Arbeitskreis "Formatierung sozialer Räume", Entwurf (Gehmann) 05/08 1 Technik & Mentalität Entwurf (2. Fassung; U. Gehmann) Die zentrale Frage des Arbeitskreises: ob unsere Welt tatsächlich zum Technotop geworden ist – als Ergebnis einer für das Abendland typischen Betonung von Technik, i. S. ihrer linearen Optimierung im Gesamtgefüge eines umfassenden Rationalisierungsprozesses 1 – kann nur beantwortet werden, wenn wir die wesentlichen Dimensionen dieses Prozesses betrachten. Zumal dieser Prozess (a) sowohl zur Folge hat, als auch (b) begleitet wird von Veränderungen von uns als Menschen: zum einen in Richtung einer Formatierung von Lebensräumen (physisch und sozial), zum anderen in Richtung der Formatierung von Wahrnehmung selbst; ein Vorgang, den wir, als vorläufige Begriffsfindung, in seiner Gesamtheit mit "Windowisierung" umrissen haben, um auf Tiefe und Umfang eines solchen Vorgangs hinzuweisen. Ein Vorgang, der möglicherweise irreversible Züge trägt, weil sich eine Formatierung der Wahrnehmung und eine der Lebensräume gegenseitig verstärken (These 1). 2 Formatierung hat mit Technik zu tun, ist im weitesten Sinne, und bereits in einem intuitivganzheitlichen Alltagsverständnis, ein 'technischer' Vorgang. Das bedeutet, sich das Wesen von Technik in Hinsicht auf seine Fähigkeit zur Formaterzeugung näher zu betrachten: Technik muß hier in einem weiteren Sinne verstanden werden, beschränkt sich also nicht nur auf die 'klassische' Dimension 1: unmittelbare technische Artefakte plus assoziierte Technologien, wie etwa der Computer, die IT (Information Technology), das Internet. Eine Auffassung von Technik, die selbst erweiterte Technikdefinitionen teilen: Artefakte plus ihnen unmittelbar zugehörige, d.h. für ihre Funktionalität notwendige Prozesse. Was aber ein unzureichendes weil zu kurz greifendes Verständnis gerade von heutiger Technik ist. Ausgehend von der Ursprungsidee von Technik als τέχνη, die ja nicht nur das verkörpert, was Natur hervorzubringen nicht in der Lage ist (Aristoteles), das Künstliche im Wortsinn (ars, facere); sondern auch Technik als etwas Erlernbares auffasst, etwas Trainierbares i.S. des Einübens algorithmischen = streng regelhaften Vorgehens. 3 Der letztgenannte Aspekt führt zu Dimension 2, Technik als Prozeß: Alle Weisen des Organisierens als algorithmisierten Prozeß – Managementtechniken etwa, oder solche der formatierten = nach Algorithmen festgelegten Informationsverarbeitung können ebenfalls als Technik verstanden werden. "Algorithmisiert" meint: alle Verfahren, die eine technoide Morphologie ihrer Abläufe (eben Prozesse) kennzeichnet; "technoid" ist sie, weil sie Algorithmen folgt, in diesem Sinne also vorprogrammiert ist. Wodurch Formate erzeugt werden (These 11). Das betrifft nicht nur • eineindeutig zweckorientierte Prozesse wie z.B. Güterproduktion, Verschaltungen in einem Computer oder dergleichen. Also Prozesse, die unter eine Definition von Technik im weiteren Sinne als Mittel/Verfahren fallen, die "alle Verfahren eines Handelns und Denkens" umfaßt, "die methodischen Operationsregeln folgen und...einen bestimmten Zweck anstreben." 4 Sondern auch • sozial festgelegte Algorithmen i. S. von festgelegten Normen & Prozeduren, nach denen etwas geschieht; bzw. zu geschehen hat, in den Köpfen der Beteiligten, als einem zentralen Aspekt von Windowisierung. Rangierend von bewußt festgelegten Prozeduren des zweckorientierten Organisierens – subsumiert als 'Ablauforganisation', etwa eines Unternehmens – bis hin zu nicht bewußt geplanten Prozeduren sozialer Kommunikation im Allgemeinen. Die aber dennoch, obwohl ungeplant, algorithmisiert 1 Vgl. Max Weber (Kröner-Ausg. 1992): 147-150, Entstehen und "Verfestigung" rationaler Ordnung. Alle Thesen sind nochmals gesondert in "Thesen Arbeitskreis" zusammengefasst. 3 Vgl. UG, uveröff. Manuskript, τέχνη als ποίησις, als "Machen", zurückgehend auf Heraklit. 