Lernen und Kultur

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Olaf Hartung · Ivo Steininger · Matthias C. Fink
Peter Gansen · Roberto Priore (Hrsg.)
Lernen und Kultur
Schule und Gesellschaft
Band 46
Herausgegeben von
Franz Hamburger
Marianne Horstkemper
Wolfgang Melzer
Klaus-Jürgen Tillmann
Olaf Hartung · Ivo Steininger
Matthias C. Fink · Peter Gansen
Roberto Priore (Hrsg.)
Lernen und Kultur
Kulturwissenschaftliche
Perspektiven in den
Bildungswissenschaften
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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1. Auflage 2010
Alle Rechte vorbehalten
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
Lektorat: Monika Mülhausen
VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media.
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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg
Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in Germany
ISBN 978-3-531-16753-4
Inhalt
Geleitwort des GGK/GCSC .............................................................................................. 7
Vorwort der Herausgeber .................................................................................................. 9
Ivo Steininger
Lernen im kulturwissenschaftlichen Kontext.
Zu den Zielen dieses Buchs............................................................................................. 11
Lernen als kulturelle Teilhabe
Lothar Bredella
Vorbemerkungen zum Kapitel Lernen als kulturelle Teilhabe.......................................... 21
Thorsten Fuchs
Kultur-Negation und Kulturtranszendenz.
Kulturwissenschaftliche Perspektiven in den Bildungswissenschaften avant la lettre ....... 31
Matthias C. Fink
Lernkultur und reflexives Lernen –
Das didaktische Potenzial der ePortfolio-Arbeit
zur Förderung von Reflexivität im Lernen ....................................................................... 49
Olaf Hartung
Historisches Lernen und (Schreib-)Kultur.
Zur Bedeutung einer ‚Kulturtechnik‘ für das Geschichtslernen ........................................ 67
Ivo Steininger
A Defence of Literature.
Oder: ein Plädoyer für ästhetische Bildung...................................................................... 81
Vielfalt (außer-)schulischer Lernkulturen
Reinhilde Stöppler
Vielfalt als Ressource.
Vorbemerkungen zum Kapitel Vielfalt (außer-)schulischer Lernkulturen......................... 99
5
Kathrin Gattermann und Stefan Kvas
Zur Entwicklung der Teilhabe von Menschen
mit geistiger Behinderung an Bildungsprozessen ........................................................... 103
Susann Reinheckel
Kompetenzentwicklung in der Schule –
Zur Notwendigkeit eines umfassenden Kompetenzverständnisses .................................. 115
Alena Berg und Katja Franke
Lernkulturen schulferner Jugendlicher.
Das geschätzte und unterschätzte Potenzial des informellen Lernens.............................. 127
Anke Fuchs-Dorn und Corinna Kremling
„Das Unglück kommt von außen“.
Eine kulturwissenschaftliche Perspektive als Grundlage der Analyse
von Schulprogrammen an Brennpunktschulen zur Entwicklung von Schulkultur............ 149
Enkulturation in und um Lernkulturen
Ludwig Duncker
Kulturen im Plural: Zur dialektischen Rekonstruktion des Kulturbegriffs –
Vorbemerkungen zum Kapitel Enkulturation in und um Lernkulturen............................ 171
Peter Gansen
Kindheitsforschung in kulturwissenschaftlicher Sicht .................................................... 179
Roberto Priore
Interkulturelles Lernen in der Migrationssituation –
Wider den defizitären Blick auf Jugendliche mit Migrationshintergrund ........................ 193
Corinna Kremling
Sammeln im Kindesalter –
Kulturaneignende Aktivität oder spielerischer Zeitvertreib?........................................... 219
Jeong-Gil Woo und Peter Gansen
Responsivität und Fremdverstehen.
