DIE PATIENTENZENTRIERTE ZIMMERVISITE Möglichkeiten eines differenzierten Diagnostik- und Therapieinstruments (zur Facharztweiterbildung von ÄrztInnen und PsychotherapiepatientInnen) Geschichte der Visite: Die abendländische Antike kannte keine Krankenhäuser. Die Priesterärzte und Arztphilosophen behandelten ambulant (Ausnahme: Der Tempelschlaf der Asklepiaden). Erst in der Zeit der griechischen Medizin (500 v. Chr. - 500 n. Chr.) entwickelten sich Iatreien (kleine Privatkliniken in Arzthäusern) und Asklepieien (dem Gott der Heilkunst geweihte kleinere Krankenanstalten). Für die römischen Soldaten und Sklaven gab es gesonderte Behandlungsstätten (Valetudinarien). Die Großkrankenhäuser entwickelten sich erst um 500 bis 600 n. Chr. aus den Armen- und Pflegehäusern (Xenodochien, Nosokomeien). 1136 wurde in Konstantinopel beim Männerkloster Pantokrator ein vorbildliches Krankenhaus eingerichtet, in dem auf kaiserliche Anordnung hin sogar täglich ärztliche Visiten stattfanden. Kaiser Johannes II. bestimmte in den Statuten des Krankenhauses: "Der Arzt soll Kranke...mit ganzer Seele behandeln." In den Großkrankenhäusern des Johanniterordens („Unsere Herren, die Kranken“) waren zwei ärztliche Visiten pro Tag üblich. 1181 hatte das Jerusalemer Johanniter-Hospital 2000 Betten, später wurde es bis auf 3000 Betten erweitert. Ab 1145 wurden ausgehend von Montpellier in ganz Europa Heilig-Geist-Hospitäler gegründet. Trotz der schlechten Erfahrungen mit dem Pariser Hotel Dieu (3000-4000 Patienten, katastrophale hygienische Verhältnisse, hohe Sterblichkeit der Patienten) wurde 1784 das Wiener Allgemeine Krankenhaus fertiggestellt. Dort waren ebenfalls tägliche ärztlichen Visiten zur Ausbildung der Studierenden üblich. Visitenforschung: "Visitatio" bedeutet im Lateinischen sowohl Besuch als auch Heimsuchung. La visite ist im Französischen der (kurze ärztliche) Besuch, die Besichtigung, Durchsuchung Überprüfung. Die ärztliche Visite hatte von der sprachlichen Bedeutung her also schon immer etwas von einer hochnotpeinlichen Befragung an sich. 1970 fand SIEGRIST, dass die chirurgische Visite nur "eine knappe Minute pro Patient und Tag" dauerte - und das in einem Klima ängstlicher Erwartung! 1976 fanden JÄHRIG und KOCH in einem großen Hamburger Krankenhaus: Die durchschnittliche Visitendauer betrug 3,5 min. "In dieser Zeit spricht der Arzt ca 2 Minuten, allerdings nur 40 Sekunden direkt mit dem Patienten... Der ärztlichen Dominanz in der Visitenkommunikation entspricht auch die Tatsache, dass der Arzt im Mittel 6 überwiegend direktive Fragen, der Patient jedoch nur 1 Frage pro Visite stellt." SIEGRIST beschreibt vier Typen asymmetrischer Verbalhandlungen: "Adressaten- und Themenwechsel, funktionale Unsicherheit und Beziehungskommentar", außerdem das Nicht-zu Wortkommen-Lassen, der gezielte Wortabbruch, Zynismus, Ironie, Beleidigungen, Nachahmungen, Suggestionen, Stereotypien, oberflächlicher Zuspruch, Etikettierung des Patienten mit seiner Diagnose, Floskeln, Füllwörter und trivial-legere Formulierungen. Die Kunst der Einzelvisite bzw. Zimmervisite wird nur selten gelehrt. Die Literatur darüber ist spärlich. Meist wird die Visite von allen Beteiligten als lästige Pflichtübung erlitten. Erstaunlich einheitlich sind andererseits die Abwehrstrategien und die Dynamik der üblichen krankheitszentrierten Visite: Konflikt zwischen medizinischen Routineaufgaben des Arztes und den Informationsbedürfnissen des Patienten (der Arzt siegt meist 6:1!), kommunikative Asymmetrie der Arzt-Patienten-Beziehung im verbalen und averbalen Bereich (Gespräch über den Patienten hinweg, erzwungene Passivität, Entwertung der Initiativen des Patienten). Fazit: Ärzte sind bei der