4 Nach Rammert, W. (Hrsg.,1993): Technik aus soziologischer Perspektive. Forschungsstand, Theorieansätze, Fallbeispiele - ein Überblick. Opladen; Westdeutscher Verlag. Zit. S. 11. 2 Arbeitskreis "Formatierung sozialer Räume", Entwurf (Gehmann) 05/08 2 verläuft, damit formatierten Charakter hat. Und wichtiger, damit formatierend wirkt. Ritualisierte Handlungen also, die durch die Tatsache der Ritualisierung ihrem eigenen Ziel, ihrer eigenen Entelechie folgen, auch wenn diese bewußt nie konzipiert wurde. Ein zweiter Aspekt von Windowisierung. All das meint Technik als algorithmisierter Organisationsprozeß. Mündend in Dimension 3: Technik als formatierte Organisationsstruktur; technische Strukturen als Resultat algorithmisierten Organisierens, die dann, als wahrnehmungsprägende Komponenten unserer heutigen Welt, als "vorherrschend" gesehen werden. Etwa die Organisationsstruktur heutiger globaler Finanzmärkte, medialer Vermittlung, des Zusammenspiels von Global Players auf internationalen Märkten, oder ähnliche vernetzte, unser Sein bestimmende Systemiken. Aber auch im Bereich sozialer Kommunikation als Ergebnis besagter ritualisierter Handlungen, formatierte Kommunikations- und Sozialstrukturen umfasst. Und somit zu einer Struktur führt, die als Windowisierung des sozialen Raumes bezeichnet werden kann (These 16; siehe auch unten). Diese Dimension steht mit der zweiten in einem rekursiven Verhältnis, was dann das 'Zwingende' des Windowisierungs-Prozesses konstituiert (These 12): Einerseits erzeugt Technik als Prozeß (Dim.2) bestimmte technische Strukturen; auf der anderen Seite, und jetzt wird es in Richtung Windowisierung besonders interessant, führen bereits vorhandene Strukturen zur Erzeugung neuer Prozesse "in ihrem Sinne", also von ihrer Entelechie, ihrem 'Ziel' (τέλος) her gleichgerichtete Prozesse. Oder systemtheoretisch: Technik als Struktur ist in der Lage, einen Raum an Attraktoren aufzubauen, der bestimmte Prozeßmuster generiert. Dadurch wird Technik zum prinzipiell geschlossenen, sich selbst stabilisierenden autopoietischen System (These 14). Was sich dann, für unsere Wahrnehmung dieses Systems, als Windowisierung vermittelt. Die beiden letztgenannten Dimensionen führen zu dem, was Max Weber "abendländischen Rationalisierungsprozeß" nannte (These 2); sie blieben bei einer Betrachtung der Folgen von Technik bislang weitgehend unterbelichtet. Sie sind aber zentral (so die These 3) für ein Verständnis dessen, was heute geschieht. Denn die weitere These 4 ist, daß alle drei hier aufgeführten Dimensionen von Technik unsere heutigen Lebenswelten formen. Also das formen, was uns als Zoon Politikon, als Wesen in Gemeinschaften ausmacht. Lebenswelten, die innerhalb physischer und sozialer Lebensräume angesiedelt sind. Beide zusammen machen das aus, was als Lebenswirklichkeit bezeichnet wird. D.h. letztere umfaßt auch Bereiche, die sich der jeweiligen Lebenswelt nicht erschließen, diese aber beeinflußen. Gleiches gilt für den Lebensraum. Beispiel: unsere heutige Lebenswirklichkeit wird von wirtschaftlichen Prozessen geprägt, die auch dann wirksam sind, z.B. in der Beeinflussung des Lebensraums unserer Stadt, wenn wir ihrer nicht unmittelbar gewahr werden. Wie auch der Lebensraum unserer Stadt Bereiche umfaßt, die nicht 'unsere' sind, weil sie nicht zu unserer unmittelbaren Lebenswelt gehören. Lebenswirklichkeit Lebensraum Lebenswelt Individuum Fig. 0: Verhältnis von Lebenswirklichkeit, -raum und -welt, schematisch Arbeitskreis "Formatierung sozialer Räume", Entwurf (Gehmann) 05/08 3 Geht man von der Kategorie 'Lebensraum' nicht nur als Metapher, sondern von einer konkreten physischen Gestalt aus, so ist der geschichtlich vorherrschende Lebensraum, gleichzeitig Lebenswelt für das 'zivilisierte' Individuum, die Stadt; selbst noch in ihrer jüngsten Gestalt als amorphe Megacity. Der soziale Lebensraum, der auch die entsprechenden Kommunikationsräume umfaßt, ist hier angesiedelt. Er umfaßt neuerdings aber auch eine zusätzliche Dimension, die gleichzeitig eine von Raum überhaupt verkörpert: den