Kulturvergleichende Überlegungen zur interkulturellen Pädagogik ................................ 233
Zu den Autorinnen und Autoren.................................................................................... 245
6
Liebe Leserinnen und Leser,
der vorliegende Band ist das Ergebnis der Forschungsaktivitäten der interdisziplinären Sektion Bildung, Erziehung, Sozialisation, die 2007 am Gießener Graduiertenzentrum Kulturwissenschaften (GGK) der Justus-Liebig-Universität gegründet wurde.
Das GGK dient der strukturierten Ausbildung von Promovierenden der kulturwissenschaftlichen Fachbereiche der Justus-Liebig-Universität. Angebote wie das bedarfsgenaue
promotionsbegleitende Seminarangebot oder der berufsvorbereitende Career-Service sollen
eine Unterstützung in der Promotion darstellen und inner- wie außerakademische Berufsperspektiven stärken. Vor allem aber möchte das GGK ein Ort sein, der einen Raum für
selbstständige wissenschaftliche Leistungen bietet und Doktorand/-innen motiviert, eigene
Initiativen in den Sektionen und Arbeitsgruppen des GGK zu entwickeln. In den Sektionen
arbeiten je 10-20 Nachwuchswissenschaftler/-innen fächerübergreifend an gemeinsam gewählten Themen. Auf der Basis der erfolgreichen Arbeit am GGK konnte 2006 auf diesem
Modell aufbauend im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder das International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) gegründet werden, dessen Angebot eng mit dem des GGK verknüpft ist.
Wir freuen uns sehr über das große Engagement der Nachwuchswissenschaftler/-innen, das sich auch in diesem Band ausdrückt. Wir möchten allen Autor/-innen für ihre Beiträge danken und sie zu ihren innovativen Forschungsansätzen beglückwünschen. Wir unterstützen gern ihr Vorhaben, die Ergebnisse ihrer Forschung einer breiten Öffentlichkeit
zur Verfügung zu stellen. Unser besonderer Dank gilt den Herausgebern, die dieses Projekt
mit großer Entschlossenheit professionell umgesetzt haben.
Allen Leser/-innen wünschen wir eine anregende, gewinnbringende und unterhaltsame
Lektüre!
Gießen, im Herbst 2009
Prof. Dr. Ansgar Nünning (Gründungsdirektor des GGK)
Dr. Martin Zierold (Geschäftsführer)
Annette Cremer MA (Koordinatorin)
Vorwort der Herausgeber
Theorien über das Lernen sind Legion. Neben zahlreichen Alltagstheorien finden sich auch
in den einzelnen Fachdisziplinen, die sich wissenschaftlich mit dem Lernen auseinandersetzen, unterschiedliche Ansätze und Theoreme, die das Lernen aus verschiedenen Perspektiven in den Fokus nehmen. Mal dominiert der Blick auf formellem, mal auf informellem,
mal auf inhaltlichem und mal auf personalem Lernen. Allen Betrachtungen gemein ist jedoch die Annahme, dass Lernen lebenslang zu realisieren und nicht Selbstzweck sei. Lernen soll den Lernenden eine erfolgreiche Partizipation am gesellschaftlich-kulturellen Leben ermöglichen. Was die meisten Lerntheorien außerdem noch gemeinsam haben, sie aber
paradoxerweise gleichsam einigt wie trennt, ist ihre Bedeutung für die Profilierung der
eigenen Disziplin und deren Perspektivierungen. Austausch über die eigenen Fachgrenzen
hinweg findet meist medial vermittelt, zumeist in Schriftform statt, also durch Verweise
und Zitate in fachbezogenen Publikationen. Schwieriger und daher seltener lässt sich hingegen interdisziplinäre Kooperation in Echtzeit verwirklichen. Die Gelegenheiten dafür
sind im wissenschaftlichen Alltag eher spärlich gesät.