üblichen krankheitszentrierten Visite unhöfliche "Besucher"! Die krankheitszentrierte Visite: M. von RAD beklagte 1984 in einer Rezension die "insgesamt doch erschreckend trostlose Einseitigkeit des Visitengespräches". Folgerichtigerweise wurde die übliche Visite in vielen psychotherapeutisch arbeitenden Kliniken ersatzlos gestrichen oder durch eine Kliniksprechstunde ersetzt. Dabei kann die Visite, erst recht die patientenzentrierte Zimmervisite ein differenziertes und wirksames Diagnose- und Therapieinstrument im therapeutischen Angebot einer Klinik sein, in der sich therapeutische Situationen abgestufter Intimität und Intensität zu einem mehrdimensionalen Kontinuum verbinden. Die Intimität der Klinik-Visite gegenüber einer KlinikSprechstunde wird aus der Sicht der Patienten dadurch noch erhöht, dass die Therapeuten den Patienten aufsuchen, ihn "besuchen". Deshalb legen die Patienten oft mehr Wert auf die Visite als die Ärzte und bereiten sich manchmal gründlich unter Zittern und Zagen darauf vor. Die Ärzte gehen möglicherweise auch deswegen unlustig an diese Besuchstour heran ("Na gut, dann machen wir noch schnell Visite!") weil sie viel egoistische Unhöflichkeiten beinhaltet - und wer ist schon gern so oft so unhöflich, wie Ärzte bei der Visite! Visite ist "verhinderter Dialog" (BLIESENER). Die patientenzentrierte Zimmervisite: Sie ist eine Hildesheimer Spezialität, d.h. sie wurde im Psychotherapiebereich des Nieders. LKH Hildesheim entwickelt. "Patientenzentriert" im Gegensatz zu krankheitszentriert ist im Sinne Michael BALINTs gemeint. Zimmervisite meint im Gegensatz zur Einzelvisite, dass das Binnenklima, die Ausstrahlung des Zimmers bewusst zur Einstimmung auf die Innenwelt des Patienten benutzt wird (s.u.). Die patientenzentrierte Zimmervisite soll einerseits ein Teamgespräch für die Patienten sein, der Ort, an dem alles für sie zusammenläuft, andererseits kann sie Verlängerung der Gruppenerfahrung, Arbeit am Konflikt, am Widerstand und an der Übertragung sein. Sie dient gleichzeitig oder alternierend der Diagnostik und der Therapie. Setting, Haltung und Interventionstechnik müssen für diese Ziele geändert werden. Dazu gehört z.B. auch, dass mitmenschliche Selbstverständlichkeiten beachtet werden. Z.B. ist die Intimsphäre der Patienten im Krankenhaus ohnehin sehr eingeschränkt. Noch nicht einmal sein Bett ist eine unangetastete Rückzugsmöglichkeit. Jeder, der will, kann in sein Zimmer eindringen. Zur Achtung vor den Bedürfnissen des Patienten gehört deshalb auch, dass alle Klinikmitarbeiter, auch die leitenden Ärzte, klopfend vor der Zimmertür verharren. Intimität und Gemeinsamkeit: Wir unterscheiden im Psychotherapiebereich unserer Klinik zwischen der "kleinen" patientenzentrierten Einzelvisite und der gemeinsamen patientenzentrierten Zimmervisite. Bei der intimeren kleinen Einzelvisite kommen nur die Bezugstherapeuten "zu Besuch", d.h. Gruppenleiter(in) und Pflegepersonal. Die "große" Zimmervisite findet einmal in der Woche mit allen Mitarbeitern der Station, d.h. auch mit dem leitenden Arzt, statt. Dieser "große Bahnhof" ist aus Gründen der Koordination, der Weiterbildung und der Supervision notwendig. Außerdem kann sie für den Patienten eine "parts party" nach V. SATYR sein, ein Treffen der durch Spaltung dissoziierten IchSegmente. Die guten und die bösen Therapeuten sind um ihn versammelt und stehen ihm zur Verfügung. Diese gemeinsame Zimmervisite ist eine wichtige Weiterbildungsmöglichkeit. Das bedeutet, dass der leitende Arzt nach der mehrmonatigen Einarbeitungszeit in den Hintergrund rückt. Dort ist er qualifizierter und qualifizierender Zuhörer und Zuschauer, manchmal graue Eminenz, manchmal Deus ex machina, manchmal