sog. virtuellen Raum. Innerhalb dieses Raums, als Cyberspace bezeichnet, finden sich eine Vielzahl weiterer sozialer Räume – neben dem "klassischen", real physischen sozialen Raum. Rangierend von größeren anonymen Zusammenschlüssen wie etwa bei MassenComputerspielen wie WoW 5 , oder Räumen wie Second Life – mythologisch gesehen einem neuen Amerika, einer Neuen Welt im Ou-Topos des Virtuellen – bis hin zu Polis-artigen Zusammenschlüssen kleinerer Gruppen in Internetforen/ähnlichen sozialen Gestalten. Soweit zur Klassifikation. Es geht jedoch um mehr als nur um Klassifikatorisches. Vom Wesen dieser Bewegung her ist es das erste Mal in seiner Geschichte dem (westlichen) Menschen gelungen, eine Parallelwelt zu seiner bisherigen zu etablieren. Das ist die Natur des Virtuellen Raums, und unter dieser Leitperspektive muß er betrachtet werden, um nicht in Dickichte unzusammenhängender Einzelbefunde zu geraten, was seine Analyse angeht. In einem tief abendländischen Sinne wurde eine Utopie realisiert, wörtlich: ein bisheriger Nicht-Ort (ου-τόπος) erschlossen, der im herkömmlichen Sinne real und irreal zugleich ist, existent und dennoch ungreifbar als Entität. Der Virtuelle Raum als Technotop im unmittelbaren Sinne. Ergebnis von Technik, aufrechterhalten durch Technik, und doch weit mehr als etwas bloß Technisches. 6 Bildlich ausgedrückt stellen sich die skizzierten Verhältnisse wie folgt dar: Physischer Raum Stadt Hybrid Virtueller Raum Sozialer Raum Fig. 1: Grundlegende Raumtypen Heute noch vorherrschender Lebensraum, und damit auch die noch dominierende Lebenswelt, zumindest für die Mehrheit der heute lebenden Weltbevölkerung, 7 ist die Stadt – unabhängig, 5 WoW = World of Warcraft; steht stellvertretend, als pars pro toto. Heidegger's Satz, daß das Wesen des Technischen nichts Technisches sei, muß anhand dieser Entität neu überdacht werden. 7 Siehe den jüngsten Trend, daß heute weltweit erstmals mehr Menschen in Städten als auf dem Land leben. 6 Arbeitskreis "Formatierung sozialer Räume", Entwurf (Gehmann) 05/08 4 ob in Gestalt der klassischen Stadt, ihrer Nachfolgerin als 'Metropolitan Area', oder der einer ins Amorphe tendierenden Megacity. 8 In sog. 'zivilisierten' Gesellschaften westlicher Prägung – die nicht nur im Kerngebiet des Abendlandes, also Europa und Nordamerika angesiedelt sein müssen, sondern sich im Zuge der Globalisierung als gesellschaftliche Gestalt weltweit verbreiten – trat nun der besagte Virtuelle Raum als Welt sui generis auf. Ursprünglich für rein zweckrationale Vorhaben genutzt (wie z.B. ökonomische), entwickelte er sich mehr und mehr zum Lebensraum, und steht für nicht Wenige im Begriff, zum eigentlichen Lebensraum zu werden. Zumindest für die westliche, ehemals 'städtische' Bevölkerung – was durch die Überlappungen der hier dargestellten Räume zum Ausdruck gebracht werden soll. Ehemals, weil diese Bevölkerung nun erstmalig in ihrer Geschichte nicht mehr auf ihr angestammtes Substrat angewiesen ist, der Stadt als Basis für den sozialen Raum, nach klassisch-abendländischem Verständnis: der πόλις als Fundament für ein ζώον πολίτικον, den Mensch als Gemeinschaftswesen. Im Zusammenhang mit diesem Prozeß entstand daneben ein Hybrid, ein durch Technisierung entstandener Raum intermediären Charakters (These 5), der im Sinne der oben genannten Dimensionen von Technik als Organisationsprozeß und -struktur zunehmend vom physischen Raum Besitz ergreift. Dergestalt, daß immer mehr vitale = das Überleben unserer Zivilisation erhaltende Prozesse vom Virtuellen Raum abhängen – Internetkommunikation, auf letzterer gestütze Wirtschaftskreisläufe, und dergleichen. Dieser Hybridraum, in Form einer wachsenden Durchdringung des althergebrachten und bisher als einzigem Lebensraum bekannten physischen Raums, ist ein Wachstumszentrum des Technotops (These 6). 