Umso erfreulicher und spannender, wenn die Möglichkeit der Begegnung, Vernetzung
und Zusammenarbeit nicht nur institutionell gewünscht, sondern auch gefördert wird. Das
Gießener Graduiertenzentrum der Kulturwissenschaften (GGK) der Justus-Liebig-Universität bietet den Autorinnen und Autoren dieses Bandes den nötigen Rahmen, um die Arbeit
bis an die Grenzen der eigenen Disziplin und darüber hinweg, nicht nur gelegentlich, sondern dauerhaft im eigenen wissenschaftlichen Qualifizierungsprozess zu implementieren,
und dadurch das eigene Lernen mithilfe fachübergreifender Diskurse – sozusagen lebensnah und lebenslang – zu bereichern. Einende Kraft ist dabei das gemeinsame Thema: Lernen – sowie die Arbeit in der Gruppe, die als Doktoranden- und Habilitandenforum im
Wintersemester 2005/2006 entstand und sich alsbald als Arbeitsgruppe dem GGK anschloss, um sich schließlich nach zweijähriger kontinuierlicher Arbeit in der Sektion Bildung – Erziehung – Sozialisation zu institutionalisieren. Im Austausch von und miteinander
zu lernen, die eigene Perspektive zu erweitern, fachübergreifende Themenstellungen und
(empirische) Forschungsmethoden gemeinsam zu erörtern, Lernen nicht nur von einer reduktionistischen, sondern einer holistisch-integrativen Warte aus zu betrachten, sind dabei
sowohl die Herausforderungen als auch die Chancen der gemeinsamen Arbeit.
Ein erstes gemeinsames Produkt dieser Anstrengung stellt der vorliegende Sammelband dar. Für alle Beteiligten war die Mitarbeit am Projekt in gleicher Weise ein Schreibwie ein Lernprozess. Es galt nicht nur einen gemeinsamen wissenschaftlichen ‚Schirm‘
aufzuspannen, der die interdisziplinäre Arbeit einend schützt, ohne dabei den vertretenen
Disziplinen der erziehungswissenschaftlichen Teilbereiche und Fachdidaktiken das je eigene ‚Licht‘ zu bestreiten, sondern auch die einzelnen Instrumente zu orchestrieren und das
Stück zu einer lesbaren Partitur zusammen zu stellen. Hilfreich dabei war der Blick von
außen, das Ergänzen der Einzelperspektive durch die Gruppe. Stets stand die kooperative
und kollaborative Konzeptionierung der einzelnen Beiträge im Vordergrund, so dass deren
9
Beziehungen zueinander und zum Gesamtanliegen des Projekts (siehe die Einleitung i.d.
Bd. v. Steininger) zum Wesensmerkmal des Bandes werden konnte.
Die Beiträge des ersten Kapitels betrachten Lernen als kulturelle Teilhabe. Die Fragestellung lautet hier, inwiefern sich kulturell relevante Lernprozesse als Voraussetzungen
und Bestandteile der kulturellen Partizipation der Lernenden als kulturelle Aktanten beschreiben lassen. Die Autorinnen und Autoren des zweiten Kapitels verstehen Lernen als
eingebunden in eine Vielfalt (außer-)schulischer Lernkulturen und betrachten die Wechselwirkungen zwischen eben jenen Rahmenbedingungen und den Lernprozessen der Teilhabenden der Lernkultur. Den Akzent auf die individuelle Enkulturation in und um Lernkulturen legen die Beiträge des dritten und letzten Kapitels. Ausgehend von Lernszenarios
und -inhalten in und um spezifische Lernkulturen wird der interdisziplinäre Blick auf die
Lernprozesse der Träger kultureller Bedeutsamkeit gelenkt.
Dass durch die Arbeit am gemeinsamen Produkt aktuelle Forschungsprojekte und -ergebnisse der vertretenen Teildisziplinen entlang des ‚roten Fadens‘ Lernen und Kultur kompiliert werden konnten, erachten wir als besonders wertvoll. Dabei werden den einzelnen Kapiteln neben den Stimmen der Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler auch
erfahrene gegenübergestellt, die sozusagen der projektinternen Qualitätssicherung durch
wohlmeinende, aber dennoch kritische Bewertung zuarbeiten.
