DAS EINZELGESPRÄCH IM STATIONÄREN SETTING

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DAS EINZELGESPRÄCH IM STATIONÄREN SETTING
Einzelgespräch und Gruppensituation: Beim einzeltherapeutischen Vorgehen
während einer stationären Behandlung wird übersehen, dass sich der Patient - ob
er will oder nicht - in einer Gruppe, in der Stationsgruppe der Mitpatienten befindet.
Man verzichtet damit auch auf die Möglichkeit, in der Gruppe deutlich sichtbare interaktionelle Schwierigkeiten, Übertragungsphänomene, intrapsychische oder interpersonelle Konflikte und Abwehrmanöver therapeutisch zu nutzen. Andererseits:
Wenn während einer gruppenpsychotherapeutischen Behandlung alle Patienten in
den zusätzlichen Genuss von häufigen Einzelgesprächen kommen, kann das der
Gruppenarbeit sehr viel Dynamik entziehen. Das kann sogar dazu führen, dass in
der Gruppe weitgehend geschwiegen wird, weil einige Gruppenteilnehmer sich auf
das nächste Einzelgespräch vorbereiten, andere vom letzten Einzelgespräch noch
"satt" sind. Deshalb sollten nur dann Einzelgespräche vereinbart werden. wenn die
Gruppenarbeit durch einen hartnäckigen Widerstand, eine Übertragungshaltung
oder einen schwierigen aktuellen Konflikt behindert wird. Um Neidgefühle und verstecktes Rivalisieren zu vermeiden, sollten die Einzelgespräche möglichst gleichmäßig auf die Gruppenmitglieder verteilt werden.
Einzelgespräche und "Gruppenfähigkeit": Bei der Frage nach der Gruppenfähigkeit wird stillschweigend vorausgesetzt, dass nicht gruppenfähige Patienten einzeltherapiefähig sind. Dem ist aber bei näherer Betrachtung nicht so: Die einzeltherapeutische Dyade entspricht im Erleben der Patienten oft der (pathogenen) MutterKind-Dyade. Sie ist für Patienten mit schweren und frühen Ich-Störungen oft nur
schwer oder kaum erträglich. Außerdem ist der regressive Sag der Einzelsituation
größer als der der Gruppe. Die stationäre Behandlung bietet ohnehin mehr Möglichkeiten der Regression als die ambulante oder teilstationäre Behandlung, andererseits entsteht im gruppenpsychotherapeutischen Setting durch die Mischung von
neu aufgenommenen und "erfahrenen" Patienten ein Gruppendruck in Richtung
Arbeit auf der Erwachsenenebene, Separation und Individuation. Die Erfahrungen
im Psychotherapiebereich unseres Hauses zeigen, dass Patienten, die auf einer
offenen Station behandelt werden können, auch gruppenfähig sind. Patienten, die
aufgrund maligner Regression, psychotischer Dekompensation oder psychoseähnlicher Desintegration auf die geschlossene Station aufgenommen oder verlegt werden müssen, sind nicht gruppenfähig und benötigen wegen ihrer brüchigen
Ich-Grenzen die festen Außengrenzen einer geschlossenen Wachstation. Sie sind
vorerst nur "medikamentenfähig" oder "infusionsfähig", wobei Infusionstherapie die
nachdrücklich erlaubte Regression in den präverbalen, ja embryonalen Bereich ist,
mit allen therapeutischen Gefahren und Möglichkeiten.
Das Setting des Einzelgespräches: Das "analytisch orientierte Einzelgespräch"
wird üblicherweise im Sitzen durchgeführt, meist so, dass beide Gesprächspartner
im rechten Winkel zueinander sitzen. Sie können sich dabei ansehen, müssen es
aber nicht. Manchmal ist es für den Therapeuten und/oder Patienten notwendig, auf
den Blickkontakt zu verzichten, um die innere Situation besser wahrnehmen zu
können bzw. andere Wahrnehmungsfunktionen zu verstärken. Anklammernd depressive Patienten und hysterisch-konfrontierende Patienten neigen zur direkten
face-to-face-Situation. Intentional gestörte, schizoide oder zwanghafte, aggres-
siv-gehemmte Patienten haben dagegen häufig Schwierigkeiten, den Blickkontakt
längere Zeit zu halten. Was für das Binnenklima des Patientenzimmers gilt (siehe
die Übersicht "Die patientenzentrierte Zimmervisite"), gilt auch für das Zimmer des
Therapeuten. Auch wenn er sich dessen nicht bewusst ist, nimmt der Patient den
Zustand des Zimmers, die Atmosphäre, die Ausstattung und die Ausstrahlung des
Raumes wahr (und damit auch die Persönlichkeitsstruktur und Restneurose des
Therapeuten!). Es ist wichtig, möglichst ungestört in einer. ruhigen Atmosphäre mit
dem Patienten arbeiten zu können. Gelegentliche Telefonanrufe von außen werden
im Klinikalltag von den Patienten durchaus toleriert. Zum Setting gehört auch die
Zeitbegrenzung: dem Patienten sollte am Anfang des Gespräches mitgeteilt wie viel
Zeit zur Verfügung steht (30 - 40 min, bei Zeitnot reichen auch 20 min). Etwa 5 - 10
min vor Ablauf der Zeit sollte der Patient darauf hingewiesen werden. Der Therapeut sollte sich im gesprächstherapeutischen Sinne um Wärme, Echtheit und einfühlendes Verstehen bemühen.
