1 BZB März 15 Wissenschaft und Fortbildung Die intraossäre Anästhesie mit Anesto Nutzen und Risiken bei implantologischen und oralchirurgischen Eingriffen E i n B e i t r a g v o n D r. D r. M a n f r e d N i l i u s , M S c . , D o r t m u n d Anesto ist ein System zur intraossären Lokalanästhesie (IO) bei dentalen oder oralchirurgischen Eingriffen. Das Anästhetikum wird minimalinvasiv direkt in das parodontale Knochengewebe injiziert. Die schmerzausschaltende Wirkung beruht auf der intraossären Ausbreitung geringer Mengen des Anästhetikums, die profund, zeitnah und punktgenau erfolgt. Dies bringt zeitliche Vorteile und ist insbesondere für Risikopatienten vorteilhaft. Der vorliegende Artikel fasst die Untersuchungsergebnisse einer Feldstudie (2009 bis 2013) zur Nutzung von Anesto bei implantologischen Eingriffen zusammen und gibt Hinweise auf die klinische Anwendung in der Oralchirurgie. Die Ergebnisse legen den Schluss nahe, dass die IO nicht nur bei „Hot-Tooth“-Behandlungen, sondern auch als Erweiterung und Vertiefung der lokalen Schmerzausschaltung vor allem bei implantologischen und knochenchirurgischen Eingriffen vorteilhaft ist. Die intraossäre Anästhesie ist seit Langem bekannt und wurde bereits 1968 von Magnes sowie 1974 von Bourke publiziert. Zum Nachweis ihrer Wirksamkeit trieb sich der Direktor der Kiewer Klinik für Orthopädie und Traumatologie, Nikolai Nowikow, 1968 mit dem Stahlhammer eine Kanüle in seinen Beinknochen. Er wollte spüren, „was ein Kranker spürt“. Während eines chirurgischen Eingriffs – Nowikow befreite sich lege artis von einem Meniskusriss im Knie – erteilte er Ärzten und Medizinstudenten Unterricht in angewandter Chirurgie [1]. Die intraossäre Anästhesie für den dentalen Bereich wurde entwickelt, um entweder eine Leitungsanästhesie zu vermeiden oder eine profunde Anästhesie eines Einzelzahns und benachbarter Zähne eines Quadranten zu erreichen, wenn andere Lokalanästhesieverfahren bereits versagt haben oder wenn nur eine kurze und örtlich begrenzte Schmerzausschaltung erwünscht ist. Das Anesto-System Anesto ist ein Bohrsystem zum Durchdringen der Kortikalis, um ein Lokalanästhetikum in die Spon- giosa zu injizieren. Hierbei wird die Kortikalis mit einer rotierenden Nadel am Handstück bei vorher festgelegter Motorgeschwindigkeit in circa einer Sekunde minimalinvasiv penetriert und anschließend das Anästhetikum ohne Druck über die Nadel direkt in den spongiösen Kieferknochen instilliert. Im Oberkiefer breitet sich das sofort wirkende Anästhetikum distal und mesial von der Injektionsstelle aus, im Unterkiefer mesial. Die Methode schont die desmodontalen und parodontalen Gewebe und eignet sich sowohl für den bezahnten als auch für den unbezahnten Kiefer. Ist mindestens ein Millimeter starker spongiöser Knochen vorhanden, kann die intraossäre Anästhesie bei der restaurativen und prothetischen Therapie, bei endodontischen Behandlungen und in der Oralchirurgie angewendet werden. Hierbei ist unbedingt auf den Verlauf der Nervkanalstrukturen, die Wurzeln der Nachbarzähne und den Sinus maxillaris zu achten. Vor der Penetration der Kortikalis ist ein Oberflächenanästhetikum empfehlenswert, zum Beispiel ein Sprühstoß mit zweiprozentigem Lidocain. Die Perforationsstelle und -richtung orientieren sich an der Art des Eingriffs. In unserer Untersuchung wurde im bezahnten Kiefer als Injektionsort der Kreuzungspunkt der bukkalen beziehungsweise labialen Horizontallinie mit der interdentalen Vertikallinie bestimmt. Er liegt etwa zwei Millimeter oberhalb der mukogingivalen Grenze in der befestigten Gingiva. Bei einem Attachmentverlust der gingivalen Manschette wird der Injektionspunkt in die mukosalen Schleimhäute positioniert. Für oralchirurgische Eingriffe bei teilbezahnten oder zahnlosen Patienten wird je nach transversaler und horizontaler Knochenanatomie die Kortikalis in submentovertikaler beziehungsweise transkrestaler Richtung perforiert. In der Regel entspricht der Perforationsort der zu operierenden Region. Entsprechend wird beim implantologischen Eingriff gemäß der Implantatachse perforiert und instilliert (Abb. 1 bis 4). Wissenschaft und Fortbildung Abb. 1: Im bezahnten Kiefer wird die Bohrrichtung senkrecht zur kortikalen Platte ausgerichtet. BZB März 15 Abb. 2: Die Perforation