Hans Medick Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichtsphilosophie und Sozialwissenschaft bei Samuel Pufendorf, John Locke und Adam Smith Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Band 5 Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 5 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35955-7 KRITISCHE STUDIEN ZUR GESCHICHTSWISSENSCHAFT Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Christoph Schröder, Hans-Ulrich Wehler Band 5 Hans Medick Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft G Ö T T I N G E N · V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T · 1973 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35955-7 Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichtsphilosophie und Sozialwissenschaft bei Samuel Pufendorf, John Locke und Adam Smith VON HANS MEDICK GÖTTINGEN · VANDENHOECK & RUPRECHT © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35955-7 1973 ISBN 3-525-35955-1 Umschlag: Peter Kohlhase © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1973. - Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. - Satz und Druck: Guide-Druck, Tübingen. Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35955-7 MEINER MUTTER DEM ANDENKEN MEINES VATERS © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35955-7 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35955-7 Vorwort Die vorliegende Arbeit entstand als Folge eines Lernprozesses im Spannungsfeld von Geschichte und Sozialwissenschaft, Aufklärung, Universität und Gesellschaft. Interesse an englischer Kultur und Geschichte führte zur schottischen Aufklärung und den in ihr multiplizierten und verdichteten aktuellen Erfahrungen. Mehrere Forschungsaufenthalte in Bibliotheken und Archiven, welche die konkrete Gedankenarbeit freilich nicht zu ersetzen vermochten, konzentrierten das Interesse auf die Tradition der anglo-schottischen Sozialwissenschaften, die im Regreß von John Miliar über Adam Ferguson zu Adam Smith, zurück zu John Locke und Samuel Pufendorf verfolgt wurde. Erst am Ende erwies sich Smith als „Newton der Sozialwissenschaften“. Danken möchte ich ganz besonders Professor Dr. Kurt Kluxen, für zahlreiche Gespräche, mit denen er mein Interesse an der angelsächsischen politischen Kultur förderte und diese Arbeit in Kommunikation und Reflexion weiterbrachte. Für langjährige Gesprächsbereitschaft und Kritik, die über das Thema der Arbeit weit hinausging, danke ich Kurt Lenk, Manfred Riedel und Hans-Ulrich Wehler. „Intellectual indebtedness“ steht bei Hans Aarsleff, George Nadel und Jacob Viner (†). Schließlich danke ich meinen Kollegen Werner Boldt, Wolfgang Kreutzberger und Jürgen Sandweg für die gemeinsame Suche nach neuen Wegen. Meiner Frau danke ich für große Hilfe, die ich auf diesen Wegen fand. Die Arbeit wurde in veränderter Fassung am 25. August 1971 von der Philosophischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg als Dissertation angenommen. Am 10. Juli 1972 wurde ihr der Fakultätspreis für das akademische Jahr 1971/72 zugesprochen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35955-7 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35955-7 Inhalt Vorwort 7 I. Einleitung 13 IL Naturzustand und bürgerliche Gesellschaft. Die methodische, anthropologiscne und sozio-historische Relevanz des Naturzustandstheorems in der neuzeitlichen Naturrechtsphilosophie · · 30 III. Das Naturzustandstheorem als Fundamentalkategorie in der Sozialtheorie und Geschichtsphilosophie Samuel Pufendorfs · 40 IV. Anthropologie, Naturzustand und politische Theorie bei John Locke: Die geschichts- und sozialphilosophische Dimension der „Two Treatises of Government“ 64 1. Problemansatz 64 2. Lockes Analyse der Motivation menschlichen Handelns . . . . 69 3. Das Naturrecht auf Eigentum und das Eigentum am Naturrecht: „Property“ a) Materielle Existenz und moralische Autonomie: Die Zuordnung der dinglichen und persönlichen Komponenten im Lockeschen „Property“-Begriff und die Begründung des Eigentums als Naturrecht b) Die spezifische Arbeitslegitimation des Eigentums: Produktive Arbeit und technisch-innovatorische Rationalität als Triebkraft des Fortschritts und Rechtfertigung des Eigentums . . . . 