Die Vorbereitung: Ein gutes Einzelgespräch will vorbereitet sein. Meist geht es
zunächst darum, sich die Situation des Patienten dadurch zu vergegenwärtigen,
dass Anamnese und Befund noch einmal durchgesehen werden. Bei längeren Pausen zwischen den Einzelgesprächen empfiehlt es sich, einen kurzen Verlauf zu diktieren, um wie bei der Zimmervisite das gemeinsame Wissen, das sich zwischen
Patient und Therapeut angesammelt hat, zur Verfügung zu haben. Auch die Übertragungsangebote des Patienten und unsere eigenen Gegenübertragungsreaktionen sollten reflektiert, notiert und therapeutisch nutzbar gemacht werden,
Die Einleitung: Auch wenn ihm das nicht bewusst ist, der Patient "führt" das Gespräch, d.h. er bestimmt durch sein verbales und averbales Verhalten, was bearbeitet wird. Um längere Schweigepausen am Anfang zu verhindern (die bei Einzelgesprächen unökonomisch wären) kann das Gespräch nichtdirektiv oder mit einer
offenen unspezifischen Frage eröffnet werden (z.B. kurzer Hinweis auf aktuelle
Schwierigkeiten in der Gruppe, Wiederholung von Bemerkungen des Patienten in
der Gruppe oder der Einzelvisite, typische auslösende Situationen). Notfalls kann
auch die Befindensfrage das Gespräch eröffnen.
Die Schlüsselsituation: Zumeist bietet der Patient im Einzelgespräch ein Symptom
eine akute Verstimmung oder eine konflikthafte Situation an. Wenn es sich dabei
nicht um einen Widerstand handelt (Widerstand vor Inhalt!), sollte das, was der
Patient in den ersten 5 - 10 min anbietet, als psychodynamisch relevant angesehen
und bearbeitet werden. Wichtig für den Patienten ist am Anfang der psychotherapeutischen Behandlung, dass immer wieder mit ihm zusammen die auslösende
Situation, die "Schlüsselsituation" erarbeitet wird, weil sich in dieser auslösenden
Situation wie in einer Nussschale das Krankmachende und das Gesundmachende
findet. Die Symptome des Patienten sollten ernst genommen werden! Niemand tut
das sonst: Der Patient will sie loswerden, der Arzt will sie zum Verschwinden bringen. Durch das "Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten" (S. FREUD) soll der Patient
ermutigt und befähigt werden, mehr Psychogeneseverständnis und Krankheitseinsicht zu entwickeln. Um das Krankmachende der auslösenden Situation zu erhellen
sollte der Patient sie ausführlich schildern: Verhalten der Beziehungspersonen, beiläufige Bemerkungen, besondere Ereignisse, Stimmung und Entwicklung der Situation und der Umgebung, Alkohol- und Medikamentenwirkung. Der Patient hat für
das Krankmachende der auslösenden Situation einen "blinden Fleck“. Irrtümer Im
Zeitraster sind häufig. Nach Erarbeitung der auslösenden Situation, die der Therapeut aufgrund seiner Gegenübertragungsreaktionen, seiner Erfahrung und seiner
Kenntnis der Konfliktlage des Patienten anreichert, sollte durch Klären, Demonstrieren oder Deuten Verständnis für das Krankmachende der Situation erarbeitet werden ("Ich wundere mich, dass Sie sich über Ihre Symptome wundern!"). Hilfreich
sind dabei häufig psychosomatische oder psychovegetative Redensarten (die wir ja
auch beim autogenen Training benutzen, um psychovegetative Reaktionen und
Symptome zu erklären).