erfolgt im Kreuzungspunkt zwischen der bukkalen beziehungsweise labialen Horizontallinie mit der interdentalen Vertikallinie. Abb. 3 und 4: Beim implantologischen Eingriff wird die Kortikalis entsprechend der Implantatachse perforiert und das Anästhetikum (mit Schutzkappe) instilliert. Kontraindikationen Nicht geeignet ist die intraossäre Anästhesie bei unzureichendem spongiösen Knochen und vorliegenden Wurzelanomalien, bei endokarditisgefährdeten Patienten und Patienten mit nicht abgeschlossener Zahn- und Kieferentwicklung. Ebenso verbietet sich eine IO direkt in stark entzündetes Gewebe. Die Grenzen für den Einsatz der intraossären Anästhesie im hinteren Molarenbereich bis hin zur relativen Kontraindikation bei fehlenden anatomischen Voraussetzungen durch kallösen Knochen scheinen fließend. Eine Injektion zwischen regio 7 und 8 in jedem Quadranten sollte dennoch nicht in Betracht gezogen werden. Hinweise zur Kortikalisperforation Der „Tastunterschied per injectionem“ zwischen Knochen und Zahn lässt sich gut ermitteln. Das „Durchbruchsgefühl“ ist dabei von der Stärke des bukkalen kortikalen Knochens und der Dicke der Gingiva abhängig. Erfolgt bei der IO kein typischer „Durchbruch“ oder zeigt sich ein bedeuten- der Widerstand, sollte die Injektionsstelle verändert werden. Als typische Ursachen hierfür kommen in Betracht: · eine ausgeprägte kallöse Kortikalis, · eine stumpfe Nadel (vor allem nach mehrfachem Einsatz), · sowie – beim bezahnten Patienten – eine radikuläre Penetration. Die Gefahr einer rotationsbedingten Schädigung der Mukosa ist beim Anesto-System zwar durch die Schutzkappe deutlich reduziert, das Risiko einer epiperiostalen beziehungsweise submukosalen Hämatombildung mit konsekutiver Wundinfektion ist aber nicht gänzlich auszuschließen. Untersuchungsgegenstand und Untersuchungsansatz Während eines Beobachtungszeitraums von vier Jahren (1/2009 bis 12/2013) wurde an unserer Klinik die Wirksamkeit der intraossären Anästhesie als Primärtechnik oder in Kombination mit Infil- 2 3 BZB März 15 Wissenschaft und Fortbildung Abb. 5: Die Injektionsstelle nach Aufklappung Abb. 6 und 7: Erweiterungsbohrung gemäß geplanter Implantatrichtung und sofortige Implantation trationsanästhesien beziehungsweise Leitungsanästhesien bei zahnärztlichen und oralchirurgischen beziehungsweise implantologischen Eingriffen untersucht sowie die Handhabung des Anesto-Handstücks im klinischen Alltag geprüft (Abb. 5 bis 9). In die Untersuchung waren insgesamt 306 Patienten einbezogen, davon 144 Männer und 162 Frauen im Alter von 19 bis 65 Jahren und einem Altersdurchschnitt von 44 Jahren mit unterschiedlichen Beschwerden. Davon wurden 258 Patienten chirurgisch behandelt und mittels intraossärer Anästhesie betäubt, bei einigen Patienten sogar mehrere Regionen. Für oral- und kieferchirurgische Eingriffe wurde in der Regel vor der IO im Unterkiefer eine Leitungsanästhesie und im Oberkiefer eine Infiltrationsanästhesie durchgeführt. Als Anästhetikum wurden 1,7 Milliliter Karpulen mit dem Wirkstoff UltracainDS-Forte (1 : 100 000 Adrenalin, Sanofi Aventis/ Frankfurt am Main) verwendet. Die Eingriffe umfassten neben 20 parodontalchirurgischen Behandlungen 40 Extraktionen, 38 Osteotomien, 36 Wurzelspitzenresektionen und 102 Implantationen. Gefragt wurde nach einer allgemeinen Einschätzung zur Methode (Wiederempfehlung: Ja/Nein). Eine ergänzende Lokalanästhesie wurde ebenfalls notiert. Die Überprüfung der Schmerzausschaltung sowie die perioperative Dokumentation erfolgten durch Fragebögen (Visuelle Analog-Skala; VAS). Testergebnisse für Implantationen und Osteotomien Bei den implantatchirurgischen Eingriffen wurde die zusätzliche IO zur Nervblockade beziehungsweise Infiltrationsanästhesie von der Mehrheit der Befragten zu 100 Prozent als positiv geschildert. Der Einsatz der intraossären Anästhesie für die untere Frontzahnanästhesie wurde mit 70/30 Prozent favorisiert. Bei den Osteotomien ergab sich ein ähnlich positives Bild. Die zusätzliche IO zur Nervenblockade beziehungsweise Infiltrationsanästhesie wurde von der Mehrheit der Befragten zu 100 Prozent als positiv erlebt. Der Einsatz der IO in regio der oberen Molaren wurde mit 70/30 Prozent als positiv angegeben. Eine IO zur Betäubung der unteren Inzisivi wurde nicht