der Mann vom anderen Stern, der die kleine Welt dieser Station mit seinen Augen sieht, manchmal therapeutischer Provokateur, manchmal auch nur der schreibende Alte vom Berge. Das Vorgespräch: Bei 5 min pro Patient sollte die Visite von allen medizinischen Routineaufgaben entlastet werden: Besprechung von Anamnese und Befund und differentialdiagnostisches Hypothetisieren gehören in die Teamkonferenz, körperliche Untersuchungen sollten vor oder nach der Visite stattfinden (Dann ist der weiße Kittel gerechtfertigt, sonst sollte auf ihn im Bereich der Psychotherapie verzichtet werden!). Im Vorgespräch sollte die Situation der Station, der einzelnen Therapiegruppen und wichtige Einzelereignisse zusammengefasst werden ("Was ist heute dran?"). Wichtige therapeutische Interventionen sollten vorher abgesprochen werden, um die Spaltungsmöglichkeiten im Team zu verringern. Auch die Zusammenführung aufgespalteter Beziehungsangebote sollte vorher geplant werden. Wenn das alles vorher vorbereitet oder abgeschlossen wird, dann erst ist es möglich, mit dem Patienten zu reden und nicht über ihn (Ruth COHN). Das Setting: Üblicherweise besteht während der Visite im buchstäblichen und im sprachlichen Sinne ein deutlicher Höhenunterschied zwischen Arzt und Patient. Bei der patientenzentrierten Zimmervisite sollten sich die Therapeuten im doppelten Sinne "mit dem Patienten an einen Tisch setzten", sich mit ihm auf eine Ebene begeben. Für ausreichende Sitzgelegenheiten wird vorher gesorgt. Dabei ist es hochinteressant, ob und wie die vorhandenen Sitzmöbel arrangiert werden ("Der Star und sein Publikum!", oder: "Macht es Euch bequem!", oder: "Die Szene wird zum Tribunal!", oder: "Ihr trefft mich völlig unvorbereitet!"). Wegen der Schwere der Regression bei unseren Patienten geht es auch bei der Visite um Verlässlichkeit (z.B. Pünktlichkeit, klare Absprachen, Grenzsetzungen). Im sprachlichen Bereich ist es wichtig, sich von der latinisierten gehobenen Mittelstandsebene auf die Sprachebene des Patienten zu begeben. Notfalls sollte das kenntlich gemacht werden ("Wer A sagt, muss auch schloch sagen!"). Ohnehin gilt: Was man nicht verständlich machen kann, hat man selber nicht verstanden. Die therapeutische Haltung: Bei der patientenzentrierten Zimmervisite geht es nicht nur um eine freundlich zugewandte, gleichschwebende Aufmerksamkeit (FREUD), sondern mehr noch um genaues Hinhören, "Hinfühlen", ein Wahrnehmen dessen, was in der Innenwelt des Patienten und um sie herum geschieht. In Balint-Gruppen kann dieses "Hinhören mit dem dritten Ohr", das Wahrnehmen auf einer anderen Ebene, durch alle Poren der Haut, mit allen Sinnen erlernt werden. Dafür gab es im Landeskrankenhaus Hildesheim vom April 1981 bis zum Februar 1996 eine klinikinterne BALINTGruppe für Ärzte und Dipl.-Psychologen und von 1981 bis 1985 eine BALINT-Gruppe für das Pflegepersonal und die musischen Therapeuten. In diesen Gruppen wurde immer wieder deutlich, dass es nicht nur um die Patienten-Therapeuten-Beziehung wie in der ärztlichen Praxis geht. Diese Zweierbeziehung ist in der Klinik eingebettet in ein umfangreiches Beziehungsgeflecht zu den unterschiedlichsten Therapeuten und Mitarbeitern der Station und der Klinik. Nun sind Beziehungen keine Einbahnstraßen, sondern Mikrokosmen: Jeder beeinflusst jeden so gut er kann. Brennpunkt dieser beziehungsreichen Mikrokosmen kann die patientenzentrierte Zimmervisite sein. Auch die Patienten- Therapeuten-Beziehungen in der Klinik sind eine "Investierungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit" (BALINT). Deshalb sollte unter guter Kenntnis der Anamnese, der Psychodynamik und der unterschiedlichen Beziehungen des einzelnen Patienten im Hier