I Fachbeitrag _ Osteotomien Osteotomien im Gesicht – die Kunst und Technik der Knochenschnitte Teil 2 Autoren _ Prof. Dr. Kurt Vinzenz, Wien; Prof. Dr. Hans Behrbohm, Berlin _Einleitung Der Sinn orthognather Chirurgie besteht in der gleichzeitigen Korrektur funktionell wirksamer und ästhetisch beeinträchtigender skelettaler Deformitäten. Diese Art der Chirurgie wird als Behandlung der Wahl bei schweren, durch konventionelle Kieferorthopädie nicht zu lösende Verzahnungsstörungen angesehen und wenn durch die alleinige Kieferorthopädie oder etwa camouflierende kosmetische Chirurgie keine zufriedenstellende Gesichtsästhetik zu erzielen ist. Im Gegensatz zur traditionellen zahnärztlichen Sicht basiert die überwiegende Mehrzahl der heutigen Indikationsstellungen jedoch auf Verbesserungswünschen der fazialen (40 Prozent) und oralen (80 Prozent) Ästhetik. Die vor über 100 Jahren in den USA von Vilray Blair durchgeführte Korrektur einer mandibulären Prognathie war der Beginn der Dysgnathiechirurgie. Bereits 1907 beschrieb Blair drei verschiedene Operationstechniken zur Korrektur von Fehlstellungen des Unterkiefers. Zwischen den Weltkriegen verlief die Entwicklung sehr langsam, bis dann in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts eine rasante Entwicklung einsetzte: Kazanjian beschrieb 1932 und 1936 einige Techniken der UK-Osteotomie – wiederum in den USA. In diesem Zeitraum war in Europa Berlin, ebenso wie in der von Jacques Joseph begründeten Nasen- und ästhetischen Gesichtschirurgie, das Zentrum orthognather Chirurgie: Die zweizeitige beziehungsweise einzeitige Korrektur der maxillären Protrusion geht auf 14 I face 3_ 2008 Fachbeitrag _ Osteotomien I Abb. 1_Bimaxilläre Osteotomie in der Le Fort I-Ebene und sagittale Ramusosteotomie im Unterkiefer mit zusätzlicher Kinnvorverlagerung. Abb. 1 Cohn-Stock (1921) bzw. Martin Wassmund (1927) zurück. Georg Axhausen (1934) beschrieb die erste „Le Fort I downfracture“ zur Korrektur des offenen Bisses. Schuchard wendete dazu 1942 äußere Gewichtszüge als eine Vorstufe der Distraktionsosteogenese im Oberkiefer an. Modifikationen von Unterkieferosteotomien wurden fast in allen Fällen als extraorale Verfahren beschrieben (Perthes und Schlossmann 1922, Ernst 1937, Lindemann 1938, Dingmann 1951, Converse 1952, Caldwell und Lettermann 1954, Trauner 1955). Sir Harold Gillies leitete 1950 mit der Beschreibung der ers– ten Le Fort III-Osteotomie die entscheidende Erweiterung der orthognathen Chirurgie in den kraniomaxillären Bereich ein. Hugo Obwegeser gilt als Vater der modernen orthognathen Gesichtschirurgie, indem er die Ära der Perfektionierung dieser chirurgischen Disziplin mit der ersten wirklichen sagittalen Spaltung des aufsteigenden Unterkieferastes 1953 begann. Zum Anlass dieser ersten Operation vor 50 Jahren veranstaltete die Universität Zürich 2003 ein internationales Symposium zu Ehren von Prof. Obwegeser und überreichte den Pionieren dieser Chirurgie eine Ehrenmedaille. Neben H. Obwegeser waren dies P. Tessier, J. McCarthy, F. Ortiz- Monasterio und D. Marchac. Diese Ära erreichte schließlich ihren Höhepunkt in der von Obwegeser 1970 publizierten simulta- nen totalen Ober- und Unterkieferosteotomie und der Begründung der kraniofazialen Chirurgie durch Paul Tessier mit der Vorverlagerung des gesamten Mittelgesichtes 1967. 1973 wurde der „Craniofacial Travel Club“ durch K. Saylier, L. Whitaker, I. Jackson, I. Munroe, D. Marchac und F. OrtizMonasterio gegründet, der über mehr als 20 Jahre das maßgebliche Forum für kraniofaziale Chirurgie war. 1983 wurde die Int. Society of Craniomaxillofacial Surgery in Montreal gegründet und 1985 P. Tessier als deren Ehrenpräsident gewählt. Parallel dazu wurde die 1954 erstmals vom Orthopäden Gavril Ilizarov durchgeführte und 1978 publizierte Distraktionsosteogenese, die sogenannte „Knochenbruchdehnung“ beziehungsweise „Kallusdistraktion“ entwickelt und in der Folge von J. McCarthy 