durchgeführt. Interpretation der Ergebnisse für die IO in der Implantologie Bei zahnlosen Patienten variieren die Gingivabreiten erheblich. Je nach prothetischer Versorgung und dem Ausmaß einer vertikalen und transversalen Knochenatrophie kommt es zudem zur Einengung des Markraums. Letztlich kann damit nur wenig Anästhetikum injiziert werden, was den Zeitrahmen des operativen Eingriffs bei alleiniger intraossärer Anästhesie deutlich limitiert. Dies kann sich aber auch vorteilhaft für den Patienten darstellen. Dann nämlich, wenn es sich um einen kleinen und umschriebenen operativen Eingriff handelt. Beispielhaft sei hier die navigierte Implantation genannt. Aufgrund der exakten dreidimensionalen Vorplanung kann eine minimalinvasive Implantation mithilfe der intraossären Anästhesie auch minimal-anästhesiv durchgeführt werden. Bei ausreichendem Knochenangebot und entsprechender Vorplanung bietet dieses Vorgehen zudem drei weitere Vorteile: · Die intraossäre Instillation erlaubt erste Hinweise (Durchbruch) auf die Dicke der Kortikalis und hilft bei der Entscheidung, ob im Rahmen des weiteren Implantationsvorgangs der Einsatz von Krestalfräsen und Gewindeschneidern notwendig sein wird. Wissenschaft und Fortbildung Abb. 8: Mesiale/distale IO an einem Oberkieferprämolar vor Extraktion · Durch die Menge des injizierten Anästhetikums kann auf die Ausdehnung des Markraums geschlossen werden und – falls nicht im Vorfeld bereits festgelegt – die Entscheidung für das richtige Implantat (Tapered, Straight, Selfcutting tip etc.) optimiert werden. · Je nach Verwendung adrenerger Zusatzstoffe im Anästhetikum (in der Regel Adrenalin 1 : 100 000 bis 1 : 200 000) kann eine lokale Vasokonstriktion herbeigeführt werden. Diese „relative Blutsperre“ ist zunächst für den erfahrenen Operateur gewöhnungsbedürftig, erlaubt jedoch einen blutungsärmeren Eingriff. Zu beachten sind hierbei mögliche systemische Nebenwirkungen. Die IO als zusätzliches Instrument der Schmerzausschaltung Die IO ist als zusätzliches Instrument der Schmerzausschaltung 1976 von Pearce untersucht worden. Die vorliegenden Ergebnisse mit dem Anesto-Verfahren bestätigen seine Resultate als profunde Anästhesie, wodurch die Schmerzausschaltung in ungefähr 90 Prozent der Fälle für den unteren Molarenbereich verbessert wird (Nilius, 2012). Auch Dunbar et al. bewerteten 1992 die Ergebnisse einer experimentellen Studie, in der die Kombination von IO und Leitungsanästhesien verwendet wurde, als vorhersagbar gut und ohne Anästhesieversagen. Vergleichende aussagefähige Studien zur IO als alleiniger Anästhesieform liegen zurzeit vor allem für den zahnlosen Kiefer noch nicht in ausreichendem Maß vor. Da die Aussagefähigkeit der intraossären Anästhesie bei begleitender herkömmlicher Anästhesie eingeschränkt ist, wurde nach der Patientenzufrie- BZB März 15 Abb. 9: Sofortimplantation gemäß geplanter Implantatachse denheit gefragt. Für Osteotomien und Implantationen ergab sich zusammengefasst eine mit der Größe des Eingriffs konnotierte Bejahung der IO mit etwa 97,2 Prozent. Die Testergebnisse legen den Schluss nahe, dass die von den meisten Patienten subjektiv befürchtete Schmerzhaftigkeit während des Eingriffs mit der zusätzlichen Gabe einer IO deutlich reduziert und die IO als Erweiterung und Vertiefung der lokalen Schmerzausschaltung vor allem bei knochenchirurgischen Eingriffen vorteilhaft ist. Hervorzuheben ist, dass die Betäubung punktgenau im Kiefer wirkt und daher nur geringe Mengen des Anästhetikums benötigt werden. Das ist besonders bei Risikopatienten von Vorteil. Nichtsdestoweniger erfordert die Anwendung der IO im Vergleich zum allgemeinen Einsatz von Lokalanästhetika besondere Kenntnisse, vor allem über die individuellen anatomischen Strukturen des Patienten. Es ist daher unabdingbar, vor der Behandlung ein Röntgenbild anzufertigen. Die Entscheidung, ob die intraossäre Anästhesie für den geplanten Eingriff unter Berücksichtigung aller möglichen Risiken geeignet beziehungsweise für den Patienten von Vorteil ist, obliegt letztendlich immer der Sachkunde und dem Geschick des Behandlers. Korrespondenzadresse: Dr. Dr. Manfred Nilius, MSc. Niliusklinik Londoner Bogen 6 44269 Dortmund Telefon: 0231 47644764 [email protected] www.niliusklinik.de Literatur beim Verfasser 4