9 Im Fazit bedeuten die hier skizzierten Verhältnisse – die zugleich immer auch eine vorherrschende Entwicklungstendenz verkörpern, zumindest innerhalb der Gesellschaften westlicher Prägung – daß der soziale Raum sich zunehmend verlagert: vom physischen, real gegebenen Raum 'Stadt' als bislang dominierendem Lebensraum hin zum Virtuellen Raum. Mit der Gefahr einer im Vergleich zu heute noch weitergehenden Windowisierung, in Richtung einer wachsenden Formatierung sowohl von konkreten Lebensprozessen als auch individueller Wahrnehmung. Einer Formatierung, die nicht nur in ihrem Umfang – Erfassung verschiedener Lebensbereiche – sondern auch in ihrer Intensität, d.h. ihrem Durchdringungsgrad pro erfasstem Lebensbereich zunehmen wird (These 7). Unsere These 8 ist, daß die in Fig.1 gezeigten Räume technotopischen Charakter haben, ein Topos von Technik im Sinne ihrer 3 Dimensionen geworden sind. Weil das Zusammenspiel aller 3 Dimensionen von Technik zum einem neuen Raumtyp sui generis führte, eben dem 'Technotop' (These 9). Damit wird für die weitere Entwicklung ein best. Evolutionsraum geschaffen (These 10), d.h. einem physikalischen Kraftfeld vergleichbar, ein Möglichkeitsraum als Feld für weitere Entwicklungen. Der sich im Zuge der Technisierung aufgrund systemischer Eigendynamiken und ihrer selbstorganisierenden Kräfte aufgebaut hat. Und weiter aufbauen wird, dank weiterer, und im Vergleich zum bisherigen Verlauf noch intensiverer Technisierung. Wenn diese Thesen zutreffen, müssen sich alle Auseinandersetzungen über die "heutige Rolle der Technik" sowohl (a) mit diesem Raumtyp als solchem, als auch (b) mit seinen Emergenzen in den Lebenswelten des (ehemaligen?) Zoon politikon auseinandersetzen: nämlich den verschiedenen Formatierungs- und Windowisierungsprozessen im Gefolge seiner 8 Um die heute vorherrschenden Stadtgestalten zu nennen; Gestalt, weil es sich um mehr handelt als um bloße 'Formen', patterns oder shapes. Anlehnend an den Gestaltbegriff der deutschen Philosophie. Ein Lebensraum und eine Lebenswelt sind weit mehr als nur eine 'Form'-Sache. 9 Auf die mythologische Figur zweier Welten eingehend, Natura und Cultura, gilt das hier Gesagte für die Welt der Cultura. "Natürliche" Prozesse und ökologische Erwägungen werden hier nicht betrachtet. Also: die Auswirkungen des Menschen als 'Kultur'-Wesen auf den Rest von Welt. Auf 'Welt' als natürliche Residualgröße. Arbeitskreis "Formatierung sozialer Räume", Entwurf (Gehmann) 05/08 5 weiteren Entfaltung, seiner E-volution im Wortsinne. Eines Zoon politikon als geschichtlicher, und vor allem unseren Kulturkreis prägender Gestalt von der gefragt werden muß, ob sie im Rahmen eines Technotops hier skizzierten Ausmaßes nicht selbst 'Geschichte' geworden ist. Obsolet, ein Atavismus. 10 Oder ob neue Formen des 'Politischen' im klassisch abendländischen Verständnis als dem Gemeinschaftlichen im Entstehen begriffen sind; neue Gestalten von Gemeinschaft, welche die uns bekannte ablösen. Jegliche Fragen über "Strukturen der modernen mobilen Welt" 11 hätten diesen Sachverhalt zu berücksichtigen, basierend auf den oben skizzierten Dimensionen von Technik. Denn das grundlegende Kräftefeld, das solche Strukturen bestimmt (die immer mehr sind als nur Struktur) – die Verhältnisse zwischen Mobilität, Gesellschaft, und Innovation – ist Ergebnis dieser Dimensionen, und des daraus resultierenden Technotops als neuem, und vor allem eigentlichen Lebensraum des Menschen (These 17). • Die Entwicklungsdynamiken moderner Gesellschaften als Innovationssysteme, • und die Rolle der Mobilität bei Voraussetzungen und Strukturen gesellschaftlicher Veränderungsprozesse und des sozialen Wandels 12 können nur in diesem Kontext verstanden werden. Gerade, wenn das Ziel darin besteht, Entwicklungsbedingungen, aber auch Entwicklungsrichtung – siehe das Konzept des Evolutionsraumes – einer "mobilitätsorientierten gesellschaftlichen Realität" zu erfassen. 