4. Der Naturzustand der institutionsfreien Gesellschaft und die Legitimationsproblematik des bürgerlichen Rechts- und Gesetzesstaats a) Die Darstellung der Lockeschen Naturzustandsauffassung in der Forschung b) Normativer Naturzustand („properly the State of nature“) und empirischer Naturzustand („ordinary state of nature“) als theoretische Muster des idealen gesellschaftlichen Rechtszustands und der normalen Sozialbeziehung c) Naturzustand der „Gesellschaft“ und „Civil Society“: Die Legitimation des bürgerlichen Rechts- und Gesetzesstaats als © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35955-7 75 75 87 98 98 102 10 Inhalt der Vermittlungsinstanz zwischen Norm und „gesellschaftlicher“ Wirklichkeit des Naturrechts 5. Die geschichtsphilosophische Dimension der politischen Theorie Lockes a) Die Auseinandersetzung mit Sir Robert Filmers patriarchalischer Weltgeschichte b) John Locke als Geschichtstheoretiker c) Lockes Naturgeschichte der Gesellschafts- und Herrschaftsformen V. Die geschichtsphilosophische Transformation des rationalen Naturrechts und die naturrechtliche Intention der aufklärenden Geschichtsphilosophie: Die „Natural History of Society“ im Rahmen der anglo-schottischen Moralphilosophie und Sozialwissenschaft des 18. Jahrhunderts 1. Problemgeschichtlicher Überblick 2. Dugald Stewarts Bericht über die Emanzipation der „Natural History“ aus der Tradition des rationalen Naturrechts . . . . 3. Das Verhältnis von Fortschritt und gesellschaftlicher Aufklärung in der „Natural History“ VI. Adam Smith als Pionier der Sozialwissenschaft und Geschichtsphilosophie der schottischen Aufklärung 108 116 116 120 126 134 135 145 151 171 1. Das „Adam-Smith-Problem“ 171 2. Sozialwissenschaftliches System und soziale Einzelwissenschaften: Die Emanzipation der Soziologie, Ökonomie und politischen Wissenschaft aus der schottischen Naturrechtstradition 180 3. Adam Smith als Vertreter der „Theoretical History“ 189 . . . . 4. Adam Smiths Theorie sozialen Handelns 206 a) Sozialisation und Individuation: Die soziale Lerntheorie der „Theory of Moral Sentiments“ 206 b) „Prudence“, „Justice“ und „Benevolence“ als realsoziologische Tugenden und normative Kriterien der notwendigen, hinreichenden und optimalen Existenzbedingungen der aufgeklärten „bürgerlichen Gesellschaft“ 221 c) Adam Smiths Programm einer historischen Sozialwissenschaft auf naturrechtlicher Basis 242 5. Normative Naturgeschichte und depravierte empirische Geschichte: Adam Smiths Geschichtsphilosophie im Spannungsfeld zwi© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35955-7 Inhalt schen normativer Abstraktion, sozialwissenschaftlicher Empirie und praktischer Aufklärungsintention a) Grundstrukturen der Smithschen Geschichtsphilosophie . . . b) Jägergesellschaft und Nomadengesellschaft: Die historische Genesis des Privateigentums und die Institutionalisierung politischer Herrschaft c) „Revolution of the Greatest Importance to the Public Happiness“: Der Wandel von der mittelalterlichen Agrargesellschaft zur „Civilized Society“ d) Adam Smiths aufklärende Kritik seiner zeitgenössischen Gesellschaft 11 249 249 257 262 275 Exkurs I: Zur Geschichte der Naturrechtsrezeption an den schottischen Universitäten des 18. Jahrhunderts 296 Exkurs II: Die methodologische Konzeption der „Natural History“ als „Conjectural History“ 305 Verzeichnis der benutzten Literatur I. Quellen II. Darstellungen 314 314 316 Abkürzungsverzeichnis 326 Personenregister 327 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35955-7 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35955-7 I. Einleitung Die Entstehungsgeschichte der modernen Sozialwissenschaften erscheint im Vergleich zur Geschichte der Naturwissenschaften und Technik verhältnismäßig wenig erforscht. Es muß als paradox, wenn auch keineswegs als unerklärlich erscheinen, daß den Arbeiten von T. S. Kuhn1, J . Mittelstraß2, G. Buchdahl3 und einer Vielzahl anderer Untersuchungen zur Geschichte der Naturwissenschaften und Technik zwar verdienstvolle Gesamtdarstellungen der Geschichte der politischen Theorie sowie der Dogmen- und Problemgeschichte sozialwissenschaftlicher Einzeldisziplinen gegenüberzustellen sind, diese Arbeiten über eine positivistische Aneignung der „reinen“ Wissenschaftsgeschichte meist jedoch nicht hinausgehen. In dem Maße, in dem die modernen Sozialwissenschaften durch ihre Konstitutierung als empirisch-analytische Erfahrungs- und Gesetzeswissenschaften einer jeweils für gegenwärtig gehaltenen Gesellschaft ein unproblematisches Verhältnis zur Geschichte gewonnen haben, verdrängten sie auch das Verhältnis zu ihrer eigenen Geschichte weitgehend aus ihrem Bewußtsein. Entgegen den begründeten Forderungen maßgebender Theoretiker4 erscheint die faktische Enthistorisierung der Sozialwissenschaften heute auch in dem Sinne fast vollkommen, daß die Problem-, Dogmen- und Theoriegeschichte kaum als legitimer Zugang zur Wissenschaft selbst betrachtet wird. Die Möglichkeit einer reflektierten Aneignung der wissenschaftlichen Tradition, sei es im Sinne der produktiven Anwendung eines historisch brachliegenden Reflexions- und Aufklärungspotentials, sei es im Sinne einer historisch vermittelten Erfolgskontrolle der eigenen systematisch-theoretischen oder forschungspraktischen Intentionen bleibt weitgehend ungenutzt. 