MARIO CIPOLLINI 164 TOUR 5 | 2009 Mario Cipollini ist mit 42 Etappensiegen nicht nur Rekordsieger beim Giro, er war auch einer der wenigen Popstars des Radsports. Mit TOUR sprach der 42-jährige Italiener über die Bedeutung des Giro d’Italia, über Gerechtigkeit im Sport und den Mangel an Persönlichkeiten »Den Rennfahrern fehlt der Mumm« ǯǴǺǫǸǼǯǫǽ Tom Mustroph ǬǵǺǵǹ Lorenzo Scaccini TOUR: Signor Cipollini, der Giro d’Italia erlebt zur 100-Jahr-Feier eine Renaissance. Lance Armstrong hatte angekündigt, er wolle in Italien zeigen, dass er noch fit für eine starke Tour de France ist. Welche Bedeutung könnte er für den Giro haben? CIPOLLINI: Er wäre der Leuchtturm im Rennen. Ohne ihn würde der Bezugspunkt fehlen. Nach seinem Sturz in Spanien im März, bei dem er sich das Schlüsselbein brach, weiß niemand, ob er rechtzeitig fit wird. Wäre denn Armstrong überhaupt in der Verfassung, eine dreiwöchige Rundfahrt zu gewinnen? Armstrong selbst dürfte von allen Beteiligten die meisten Zweifel an diesem Unternehmen haben. Er hat schon zu Saisonbeginn andere Antworten bekommen als er erwartet hat. Welche Antworten meinen Sie? wecken. Er hat nicht nur sportliche Ziele, sondern auch eine soziale Botschaft. Seine Stiftung unternimmt wichtige Dinge. Deshalb hat er doppeltes Gewicht. Meine Hoffnung ist, dass er sein Gewicht nicht nur für sich allein, sondern für den ganzen Radsport einbringt. Auch ohne Armstrong ist der Giro ein wichtiges Rennen. Was halten Sie vom Giro d’Italia, wie er sich zum 100. Geburtstag präsentiert? Die Streckenführung ist etwas merkwürdig, aber sehr anspruchsvoll. Ich glaube, nicht alle haben sich die Schwierigkeiten vor Augen gehalten. Es gibt keine Phase im Rennen, in der man sich zwei, drei Tage erholen kann. Jede Etappe bietet eine Gefahr. Deshalb wird es sehr taktisch werden. Wer die Kontrolle im Rennen übernehmen will, braucht eine sehr starke Mannschaft. Meiner Meinung nach hat er vor allem beim Zeitfahren der Kalifornien-Rundfahrt nicht erwartet, auf einem 24 Kilometer langen Kurs eineinhalb Minuten zu verlieren (bei dem Rennen Mitte Februar gewann Armstrongs Astana-Teamkollege Levi Leipheimer, Armstrong lag 1:16 Minuten zurück; Anm. d. Red.). Aber er wird das selbst besser einschätzen können als ich. Für den Armstrong der goldenen Jahre wäre der Giro ein Spaziergang. Doch er hat drei Jahre pausiert. Da bleiben Zweifel. Danilo Di Luca, der Giro-Sieger von 2007, meint, in diesem Jahr sei der Giro wichtiger als die Tour – er sei härter und es nähmen mehr Favoriten teil. Stimmen Sie ihm zu? Die Begeisterung beim Veranstalter über seine Zusage war riesig. Welche Bedeutung hat Armstrong für den Radsport? In Frankreich wird ein Landsmann, der eine 50-KilometerFlucht absolviert, vor dem Ziel aber gestellt worden ist, wie ein Etappensieger gefeiert. Wenn in Italien einer 50 Kilometer vorne fährt, dann aber nicht den Sieg holt, Er ist ein Star, ein richtiger Rockstar. Um ihn herum kreist ein halbes Universum. Er kann ein enormes Interesse Man kann Giro und Tour nicht auf eine Stufe stellen. Die Strecken sind anders, aber ähnlich anstrengend. Es gibt harte Anstiege bei beiden Rundfahrten. In der Interpretation allerdings unterscheiden sich beide Rundfahrten, denn die Mentalitäten sind anders. Wie meinen Sie das? 5 | 2009 TOUR 165 MARIO CIPOLLINI kümmert sich niemand um ihn. In Italien zählt nicht der Einsatz, sondern nur der Erfolg. In den französischen Medien wird für den gescheiterten Ausreißer eine ganze Seite frei gemacht. Daher ist bei den Franzosen der Wille, sich zu zeigen, sehr ausgeprägt. „Gehst du? Gehe ich? Wer kommt mit?