13 Einem Kontext, der ein erweitertes Verständnis sowohl von Innovation voraussetzt als der Frage, wie Neues entsteht, sich verbreitet, sich stabilisiert, aber sich auch zurückentwickelt – denn es geht nicht nur um technische Innovationen i.S. der Dimension 1 von Technik, sondern vor allem um ihre Emergenzen; als auch von Mobilität. Denn es geht nicht nur, und nicht einmal hauptsächlich, um Mobilität im engeren Sinne als Akt bewußter Bewegung (technische Perspektive) oder Bewegung sozialer Massen (soziologische Perspektive). Sondern um Mobilität als Entwicklungstendenz, und als Entwicklungsdynamik gleichermaßen; um Bewegung von und in Räumen, im Sinne des oben skizzierten Evolutionsraumes (These 18). Oder beide Thesen als mythologische Leitfigur formuliert, mit Blick auf zentrale ideengeschichtliche Grundlagen unseres Kulturkreises: der Versuch, durch eine spezifisch abendländische Kombination von Naturwissenschaft und Technik Massen zu beherrschen, als einer Figur von Masse ↔ Macht, schlug um. Die Herrschaft über Massen wurde die von Massen – in Form der spontanen Ordnung, des Ungewollten, des autopoietisch 'Gemachten' als ungeplant Entstandenem. 14 Diese Leitfigur ist gleichzeitig mehr als nur Bild – sie schuf Wirklichkeiten. Und soll auf eine weitere grundlegende Gegebenheit hinweisen: die ideengeschichtlichen Fundamente und Auswirkungen technotopischer Wirklichkeiten; vgl. unten, Untersuchungsdesign. Wobei mit Blick auf die in Fig. 1 skizzierte Raumentwicklung der Aspekt der Ordnungsentstehung über Vernetzungen besondere Beachtung verdient, unter Berücksichtigung der entsprechenden Befunde aus Geschichtswissenschaft, Systemtheorie(n) und Soziologie, um hier relevante Entwicklungsmuster sowie Pfadabhängigkeiten herauszuarbeiten. 10 Nicht als ludus naturae, sondern als ludus technicae. Siehe Skizze "Mobilität-Gesellschaft-Innovation" von Gleitsmann/Kunze/Möser/Eisele/Ötzel; unveröff. Manuskript. Damit im Zusammenhang Grunwald (Seminarpapier vom 30.10.2007), daß "die Arbeit am Technikbegriff ein wesentlicher Beitrag zum gesellschaftlichen Auftrag der Technikphilosophie" ist. 12 Skizze, ibid. 13 ibid. 14 Basierend auf der Figur der Entwicklung eines Prozesses als Zirkel zurück zu seinem Ausgangspunkt (Heraklit), des Enantiodromos. Hierzu, und zu Masse ↔ Macht in der heutigen westlichen Welt: Gehmann, unveröff. Manuskript. 11 Arbeitskreis "Formatierung sozialer Räume", Entwurf (Gehmann) 05/08 6 Untersuchungsdesign (A) Welche Entwicklungslinien betrachten Zentrale Frage: In welchen Dimensionen drückt sich dieser Wandel aus, und welche Entwicklungslinien lassen sich daraus ableiten? Die wesentlichen Dimensionen sind zum einen die menschliche Gemeinschaft als solche, die communitas im Sinne eines anthropologischen Constituens des Menschen als Zoon politikon. Den Transformationen dieses Constituens hin zum Technotop widmet sich Entwicklungslinie I, die sog. communitates. Wie sich das auf das Individuum auswirkt, d.h. in der Dimension individuellen Menschseins, behandelt Linie II. Und schließlich soll eine dritte Linie betrachtet werden, Ideen und aus ihnen resultierende Konzepte; einerseits Ergebnis der Transformationen, andererseits zu weiteren führend. Linie I Linie III communitates Ideen, Konzepte Linie II Individuum 2: wirken auf/stoßen an 3: schaffen 1b: so muß sie sein 3a: Person als Konzept 1a: was ist Gemeinschaft 1: Einflüsse auf das Individuum Fig. 2: Entwicklungslinien, Übersicht Linie I Entwicklung von Gemeinschaften in der longue duree, von den Anfängen der Polis bis zur Internet-'Gemeinschaft'. 15 Bewußt communitates genannt (lat. Plural von 'Gemeinschaft', communitas), um auf den abendländischen ideengeschichtlichen Ursprung der Idee menschlicher Gemeinschaft hinzuweisen, und die Transformationen dieses Konzepts im Laufe der abendländischen Geschichte zu verfolgen. Konzentration der Betrachtung auf die Entwicklung menschlicher Gemeinschaft seit der Moderne – Vorepochen werden lediglich zum Vergleich herangezogen – und bes. in der Postmoderne, hin zu ihren heutigen Ausprägungen, also Gestalten. 'Gestalt', weil es nicht nur 15 Bewußt in Anführungszeichen, weil noch nicht erwiesen ist, ob es sich um echte Gemeinschaften handelt. 