mario cipollini

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MARIO CIPOLLINI
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TOUR 5 | 2009
Mario Cipollini ist mit 42 Etappensiegen nicht
nur Rekordsieger beim Giro, er war auch einer der
wenigen Popstars des Radsports. Mit TOUR sprach
der 42-jährige Italiener über die Bedeutung des
Giro d’Italia, über Gerechtigkeit im Sport und den
Mangel an Persönlichkeiten
»Den Rennfahrern
fehlt der
Mumm«
ǯǴǺǫǸǼǯǫǽ Tom Mustroph ǬǵǺǵǹ Lorenzo Scaccini
TOUR: Signor Cipollini, der Giro d’Italia erlebt zur 100-Jahr-Feier
eine Renaissance. Lance Armstrong hatte angekündigt, er wolle
in Italien zeigen, dass er noch fit für eine starke Tour de France
ist. Welche Bedeutung könnte er für den Giro haben?
CIPOLLINI: Er wäre der Leuchtturm im Rennen. Ohne
ihn würde der Bezugspunkt fehlen.
Nach seinem Sturz in Spanien im März, bei dem er sich das
Schlüsselbein brach, weiß niemand, ob er rechtzeitig fit wird.
Wäre denn Armstrong überhaupt in der Verfassung, eine
dreiwöchige Rundfahrt zu gewinnen?
Armstrong selbst dürfte von allen Beteiligten die meisten
Zweifel an diesem Unternehmen haben. Er hat schon
zu Saisonbeginn andere Antworten bekommen als er
erwartet hat.
Welche Antworten meinen Sie?
wecken. Er hat nicht nur sportliche Ziele, sondern
auch eine soziale Botschaft. Seine Stiftung unternimmt
wichtige Dinge. Deshalb hat er doppeltes Gewicht. Meine
Hoffnung ist, dass er sein Gewicht nicht nur für sich
allein, sondern für den ganzen Radsport einbringt.
Auch ohne Armstrong ist der Giro ein wichtiges Rennen. Was
halten Sie vom Giro d’Italia, wie er sich zum 100. Geburtstag
präsentiert?
Die Streckenführung ist etwas merkwürdig, aber sehr
anspruchsvoll. Ich glaube, nicht alle haben sich die
Schwierigkeiten vor Augen gehalten. Es gibt keine Phase
im Rennen, in der man sich zwei, drei Tage erholen kann.
Jede Etappe bietet eine Gefahr. Deshalb wird es sehr
taktisch werden. Wer die Kontrolle im Rennen übernehmen will, braucht eine sehr starke Mannschaft.
Meiner Meinung nach hat er vor allem beim Zeitfahren
der Kalifornien-Rundfahrt nicht erwartet, auf einem
24 Kilometer langen Kurs eineinhalb Minuten zu verlieren (bei dem Rennen Mitte Februar gewann Armstrongs
Astana-Teamkollege Levi Leipheimer, Armstrong lag 1:16
Minuten zurück; Anm. d. Red.). Aber er wird das selbst
besser einschätzen können als ich. Für den Armstrong
der goldenen Jahre wäre der Giro ein Spaziergang. Doch
er hat drei Jahre pausiert. Da bleiben Zweifel.
Danilo Di Luca, der Giro-Sieger von 2007, meint, in diesem Jahr
sei der Giro wichtiger als die Tour – er sei härter und es nähmen
mehr Favoriten teil. Stimmen Sie ihm zu?
Die Begeisterung beim Veranstalter über seine Zusage war
riesig. Welche Bedeutung hat Armstrong für den Radsport?
In Frankreich wird ein Landsmann, der eine 50-KilometerFlucht absolviert, vor dem Ziel aber gestellt worden ist,
wie ein Etappensieger gefeiert. Wenn in Italien einer
50 Kilometer vorne fährt, dann aber nicht den Sieg holt,
Er ist ein Star, ein richtiger Rockstar. Um ihn herum kreist
ein halbes Universum. Er kann ein enormes Interesse
Man kann Giro und Tour nicht auf eine Stufe stellen. Die
Strecken sind anders, aber ähnlich anstrengend. Es gibt
harte Anstiege bei beiden Rundfahrten. In der Interpretation allerdings unterscheiden sich beide Rundfahrten,
denn die Mentalitäten sind anders.
Wie meinen Sie das?