Die therapeutische Haltung: Wie bei der patientenzentrierten Zimmervisite sollte
dem Patienten eine freundlich-zugewandte, gleichschwebende Aufmerksamkeit
entgegengebracht werden. Im analytisch orientierten Einzelgespräch gelten die
strengen Regeln der Psychoanalyse nicht in vollem Umfang (freie Assoziationsregel, Spiegelhaltung und Abstinenz des Therapeuten). Trotzdem sollte der Patient
ermuntert werden, alles zu sagen, was ihm durch den Kopf geht, auch das Unwichtige, Unsinnige, Peinliche, Beschämende oder nicht zur Sache Gehörige. Nach
FREUD und ARGELANDER sollte der Therapeut keine systematische Erzählung
vom Patienten erwarten, sollte sich nicht auf ein bestimmtes Merkmal oder Problem
einstellen, sondern die jeweilige psychische Oberfläche studieren. Mitteilungen,
Einfälle und Symptome sind nur Entstellungen der Gesuchten, gleichsam Anspielungen, aus denen zu erraten ist, was sich dahinter verbirgt. Das angebotene Material sollte vom Therapeuten aus seiner Kenntnis der Anamnese angereichert werden, Zusammenhänge mit neuem und altem anamnestischen Material, mit Träumen
oder Phantasien sollten hergestellt werden. Frühere konflikthafte Situationen können in der Übertragung erinnert und roch einmal durchlebt werden. Gegenübertragungsreaktionen können den Zugang erleichtern (z.B. Wann schläft der Therapeut
ein?). Zweideutige, mehrdeutige oder symbolische Mitteilungen sollten auf die dahinterliegenden unbewussten Mitteilungen untersucht werden. Agieren ist nach
ARGELANDER eine plastische Vorführung eines wichtigen Teils der Lehmsgeschichte und gehört zum Übertragungsverhalten. Therapeutisch schwer zu nutzen
ist "Ausagieren" im Sinne von acting out (Flucht aus der Übertragung in die Aktion
mit Befriedigung von Triebimpulsen bis zur vollendeten Handlung).
Archäologisches Vergehen: Nach Erarbeitung der auslösenden Situation sollte
diese mit der Persönlichkeitsstruktur des Patienten und seiner (immer einzigartigen)
Genese verknüpft werden. Dieser rote Faden kann nur bei guter Kenntnis der
Anamnese erarbeitet werden. Gleichzeitig ist dies immer auch Vervollständigung
der Anamnese. Zwischen Genese und dem Hier und Jetzt sollten immer wieder
Verbindungen hergestellt werden ("Wie kommt das eigentlich?"). Bei verteufelnden
oder idealisierenden Projektionen in die auslösende Situation zurückkehren (an der
der Patient tatkräftig mitgewirkt hat!), um die Eigenverantwortlichkeit zu betonen
und dem Patienten das Gefühl einer Schicksalsneurose zu nehmen (Machsal statt
Schicksal).
Die Deutungsarbeit: Vor der Haltung sollte die Gehemmtheit bearbeitet werden.
Über die Bearbeitung der Haltung muss gegen Ende der Therapie eine positive
Übertragung hinweghelfen. Gleiches gilt für eine sadomasochistische Verklammerung oder eine Täter-Opfer-Beziehung: Hier sollte der Masochismus vor dem Sadismus, die, Opferhaltung vor den Tätermerkmalen erarbeitet werden. Außerdem:
Widerstand vor Inhalt, Deutung des depressiven Materials vor dem paranoiden Ma-
terial. Leitsymptom und Nebensymptome sollten mit der Genese und dem Hier und
Jetzt im Sinne einer Kette verbunden werden. Mimik, Gestik und Motorik des Patienten können (evt. auch mit gestalttherapeutischen Mitteln) in das Einzelgespräch
einbezogen worden.
Ende gut - alles gut: Zum Schluss sollte das Einzelgespräch wieder in Richtung
Gruppe geöffnet werden, um den Patienten - vor allein nach Bearbeitung schwieriger Konflikte - wieder im Hier und Jetzt ankommen zu lassen, vor allem, wenn es
um depressive Regression ging. Ein Einzelgespräch kam Wendepunkt der Therapie oder eine einzige Enttäuschung sein. Das hängt von vielen äußeren und inneren Bedingungen ab, nicht nur von der Tagesform der Therapeuten. Wenn es noch
zwischen Tür und Angel zu einer "letzten Frage" kommt, sollte darauf - wenn überhaupt - nur noch kurz Bezug genommen werden ("Das ist zu wichtig, dafür sollten
wir uns mehr Zeit nehmen...“). Der Inhalt des Einzelgespräches sollte kurz auf dem
Krankenblatt notiert und in den Verlauf diktiert werden, um darauf in der Gruppe
oder der Visite Bezug nehmen zu können.
Dr. med. W. Scherf, Nieders. LKH Hildesheim, Stand: 25.11.2001
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