'Echt' nicht in einem traditional-historischen, sondern anthropologischen Sinn. Arbeitskreis "Formatierung sozialer Räume", Entwurf (Gehmann) 05/08 7 um den Wandel äußerer Form geht (anhand formaler Struktur- und Klassifikationsmerkmale), sondern um die Erfassung der diesem Wandel zugrunde liegenden Triebkräfte: was transformiert eine menschliche Gemeinschaft als Lebenswelt (vgl. oben, Fig. 0)? Und um die vieldiskutierte Frage, ob soziale Vergemeinschaftungen in ihrer heutigen Ausprägung überhaupt noch als communitas, Gemeinschaft im eigentlichen (ursprünglichen) Sinne verstanden werden können. Ist etwa eine blog community noch eine communitas nach herkömmlichem Verständnis? Oder bereits etwas "ganz Anderes", eine evolutionär neue Gestalt menschlichen Zusammenlebens, das kein Pendant zu früheren Gestalten von Gemeinschaft hat? D.h. evolutionär betrachtet, ist hier ein qualitativer Sprung vonstatten gegangen, mit entsprechenden Konsequenzen für weitere Entwicklungen - innerhalb Linie I selbst, der weiteren Entfaltung dieser Gestalt hin zu neuen, aus ihr sich entfaltenden (= evolvierenden) Gestalten, als Veränderung des sozialen Raums als unmittelbarem Lebensraum des Menschen; - innerhalb Linie II, der Rolle und Wahrnehmung dessen (incl. Selbstverständnis), was seit der Aufklärung als Individuum bezeichnet wurde; - innerhalb der Linie III, was Konzeptionen und Verständnis von 'Gemeinschaft' und 'Individuum' angeht; - incl. ihres Niederschlages in korrespondierenden formal-rechtlichen Aspekten, also gleichsam der "offiziellen" Festschreibung eines solchen neuen Verständnisses. 16 Ein zentraler Aspekt, weil ein Bindeglied zwischen communitas ↔ civitas verkörpernd; vgl. im Folgenden, zu Linie II. Gerade hier, bei der Betrachtung der entsprechenden Prozesse innerhalb der Linie I, kommt das Raumkonzept zum Tragen, insbesondere Verständnisse des "klassischen" Raums der Stadt, des damit verbundenen sozialen Raums sowie seiner Weiterentwicklung in den Virtuellen Raum hinein (vgl. Fig. 1). Weil diese Prozesse eine Mobilität sui generis verkörpern, die in ihren Konsequenzen auf den möglichen Verlust von 'Kultur' bisherigen Verständnisses noch gar nicht erfasst worden sind, indem sie Phänomene einer Windowisierung ungekannten Ausmaßes beinhalten (These 19). Linie II Betrachtet die Entwicklung von Rollen, Selbstverständnissen und Wahrnehmungen von Individuen in ihrer Eigenschaft als Mitglieder von Gemeinschaften. Es geht mit einem Wort, und in seiner Zusammenfassung, um den Aspekt der Identität. Sowohl der der Gemeinschaft, als auch, damit in Wechselwirkung, der des Individuums. Gerade heute, einem Zeitalter "multipler", sogar vermeintlich "wählbarer" Identitäten eine zentrale Frage. Auf den Unterschied zwischen Gemeinschaft ↔ Gesellschaft eingehend, 17 soll hier nicht das Individuum als Mitglied einer Gesellschaft, d.h. einer größeren (und von ihrer Natur her zum Anonymen tendierenden) civitas betrachtet werden, sondern als Mitglied einer (wie auch immer gearteten) communitas. Im Fokus der Betrachtung soll hier Pfeil 1 stehen, d.h. der Einfluß der Gemeinschaft auf die individuelle Identität: wie wirkt sich die in Struktur und Prozeß (Kommunikationsmuster, etc) niederschlagende Gestalt einer Gemeinschaft auf Rolle, Selbstverständnis und Wahrnehmung des Individuums aus? Wahrnehmung meint hier nicht nur die Selbst-Wahrnehmung – die dann zu einem bestimmten Selbstverständnis führt – sondern auch, und schwerpunktmäßig, die Wahrnehmung der Welt. Ein mit Blick auf eine postulierte Windowisierung zentraler Aspekt. Eine Wahrnehmung, die dann – über den Zwischenschritt bestimmter 'Ideen' von Gemeinschaft – wieder auf diese selbst zurückwirkt (Pfeile 1a, b), sie formt. 16 Was die Frage nach "algorithmisierten Verfaßtheiten" = formal-rechtlichen Verfassungen aufwirft. Zurückgehend auf die Unterscheidung von Tönnies (vgl. auch Schäfers, Bernart), weiterentwickelt von Max Weber, ausdifferenziert in diesbezüglichen kulturtheoretischen, und insbes. sozialanthropologischen Konzepten. 