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MARIO CIPOLLINI
kümmert sich niemand um ihn. In Italien zählt nicht der
Einsatz, sondern nur der Erfolg. In den französischen
Medien wird für den gescheiterten Ausreißer eine ganze
Seite frei gemacht. Daher ist bei den Franzosen der Wille,
sich zu zeigen, sehr ausgeprägt. „Gehst du? Gehe ich? Wer
kommt mit?“, so heißt es dort ständig unter den Rennfahrern. In Italien sind die Rennen viel kontrollierter.
Man startet auch Attacken. Aber nicht so früh, nur um ein
paar Punkte fürs Punkte- oder Bergtrikot zu holen.
Der Radsport hatte im vergangenen Jahrzehnt viele Profis, die
für Schlagzeilen gut waren, aber nur zwei echte Stars: Mario
Cipollini und Lance Armstrong. Warum fällt es in diesem Milieu
so schwer, Stars hervorzubringen?
Die Welt des Radsports ist speziell. Sie baut auf einer
besonderen Kultur auf. Radsport wurde in der Nachkriegszeit vor allem von Leuten betrieben, die ursprünglich kein Geld für ein Auto hatten. Sie haben das Fahrrad
benutzt, um sich fortzubewegen. Der Radsport war eine
Betätigung der mittleren und unteren Schichten, eine
Beschäftigung von Männern, die hart arbeiten mussten.
Doch das ist lange her ...
Heute öffnet sich dieser Sport. Man kann auch Manager
von Vodafone und Führungskräfte von Barilla beim
Dolomiten-Radmarathon treffen. Aber die Wurzeln
dieses Sports liegen weiter unten. Traditionell sind dem
Radsport mondänes Leben und Extrovertiertheit eher
fremd. Ein Radsportler schuftet. Er zieht sich zurück. Es
ist ihm fremd, aus sich herauszugehen. Deshalb fällt es
ihm nicht leicht, sich auszudrücken. Aber es gibt sicher
junge Athleten, die etwas zu sagen hätten. Aber das
Umfeld erschwert das.
Sie meinen: Man lässt sie nicht?
Der Radsport wird heute von Managern und Institutionen geführt, die alles nivellieren. Sie wollen nicht, dass
Persönlichkeiten entstehen. Nehmen wir die Tour de
France: Ob da Armstrong, Pantani, Ullrich oder Cipollini
mitfahren, ist für die Organisatoren nicht erheblich.
Die Tour ist das Event. Alles, was die Erhabenheit
der Tour stört, jedes individuelle Moment, wird nicht
gern gesehen. An dieser Philosophie, die die Macher der
Tour vorgeben, orientieren sich die anderen. Und unter
den Rennfahrern gibt es keinen, der den Mumm hat,
etwas dagegen zu sagen.
Aber welches Interesse sollte dahinter stecken, Radprofis wie
kleine Angestellte zu halten statt sie mit ihrer Popularität zu
Stars zu machen?
Die Teammanager haben kein Interesse an Rennfahrern
wie einem Cipollini. Mit dem gestaltet sich vieles schwieriger als mit einem, dem man ein Trikot, Schuhe und ein
Rad in die Hand drückt und ihn ins Rennen schickt. Ein
Cipollini will beim Trikot und beim Rad mitreden und
sein Rennen gestalten, wie er will. Andernfalls fährt er
nämlich nach Hause.
Wer könnte denn Ihr sportlicher Nachfolger werden? Cavendish?
Cavendish ist unglaublich talentiert. Er ist ein außergewöhnlicher Athlet. Ich hatte das Glück, ihn im letzten
Jahr in Kalifornien aus nächster Nähe sprinten zu sehen.
Im Peloton nimmt man das ganz anders wahr als von
außen. Ich sah ihn da unglaubliche Dinge machen. Aber
momentan ist er kein Cipollini. Er strukturiert seinen
Sprint ganz anders, weil er über andere körperliche
Charakteristika verfügt.
»In Italien zählt nicht der Einsatz,
sondern nur der Erfolg«
Der zweite italienische Radstar neben Ihnen war Pantani. Aber
er war ein anderer Typ, oder?
Ihre Erfolgsstrategie war der „Treno Rosso“, der rote Sprintzug,
den Sie bei Ihrem damaligen Team Saeco entwickelt hatten.
Auch Pantani gehörte zu denen, die etwas ausdrücken
wollten – nicht mit der Gestaltung des Trikots oder des
Rades, sondern mit seinen Attacken am Berg. Das war
eine Form von Kunst. Mancher ist ein Künstler auf
dem Rad, ein anderer mit dem Pinsel, ein Dritter mit
der Art, in der er sein Leben führt. Alle übermitteln auf
ihre Weise eine Botschaft.