1989 die erste humane Unterkieferdistraktion durchgeführt . Diese wurde von ihm 1993/94 erstpubliziert. Als nunmehr neueste Methode moderner kraniomaxillofazialer Chirurgie entwickelt sie sich seither zur Alternative der bisherigen Verfahren mit verbesserten funktionell-ästhetischen Ergebnissen. Bis in die späten 1970er-Jahre waren Korrekturen dentoskelettaler Deformitäten nur mit dentalen oder vice versa fazialen Kompromissen erzielbar. Die Entfernung der Vormahlzähne zur „skelettalen Camouflage“ und Behebung des Platzmissverhältnisses von Zähnen und vorhandenen Knochen war zum Beispiel Routine und eine Abb. 2_OP-Situation: OberkieferUmstellungsosteotomie mit kalibrierten Mikroplatten. Abb. 3_OP-Situation: enorale Tandemverschraubung der sagittalen Ramusosteotomie nach Unterkieferverlagerung mithilfe der enoralen Bohr- und Schraubhilfe nach Lindorf. Abb. 2 Abb. 3 face 3 _ 2008 I 15 I Fachbeitrag _ Osteotomien Abb. 4a–b_17-jährige Patientin mit sagittaler UK-Osteotomie nach Obwegeser und interdisziplinärer kieferorthopädischer Behandlung (die 45° schräg-seitliche Aufnahme wurde mit Abbildung 1 korreliert). Abb. 5a–b_35-jährige Patientin: Ergebnis nach bimaxillärer Osteotomie mit Kinnplastik. Der Einfluss der dentoskelettalen Deformität auf die Gesichtsweichteile durch Fehlpositionierung der Haltebänder „retinaculae“ ergibt unnatürlich geschwungene und verlängerte Nasolabialfalten mit „Auftreibung“ der Wange und tiefer Mentolabialfalte. Postoperativ ästhetische Korrektur des Gesichtsprofils mit ausgebreiteten und natürlich positionierten Gesichtsweichteilen. Abb. 6a–b_Vor der Behandlung, c–d_Nach der Behandlung. Dynamisches Erscheinungsbild einer Progeniepatientin bei der Schreibtischarbeit. Abb. 4a Abb. 4b Abb. 5a Abb. 5b Abb. 6a Abb. 6b Abb. 6c Abb. 6d allgemein akzeptierte Behandlungsmethode, die oftmals in einer ästhetisch beeinträchtigenden Verflachung des Profils, in einem „dished profile“ mündete. Die „knocheninduktive Chirurgie“ der Distraktionsosteogenese erzielt den notwendigen Raumgewinn durch Produktion von Knochen und vermeidet dadurch jene ästhetisch-funktionellen Kompromisse. Gleichzeitig erlaubt diese Methode erstmals ein formendes Gestalten nicht nur des Profils, sondern der gesamten Gesichtskontur. Um dieser modernen Entwicklung der orthognathen Chirurgie Rechnung zu tragen, veranstalteten die GIGIP* daher 2002 und 2004 mit den Mitgliedern des „Craniofacial Travel Clubs“ unter der Patronanz der Internationalen Gesellschaft für Craniofacial-Surgery sowie der EURAPS** und EAMCFS*** zu diesem Thema zwei internationale Symposien „Art 1/2 of Reconstructive and Aesthetic Surgery of the Face and Skull“ jeweils in Wien. Abb. 7a_Chirurgische Abdeckung mit CORE-Mikrosystem der Firma Stryker mit der elektronischen Bohreinheit Osseo-Set 100TM der Firma Nobel Biocare. Abb. 7b_Osteotomie Mikrosäge im Größenvergleich mit Ein-Euro-Münze. Abb. 7a 16 I face 3_ 2008 Abb. 7b _Moderne orthognathe Chirurgie Für eine harmonische Gesichtsästhetik haben alle Komponenten des Gesichtes wie Augen, Nase, Lippen und auch Zähne und Zahnfleisch gleichwertige Bedeutung. Dem europäischen Schönheitsideal entspricht das gerade Vorgesicht („Anteface“). Die zentrale Rolle spielt dabei sowohl für die Gesichts- als auch orale Ästhetik die Form und Proportion des knöchernen Gesichtes, über welches die Gesichtsweichteile durch Haltebänder („retaining ligaments“) ähnlich den Stützen eines Trampolins aufgespannt sind. Die moderne orthognathe Chirurgie ist ausgehend von der durch Obwegeser erstbeschriebenen sagittalen Unterkieferspaltung und der bimaxillären Osteotomie (Abb. 1) nunmehr in der Lage, nahezu jede Raumkorrektur des Gesichtsschädels zur Behebung ästhetischer und funktioneller Probleme zu bewerkstelligen (Abb. 5a–b, 6a–d). Einen entscheidenden Beitrag stellt die erst in den späten 1970er-Jahren etablierte enge Zusammenarbeit von Kieferorthopäden und Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen bei der Korrektur dentoskelettaler Deformitäten dar (Abb. 4), die über die weitere interdisziplinäre Kooperation mit Plastischen Chirurgen und HNOÄrzten-/Kopf-Halschirurgen die Entwicklung zur „Ästhetischen Orthognathen Chirurgie“ einleitete * Gesellschaft für Implantologie und gewebeIntegrierte Prothetik ** European Association of Plastic Surgeons *** European Association for Cranio-Maxillofacial Surgery Fachbeitrag _ Osteotomien I BUILDING A NEW FACE Craniofacial distraction osteogenesis Abb. 8a Abb. 8b (Abb. 5a–b, 6a–d, 14a–e). Dies war ein Schwerpunktthema der erstmals stattfindenden internationalen Konferenz zur funktionsbasierten Ästhetik „Esthetics follows function“, die im Juni 2007 ebenfalls in Wien stattfand. Neuerungen, vor allem technischer Art, konnten in den vergangenen 20 Jahren besonders auf drei Gebieten festgestellt werden, wobei die Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist und weitere Verbesserungen erwartet werden können. Diese betreffen die Planung mit computerassistierten Verfahren kombiniert mit der Video- oder Lasertechnik, die Materialien und neuartige Operationstechniken auf technischer Basis sowie die Etablierung neuer Operationsmethoden wie der Distraktionsosteogenese. Bei den Materialien ist vor allem die Verbesserung der Osteosynthesematerialien hervorzuheben. Beispielgebend sind die kalibrierten PräzisionsMikroplatten (nach Lindorf; Firma KLS Martin, Tuttlingen) (Abb. 1–2) und die Entwicklung resorbierbarer Platten und Schrauben. Die Verfeinerung der zunehmend minimalinvasiven OP-Techniken gelingt über Verbesserung und Miniaturisierung der chirurgischen Instrumente (Abb. 3 zeigt die enorale Bohr- und Schraubhilfe nach Lindorf). Neben der Planung mit computerassistierten Verfahren kombiniert mit der Video- oder Lasertechnik wird es notwendig sein, die Gesichtsdynamik beschreiben zu können. Ein neuartiges Verfahren aus diesem Bereich stellt die von M. Frey und P. Giovanoli entwickelte dreidimensionale Videoanalyse der Gesichtsbewegungen bei der Fazialischirurgie dar. Eine wesentliche Verbesserung stellen die „servogesteuerten motorbetriebenen Instrumente dar.“ – CORE-Mikrosystem der Firma Stryker – welches mit einem Drehmoment-Feedback arbeitet und ein extrem wandlungsfähiges System für das Sägen kleiner Knochen ist (Abb. 7a–b). Neuerdings werden ultraschallbetriebene Osteotomiesysteme angeboten. Bei den neuartigen Operationstechniken wurde über erste Resultate mit dem Einsatz von Navigationssystemen wie auch über endoskopisch durchgeführte Osteotomien berichtet. In diesem Zuge ist ebenso mit der Verbesserung der CAD/CAS-Planungssoftware zu rechnen. _Die Distraktionsosteogenese Das erste Ilizarov-Prinzip postuliert, dass Traktion Regeneration und aktives Gewebewachstum stimuliert (Abb. 8–11). Nach einem Knochenbruch kommt es vorübergehend in der Heilungsphase im Knochenbruchspalt zur Ausbildung von Ersatzknochen, welcher Kallus genannt wird. Erst im weiteren Heilungsverlauf wird dieser Knochen verfestigt, bis er schließlich genauso fest ist wie der übrige Knochen. Wird dieser weiche und verformbare Kallus mittels einer Apparatur gestreckt, kann man den Knochen verlängern. Hierzu muss vor und hinter dem Bruchspalt eine Apparatur befestigt werden, die über eine Spindel auseinander Abb. 10 Abb. 9 Abb. 11 Abb. 8a_Schematische Zeichnung der für die orofaziale Ästhetik wesentlichen Osteotomiebereiche: Modifizierte Le Fort I-Osteotomie mit medianer Durchtrennung des Gaumens im Oberkiefer. Mediane und laterale Osteotomie zur sagittalen Verlängerung und Verbreiterung des UK. Durch Kombination dieser Osteotomien resultiert eine dreidimensionale Formgebung. Abb. 8b_Schematische Zeichnung der möglichen DO-Varianten im Gesicht: Die Gesichtsweichteile werden im Sinne eines „inverse facelifts“ (Originalzitat Fernando Ortiz Monasterio 2004) über den volumenvergrößerten Gesichtsschädel unter einer erneuerten