Was bleibt von uns ? Wie die moderne Archäologie den Spuren der Menschheit folgt – von der Schleuder bis zur Berliner Mauer DIEZEIT DIE ZEIT auf dem iPad www.zeit.de/apps Mit 3 Seiten ZEIT für die Schweiz PREIS SCHWEIZ 7.30 CHF WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR 26. FEBRUAR 2015 No 9 ZEIT : Schweiz Titelbild: Smetek für DIE ZEIT, verwendete Fotos: Mauritius; Bridgeman Was bleibt von uns ? Wahlen 2015: Die neue Mitte kämpft um ihre Zukunft Wie die moderne Archäologie den Spuren der Menschheit folgt – von der Schleuder bis zur Berliner Mauer Seite 12/13 40 Seiten Extra in der ZEIT IMPFPFLICHT? TERROR GEGEN CHRISTEN Lebensgefährlich Vor aller Augen Der Widerstand gegen das Impfen ist unverantwortlich. Masern sind keine harmlose Kinderkrankheit VON JAN SCHWEITZER M an kann es sich leicht machen und einfach nichts tun. Sein Kind nicht gegen die Masern impfen lassen. Weil die Infektion selten ist. Da passiert schon nichts. Das ist bequem. Und gefährlich. Das Beispiel Berlin zeigt, welches Ausmaß eine vermeintlich harmlose Kinderkrankheit annehmen kann. Mehr als 570 Masern-Fälle wurden aus der Hauptstadt gemeldet. Schon ist das erste Kind, ein eineinhalbjähriger Junge, gestorben, er war nicht gegen die hoch ansteckende Viruserkrankung geimpft. Und nun beginnen die Diskussionen: um die Verantwortung derjenigen, die sich nicht impfen lassen; um die Sicherheit der Impfung; um die richtige Aufklärung. Es ist wie alle Jahre wieder, wenn es zu einem größeren Ausbruch kommt. Mit einem Unterschied: Dieses Mal fordern mehr Experten als je zuvor eine Impfpflicht. Ihre Geduld scheint am Ende zu sein. Aber kann der Staat, darf er die Bürger dazu verpflichten, sich und ihre Kinder impfen zu lassen? Darf er dafür ein so hohes Gut wie die Freiheit und die körperliche Unversehrtheit des Einzelnen beschränken? Keine Impfung – kein Kindergarten. Das wäre ein erster Schritt Die Impfung ist eine besondere Art von Medizin. Gesunde Kinder werden gegen eine Infektion geschützt, die wenig wahrscheinlich ist. Dafür werden sie einem Risiko ausgesetzt, dessen Eintreten zwar noch deutlich unwahrscheinlicher ist, aber nicht geleugnet werden kann. All das wird auch getan, um einen möglichen Schaden für die Gesellschaft abzuwenden. Wer sein Kind impfen lässt, tut also auch etwas für andere. Gut, wenn das aus Vernunft passiert. Nur verlassen können wir uns darauf nicht. Aber kann der Staat die Zögerlichen tatsächlich zwingen? Ja, er kann. Denn Masern sind kein harmloses Leiden, wie es das Wort »Kinderkrankheit« suggerieren mag. An Masern sterben Menschen, etwa einer von tausend Erkrankten. Diese Todesfälle kann man leicht verhindern. Und deswegen gilt: Jedes tote Kind ist eines zu viel. Man sollte sogar hinzufügen: Jeder Kranke ist einer zu viel. Jede schmerzhafte Mittelohrentzündung, die häufig einer Masernerkrankung folgt; jede Lungenentzündung; jede Entzündung des Gehirns. All das müsste nicht sein. Eine Impfung stoppt die Masern wirksam und schonend. Ernsthafte Komplikationen löst eine Impfung so viel seltener aus als eine Erkrankung, dass der Nutzen eindeutig erwiesen ist und von niemandem infrage gestellt wird, der wissenschaftliche Tatsachen anerkennt. All diese Fakten sind seit Jahrzehnten bekannt – und es hat sich nichts geändert. Deswegen ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, sich einzugestehen, dass Appelle an die Vernunft und das Ver- breiten von Informationen allein nicht mehr reichen. All die überzeugenden Argumente für eine Impfung wurden schon vor zwei, fünf, zehn oder fünfzehn Jahren verkündet, diskutiert, geschrieben. Immer dann, wenn es zu einem Masern-Ausbruch kam. Man kann Berlin durch Coburg oder Duisburg ersetzen – Orte, in denen die Masern in den letzten Jahren ebenfalls auf­ flackerten. Man kann den Namen des Bundesgesundheitsministers Gröhe durch Bahr oder Schmidt ersetzen – ihre Mahnungen klangen immer gleich. Trotz aller Aufklärung sind immer noch zu wenige Menschen geimpft. Es kommt immer noch und immer wieder zu Masern-Ausbrüchen mit Schwerkranken und Toten. Die Bundesregierung hat den Misserfolg ihrer Impfkampagne schon eingestanden – ins­geheim zumindest. Ursprünglich sollten die Masern in Deutschland 2010 ausgerottet sein, dazu hatte