Therapie von Kiefergelenkschmerzen Ein Behandlungskonzept für Zahnärzte, Kieferorthopäden und Physiotherapeuten Bearbeitet von Wolfgang Stelzenmüller, Jan Wiesner 1. Auflage 2010. Buch. XV, 285 S. Hardcover ISBN 978 3 13 131382 9 Format (B x L): 19,5 x 27 cm Weitere Fachgebiete > Medizin > Zahnmedizin Zu Inhaltsverzeichnis schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte. Thieme-Verlag Herr Elm 250 Sommer-Druck Feuchtwangen Stelzenmüller/Wiesner Therapie von Kiefergelenkschmerzen WN 020821/01/02 TN 131382 11.5.2010 Umbruch 12 Kieferorthopädie unter Berücksichtigung von CMD Gekippte Molaren Kommt es z. B. durch Verlust von Zähnen zur Wanderung von Molaren, erfolgt dies im UK meist mit einer kippenden Komponente. Dadurch ragt der nach mesial gekippte Molar meist über die Okklusionsebene heraus und führt zu einem Hindernis, das beim Schlussbiss den UK nach retral oder transversal verlagert (Abb. 12.35). Die mesiale Wanderung der oberen Molaren ist durch eine Rotation um die palatinale Wurzel gekennzeichnet. Der mesiobukkale Höcker gelangt dadurch mehr nach palatinal und kann zu Okklusionshindernissen bis hin zu einer transversalen Verlagerung des UK führen. In ungünstigen Fällen wird die mesiale Wanderung noch von Kippungen oder Elongationen der Molaren begleitet. Nonokklusion und Kreuzbiss Abb. 12.35 CMD durch Kippstand von Einzelzähnen. Bei der Nonokklusion von einzelnen oder mehreren Zähnen im SZB (Abb. 12.36) kommt es häufig zu einer transversalen Verschiebung des UK zur Gegenseite. Eine ähnliche Situation entsteht bei einem einseitigen Kreuzbiss. Der UK wird dann jedoch meistens zur Seite des Kreuzbisses verlagert. In vielen Fällen sind deutliche Schlifffacetten an den Zähnen zu erkennen. Stützzonenverlust Man kann den vertikalen Stützzonenverlust (Höhenverlust in der Vertikalen) vom sagittalen Stützzonenverlust (Platzverlust in der Sagittalen) unterscheiden. Bei Letzterem kommt es durch Verlust oder Vorwanderung der hinteren Backenzähne zur reduzierten distalen Abstützung der Kiefergelenke durch den zahntragenden Kieferabschnitt. Besonders ungünstig wirkt sich der einseitige Stützzonenverlust aus, da es hier nicht nur zu vertikalen, sondern auch zu transversalen Belastungsveränderungen im Kiefergelenk kommt. Lotzmann (2003) beschreibt das Phänomen des verdeckten Stützzonenverlusts, der zu funktionellen Beschwerden und Problemen bei der prothetischen Rehabilitation führt. Hat der Patient mit voll bezahntem Gebiss bei zwanglosem Schlussbiss nur Kontakt auf den Prämolaren, muss er jedes Mal unphysiologische Muskelkraft anwenden, um einen Kontakt im Molarenbereich zu erhalten. Dies führt zu Muskelverspannungen. Seiner Meinung nach findet das Phänomen, dass sich die Situation eines Patienten mit Bezahnung bis zum Prämolarenbereich manchmal nach der prothetischen Rekonstruktion der posterioren Stützzone verschlechtert, hier eine ihrer Begründungen. Der iatrogene Stützzonenverlust, d. h. der seitlich offene Biss, z. B. nach häufigem Tragen von nicht muskulär eingestellten Aufbissschienen oder Aufbissen, führt besonders bei Pressern zu einer Intrusion der Seitenzähne bzw. der unkontrollierten Extrusion der Frontzähne. Wenn wir uns klarmachen, dass viele zahnärztliche Rekonstruktionen im Kausystem mit einer Veränderung der Bisshöhe einhergehen, kann es auch hier zu versteckten Stützzonenverlusten kommen. Ähnliche Probleme entstehen a b Abb. 12.36 Nonokklusion und transversale Zwangsbisse (Quelle: Ricketts R. Syllabus for Advanced Course in Orthodentic Philosophy and Technique. 