Unser Dank gilt im Besonderen Herrn Prof. Dr. Lothar Bredella, der sich für die Evaluation des ersten Kapitels verantwortlich zeichnet, Frau Prof. Dr. Reinhilde Stöppler, die
das zweite Kapitel kritisch unter die Lupe nimmt, und Herrn Prof. Dr. Ludwig Duncker, der
das dritte Kapitel einführend bilanziert.
Ferner danken wir stellvertretend für das GGK dem geschäftsführenden Direktor des
Gießener Graduiertenzentrums Kulturwissenschaften Herrn Prof. Dr. Ansgar Nünning sowie dem Geschäftsführer Herrn Dr. Martin Zierold, ohne deren infrastrukturellen Unterstützung und Finanzierung einer projektvorbereitenden Tagung die Entstehung dieses Bandes nicht möglich gewesen wäre. Herzlich danken wollen wir auch Frau Annette Cremer
vom GGK, die die Arbeit der Sektion Bildung – Erziehung – Sozialisation stetig und wertvoll unterstützt.
Darüber hinaus gilt unser Dank dem VS Verlag für Sozialwissenschaften, der das
Buchprojekt erst zu dem vorliegenden Sammelband werden ließ und es in der Reihe Schule
und Gesellschaft aufnahm. Schließlich und letztlich danken wir allen Autorinnen und Autoren sowie den Leserinnen und Lesern dieses Buchs.
Gießen, im Herbst 2009
10
Olaf Hartung
Ivo Steininger
Matthias C. Fink
Peter Gansen
Roberto Priore
Lernen im kulturwissenschaftlichen Kontext.
Zu den Zielen dieses Buchs
Ivo Steininger
1.
Versuch einer Standortbestimmung
Die Begriffe Lernen und Kultur scheinen in einem engen Verhältnis zueinander zu stehen,
kann man doch getrost davon ausgehen, dass sich das, was die beiden Begriffe bezeichnen
sollen, in hohem Maße wechselseitig bedingt. Einerseits setzt Kultur dem Lernen einen
inhaltlichen Rahmen, lernen wir doch nicht ‚kulturfrei‘, sondern in, für und von der uns
umgebenden Kultur. Andererseits macht Lernen die Lernenden erst zu Trägern kultureller
Bedeutsamkeit, in demokratischen Gesellschaften also zu mündig Handelnden in der eigenen Kultur. Nicht nur, dass wir kulturgebunden lernen, Lernen als System betrachtet kennzeichnen selbst kulturelle Merkmale; das Kompositum Lernkultur betont also vor allem die
wechselseitige Beziehung zwischen Lernen und Kultur, die als konzeptuelle Abstraktion
Aspekte von Bildung, Erziehung und Sozialisation umfasst.1
Sozialisation verstanden als „Persönlichkeitsentwicklung im sozialen und kulturellen
Kontext, [als] eine Form der stets spannungsreichen Biographie und der Behauptung der
Identität in der Umwelt“ (Hurrelmann 2006: 14), stellt ein erstes konstituierendes Element
von Lernen dar. Als sekundäre Sozialisationsinstanz kommt dabei dem Bildungssystem
(und damit dem institutionalisierten Lernen) eine gewichtige Rolle zu, denn es ist seine
zentrale Aufgabe, „dafür zu sorgen, dass heranwachsende Menschen in ihrer Kultur keine
Fremden bleiben, dass sie sich in ihr ‚zu Hause‘ fühlen“ (Fend 2006: 48; vgl. auch Fend
2008). Lernen zielt somit stets auf ‚erfolgreiche‘ Sozialisation im Sinne der sozialisierenden Kultur. In Zusammenhang mit dem Begriff Sozialisation interessieren vor allem die
Prozesse der Entstehung relativ dauerhafter Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdispositionen auf persönlicher ebenso wie auf kollektiver Ebene, die aus der wechselseitigen Interdependenz von Individuum und Gesellschaft resultieren (vgl. Hurrelmann/Grundmann/Welper 2008). Sozialisationsprozesse sind nicht nur immer in einen kulturellen Kontext eingebettet (vgl. Trommsdorff 2008), sondern sind zugleich auch Lernprozesse.