und Jetzt gearbeitet werden. Bei früh gestörten oder weit regredierten Patienten geht es weniger um korrektes Deuten, mehr um die Unterhaltung einer leistungsfähigen, besser: "liebenswürdigen" Beziehung (BALINT): Einfach da sein und im richtigen Abstand da sein! Das Binnenklima: Jedes Zimmer hat seine eigene Ausstrahlung, seine eigene Wetterlage. Diese Binnenklima gilt es bei der Visite bewusst wahrzunehmen und therapeutisch zu nutzen. Vorwiegend schizoid strukturierte oder intentional gestörte Patienten leben oft in kahlen, kalten Zimmern. Depressive Patienten neigen bei gutem Befinden dazu, ihr Zimmer zu einem kuscheligen Nest zu machen. Bei vorwiegend zwanghaft strukturierten Patienten ist dem Zimmer übergroße Korrektheit, eine überkompensierende Leistungslinie oder der Widerstand gegen beides anzusehen. Die Zimmer von vorwiegend hysterisch strukturierten Patienten zeichnen sich durch ein buntes duftiges Chaos aus, das von allen Wohlgerüchen des Orients und Okzidents überschwebt wird. Dazu gehört meist noch Kleiderwechsel vor der Visite und gezielter Einsatz der Kosmetik. Das heißt: Die Innenwelt prägt die Außenwelt - und wird dadurch wahrnehmbar (Jeder schafft sich seine eigene Welt!). Im Zimmer gibt es dadurch auch stellvertretendes Lernen am anderen. Da die Partnerwahl für das Zweibettzimmer im Psychotherapiebereich Sache der Patienten ist, ergeben sich oft identische Konflikte, Haltungen, Gehemmtheiten und Symptome. Andererseits fragt man sich manchmal wie bei Eheleuten: "Wie halten die beiden das miteinander aus?" Die Merkwürdigkeiten der Partnerwahl und der Partnerkonflikte wiederholen sich an den Mitpatienten und sind oft wie unter dem Mikroskop vergrößert erkennbar. Die Therapeuten sind bei der Visite Wanderer zwischen vielen Innenwelten. Das kann sehr anstrengend sein: Denn wir lassen uns ja nicht auf "Fälle" ein, sondern auf Mitmenschen in ihrer Not und Qual, mit ihren Freuden und Leiden, ihren Schwierigkeiten und Möglichkeiten. Eine sichere eigene Identität und ausreichende Selbsterfahrung sind dabei trotz (oder wegen) der nur kurzfristigen Einfühlung in die Patienten (Fünf Minuten pro Patient!) unbedingt erforderlich! Weil die Patienten in der Psychotherapie nach Ansicht einiger Untersucher in den letzten Jahren immer jünger, immer kränker und immer ärmer geworden sind, sind die Zimmer wegen der frühen Störungen oft erbarmungslos gelüftet und sogar im Hochsommer kalt. Deshalb gilt für die Therapeuten oft: "Zieht euch warm an, wir machen patientenzentrierte Zimmervisite!" Schließlich leben wir in einer schizoiden Gesellschaft (RIEMANN). Die kostbare Zeit: In vergleichenden Visitenuntersuchungen spielen Zeit, Gesprächsaktivität und Gesprächsrichtung ein große Rolle. Bei Vergleich der psychosomatischen Krankenstation der Universitätskliniken Ulm mit traditionellen Krankenstationen in Hamburg fanden WESTPHALE und KÖHLE zwischen 1975 und 1978: Die Visitendauer lag in Hamburg bei 3,5 min, in Ulm bei 6,7 min am Bett und 3 min außerhalb des Patientenzimmers. Die Redezeit verteilte sich in Hamburg zu 59% auf den Arzt, 30% auf den Patienten, 10% auf andere; in Ulm beanspruchte der Arzt 51,5% der Redezeit, 45% der Patient und 3,5% andere (vorwiegend Schwestern und Pfleger). Auf der Psychotherapiestation 85 im Nieders. LKH Hildesheim lag 2003 die Visitendauer pro Patientin/Patient bei 6 min. Davon redeten die PatientInnen 4 min, die TherapeutInnen 30 sec, der leitende Arzt 45 sec. Das Gespräch extra muros und die Wegezeit von Zimmer zu Zimmer dauerten 1 min. Nun haben Michael und Enid BALINT einem ihrer Bücher gezeigt, dass in "Fünf Minuten pro Patient" durchaus Psychotherapie möglich ist (der englische Originaltitel lautete