sie sich gegenüber der Weltgesundheitsorganisation verpflichtet. Als neues Ziel wurde 2015 genannt, da sollte die Kinderkrankheit nun wirklich besiegt sein. Jetzt wird die Regierung wieder einen Misserfolg eingestehen müssen. Welches Jahr wird sie sich als neues Ziel setzen? Und wie will sie es diesmal erreichen? Geredet wurde genug, nur geimpft nicht. Weitere Diskussionen mit Impfgegnern sind müßig – die lassen sich ohnehin nicht überzeugen. Der Staat muss die Menschen jetzt verpflichten. Am besten auf sanftem Wege: Keine Impfung – kein Kindergartenbesuch, das wäre ein erster, wichtiger Schritt. Denn im Kindergarten sind die Kinder im besten Impfalter – und hier haben sie engen Kontakt zu anderen Kindern. Eine Zwangsmaßnahme? Nein, ein Gesellschaftsvertrag. Wer die Vorzüge eine Kinder­ betreuung in Anspruch nehmen will, darf nicht die Gesundheit vieler fahrlässig gefährden. Man kann nicht von jedem verlangen, dass er um die Gefährlichkeit der Masern weiß. Aber so wird diese Bedeutung erfahrbar. Entscheidend ist, dass die Kinderärzte mitziehen. Sie können sich an ihren Ärztepräsidenten halten, der sagte, dass »aus medizinischen Gründen alles für eine solche Pflicht« spreche. Sie müssen diejenigen impfen, die geimpft werden können – am besten die Eltern gleich mit. Ärzte, die gegen jedes bessere Wissen von der Spritze abraten, sich vielleicht sogar weigern zu impfen, müssen standesrechtlich und strafrechtlich belangt werden. Denn die Freiheit in der Wahl der Therapie, die Ärzten zusteht, bedeutet nicht, dass sie gegen jeglichen wissenschaftlichen Kenntnisstand Menschenleben gefährden dürfen. Diese Maßnahmen könnten den nächsten Schritt überflüssig machen: die unpopuläre und vielleicht unsanfte Maßnahme eines umfassenden Impfzwangs. www.zeit.de/audio Das Ende der Nacktheit Die Deutschen im Tattoo-Wahn Feuilleton, Seite 55 Der »Islamische Staat« mordet weiter – und der Westen überlegt, was er alles falsch gemacht hat VON EVELYN FINGER Helmut Schmidt: Was ich noch zu sagen hätte Ein Vorabdruck aus seinem neuen Buch J Warum aber hatten diese so leichtes Spiel? Die Frage betrifft nicht die Kurden und nicht die syrischen Regierungstruppen, die nun versuchen, die Dörfer am Chabur zurückzuerobern, sondern die internationale Staatengemeinschaft. Warum gibt es keine UN-Schutztruppen für Flüchtlinge und potenzielle Opfer des IS im Nordirak und in Syrien? Warum gibt es darüber nicht einmal eine ernsthafte Debatte im Sicherheitsrat? Warum sind es bislang hauptsächlich die Hilfsorganisationen und die christlichen Kirchen, die händeringend eine humanitäre Intervention fordern, um wenigstens die über­ lebenden Opfer zu schützen? Doch die Vereinten Nationen überließen es den Amerikanern, durch Luftschläge die kurdischen Peschmerga gegen den IS zu unterstützen. Und die Deutschen diskutierten so lange über Was heißt martern: Wer wollte das Waffenlieferungen, bis der IS sein Zerstörungsso genau wissen? werk schon fast vollendet hatte. Nun erwägen die Amerikaner, die irakische »Martern«, sagten die Augenzeugen, die es bis in die Gebietshauptstadt Hassaka schafften. Und Regierung bei der Rückeroberung Mossuls, der die Helfer in der dortigen Kirche, in der die Ver- Hochburg des IS, zu unterstützen. Das ist nicht triebenen erste Zuflucht fanden, gaben das Wort nur ein politisches Risiko – denn die ohnehin Dienstagfrüh durch knisternde, überlastete Tele- nicht widerständige Bevölkerung der Stadt fonleitungen weiter. Was aber heißt martern: könnte sich vollends mit dem IS solidarisieren, Erschießen? Köpfen? Kreuzigen? Wer wollte das gegen die verhassten USA. Es ist auch eine Bankso genau wissen? Wer wusste schon, wo Hassaka rotterklärung für die UN, die sich vor ihrer überhaupt liegt? Jetzt wissen wir es. Und in Schutzverantwortung drücken. Und was tun die Europäer? Sie diskutieren Wahrheit hätten wir es längst wissen müssen, denn die Region gehört zum Kerngebiet des über die Integration reuiger IS-Heimkehrer. Sie künftigen »Islamischen Staates«, dessen Anhän- führen einen leidenschaftlichen Streit zur Frage, ger schon im vergangenen Sommer eine Karte ob der Islam zu Europa gehöre. Sie drücken sich davor, die Gefahr des islamistischen Terrors im ihres Traumkalifats veröffentlichten. Auf