1 T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt 1967 (1962); dass. erweitert in der 2. engl. Aufl. als The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 19702; vgl. ders., The Relations between History and the History of Science, in: Daedalus. Journal of the American Academy of Arts and Sciences. Frühjahr 1971: The Historian and the World of the Twentieth Century, Cambridge (Mass.) 1971, 271 ff. 2 J . Mittelstraß, Neuzeit und Aufklärung. Studien zur Entstehung der Neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie, Berlin—New York 1970. 3 G. Buchdahl, Metaphysics and the Philosophy of Science. The Classical OriginsDescartes to Kant, Oxford 1969. 4 J . Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften (Philosophische Rundschau, Beiheft 5), Tübingen 1967 (dass. auch Frankfurt 19702) und ders., Kritische und konservative Aufgaben der Soziologie, in: ders., Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien (1963), Frankfurt 19714, 290 ff., bes. 303 f., aber auch T. Parsons, The Struc- © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35955-7 14 Einleitung Angesichts dieses Mangels, welcher auch die Konfliktkonstellation des gegenwärtigen wissenschaftstheoretischen Schismas zwischen Dialektikern und Positivisten 5 weitgehend bestimmt, ohne bisher in der Forschungspraxis eine positive Aufhebung erfahren zu haben, eröffnen sich auch hier neue ungenutzte Möglichkeiten für die Zusammenarbeit der Sozial- und Geschichtswissenschaften. Gerade am Gegenstand einer Geschichte der Sozialwissenschaften wäre eine Forschungssituation denkbar, in welcher die historische Technik der sozialwissenschaftlichen Theorie ebenso zu Hilfe kommt wie die historische Theorie der sozialwissenschaftlichen Technik und gerade letztere hierdurch ein neues Interesse an ihrer ursprünglichen Integration in den Rahmen einer historisch aufklärenden Gesellschaftstheorie in praktischer Absicht gewinnt. Für den sozialwissenschaftlich interessierten Historiker bietet sich hier die Möglichkeit, Geschichte in dem Sinne produktiv zu machen, daß er sie der Musealisierung und fremdbestimmten Verwertung als eines bloßen „Organs geistiger Kompensation“ (J. Ritter) entzieht und — in einem Versuch der reflektierten Selbstbestimmung — mit Hilfe der tradierten Forschungs-, Erkenntnisund Interpretationstechniken der historischen Wissenschaften, die als reine „Techniken“ unverzichtbar bleiben, einen Beitrag zur historisch-sozialwissenschaftlichen Aufklärung der Gegenwart leistet. In den einschlägigen Darstellungen 6 blieb ein für jede Geschichte der Sozialwissenschaften grundlegendes methodisches Problem bisher weitgehend unbeachtet, das sich daraus ergibt, daß nicht nur die Sozialwissenschaft selbst, sondern auch ihr Gegenstand eine eigene Geschichte hat. Die von Habermas hervorgehobene methodologisch und theoretisch folgenreiche Interdependenz der sozialwissenschaftlichen Forschung und des objektiven Zusammenhangs, auf den sie sich richtet und dem sie angehört 7 , wird auch in eine Geschichte der Sozialwissenschaften als zentrale Fragestellung eingebracht werden müssen. ture of Social Action. Α Study in Social Theory with Special Reference to a Group of Recent European Writers (1937), 2 Bde., New York — London 19683. 5 Zur geschichtstheoretischen Problematik der Kontroverse s. H. Baier, Soziologie und Geschichte, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 52. 1966, 67 ff.; im wesentlichen identisch ders., Soziale Technologie oder soziale Emanzipation? Zum Streit zwischen Positivisten und Dialektikern über die Aufgaben der Soziologie, in: B. Schäfers Hg., Thesen zur Kritik der Soziologie, Frankfurt 1969, 9 ff. und J . Habermas, Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik. Ein Nachtrag zur Kontroverse zwischen Popper und Adorno (1963), in: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied—Berlin 1969, 155 ff. 6 Als Musterbeispiel s. die als „reine“ Wissenschafts- und Problemgeschichte hervorragende Arbeit von J . A. Schumpeter, Geschichte der ökonomischen Analyse, 2 Bde., Göttingen 1965 (1955); bes. aufschlußreich — in negativer Hinsicht — zum hier angesprochenen Zusammenhang Bd. I, Kap. IV: Soziologie der Wirtschaftswissenschaft, ebda., 68 ff.; vgl. auch die kurze Problemgeschichte von D. Winch, The Emergence of Economics as a Science 1750—1870, in: C. M. Cipolla Hg., The Fontana Economic History of Europe, III: The Industrial Revolution 1700—1914, London 1971, Kap. 9 auch als selbständige Abhandlung London 1971). 7 J . Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, 19 ff. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35955-7