1994). a Schlussbiss. Bukkale Nonokklusion links/Kreuzbiss rechts, Mittellinienverschiebung nach rechts. b Ruheschwebe mit Korrektur der Mittellinie durch Aufhebung des Zwangsbisses. Nonokklusion und Kreuzbissstellung sind korrigiert. aus: Stelzenmüller u. a., Therapie von Kiefergelenkschmerzen (ISBN 9783131313829) © 2010 Georg Thieme Verlag KG Thieme-Verlag Herr Elm Sommer-Druck Feuchtwangen Stelzenmüller/Wiesner Therapie von Kiefergelenkschmerzen WN 020821/01/02 TN 131382 11.5.2010 Umbruch Dysgnathieformen und ihre Auswirkung auf das Kiefergelenk durch eine forcierte kieferorthopädische Intrusion der oberen Molaren, ohne dass vorher eine Extrusion vorlag. Nicht unerwähnt bleiben sollten an dieser Stelle natürlich auch die nach traumatischen Veränderungen im Kiefer-, HWS- und Gesichtsbereich entstehenden offenen Bisse und veränderten Okklusionsbeziehungen, die im Rahmen dieses Buches nicht weiter beschrieben werden. Ein weiterer Faktor ist das seitliche Zungenpressen, das zur Intrusion bzw. zur unzureichenden vertikalen Einstellung der Zähne während des Wachstums führt. Diese Patienten zeigen seitlich offene Bisse, in die sich die Zunge beim Sprechen, Schlucken und Kauen einlagert. Diese Situation kann jedoch auch primär durch Ankylose, Durchbruchstörung (z. B. Platzmangel) oder Hakenbildung an der Wurzelspitze entstehen. 12.5.2 Offener Biss Beim offenen Biss mit übermäßiger Extrusion im Molarenbereich kann das Kiefergelenk nicht in eine physiologische Position in Bezug auf die Fossa gebracht werden, d. h. der Kondylus zeigt innerhalb der Fossa glenoidalis auf ca. 11 Uhr. Im Schlussbiss verharrt der Kondylus in leichter Rotationsstellung mit anteriorer Belastungsproblematik. Dadurch kann es zu Diskusdislokationen und arthrotischen Veränderungen kommen. Ähnliche Probleme treten bei Mundatmern mit habituell geöffnetem Mund und bei Sängern auf. Weitere Ursache für den frontal oder seitlich offenen Biss können Zungenpressen und Wangensaugen sein. Eine Korrektur erfolgt durch das zunächst rein mechanische Abhalten der Zunge bzw. Wange mittels Zungengitter, Zungenschildern (z. B. Bionator), Wangenschildern (z. B. Lippenschilder, Fränkel-Gerät) oder Zungenumerzie- a b 251 hern, die auch mit einer Aufbissschiene kombiniert werden können. Vorrangige Bedeutung hat bei diesen Patienten die logopädische, myofunktionelle Therapie und Physiotherapie, da es sonst nach Entfernung der apparativen Behandlungsmittel zu einem allmählichen Rezidiv durch Zungen-, Wangen- und Lippendysfunktion kommt. Die häufige, lang dauernde Verwendung von Flaschenund Beruhigungssaugern bei Kleinkindern sowie sog. Habits von Kindern und Erwachsenen wie Daumenlutschen, Lippenbeißen und -lutschen sowie Stiftkauen etc. können zu frontal offenen Bissen und Veränderungen der Zungenlage führen (Abb. 12.37). Offene Bisse durch Daumenlutschen treten auch bei erwachsenen Patienten auf. Bei kleinen Kindern können ein Lutschkalender und die Eingliederung einer Mundvorhofplatte gute Ergebnisse erzielen. Mit Einwilligung des Kindes kann nachts eine elastische Armbinde getragen werden, die durch sanftes Verhindern der Armbeugung das versehentliche nächtliche Lutschen vermeidet. Eine lustige Variante ist das zeitweise Tragen eines Boxerhandschuhs. Bei Jugendlichen und Erwachsenen darf die psychologische Komponente nicht außer Acht gelassen werden. Versteckte psychische Probleme machen den Einsatz von professioneller psychologischer Hilfe nötig. Ganz andere Aspekte des Lutschens und anderer sog. Habits zeigt Entrup (2006) auf. Er beschreibt Fälle, die durch Habits eine kraniosakrale und posturale Autoregulation durchführen. Interessanterweise verschwinden diese Habits nach Korrektur der Dysgnathie, da eine Autoregulation des Systems nicht mehr erforderlich zu sein scheint. Ein akut oder allmählich auftretender frontal offener Biss ohne spezielles Trauma bei vorher gutem Überbiss muss jeden Behandler hellhörig werden lassen, da eine c Abb. 12.37 Entstehung eines offenen Bisses durch Flaschensauger, Beruhigungssauger oder Daumenlutschen. a Flaschensauger drängen sich wie ein Stemmkörper zwischen