Auch der Erziehungsaspekt bildet einen weiteren wesentlichen Bestandteil der Lernkultur. Kultur ist immer ein soziales Konstrukt, das seine eigenen Regeln ausbildet und
verstetigt. Diese mögen, wie dies auch bei anderen sozialen Konstrukten der Fall ist, in
ihrem Ursprung arbiträr – also mehr oder weniger willkürlich – sein, sie sind jedoch innerhalb der Kultur gemeinschaftlich konventionalisiert und daher gültig. In etlichen Lebensbereichen werden sie normativ und präskriptiv realisiert, in anderen hingegen als Leitlinie
lediglich deskriptiv. Lernen bedeutet demnach auch, dieses Regelwerk zu internalisieren
1
Nicht zufällig entstammt dieser Band der gemeinsamen wissenschaftlichen Tätigkeit von Mitgliedern der
Sektion „Bildung – Erziehung – Sozialisation“ des Gießener Graduiertenzentrums Kulturwissenschaften.
11
und hermeneutisch-interpretativ zu nutzen. Nicht umsonst sprechen wir von ‚Gesprächsund Streitkultur‘, ja sogar von ‚Ess- und Trinkkultur‘. Hierbei wird der Wortbestandteil
‚Kultur‘ in erster Linie als System von Regeln aufgefasst, das stetig aktualisiert werden
muss. Das Ziel von Erziehung als konstitutiver Bestandteil von Lernen besteht zumeist
darin, dass Individuen und deren Handeln den jeweilig herrschenden kulturellen Normen
gerecht werden.
Erst ein aus Sozialisations- und Erziehungsaspekten synthetisiertes Verständnis begreift Lernen als Chance zur kulturellen Teilhabe. In diesem Zusammenhang ist der Bildungsbegriff – als eben jene Synthese – das umfassendere Konzept. Bildung kann als die
Heranführung der Lernenden an kulturelle Errungenschaften einer Gesellschaft im Sinne
gruppenspezifischer Akkulturation verstanden werden. Bildungsprozesse statten die Lernenden mit jenen Kompetenzen aus, die sie als Grundvoraussetzungen für eine Teilhabe an
unserer Kultur benötigen. Widerhall findet diese zugegebenermaßen vereinfachende Auffassung in dem Begriff der ‚Kulturtechnik‘. Sprechen wir von Kulturtechniken, meinen wir
damit zumeist konkrete, kulturell relevante Fähigkeiten und Fertigkeiten, die es zu beherrschen gilt, um an unserer Kultur aktiv und erfolgreich teilzuhaben. Kultur erscheint vom
Standpunkt der ‚Technik‘ aus betrachtet als kumulativ erlernbare Dinglichkeit, bestehend
aus deklarativem und prozeduralem Wissen, wobei die pragmatische und utilitaristische
Dimension im Vordergrund steht. Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen
werden dann als kulturelle Instrumente, Werkzeuge und Interfaces verstanden, die es zu
beherrschen gilt, um eine individuelle Enkulturation überhaupt erst zu ermöglichen. Sie
gelten zusammen mit noch weiteren ihnen verwandten Teilkompetenzen als die objektivierbare und operationalisierbare Seite von Bildung und Lernen (vgl. Bildungsstandards).
Ein solch ‚utilitaristisches‘ Verständnis engt jedoch die Sicht auf das Verhältnis von
Lernen und Kultur zu sehr auf die kompetente Handhabung kulturell relevanter Techniken
ein. Dem hier favorisierten Verständnis von Lernen als ein Prozess der aktiven Teilhabe der
Lernenden an einer als „Bedeutungsgewebe“ (Geertz 1987: 9) verstandenen Kultur, ist
damit noch nicht hinreichend entsprochen.
