Hillebrand, Andrea (2003) Die Yogarezeption in der Klinischen

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Hillebrand, Andrea (2003)
Die Yogarezeption in der Klinischen Psychologie
Frau Hillebrand macht es sich in der vorgelegten Arbeit zur Aufgabe, die Wege der
Yogarezeption in der Klinischen Psychologie und Psychotherapie nachzuzeichnen.
Besonders interessiert sie sich dabei für selektive Zugriffe, Veränderungen und
Uminterpretationen, die der Yoga in der vor etwa 100 Jahren einsetzenden Rezeption im
Westen erfahren hat.
Die Arbeit beginnt mit einer Darstellung der historischen Entwicklung der indischen
Philosophie unter besonderer Berücksichtigung des Samkhya-Systems, jener
dualistischen Weisheitslehre, in deren Mittelpunkt das absolute Aufhören des Schmerzes
bzw. des Leidens an der Welt steht. Dieser Exkurs ist notwendig, insofern der Yoga auf
dem Samkya-System aufbaut und – gleichsam als dessen pragmatischer Zwilling – das,
was in der Samkya-Philosophie auf theoretisch-spekulativem Weg angestrebt wird,
mittels psycho-physischer Methoden erreichen will. Es handelt sich beim Yoga also um
praktische Techniken der Bewusstseinsschulung bzw. um den Versuch, die Befreiung
aus dem leidvollen Dasein durch praktische Erfahrungen zu erlangen. Die Autorin ist
angesichts der Überlieferungsmasse dabei gut beraten, in ihrer Arbeit aus­schließlich auf
Astanga-Yoga Bezug zu nehmen, wie ihn Patanjali in den 195 Versen des Yogasutra
dargestellt hat. Dieser Yogapfad umfasst acht Elemente, die das Zur-Ruhe-Kommen der
mentalen Bewegungen unterstützen wollen, da nur nach dieser Beruhigung die letzte
Wahrheit des Daseins erkannt werden könne.
Frau Hillebrand spezifiziert die Differenz zwischen der indischen Vorgabe und dem euro­
ameri­kanischen Echo vor allem in folgenden Bereichen:
Ein entscheidender Unterschied zwischen Yoga und Psychotherapie liegt in den
Zielvorstellungen. Psychotherapie zielt in der Regel (denn Jungianer oder Vertreter
humanistischer oder existentieller Richtungen würden diesem Satz nicht ohne weiteres
zustimmen) auf die Beseitigung von Beschwerden oder eines spezifischen Problems.
Beim Yoga wird Problemen oder Beschwerden hingegen kein inhaltlicher Wert
beigemessen. Yoga wird als Möglichkeit einer bestimmten Lebens­einstellung und führung, als eine Form des Seins verstanden. Nicht die Beseitigung eines Pro­blems
steht im Vordergrund, sondern es wird versucht, den Lebensbezug überhaupt zu
verändern und so die Relativität des Problems zu erkennen. Westliche Psychotherapie
bleib meist also dem dualistischem Denken verhaftet, in dem das Ich sich
unterschiedlichen Problemen gegenüberfindet. Zwar geht es in ihr, wie im Yoga, um
einen Bewußtwerdungsprozeß, doch ist im Yoga nicht nur das Bewußtwerden einzelner
z.B. neurotischer Problemstrukturen gemeint, sondern das der illusionären Natur des
Selbst an sich.
Im speziellen ist der indischen Philosophie das Unbewußte unbekannt bzw. wird nicht
explizit danach geforscht. Inhalte, die in der Meditationspraxis auftauchen, werden zur
Kenntnis genommen, nicht analysiert. Tiefenpsychologisch ausgerichtete Psychotherapie
versteht sich hingegen als Auseinandersetzung mit unbewußten Inhalten; im Yoga
hingegen geht es um die tiefe Einsicht, die Identifikation mit diesen Inhalten zu lösen.
Yoga unterscheidet sich von westlicher Psychotherapie wesentlich auch hinsichtlich der
Bewertung von Ich-Stärke und Autonomie Während diese in der Psychotherapie oft
zentrale Anliegen darstellen, ist im Yoga häufig vom Loslassen des Ich die Rede.
Differenzierendes Werden und integrierendes Ent-Werden gehen also Hand in Hand. Im
Yoga wird ein starkes Ich vorausgesetzt - aber nicht, um es weiter zu stärken, sondern
weil es sozusagen stark genug sein muß, seine Demontage zu ertragen. Um
hyperbolisch zu sprechen: die Erleuchtung ist für das Ich die letzte größte Enttäuschung.
Das wesentliche Ergebnis von Frau Hillebrands Untersuchung ist wohl aber darin zu
sehen, dass der Yoga bei seiner Rezeption im Westen, insbesondere in klinischpsychologischen Kontexten, eine enorme Säkularisierung und philosophische Entladung
erfahren hat. Spirituelle Zielsetzungen und Konnotationen wurden dabei weitgehend
abgedrängt: Insoferne klinische Psychologie und auch Psychotherapie Kinder der
Moderne sind, haben sie immer schon von Erlösung auf Erleichterung umgestellt – eine
Blickwendung, die im Ursprungskontext des Yoga unvorhersehsehbar und undenkbar
gewesen ist. Die westliche Rezeption greift also nicht das spirituelle Ziel des Yoga auf,
sondern konzentriert sich auf Teilbereiche, man könnte auch sagen: auf Nebenprodukte
des Yoga. Im Westen werden einzelne Elemente aus dem Kontext gerissen und in
modifizierter Form und meist als auxiliäre Maßnahme, meist im Sinne von
Entspannungsverfahren oder Selbststeuerungs­tech­niken bei der Behandlung von
Persönlichkeits-, Angststörungen, kardiovaskulären, psychosomatischen bzw.
Schmerzerkrankungen, Drogenproblemen u.a. eingesetzt.
Die auf Bewusstseinsveränderung abzielenden Aspekte, die im Yoga angelegt sind,
werden demgegenüber in den Hintergrund gedrängt; die Autorin deutet diese selektive
Rezeption aus der potentiellen Bedrohung, die dem westlichen mindset aus einer
umfassenden Rezeption der vom Yoga angeleiteten Bewusstseinsexpansion entstünde.
Demgemäß besteht im Westen das Ziel der verschiedenen Formen der praktischen
Meditation nicht in einem radikalen Umbruch, wie in der spirituellen Meditation, sondern
in der Bewältigung der alltäglichen Probleme und Konflikte sowie in der Bereicherung der
Erfahrungswelt. Mit anderen Worten: nach der Umstellung von Erlösung auf
Erleichterung können westliche Psychologen und Therapeuten die radikalen Aspekte des
Yoga nicht mehr brauchen und greifen stattdessen selektiv auf bestimmte und
domestizierte Einzelelemente zu.
Frau Hillebrand versteht es in ihrer Arbeit also, die geistesgeschichtliche
Hintergrunddynamik der westliche Yogarezeption greifbar zu machen – ein Anspruch, der
für eine psychologische Diplomarbeit hoch gegriffen ist und den Leser über gelegentliche
Schwächen im Aufbau und in der Präzision des Arguments hinweg hilft.
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