Ja, dieser Hochgeschwindigkeitszug sollte ein körperliches Defizit ausgleichen. Mit 84 Kilo Körpergewicht
und 1,90 Metern Größe war ich lange nicht so antrittsschnell wie Cavendish, der vielleicht 1,75 Meter groß ist.
Ich konnte nicht so schnell von einer Geschwindigkeit in
die andere wechseln. Aber je höher die Ausgangsgeschwindigkeit war, desto besser war ich in der Lage,
noch weiter zu beschleunigen. Der Sprint begann bei
mir ein Jahr vorher, als ich Leute in den Zug eingebaut
habe. Das ist wie bei einer Fußballmannschaft. Es gibt
Verteidiger, Mittelfeldspieler und Stürmer. Ich glaube
nicht, dass Cavendish so denkt. Er geht noch etwas naiv
an die Sache heran. Er ist aber so unglaublich explosiv,
dass er 70 Meter vor dem Ziel noch an siebenter Stelle sein
kann und trotzdem gewinnt.
Man könnte es auch so sehen: Die heutigen Sprinter wollen im
Kampf ums Grüne Trikot über die Berge kommen. Sie packen
nicht – wie Sie das einst gemacht haben – einfach ihre Klamotten und fahren nach Hause, wenn es ihnen zu steil wird. Daran
ist doch nichts auszusetzen?
Vielleicht habe ich damals einen Fehler begangen. Damals
war ich 25 Jahre alt, heute bin ich 42 und sehe das etwas
anders. Man wird ja älter und lernt dabei. Aber mir gefiele
es schon gut, wenn die heutigen Profis nicht nur ihre
Qualitäten beim Sprint oder in den Bergen zeigten, sondern auch in der Auseinandersetzung mit den Verbänden
und den Rennveranstaltern.
Was halten Sie von Gerald Ciolek?
Ihn habe ich auch 2008 in Kalifornien sprinten gesehen.
Auch er ist ein großes Talent. Cavendish hat bessere
genetische Gaben. Doch Ciolek kann noch viel zulegen.
MARIO CIPOLLINI
www.principia.dk
Was halten Sie von den Deutschen und ihrem Verhältnis zum
Radsport? Jan Ullrichs Karriere ist zerstört, Sponsoren sind vergrätzt, und die Deutschland-Tour ist verschwunden.
Das ist eine politische Frage. Denn im Fall Ullrich handelt
es sich nicht nur um ein Problem des Sports. Nach allem,
was ich gelesen habe, hat er (Jan Ullrich) mehr einstecken
»Bei kleinen Rennen in Deutschland
war die Stimmung euphorisch –
wie bei Mailand-San Remo. Es wäre
schade, wenn das aufhören sollte«
müssen als andere. Das gefällt mir nicht. Deutsche und
Schweizer, italienische, spanische und französische Radprofis leben in der gleichen Welt. Sie müssten deshalb
auch gleich behandelt werden, die gleichen Rechte und
Pflichten haben. Vielleicht sollte man überlegter an die
Sache herantreten, nicht zuerst jemanden idealisieren
und ihm dann den Kopf abschlagen. Ich meine das nicht
als Kritik. Jede Gesellschaft findet ihre eigenen Methoden,
ihre Probleme zu lösen. Aber wegen des Verhältnisses, das
ich zu Jan habe, finde ich, dass es schlecht gelaufen ist.
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Ist Deutschland im Radsport jetzt zweitklassig?
Ettore Torri, der Antidoping-Staatsanwalt des
CONI, möchte den Fuentes-Skandal richtig
aufarbeiten. Der Spanier Alejandro Valverde
soll behandelt werden wie Ihre Landsleute Ivan
Basso und Michele Scarponi, die Sperren absitzen mussten. Wie beurteilen Sie Torris Arbeit?
Auf alle Fälle müssen gleiche Rechte und
Pflichten für alle gelten. Es kann doch
nicht sein, dass im Fußball oder in der
Leichtathletik mit anderen Maßstäben
gemessen wird als im Radsport. Ich kann
mir nicht vorstellen, dass sich unter Tausenden Olympiateilnehmern nur eine
Handvoll Doper findet. Unter den wenigen, die erwischt wurden, waren zudem
noch Pferde. Das ist doch absurd. Wenn
man dann auf den Radsport blickt und
feststellt, dass sich unter 190 Fahrern bei
der Tour de France vielleicht 20 bis 30
Doper befinden – glauben Sie dann, dass
diese Verhältnisse stimmen?