allerdings: "Six Minutes for the Patient"). Das geht besser und intensiver nach einem langfristigen "Training in Beziehungsdiagnostik und Beziehungstherapie" in einer BALINT-Gruppe. Wichtiger als die zur Verfügung stehende Zeit ist dabei die Intensität der gemeinsamen Gesprächsarbeit. Danach richtet sich das (sehr individuelle) Zeiterleben. Deshalb fragte auch RASPE: "Ist eine Visite dann >in Ordnung=, wenn Arzt und Patient gleich viel sprechen, gleich viel aktiv sind, gleich viele Fragen stellen, wenn jede Frage rasch auf derselben Ebene beantwortet wird, wenn jeder alles versteht?" Wir meinen sogar, es reicht nicht, wenn der Patient bei der Visite führt. In der kurzen Zeit des Visitengespräches kann es bei der oben beschriebenen Wahrnehmungseinstellung und Vorbereitung zu einem "Flash" kommen, wenn der Therapeut sich vollständig auf den Patienten einstimmt, sich von ihm gebrauchen, und "benutzen" läßt. Ein Flash ist nach M. BALINT ein blitzartiges Verstehen der Situation beim Patienten und/oder Therapeuten, das dem Patienten die Kraft zu deutlichen und dauerhaften Verhaltensänderungen gibt. Auf diese Situation muß man manchmal wochenlang, bei ambulanten Behandlungen sogar monatelang geduldig hinarbeiten. Ein Flash oder ein Aha-Erlebnis beim Therapeuten nützt dem Patienten wenig. Andererseits kann es - ohne dass der Therapeut es bemerkt - beim Patienten zum Flash kommen. Wenn man Patienten nach langer therapeutischer Beziehung fragt, was denn nun am meisten geholfen hat, ist man oft über deren Bewertung überrascht: Kleinigkeiten sind da wichtiger als Groß- geräte, Nebensätze wichtiger als Haupt- und Kernsätze und Co-Therapeuten wichtiger als professionelle Therapeuten. Eine Sternstunde der Beziehungstherapie ist es, wenn Patient und Therapeut gleichzeitig einen Flash erleben: Dann gehen plötzlich alle Lichter an und erleuchten die weite Seelenlandschaft. Das kann auch ohne Worte geschehen, durch einen Blick, eine Bewegung, eine Geste. Der Visitenbeginn: Die patientenzentrierte Zimmervisite ist ein kurzes gemeinsames Gespräch mit eigenen Gesetzen und Möglichkeiten. Dabei führt der Patienten, auch wenn er es nicht merkt. Wegen der begrenzten Zeit muss wesentlich stärker strukturiert werden als im Einzelgespräch. Längeres Anfangsschweigen oder längere Schweigepausen sind unökonomisch. Andererseits prallen Fragen oft an der Abwehrmauer ab: "Wer Fragen stellt, bekommt Antworten - aber weiter auch nichts!" (BALINT). Deshalb empfiehlt es sich, das Visitengespräch non-direktiv mit einer kurzen Bemerkung einzuleiten (z.B. durch Hinweis auf eine strukturspezifische Gruppensequenz, typische Beziehungsangebote in anderen therapeutischen Bereichen, Wahrnehmungen an der Oberfläche: Aussehen, Stimmungslage, auffällige Symptomatik). Notfalls kann die Visite auch mit der Befindensfrage eröffnet werden ("Wie geht es Ihnen!"). Schatztruhe und Schlüsselsammlung: Am Anfang der Behandlung haben PatientInnen häufig das Bedürfnis, ausführlich ihre Beschwerden zu schildern. Dann sollte immer wieder geduldig mit ihnen die auslösende Situation, die "Schlüsselsituation" erarbeitet werden, um mehr Psychogeneseverständnis zu entwickeln ("Was will Ihnen Ihre Seele durch diese Beschwerden sagen?"). In späteren Phasen der Therapie sollte dieser Prozess abgekürzt werden ("Gut - das sind die Symptome! Womit hängen die nun zusammen?"). Bei ausschweifender Symptomschilderung wird der Therapeut als Klagemauer missbraucht! Aus der Krankheit sollte im Sinne BALINT’s wieder der Konflikt werden, die Symptomsprache der Beschwerden sollte verständlich werden. Außerdem sollten wir die Patienten immer wieder ermuntern, ihre Krankheit oder ihr Symptom als Schatztruhe des ungelebten