17 Arbeitskreis "Formatierung sozialer Räume", Entwurf (Gehmann) 05/08 8 Linie III Ideen/Konzeptionen, die sowohl Communitas als auch Individuum betreffen; angezeigt durch die Mittelposition dieser Entwicklungslinie, da solche 'images' (έιδοι) - einerseits von Wirklichkeiten erzeugt werden (Pfeil 2), - andererseits sehr wohl auch Wirklichkeiten erzeugen können (Pfeil 3). 18 Wobei die Unterscheidung in Pfeil 1b und 3 eine fließende ist. 3 meint eher (also schwerpunktmäßig) die Umsetzung bewußt geplanter, und meistens großflächiger angelegter Konzeptionen in ihre jeweilige Realität. D.h. es handelt sich auch oft um Gesellschaftskonzeptionen, also eine civitas in ihrer Gesamtheit, nicht nur die soziale Einheit der communitas betreffend; die Pilgrim Fathers, der Sozialismus, der Thatcherismus, usw., in der Art. Während 1b den (a) vor- oder gar unbewußten Vorgang einer Umsetzung best. Wahrnehmungen in Gemeinschafts-Realitäten, und (b), den kurzfristig = spontan, unmittelbar erfolgenden Vorgang einer solchen Umsetzung meint. Basierend auf tacit knowledge und customs (way we do things around here) – also die Rolle impliziter Traditionen der Überlieferung, der Wahrnehmung, und des Verhaltens. "Wir" in unserer Harley-Gang "sind" die & die, und "wir" sind es gewohnt, "die Dinge" so & so zu "machen". These 13: 1b ist in puncto Windowisierung ungleich relevanter, da unmittelbar Lebenswelten gestaltend. Demgegenüber spiegelt Pfeil 3 wie gesagt eher die 'offizielle', geplante, im Wortsinn konstruierte Version von Gemeinschaft. Was auch bedeutet, aufgrund des time lag zwischen Konstruktion und Umsetzung, daß sie länger braucht – im Vergleich zu 1b – bis sie greift, indem sie tatsächlich Realität wird; bzw. Realitäten = ganze Lebenswirklichkeiten erzeugt, über Emergenzen. Im Untersuchungskontext einer in Fig. 1 skizzierten Raumentstehung betrifft dieser Aspekt vor allem heutige Formen der Gemeinschaftsbildung, die soziologisch unter der Sammelbezeichnung einer posttraditionalen Vergemeinschaftung figurieren Pfeil 3a: Person als Konzept meint: da solche 'offiziellen' Gemeinschaftskonzeptionen immer auch von einem bestimmten Menschenbild ausgehen – als einem Bild, das ebenfalls konstruiert ist – wirken solche Konzeptionen immer auch auf das Individuum. Im Sinne einer Formatierung: persona = Maske. Beispiel: alle elaborierten Utopie-Vorstellungen, von Platon's Politeia bis zur idealen Web Community. 19 Was die Betrachtung der entsprechenden ideengeschichtlichen Grundlagen besonders relevant werden läßt. Die hier vorgenommene Differenzierung verschiedener, als prima facie vorherrschend gesehener Wirkkräfte ist natürlich eine vorläufige. Pfeile als bildlicher Ausdruck dieser Kräfte meinen keine ausschließlichen Kausalitäten, sondern sollen lediglich dem dynamischen Charakter einer hier skizzierten lebendigen Ganzheit Rechnung tragen. Sowie die Wechselwirkungen zwischen diesen Kräften zum Ausdruck bringen. Vor allem die durch Pfeile 3 und 3a zum Ausdruck gebrachten Wirkkräfte beeinflussen auch 1a und 1b: eine 'offizielle' Konzeption von Gemeinschaft und Person schafft Lebenswirklichkeiten und somit Lebenswelten, die dann verinnerlicht werden und Gemeinschaftsräume als Faktizitäten erzeugen. Gerade mit Blick auf Formatierungs- und Windowisierungsprozesse ein Aspekt von zentraler Bedeutung. Das wäre vorab das Wesentliche; eine Vertiefung behandeln (B) und (C). 18 Um "Beweise" zu zitieren, muß man sich nur einmal die Lebenswirklichkeit (vgl. Fig.0) ansehen, welche die "Idee" einer freien Marktwirtschaft erzeugte, gekoppelt mit der 'Befreiung des Individuums (Doppelrevolution Hobsbawm's). Oder um konsequent in der hier verwendeten Terminologie zu bleiben, die Lebenswirklichkeit einer Lenin'schen Konzeption von Gemeinschaft und Gesellschaft. 