Hinrichtung verschoben

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WISSENSCHAFT
Seuchen
Hinrichtung
verschoben
WHO
Soll der Pockenerreger für immer
aus der Welt getilgt werden? Manche Virologen möchten ihn retten.
Jetzt entscheidet die WHO.
Behälter mit Pockenviren (in Atlanta)
m Freitag dieser Woche werden sich
im Raum E 110 der WHO-Zentrale
in Genf elf Geschworene zu Rate
setzen. Sie halten Gericht über den Inhalt
von 600 Plastikphiolen, die in versiegelten Behältern lagern: eine Charge in
Kühlaggregaten in einem Moskauer Labor, die andere in einem angeketteten
Tiefkühltank im US-Seuchenzentrum in
Atlanta (US-Staat Georgia).
Beraten wird in Genf über die letzten
noch intakten Stämme eines Erregers,
der jahrtausendelang die Menschheit bedroht hat: In niemals abreißenden Infektionsketten tötete das Pockenvirus (Variola) Millionen von Erdenbewohnern,
viele erblindeten oder wurden dauerhaft
entstellt.
„Ein Wunder, vergleichbar der Erfindung des Flugzeugs und der Landung auf
dem Mond“ – so hatte 1977 der damalige
WHO-Generaldirektor Halfdan Mahler
den Sieg über die Pocken gerühmt.
Mit einem Kostenaufwand von annähernd 300 Millionen Dollar, großenteils
aufgebracht von der Sowjetunion und
den USA, war damals das „Project Zero“
erfolgreich beendet worden. Zehn Jahre
hatte die Kampagne zur Ausrottung der
Pocken gedauert; als letzter Pockenpatient ging 1977 der 23jährige Koch Ali
Maow Maalin aus der somalischen Hafenstadt Merka in die WHO-Annalen
ein.
Weltweit stellten daraufhin die Gesundheitsbehörden die Schutzimpfungen
ein. Die zur Gewinnung von Impfstoffen
gezüchteten Erreger, Pockenvirenstämme aus etwa einem Dutzend Ländern,
wurden in den Labors von Moskau und
Atlanta unter Verschluß genommen.
Über das Schicksal der nunmehr gebändigten Killer waren sich die Verantwortlichen der Pockenausrottungskampagne im Dezember 1990 zunächst einig
geworden: Laborangestellte in Moskau
und Atlanta, bekleidet mit hermetisch
dichten Schutzanzügen und sicherheitshalber auch gegen Pocken schutzgeimpft, sollten am 31. Dezember 1993,
24 Uhr, die letzten Pockenviren aus den
Kühlbehältern in eine Sterilisationsanlage geben. Dort sollten die Erreger für 45
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DER SPIEGEL 36/1994
Pockenkrankes Kind
WHO
C. STEELE-PERKINS / MAGNUM / FOCUS
A
Pockenvirus
Menschheitsgeißel Pocken: Gebändigter Killer
Minuten bei einer Temperatur von 120
Grad Celsius abgetötet werden. Zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit wäre damit eine Lebensform vorsätzlich vernichtet worden.
Doch der auf die Silvesternacht letzten Jahres angesetzte Hinrichtungstermin verstrich. „Erst waren es nur wenige Wissenschaftler, die sich gegen die
Virusvernichtung aussprachen“, erinnert sich der bei der WHO für Pocken
zuständige Projektleiter, der russische
Virologe Jurij Ghendon. „Je näher das
Datum rückte, desto stärker schwoll die
Briefflut an.“
Im August letzten Jahres war das Variola-Problem Thema einer Sonderkonferenz im schottischen Glasgow. Überraschendes Ergebnis der Tagung: Jeder
zweite der anwesenden 500 Virologen,
Biologen und Mikrobiologen sprach sich
dafür aus, die eingelagerten Pockenerreger zu erhalten – zum Zwecke wissenschaftlicher Erforschung bekannter wie
auch möglicherweise unbekannter Viren
und mithin letztlich zum Wohle der
Menschheit.
Der amerikanische Mikrobiologe und
Immunspezialist Wolfgang Joklik etwa
hielt das Vorhaben, das Virus „zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu zerstören“,
für „absolut unvertretbar“. Zwar ist inzwischen die gesamte Erbinformation
(Genom) des Pockenvirus entschlüsselt
worden. Doch die einzelnen Funktionen
aller 187 Gene sind noch lange nicht geklärt.
Erst vor wenigen Monaten gelang es
beispielsweise, das Gen zu entdecken,
das die Vermehrung des Virus in den
Zellen des menschlichen Körpers ankurbelt. „Dieses Gen kannten wir vor
einem Jahr noch nicht“, sagt Joklik.
Ungeklärt sei die Zuständigkeit von
weiteren 100 Genen im Pockenvirus.
Ihr Einfluß auf das menschliche Immunsystem müsse erforscht werden, um
womöglich Rückschlüsse auf andere Viruserkrankungen wie etwa Aids zu ziehen.
Derartige Forschung, entgegnen die
Befürworter der Virusvernichtung, sei
auch an harmlosen Variola-Verwandten
zu betreiben. Überdies hätten die Genetiker von dem Pockenerreger durch
Zerschneiden des Virenerbguts einzelne – ihrerseits harmlose – DNA-Stränge
gewonnen und archiviert, die sich bei
Bedarf wieder zusammenfügen ließen.
Die endgültige Abstimmung über den
Hitzetod der verbliebenen Pockenstämme soll erst im nächsten Jahr erfolgen:
bei der WHO-Vollversammlung im
Mai. Von den elf Wissenschafts-Geschworenen in Genf, die am Freitag
dieser Woche eine Vorentscheidung
über Variola fällen, wird ein klares
Verdikt erwartet; Experten rechnen mit
allenfalls zwei Gegenstimmen.
Für „Mediziner, die sich um die
menschliche Gesundheit sorgen“, gibt
es für den russischen Virologen Otar
Andzhaparidze nur ein denkbares Votum über das Virus: „Kill it.“
Y
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