dieser geografischen und ideologischen Gewand des IS anzuerkennen und den Opfern im Karte war das weltweite Christentum als ein Irak und Syrien zu helfen. Vielleicht weil der radiwichtiges Feindbild deutlich eingezeichnet. Und kale Vernichtungswille der Terroristen uns mit seitdem die irakische Millionenstadt Mossul der Achillesferse des Liberalismus konfrontiert. Anders als der IS denken demokratische Parchristenfrei gemacht wurde, innerhalb zweier Feind-­ Tage im Juli 2014, war klar, dass die syrischen lamente nicht in archaischen Freund-­ und irakischen Christen in akuter Lebensgefahr Kategorien. Sie sind politisch auf Toleranz und schwebten – zumal die Assyrer, die zu den ältes- Versöhnung fixiert, wie also sollen sie einem unten christlichen Gemeinden Kleinasiens zählen. versöhnlichen Feind begegnen? Jordanien hat Man nennt sie auch Aramäer, denn einige auf die Gräuel des IS mit Vergeltungsaktionen sprechen bis heute Aramäisch, die Sprache Jesu. reagiert. Wir Europäer, und das gehört auch zum Diese Glaubensgemeinschaft steht für das christ- christlichen, zum humanistischen Erbe, wollen liche Erbe im Nahen Osten. Auch deshalb atta- den Kreislauf der Gewalt unterbrechen. Wir suckiert der IS sie nun, um klarzumachen: Das chen den Fehler, die Ursachen des Terrors also, gern bei uns, etwa in einer verfehlten Integra­ Christentum gehört nicht zum Kalifat! Die heutigen aramäischen Christen leben im tions­po­li­tik, die junge Muslime in den Dschihad Irak, in Syrien, im Iran, im Libanon und in der treibe. Das mag auch richtig sein, aber es ist geTürkei. Ironie der Geschichte, dass vor genau wiss nicht die einzige Erklärung. Und es ist vor 100 Jahren die Aramäer, genau wie die Armenier, allem noch keine Hilfe für all die Menschen, die einen Genozid durch die osmanischen Jung­ das Kalifat zu Feinden erklärt hat. Zuerst sollten wir uns das Ausmaß der uns ertürken erlitten. Überlebende siedelten sich genau in jenem letzten Winkel Syriens nahe der tür­ klärten Feindschaft eingestehen. Denn wenn der kischen Grenze an, den der IS jetzt angriff. Dort IS »Christen« sagt, meint er nicht nur die jüngst reihen sich 35 assyrische Dörfer dicht an dicht in Libyen hingerichteten Kopten, nicht nur die entlang des Chabur auf. Dass der Fluss im­ Aramäer, sondern, wie es in einer IS-Gräuel­ Februar Hochwasser führt, war am vergangenen botschaft hieß: die »Nation des Kreuzes«. In der Montag die Rettung für viele Bewohner des Logik des Dschihad: den gesamten Westen. nördlichen Ufers, als die schwarz vermummten www.zeit.de/audio Mördertruppen auftauchten. etzt ist die Armee des Hasses also auch über die kleinen Dörfer am Fluss Chabur hergefallen. Die Mörder kamen früh um vier, auf einer Frontlinie von 40 Kilometern, und wo sie nicht durchmarschieren konnten, umzingelten sie die Dörfer im Nordosten Syriens. Sie schlugen innerhalb von Stunden Tausende assyrische Christen in die Flucht; sie nahmen über hundert Familien gefangen, dazu vierzehn Jugendliche – zwölf Jungen und zwei Mädchen –, die das Dorf Tel Hormizid verteidigt hatten, sie machten Jagd auf fliehende Männer, die sie von ihren Frauen und Kindern trennten, und, um hier wenigstens einen der Toten namentlich zu erwähnen: Sie marterten den 17-jährigen Milad Sami Adam aus Tel Bas. Politik, Seite 6 PROMINENT IGNORIERT Eine echte Strafe Im mexikanischen Bundesstaat Sinaloa hat eine 33-jährige Frau während einer Kinovorführung des Films Fifty Shades of Grey derart leidenschaftlich masturbiert, dass Zuschauer die Polizei riefen. Die Lust an der Unterwerfung, die der Film feiert, wird der Dame, als sie abgeführt wurde, womöglich vergangen sein. Übereinstimmend berichten Zeugen, der Vorfall habe sich in Reihe zwölf ereignet. Die Welt steckt voller Rätsel. GRN. Kleine Fotos (v.o.): Daniel Winkler/13 Photo; Ralf Mitsch; action press ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de; ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg Telefon 040 / 32 80 ‑ 0; E-Mail: [email protected], [email protected] Abonnement Österreich, Schweiz, restliches Ausland DIE ZEIT Leserservice, 20080 Hamburg, Deutschland Telefon: +49-40 / 42 23 70 70 Fax: +49-40 / 42 23 70 90 E-Mail: [email protected] o N9 7 0. J A H RG A N G CH C 7451 C 4 190745 104500 09