „intelligente feste Zahnspangen“ zu einer besseren Therapie mit weniger Nebenwirkungen beitragen. Eine optimale Patientenversorgung basiert darauf, dass der behandelnde Kieferorthopäde das gesamte Methodenspektrum bzw. die „Kieferorthopädische Toolbox“ beherrscht und die für den individuellen Patientenfall optimale Apparatur auswählt. Skelettale Verankerung Was ist darunter zu verstehen? o Befestigung eines bzw. mehrerer kleiner TitanImplantate (bzw. Schräubchen) im Knochen o Unterschied zu dentalen Implantaten: viel geringerer Durchmesser und zumeist auch Länge, selbstbohrend (sodass keine Vorbohrung des Knochens nötig ist), glatte Oberfläche, weshalb keine direkte Verbindung mit dem Knochen entsteht (d.h. keine Osseointegration), dadurch ist das Implantat wieder sehr leicht zu entfernen Welche neuen Möglichkeiten entstehen durch die skelettale Verankerung für den Kieferorthopäden? o Bewegung einzelner Zähne oder Zahnsegmente ohne unerwünschte Mitbewegung der anderen Zähne Klinische Beispiele 1. Distalisierung der Oberkiefer-Molaren (d.h. deren Bewegung nach hinten) beim sog. Distalbiss sowie nach Zahnwanderung ohne Nebenwirkungen auf die vorderen Zähne bisherige Alternativen für diese Bewegung: Sog. „Headgear“ falls nur der 1. Molar (d.h. große Backenzahn) distalisiert werden muss; der HG hat im Prinzip keine Nachteile gegenüber skel. VA, außer dass sein Außengestell für jeden sichtbar ist, dies ist der Hauptgrund für die häufig schlechte Compliance der Patienten. Extraktion eines Prämolaren oder des 2. Molaren und Distalisierung mit dem Headgear 1 falls schon beide Molaren durchgebrochen sind. 2. Lückenschluss bei Zahnnichtanlagen Leider werden die Kosten für die skelettale Verankerung von den gesetzlichen Krankenkassen nicht übernommen, sodass die Extraktionen aufgrund Distalbiss nicht immer verhindert werden können. Lingualapparatur Was ist darunter zu verstehen? o Die Lingualapparatur ist eine festsitzende Zahnspange, deren Brackets an den zur Zunge zeigenden Flächen (d. h. lingual) befestigt sind; im Gegensatz zur konventionellen festen Zahnspange, bei welcher die Brackets an den Außenflächen befestigt sind. Entwicklung o Schon vor über 30 Jahren wurden die ersten Varianten der Lingualapparatur vorgestellt und angewandt o Folgende Gründe führten dazu, dass die Apparatur damals keine breite Anwendung fand: Die Brackets waren sehr dick und daher sehr störend für die Pat. v.a. beim Sprechen Der Behandlungsaufwand für den Kieferorthopäden war sehr hoch, da die Zahninnenflächen unregelmäßiger verlaufen als die Außenkonturen und somit keine sog. geraden Bögen verwendet werden können; d.h. der Kieferorthopäde musste viele individuelle Biegungen an den Drähten vornehmen, was Zeit kostet. Nachteil des schlechteren Zugangs (Zahninnenflächen), sodass der Aufwand am Behandlungsstuhl mindestens doppelt so groß ist. o Die Lingualapparatur erfuhr ein „Revival“ aufgrund einer Neukonzeption durch einen deutschen Kieferorthopäden (Dr. Wiechmann): Die Planung der Behandlung inkl. der finalen Zahnstellung erfolgt mittels eines sog. Setups mit optimal ausgerichteten Zähnen (als Gipsmodell oder virtuell im PC) Jedes individuelle Bracket wird individuell am PC designed; dadurch kann es so gestaltet werden, dass es minimal von der Zahninnenfläche absteht. Die Bracketherstellung (Wachsrohling) erfolgt über Rapid Prototyping; diese Wachsform 2 wird im Gussverfahren in ein Goldbracket überführt Die passenden Drahtbögen zur Kraftausübung auf die Zähne werden mittels Biegeroboter angefertigt und dem Kieferorthopäden mitgeliefert (sodass individuelles Biegen weitestgehend entfällt) o Indikationsgebiete der optimierten Lingualapparatur Erwachsenenbehandlung (bei Erwachsenen spielt die Ästhetik der Apparatur eine besonders große Rolle) Behandlung von etwas komplexeren Fehlstellungen, die mit herausnehmbaren Methoden (wie z.B. Aligner) nicht bzw. nicht optimal möglich sind Aligner Was ist darunter zu verstehen? o Die zur Zahnbewegung nötigen