die Zähne. Durch stundenlanges Saugen verbiegen sich die Zahnreihen und die Kieferbasen. Die Zunge wird vom Gaumen abgehalten. Die natürliche Gaumenentwicklung wird gehemmt. b Schnuller biegen die Zahnreihen auf, führen zu einem schmalen OK und fördern Sprechfehler, z. B. Lispeln durch offenen Biss. Die OK-Front protrudiert. Die untere Front wird verkürzt. c Beim Finger- bzw. Daumenlutschen drückt der Daumen die OK-Zähne nach vorn und oben sowie den UK insgesamt nach hinten und verkürzt die Frontzähne. aus: Stelzenmüller u. a., Therapie von Kiefergelenkschmerzen (ISBN 9783131313829) © 2010 Georg Thieme Verlag KG Thieme-Verlag Herr Elm 252 Sommer-Druck Feuchtwangen Stelzenmüller/Wiesner Therapie von Kiefergelenkschmerzen WN 020821/01/02 TN 131382 11.5.2010 Umbruch 12 Kieferorthopädie unter Berücksichtigung von CMD totale anterior-mediale Diskusverlagerung als offener Biss im FZB oder SZB imponieren kann. Bei der akuten Verlagerung kann nach physiotherapeutischer Behandlung der Diskus reponiert werden. Eine genaue Diagnostik des Kausystems ist jedoch dringend erforderlich, damit evtl. traumatisierende Faktoren beseitigt werden können. Bei länger bestehenden totalen Diskusverlagerungen ist eine dauerhafte Rehabilitation nicht möglich. Durch die kieferorthopädische bzw. zahnärztliche Behandlung wird versucht, eine günstige KondylusFossa-Relation mit guter posteriorer Abstützung herzustellen. Bedingt durch den degenerativen vertikalen Höhenverlust des Kondylus kann ein frontal offener Biss entstehen. Bei der einseitigen Kiefergelenkdegeneration weicht zunehmend der UK zur betroffenen Seite ab. Therapeutisch steht die Sicherung der Verzahnung und der posterioren Abstützung im Vordergrund. Durch teilweise asymmetrische Auf- und Einbisse wird die kieferorthopädische Rehabilitation der UK-Abweichung mit Multiband unterstützt. Die definitive Versorgung erfordert jedoch im oberen Molarenbereich das Eingliedern von Einbissen bzw. Rampen, um ein weiteres Abgleiten des UK nach distal zu vermeiden (Abb. 12.38). Beim offenen Biss ist der rechtzeitige Beginn einer myofunktionellen und physiotherapeutischen Behand- lung sowie Lymphdrainage und Atmungshygiene ganz entscheidend. Funktionelle kieferorthopädische Geräte können dann erfolgreich sein. Bei Jugendlichen und Erwachsenen ist meist zusätzlich eine Behandlung mit Multiband erforderlich. Bei der Korrektur von schweren skelettalen offenen Bissen lässt sich die kombinierte kieferorthopädisch-kieferchirurgische Behandlung manchmal nicht vermeiden. 12.5.3 Tiefbiss Ricketts bezeichnet „The Lack of vertical Dimension“ als Hauptursache von Kiefergelenkdysfunktionen. Es wird der dentoalveoläre Tiefbiss mit Verlängerung der Frontzähne bzw. Infraposition der Seitenzähne vom echten skelettalen Tiefbiss mit horizontalem Wachstumsmuster und Konvergenz der Kieferbasen unterschieden. Durch die Verlängerung der Frontzähne mit evtl. entstehenden Frühkontakten auf den palatinalen Abhängen sowie durch die reduzierte posteriore Bisshöhe bei Infraokklusion kann es zu einer Retralverlagerung bzw. zur Kompression der Kiefergelenke kommen. Die bei skelettalem Tiefbiss häufig verstärkte Aktivität der Mm. temporalis und Mm. masseter führt zur retralen Belastungskomponente bzw. zur weiteren allmählichen Vertiefung des Bisses. Rampen zur Unterkieferpositionierung während der Retention Abb. 12.38 Konstruktion von Frontplateaus und Molarenrampen nach Douglas E. Toll. distale Rampe in verblockter Molarenversorgung leichter Gingivakontakt Abschrägung des distalen Abhangs kleine, T-förmige Grube zur Sicherung der Bissposition Overlay/Inlay/Krone, Rampenhöhe 3 mm tiefe Fissur keine flachen Mulden! Patient sollte nie hinter die Rampe beißen können aus: Stelzenmüller u. a., Therapie von Kiefergelenkschmerzen (ISBN 9783131313829) © 2010 Georg Thieme Verlag KG