Lebens zu nutzen. Denn da ist alles drin, was sie krank gemacht hat und was sie gesund machen kann! Ungelebtes Leben ist in diesem Zusammenhang noch nicht gelebtes, aber lebbares Leben, dass u.a. auch in der Krankheit oder dem Symptom zur Verwirklichung drängt. Wenn das Symptom ein Kompromiss zwischen Wunsch und Widerstand ist, dann ist es eine Kostbarkeit, eben eine Schatztruhe - aber leider eine missachtete Schatztruhe: Der Patient will seine Symptome möglichst schnell wieder loswerden und die Therapeuten setzen ihren Ehrgeiz darein, dem Wunsch zu entsprechen. Dabei sollten wir die Schatztruhe mit Hilfe ihres Schlüssels - der "Schlüsselsituation" - aufmerksam und andächtig öffnen und nutzen. Die Realitätsebene: Wenn Konflikte auffällig ausagiert werden, wenn es um selbstschädigendes Verhalten oder um Gefährdung der Therapie geht, sollten Grenzsetzungen auf der Erwachsenenebene offen besprochen werden (z.B. Bearbeitungswoche bzw. "Stille Woche", Verlegung). Wenn PatientInnen andererseits für längere Zeit auf der Realitätsebene verharren, sollte die Visite schnell beendet werden, um ihnen deutlich zu machen: Sie sind selbst dafür verantwortlich, ob in der Visite Selbsterfahrung geschieht oder nicht! In den letzten Visiten vor der Entlassung darf sich das Gespräch auf einer pragmatisch-realistischen Ebene bewegen (Wohnungssuche, Arbeitsplatz, finanzielle Fragen, Selbsthilfegruppe, ambulante Weiterbehandlung). Schließlich muss der Bauch wie in der Chirurgie wieder zu! Ende gut - alles gut: Mehr oder weniger versucht jeder Patient in strukturspezifischer Weise die Visitenzeit zu verlängern: Durch schizoides ausführliches Rationalisieren, durch depressive Hilflosigkeit und Unersättlichkeit, durch zwanghafte Klebrigkeit und Ausführlichkeit, durch hysterische Agieren oder Somatisieren. Der Therapeut sollte seine Gegenübertragung beachten und sich nicht dazu verführen lassen, aus der Zimmervisite ein ausführliches Einzelgespräch zu machen, das der Gruppenarbeit Dynamik entzieht. Es müssen in der patientenzentrierten Zimmervisite nicht alle Fragen beantwortet werden - im Gegenteil: Gegen Ende der Visite sollte noch ein Bäumchen der Erkenntnis gepflanzt werden. Durch Verlängerung der Visite ist das Wachstum dieser keimenden Einsicht nicht zu beschleunigen. Säen, Keimen, Wachsen und Reifen bis zur Ernte, d.h. bis zum Umsetzen wichtiger Einsichten in die Realität brauchen Zeit (Die Seele geht zu Fuß!). Diese Zeit steht allen Patienten in der Therapiegruppe zur Verfügung ("Das wäre etwas für die Gruppe!"). Die letzte Frage: Damit könnte die patientenzentrierte Zimmervisite zu Ende sein. Sie ist es aber oft nicht. Oft schnappt noch eine kunstvolle Beziehungsfalle zu: Mit einer "letzten Frage" (Das Wichtigste kommt zuletzt!) gelingt es manchen Patienten in Colombo-Manier, das in der Visite Erarbeitete in Frage oder auf den Kopf zu stellen. Darauf sollte nur noch kurz eingegangen werden ("Das ist zu wichtig für einen letzten Satz!"). In dem strukturierten therapeutischen Kontinuum der Station kann später auf einer der vielen therapeutischen Ebenen darauf Bezug genommen werden. Wenigstens in der Nachbesprechung (extra muros) sollten die Therapeuten auf der Meta-Ebene den Visitenverlauf noch einmal reflektieren, um erlittene Beziehungsfallen oder alte Gleise zu bewundern und therapeutisch nutzbar zu machen. So kann aus der patientenzentrierten Zimmervisite eine spannende Entdeckungsreise werden: Mit Lust und Liebe, Herz und Schmerz und mit leichter Hand! Stand: Oktober 2003 Nach W. Scherf in W. Stucke (Hrsg): "Die Arzt-Patienten-Beziehung im Krankenhaus". Heft 9 der Reihe: Patientenbezogene Medizin, Gustav Fischer-Verlag Stuttgart, New York 1987