Kräfte werden durch transparente, herausnehmbare Schienen übertragen o Prinzipiell erfolgt die Behandlung so, dass die Zähne in kleinen Schritten in die gewünschte Position gedrängt werden; für jeden Behandlungsschritt muss ein entsprechendes Setupmodell erstellt werden, welches die Sollposition der Zähne für diesen Schritt definiert. Entwicklung o ähnlicher Prozess wie bei der Lingualapparatur: Aligner wurden schon vor einigen Jahrzehnten angewandt, jedoch nicht in breitem Umfang o die Verfügbarkeit der 3D-Technologie und Materialverbesserungen führten erlaubten die Optimierung der Apparatur, welche den Tragekomfort verbessert hat und den Behandlungsaufwand für den KFO verringert; dies war die Grundlage für die weite Verbreitung derzeit. Vorteile der Aligner gegenüber der Lingualapparatur o Aligner sind herausnehmbar und nahezu unsichtbar o d.h. die Zahnspange kann z. B. bei Besprechungen am Arbeitsplatz herausgenommen werden (eine Reduzierung der Tragezeit um wenige Stunden pro Tag ist tolerabel) Limitationen der Behandlung mit Alignern o Aligner können die Zähne fast ausschließlich kippend und kaum körperlich bewegen, dies schränkt das Indikationsspektrum ein; dieser Nachteil konnte auch durch Weiterentwicklungen der Apparatur noch nicht beseitigt werden (dies zeigten eigene wissenschaftliche Untersuchungen). Die „intelligente“ Zahnspange der Zukunft 3 Grundprinzip und Entwicklungsstand o derzeit wird durch die Klinik für Kieferorthopädie in Ulm sowie Ingenieure der Universität Freiburg im Rahmen eines gemeinsamen DFG-Projekts eine sog. intelligente Zahnspange entwickelt, welche die bei der Zahnbewegung auf die einzelnen Zähne ausgeübten Kräfte und Drehmomente zu messen in der Lage ist. o Sie besteht aus Brackets mit integriertem mikroelektronischem Sensorchip (mit einer Größe von 2x2x0,5 mm) o Der Nachweise der Funktionalität konnte bereits erbracht werden, jedoch muss die notwendige telemetrische Funktionalität noch verbessert werden (insbesondere die Reichweite der kabellosen Datenund Energieübertragung) Zu erwartender Benefit intelligenter festsitzender Apparaturen o Intelligente Apparaturen könnten in Zukunft dazu betragen, dass die Übertragung von überhöhten Kräften auf die Zähne vermieden wird, was nachweislich das Risiko für sog. Resorptionen der Zahnwurzel senken würde (Wurzelresorption sind eine negative Begleiterscheinung der Zahnbewegung bei manchen Patienten) o Des Weiteren sollte durch die Messung der übertragenen Kräfte und Drehmomente erwartungsgemäß die Effizienz der Therapie gesteigert werden. Bedeutung der universitären Einbettung der Zahnmedizin für die Weiterentwicklung der Fachdisziplinen sowie für die berufliche Qualifikation Die Präsentation über die neuen Methoden der Kieferorthopädie soll auch die Bedeutung der universitären Einbettung der Zahnmedizin am Beispiel der Kieferorthopädie demonstrieren; nur diese gewährleistet, dass neue Methoden unabhängig von der Industrie entwickelt und objektiv evaluiert werden. Eine gute Kieferorthopädie muss das ganze Spektrum der Apparaturen abdecken. Warum? Nur so ist möglich, dass man für jeden individuellen Patienten die optimale Methode auswählen kann; so kenn eine optimale Abwägung der jeweiligen Vor- und Nachteile sowie des Kosten-Nutzen Verhältnisses der verschiedenen Apparaturen (gemeinsam mit dem Patienten) erfolgen. Dies bedingt, dass ein Kieferorthopäde alle konventionellen und neu entwickelten Methoden beurteilen kann und beherrscht. Auch dies begründet die dreijährige Fachzahnarzt-Weiterbildung mit mindestens einjähriger Tätigkeit an einer universitären Abteilung (eine alleinige praktische Weiterbildung bei einem Kollegen in freier Praxis kann aufgrund 4 der beschränkten Ressourcen nicht das gesamte Methoden- und Patientenspektrum der Kieferorthopädie abdecken). Hintergrund: Gegenwärtig wird die Notwendigkeit einer mindestens einjährigen universitären Beteiligung an der Fachzahnarzt-Weiterbildung von Teilen des Berufsstandes in Frage gestellt. 5