19 Im Unterschied zur Harley Davidson-Gang, die in diesem Sinne erfrischend "theoriefrei" ist. Aber nur in diesem Sinne, denn eine Vorstellung (im wörtlichen Sinn einer θεωρία, eines "Sehens") über Gemeinschaft existiert sehr wohl; aber eben nur in Form eines tacit knowledge. Was ein Grund für die Beibehaltung obiger Unterscheidungen ist, denn diese 'Theorien' sind praktisch, in der Alltagskultur, sehr wirkmächtig. Arbeitskreis "Formatierung sozialer Räume", Entwurf (Gehmann) 05/08 9 (B) Erkenntnisleitende Interessen • Formatierung heute als Prozess der Windowisierung (These 15)? Bedingt durch den technotopischen Charakter unserer Räume? • Entwicklung hin zu einem neuen Typ von Kulturraum überhaupt, dem Technotop: aufgrund welcher Formatierungsprozesse genau? • Was sind Formate, ausgelöst durch welche "ideengeschichtlichen" Grundlagen (Linie III), d.h. letztlich, kulturspezifischen Welt-Anschauungen – Verbindung zur Mentalitätsgeschichte – die in Beherrschung von Welt durch Technik gründen, und zu einer Welt als Technik, einem (intendierten und gleichzeitig emergenten) technischen Kosmos → Technotop führen? 20 • Wie wirkt sich das aus auf die communitas, bzw. auf ihrer herkömmlichen = 'klassischen' Konzeption zugrundeliegenden 'klassischen' Auffassungen über eine conditio humana? ⇒ communitas (Linie I) ↔ conditio humana (Linie II). 21 D.h., spezifisch formuliert, in Ausarbeitung des Anfanges von Bernart et al: welchen Wandlungsprozessen ist beides – Gemeinschaft und Bedingtheit des Menschen – durch Windowisierung unterworfen? • Phänomenologie des Neuen als Theorie der Entfaltung: wie entsteht/breitet sich aus (Diffiusion)/entwickelt sich zurück/wird verhindert "das Neue"? 22 • Welche Entwicklungsmuster lassen sich erkennen, als praktischer Beitrag einer Geschichtswissenschaft? Damit im Zusammenhang zu sehen/zu verbinden mit • an den AK angehängtes Fo-Projekt Zukunft des Raums (Bernart/Gehmann; v. a. des sozialen): was bedeutet das für das Verschwinden bestehender/Entstehung neuer Räume? • Als Auswirkung von expliziten oder impliziten Utopien: Verbindung zu Linie III, ideengesch. Entwicklungen, die letztlich zu diesen Entwicklungsmustern führten. "Implizite" Utopien 23 meint v. a. Emergenzen im Sinne sich entfaltender neuer (s.o.) spontaner Ordnungen, in Richtung Ou-Topoi, Nicht-Orten für das Menschliche; zumindest in seiner herkömmlichen, als 'klassisch' bezeichneten Auffassung als conditio humana (vgl. oben). (C) Phänomenologie relevanter Evolutionsprozesse und ihrer Ergebnisse Betrifft Frage oben nach Entwicklungsmustern. Zentrale Frage: welcher Evolutionsraum spannt sich auf, als Folge der in (A) betrachteten Prozesse, zu welchen Phänomenen führt er in der Konsequenz? 24 Diese Phänomenologie anhand der 3 Entwicklungslinien von (A) sich entfalten lassen, auf Basis von (B), der erkenntnisleitenden Interessen. Bei der Erarbeitung einer solchen Phänomenologie ist (a) auf das von Rüsen skizzierte Schema der "fünf Faktoren historischen Denkens" Bezug zu nehmen; 25 sowie (b), auf ein Verständnis gerade von sozialem Raum als Prozeß (Idee dynamischer Räume). 26 (C) ist eher als Ergebnis des Ganzen zu sehen, als sein Ziel gerade in praktischer Hinsicht. 20 Anfänge hierzu: Gehmann/Melchiorre: Format-Skizzen; sowie Gehmann: Modern Myths; Materialien. Basis: Habil. Yvonne Bernart, Gemeinschaft ↔ Gesellschaft. 22 Ausgeführt in Teil (D), Grundlagen; geht zurück auf eine Idee Kurt Möser: Theorie des Neuen entwickeln; Gehmann nannte das "Theorie der Entfaltung": Entwicklungsmuster diesbezüglich erarbeiten, als praktischen = "gesellschaftlich relevanten" Beitrag unseres AK. 23 Implizit im Sinne von David Bohm's implicate order – in nuce angelegt, auf Entfaltung wartend. Bohm, D. (1980): Wholeness and the Implicate Order. London; Routledge & Kegan. 24 Zur Idee des Evolutionsraums: Forum EoS, Projektskizze "Koevolution, Modalitäten"; Projektskizzen "Natürliche vs. künstliche Evolution", sowie "EoS-Welten". 25 In Rüsen, J. (1983): Historische Vernunft. Göttingen; VR, Kleine Vandenhoeck-Reihe: S.29 26 Gehmann, in Bearbeitung. 21