Gewebespannung zwischen den Haltebändern „retinaculae“ ausgebreitet. Abb. 9_Anleitung zur praktischen Durchführung der DO: – Kortikotomie – Anpassen der Distraktoren – Einstellen der Vektorrichtung – Endgültige Osteotomie – Monokortikale Fixierung kann mit Mikroschrauben der Dimensionierung 4/5mm erfolgen – Nach sieben Tagen kann man den Start der Distraktion mit 1mm pro Tag beginnen. Abb. 10_Beispiel einer Osteotomie mit angepasstem Distraktor im UK (Firma Martin). Abb. 11_Der „Zürich Oberkiefer Distraktor“ der Firma KLS Martin für ein modfiziertes Vorgehen ähnlich der in Abb.1 gezeigten Oberkiefervorverlagerung in der Le Fort I-Ebene mit Fixierung durch kalibrierte Mikroplatten. In dieser Variante werden nur die Verzahnungskorrektur in der sagittalen Ebene und eine Profilkorrektur vorgenommen. face 3 _ 2008 I 17 I Fachbeitrag _ Osteotomien Abb. 12_Unterkieferdistraktion beidseits nach präoperativer Zahnregulierung mit transversaler DO zur Erweiterung des OK. Implantate der Firma Nobel Biocare zum Ersatz fehlender Zähne. Enorale Aufnahme Distraktor mit weichen und biegbaren enoralen Aktivatoren in situ, vor der Distraktion 1mm/d für insgesamt neun Tage. Abb. 13_Panoramaröntgen postoperativ nach bds. UK-Osteotomie in der Warteperiode von einer Woche bis zum Beginn der Aktivierung der Distraktoren. Implantate der Firma Nobel Biocare wurden zum Ersatz fehlender Zähne installiert. Abb. 14a–e_30-jähriger Patient pa und seitlich, vor und nach bimaxillärer DO und Kinnplastik mit zusätzlicher Verschmälerung der Nase. Abb. 14a Abb. 12 bewegt wird (Abb. 9). Dieses Prinzip der Kallusstreckung nennt man Kallusdistraktion oder Distraktionsosteogenese, da sich beim Auseinanderbewegen ständig neuer Knochen bildet. Dieser Raumgewinn durch „induktive Chirurgie” (J. McCarthy, K.E. Salyer) betrifft sowohl Knochen als auch Weichteile, die als Distraktionshistogenese der am knöchernen Schädel haftenden Gesichtsweichteile stattfindet. Der weiche und verformbare Kallus ermöglicht eine dreidimensional „formende“ Gestaltung des Gesichtes. Die Gesichtsweichteile werden im Sinne eines „inverse facelifts“ (Originalzitat Fernando Ortiz Monasterio 2004) über den volumenvergrößerten Gesichtsschädel unter einer erneuerten Gewebespannung zwischen den Haltebändern „retinaculae“ ausgebreitet (Abb. 8a–b). Erst durch die Miniaturisierung und laufende Verbesserung der von außen unsichtbar im Mund befindlichen Distraktoren und ohne Verletzung des Gesichtes beziehungsweise der Gesichtshaut wurde es möglich, diese chirurgische Methode in die Ästhetische Chirurgie einzubringen (Abb. 10–13). Im Gegensatz zum traditionellen chirurgischen Vorgehen können diese Eingriffe durch die eingangs erwähnten Verbesserungen auf technischer Basis – hier die feine Schnittführung durch Mikrosägen und die Verwendung von Mikroschrauben (Abb. 10–11) – bei zunehmend minimalinvasiven Zugang durchgeführt werden, sodass weder äußere Narben noch nennenswerte postoperative Beschwerden wie Schwellungen oder Schmerzen Abb. 14b 18 I face 3_ 2008 Abb. 13 Abb. 14c auftreten. Im Mund kann dieser Raumgewinn durch Knochen für eine erleichterte und raschere Bewegung von Zähnen in diesen Raum genutzt werden („rapid orthodontic treatment“) und im Rahmen der „präimplantologischen Chirurgie“ der verbesserten Implantatverankerung dienen. Die stürmische Entwicklung auf dem Gebiet der Distraktoren ist derzeit im Gange: Entscheidende Fortschritte werden intraorale multidirektionale Distraktoren und die endoskopische Chirurgie mit Mikrosägen im Mittelgesichtsbereich bringen. _ Literaturliste kann beim Autor angefordert werden. face _Kontakt Prof. Dr. Kurt Vinzenz Department für Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie Evangelisches Krankenhaus Wien Abteilung für Plastische- und Wiederherstellende Chirurgie Interdisziplinäre Ambulanz für Maxillofaciale Chirurgie Wilhelminenspital der Stadt Wien E-Mail: [email protected] Abb. 14d Abb. 14e