“, so heißt es dort ständig unter den Rennfahrern. In Italien sind die Rennen viel kontrollierter. Man startet auch Attacken. Aber nicht so früh, nur um ein paar Punkte fürs Punkte- oder Bergtrikot zu holen. Der Radsport hatte im vergangenen Jahrzehnt viele Profis, die für Schlagzeilen gut waren, aber nur zwei echte Stars: Mario Cipollini und Lance Armstrong. Warum fällt es in diesem Milieu so schwer, Stars hervorzubringen? Die Welt des Radsports ist speziell. Sie baut auf einer besonderen Kultur auf. Radsport wurde in der Nachkriegszeit vor allem von Leuten betrieben, die ursprünglich kein Geld für ein Auto hatten. Sie haben das Fahrrad benutzt, um sich fortzubewegen. Der Radsport war eine Betätigung der mittleren und unteren Schichten, eine Beschäftigung von Männern, die hart arbeiten mussten. Doch das ist lange her ... Heute öffnet sich dieser Sport. Man kann auch Manager von Vodafone und Führungskräfte von Barilla beim Dolomiten-Radmarathon treffen. Aber die Wurzeln dieses Sports liegen weiter unten. Traditionell sind dem Radsport mondänes Leben und Extrovertiertheit eher fremd. Ein Radsportler schuftet. Er zieht sich zurück. Es ist ihm fremd, aus sich herauszugehen. Deshalb fällt es ihm nicht leicht, sich auszudrücken. Aber es gibt sicher junge Athleten, die etwas zu sagen hätten. Aber das Umfeld erschwert das. Sie meinen: Man lässt sie nicht? Der Radsport wird heute von Managern und Institutionen geführt, die alles nivellieren. Sie wollen nicht, dass Persönlichkeiten entstehen. Nehmen wir die Tour de France: Ob da Armstrong, Pantani, Ullrich oder Cipollini mitfahren, ist für die Organisatoren nicht erheblich. Die Tour ist das Event. Alles, was die Erhabenheit der Tour stört, jedes individuelle Moment, wird nicht gern gesehen. An dieser Philosophie, die die Macher der Tour vorgeben, orientieren sich die anderen. Und unter den Rennfahrern gibt es keinen, der den Mumm hat, etwas dagegen zu sagen. Aber welches Interesse sollte dahinter stecken, Radprofis wie kleine Angestellte zu halten statt sie mit ihrer Popularität zu Stars zu machen? Die Teammanager haben kein Interesse an Rennfahrern wie einem Cipollini. Mit dem gestaltet sich vieles schwieriger als mit einem, dem man ein Trikot, Schuhe und ein Rad in die Hand drückt und ihn ins Rennen schickt. Ein Cipollini will beim Trikot und beim Rad mitreden und sein Rennen gestalten, wie er will. Andernfalls fährt er nämlich nach Hause. Wer könnte denn Ihr sportlicher Nachfolger werden? Cavendish? Cavendish ist unglaublich talentiert. Er ist ein außergewöhnlicher Athlet. Ich hatte das Glück, ihn im letzten Jahr in Kalifornien aus nächster Nähe sprinten zu sehen. Im Peloton nimmt man das ganz anders wahr als von außen. Ich sah ihn da unglaubliche Dinge machen. Aber momentan ist er kein Cipollini. Er strukturiert seinen Sprint ganz anders, weil er über andere körperliche Charakteristika verfügt. »In Italien zählt nicht der Einsatz, sondern nur der Erfolg« Der zweite italienische Radstar neben Ihnen war Pantani. Aber er war ein anderer Typ, oder? Ihre Erfolgsstrategie war der „Treno Rosso“, der rote Sprintzug, den Sie bei Ihrem damaligen Team Saeco entwickelt hatten. Auch Pantani gehörte zu denen, die etwas ausdrücken wollten – nicht mit der Gestaltung des Trikots oder des Rades, sondern mit seinen Attacken am Berg. Das war eine Form von Kunst. Mancher ist ein Künstler auf dem Rad, ein anderer mit dem Pinsel, ein Dritter mit der Art, in der er sein Leben