Nein. Das Zahlenverhältnis ist sicherlich nicht
aussagekräftig.
Wohnorte: Monaco und
Monte San Quirico (Italien)
Radsport-Karriere:
Profi 1989–2005;
Rücktritt: 26. April 2005;
kurzes Comeback im Februar 2008
Teams: Del Tongo (1989–1991),
MG Bianchi (1992–1993),
Mercatone Uno (1994–1995),
Saeco (1996– 2001), Acqua &
Sapone (2002), Domina Vacanze
(2003–2004), Liquigas (2005),
Rock Racing (2008)
Wichtigste Erfolge (insgesamt
189 Siege): Straßen-Weltmeister
2002, Mailand-San Remo 2002,
Gent-Wevelgem 1992, 1993, 2002,
Rekord-Etappensieger beim Giro
d’Italia (42 Tagessiege), 12 Etappensiege Tour de France, 3 Etappensiege
Vuelta a España, Italienischer Meister
1996, Junioren-Weltmeister im
Mannschaftszeitfahren 1985.
Arbeitet derzeit als Berater des
italienisch-ukrainischen Teams ISDDanieli mit Dario Cioni und Giovanni
Visconti
Sehen Sie. Doch warum zielt man immer
so auf den Radsport? Ist es von jemandem
eingefädelt worden, dem das große Interesse am Radsport nicht gefällt? Mir würde
es gefallen, wenn die WADA zehn Tage
vor einem Champions-League-Finale (im
Fußball; Anm. d. Red.) Dopingkontrollen in vergleichbarem
Ausmaß wie im Radsport vornehmen würde. Anders gesagt: Bei 1.000 Radprofis werden 1.000 Kontrollen vorgenommen. Bei 100.000 Fußballern müsste man 100.000
Kontrollen machen, um auf vergleichbare Daten zu kommen. Aber im Fußball herrschen andere ökonomische
Verhältnisse. Was passiert denn, wenn ein Fußballer, der
50 Millionen Euro wert ist, ein Jahr gesperrt wird?
Ein interessantes Problem. Aber bleiben wir beim Radsport.
Bevorzugen Sie Torris harte Linie oder die weiche spanische?
Weder noch. Wer einen Fehler gemacht hat, muss dafür
zahlen. Aber – bei allem Respekt für einen Mann der
Justiz – Torri kann nicht der alleinige Retter sein. Er ist
vielleicht der bewaffnete Arm. Aber die Staaten müssen
eine Lösung finden. Sie müssen sich zusammensetzen,
wie sie es auch bei der Finanzkrise tun, und eine gemeinsame Linie festlegen.
■
Die meisten Veränderungen gehen so schnell
vor sich, dass man sie fast nicht bemerkt.
Das gilt jedoch nicht für den ganz neuen
Zipp 404 Laufradsatz. Für 2009 haben
wir einen 1250-g-Radsatz genommen, der
bereits Rennen vom Velodrom bis zu den
Alpe d’Huez gewonnen hat, und haben
diesen in fast jeder Hinsicht verbessert.
Der neue Zipp 404er Laufradsatz macht
mit der aktualisierten 58-mm-Felgenform
und der dritten Generation unseres
ABLC-Golfballdesigns 9 Sekunden gut
gegenüber der 40-km-Zeit des Vorgängers.
Größere Achsen, verbesserte Dichtungen
und die höheren Flansche des ganz neuen
88/188-Nabensatzes verbessern in jeder
Hinsicht die Leistung, ohne auch nur ein
Gramm zu dem unter 1500 g schweren
Laufradsatz hinzuzufügen.
Die Neuerfindung des 404 war nicht einfach.
Aber das ist Fortschritt nie.
Ich verfolge die Situation in Deutschland nicht richtig.
Aber es ist schon sehr merkwürdig. Jan war einer der
wichtigsten Sportler in Deutschland. Er hat den Radsport
nachhaltig verändert. Bei den wenigen
kleinen Rennen, die ich in Deutschland
ȀǻǸ ǶǫǸǹǵǴ
besucht habe, ist mir nur aufgefallen, was
für eine tolle Stimmung dort herrschte. Die Spitzname: Re Leone
Fans waren euphorisch – so, als sei jedes („der Löwenkönig“)
dieser Rennen bereits Mailand-San Remo. Geboren: 22. März 1967;
Wenn das jetzt auf hören sollte, so wäre verheiratet mit Sabrina; zwei Kinder,
dies sehr schade.
Lucrezia (11) und Rachele (9)
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