führt. Alle übermitteln auf ihre Weise eine Botschaft. Ja, dieser Hochgeschwindigkeitszug sollte ein körperliches Defizit ausgleichen. Mit 84 Kilo Körpergewicht und 1,90 Metern Größe war ich lange nicht so antrittsschnell wie Cavendish, der vielleicht 1,75 Meter groß ist. Ich konnte nicht so schnell von einer Geschwindigkeit in die andere wechseln. Aber je höher die Ausgangsgeschwindigkeit war, desto besser war ich in der Lage, noch weiter zu beschleunigen. Der Sprint begann bei mir ein Jahr vorher, als ich Leute in den Zug eingebaut habe. Das ist wie bei einer Fußballmannschaft. Es gibt Verteidiger, Mittelfeldspieler und Stürmer. Ich glaube nicht, dass Cavendish so denkt. Er geht noch etwas naiv an die Sache heran. Er ist aber so unglaublich explosiv, dass er 70 Meter vor dem Ziel noch an siebenter Stelle sein kann und trotzdem gewinnt. Man könnte es auch so sehen: Die heutigen Sprinter wollen im Kampf ums Grüne Trikot über die Berge kommen. Sie packen nicht – wie Sie das einst gemacht haben – einfach ihre Klamotten und fahren nach Hause, wenn es ihnen zu steil wird. Daran ist doch nichts auszusetzen? Vielleicht habe ich damals einen Fehler begangen. Damals war ich 25 Jahre alt, heute bin ich 42 und sehe das etwas anders. Man wird ja älter und lernt dabei. Aber mir gefiele es schon gut, wenn die heutigen Profis nicht nur ihre Qualitäten beim Sprint oder in den Bergen zeigten, sondern auch in der Auseinandersetzung mit den Verbänden und den Rennveranstaltern. Was halten Sie von Gerald Ciolek? Ihn habe ich auch 2008 in Kalifornien sprinten gesehen. Auch er ist ein großes Talent. Cavendish hat bessere genetische Gaben. Doch Ciolek kann noch viel zulegen. MARIO CIPOLLINI www.principia.dk Was halten Sie von den Deutschen und ihrem Verhältnis zum Radsport? Jan Ullrichs Karriere ist zerstört, Sponsoren sind vergrätzt, und die Deutschland-Tour ist verschwunden. Das ist eine politische Frage. Denn im Fall Ullrich handelt es sich nicht nur um ein Problem des Sports. Nach allem, was ich gelesen habe, hat er (Jan Ullrich) mehr einstecken »Bei kleinen Rennen in Deutschland war die Stimmung euphorisch – wie bei Mailand-San Remo. Es wäre schade, wenn das aufhören sollte« müssen als andere. Das gefällt mir nicht. Deutsche und Schweizer, italienische, spanische und französische Radprofis leben in der gleichen Welt. Sie müssten deshalb auch gleich behandelt werden, die gleichen Rechte und Pflichten haben. Vielleicht sollte man überlegter an die Sache herantreten, nicht zuerst jemanden idealisieren und ihm dann den Kopf abschlagen. Ich meine das nicht als Kritik. Jede Gesellschaft findet ihre eigenen Methoden, ihre Probleme zu lösen. Aber wegen des Verhältnisses, das ich zu Jan habe, finde ich, dass es schlecht gelaufen ist. !"#$%& $"&! Ist Deutschland im Radsport jetzt zweitklassig? Ettore Torri, der Antidoping-Staatsanwalt des CONI, möchte den Fuentes-Skandal richtig aufarbeiten. Der Spanier Alejandro Valverde soll behandelt werden wie Ihre Landsleute Ivan Basso und Michele Scarponi, die Sperren absitzen mussten. Wie beurteilen Sie Torris Arbeit? Auf alle Fälle müssen gleiche Rechte und Pflichten für alle gelten. Es kann doch nicht sein, dass im Fußball oder in der Leichtathletik mit anderen Maßstäben gemessen wird als im Radsport. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich unter Tausenden Olympiateilnehmern nur eine Handvoll Doper findet. Unter den wenigen, die erwischt wurden, waren zudem noch Pferde. Das ist doch absurd. Wenn man dann auf den Radsport blickt und feststellt, dass sich unter 190 Fahrern bei der Tour de France vielleicht 20 bis 30 Doper befinden – glauben Sie dann, dass diese Verhältnisse stimmen? Nein. Das Zahlenverhältnis ist sicherlich nicht aussagekräftig. Wohnorte: Monaco und Monte San Quirico (Italien) Radsport-Karriere: Profi 1989–2005; Rücktritt: 26. April 2005; kurzes Comeback im Februar 2008 Teams: Del Tongo (1989–1991), MG Bianchi (1992–1993), Mercatone Uno (1994–1995), Saeco (1996– 2001), Acqua & Sapone (2002), Domina Vacanze (2003–2004), Liquigas (2005), Rock Racing (2008) Wichtigste Erfolge (insgesamt 189 Siege): Straßen-Weltmeister 2002, Mailand-San Remo 2002, Gent-Wevelgem 1992, 1993, 2002, Rekord-Etappensieger beim Giro d’Italia (42 Tagessiege), 12 Etappensiege Tour de France, 3 Etappensiege Vuelta a España, Italienischer Meister 1996, Junioren-Weltmeister im Mannschaftszeitfahren 1985. Arbeitet derzeit als Berater des italienisch-ukrainischen Teams ISDDanieli mit Dario Cioni und Giovanni Visconti Sehen Sie. Doch warum zielt man immer so auf den Radsport? Ist es von jemandem eingefädelt worden, dem das große Interesse am Radsport nicht gefällt? Mir würde es gefallen, wenn die WADA zehn Tage vor einem Champions-League-Finale (im Fußball; Anm. d. Red.) Dopingkontrollen in vergleichbarem Ausmaß wie im Radsport vornehmen würde. Anders gesagt: Bei 1.000 Radprofis werden 1.000 Kontrollen vorgenommen. Bei 100.000 Fußballern müsste man 100.000 Kontrollen machen, um auf vergleichbare Daten zu kommen. Aber im Fußball herrschen andere ökonomische Verhältnisse. Was passiert denn, wenn ein Fußballer, der 50 Millionen Euro wert ist, ein Jahr gesperrt wird? Ein interessantes Problem. Aber bleiben wir beim Radsport. Bevorzugen Sie Torris harte Linie oder die weiche spanische? Weder noch. Wer einen Fehler gemacht hat, muss dafür zahlen. Aber – bei allem Respekt für einen Mann der Justiz – Torri kann nicht der alleinige Retter sein. Er ist vielleicht der bewaffnete Arm. Aber die Staaten müssen eine Lösung finden. Sie müssen sich zusammensetzen, wie sie es auch bei der Finanzkrise tun, und eine gemeinsame Linie festlegen. ■ Die meisten Veränderungen gehen so schnell vor sich, dass man sie fast nicht bemerkt. Das gilt jedoch nicht für den ganz neuen Zipp 404 Laufradsatz. Für 2009 haben wir einen 1250-g-Radsatz genommen, der bereits Rennen vom Velodrom bis zu den Alpe d’Huez gewonnen hat, und haben diesen in fast jeder Hinsicht verbessert. Der neue Zipp 404er Laufradsatz macht mit der aktualisierten 58-mm-Felgenform und der dritten Generation unseres ABLC-Golfballdesigns 9 Sekunden gut gegenüber der 40-km-Zeit des Vorgängers. Größere Achsen, verbesserte Dichtungen und die höheren Flansche des ganz neuen 88/188-Nabensatzes verbessern in jeder Hinsicht die Leistung, ohne auch nur ein Gramm zu dem unter 1500 g schweren Laufradsatz hinzuzufügen. Die Neuerfindung des 404 war nicht einfach. Aber das ist Fortschritt nie. Ich verfolge die Situation in Deutschland nicht richtig. Aber es ist schon sehr merkwürdig. Jan war einer der wichtigsten Sportler in Deutschland. Er hat den Radsport nachhaltig verändert. Bei den wenigen kleinen Rennen, die ich in Deutschland ȀǻǸ ǶǫǸǹǵǴ besucht habe, ist mir nur aufgefallen, was für eine tolle Stimmung dort herrschte. Die Spitzname: Re Leone Fans waren euphorisch – so, als sei jedes („der Löwenkönig“) dieser Rennen bereits Mailand-San Remo. Geboren: 22. März 1967; Wenn das jetzt auf hören sollte, so wäre verheiratet mit Sabrina; zwei Kinder, dies sehr schade. Lucrezia (11) und Rachele (9)