Unzureichend ist das instrumentelle Verständnis von Bildung und Lernen in dem Sinne, dass die gekonnte Handhabung von Wissen allein noch keine kompetente kulturelle
Teilhabe garantiert: Denn das, „was man zu allen Zeiten mit Bildung hatte leisten wollen –
Übersicht, die Wahrnehmung des historischen und systematischen Zusammenhangs, die
Verfeinerung und Verfügbarkeit der Verständigungs- und Erkenntnismittel, die philosophische Prüfung des Denken und Handelns –, kommt darüber oft zu kurz“ (von Hentig 2004:
55). Ein reduzierter Bildungsbegriff birgt zudem die Gefahr, die subjektiven und ästhetischen Zugangsweisen zur kulturellen Realität zu sehr in den Hintergrund zu stellen: Kultur
verstanden als ein von allen Teilhabenden aktiv hergestelltes „Bedeutungsgewebe“ verlangt
hingegen die Ausbildung sowohl interpretativer als auch semiotischer Fähig- und Fertigkeiten.
Lernen als Prozess beeinflusst sowohl die Lernenden als Individuen selbst, als auch
die durch die Gemeinschaft der Individuen gebildete Gesellschaft und deren eigene Kultur.
Lernen im Sinne von Bildung beinhaltet im Idealfall kompetente Informationsverarbeitung,
Ambiguitäts- und Kontiguitätstoleranz sowie Sinnstiftungsprozesse hinsichtlich kulturellen
Schemata und Normen, emphatische Fähigkeiten sowie mündiges Widerstehen (überkom-
12
mener) Konformität: „Bildung wird ihm [dem Lernenden] zuteil, wenn ihm dies bewusst
wird und er sein Verhalten selber steuern und verantworten kann“ (ebd.: 84). Erst dadurch
kann Lernen der Kultur das bieten, was es ihr schuldig ist, nämlich durch Lernen realisierte
kulturelle Evolution.
Der hier entfaltete Begriff Lernkultur ist notwendigerweise auch immer ambivalent, da
er stets normative und deskriptive Aspekte in sich vereint. Er umfasst didaktische und methodische Prinzipien, pädagogischen Eros und Ethos sowie institutionelle Ausgangsbedingungen, die den konstitutionellen Status von Lernen innerhalb einer Kultur indizieren.
Lernkultur ist neben den deskriptiv zu fassenden Rahmenbedingungen sozusagen der
‚Geist‘, der hinter dem Lernen steht. Dabei ist das Verständnis vom ‚Weg des Lernens‘
immer ein gesellschaftlich-kulturell bedingtes. Es ist niemals frei von Weltanschauungen
und paradigmatischen Perspektiven. Durch seine emergente normative Dimension beinhaltet der Begriff der Lernkultur eine Spiegelung der kulturellen Diversität von Erziehungsstilen und Bildungsinhalten. Nicht zuletzt deshalb sind Fragestellungen, die sich am Begriff
der Lernkultur ausrichten, gleichzeitig immer auch kulturelle, in ihrer Gestalt beinahe ethnographische Fragestellungen, denn was für die Gemeinschaft „die Kultur ist – das Leben
nach bedachten und gewollten Prinzipien und das Schaffen der hierfür bekömmlichen Ordnungen –, ist für den einzelnen die Bildung. Sie ermöglicht es ihm, in einer civitas zu leben,
sie weist ihm seine Aufgabe zu“ (ebd.: 206).
Das übergeordnete Erkenntnisinteresse, das die jeweiligen Fragestellungen der in diesem Band versammelten Beiträge leitet, folgt nun diesem weiten Verständnis von Lernkultur, das sowohl bildungstheoretische, erzieherische als auch sozialisatorische Aspekte umfasst. Leitende Fragen sind hierbei, welche kulturtheoretischen Ansätze die Bildungswissenschaften für sich produktiv aufgreifen können, wo deren Chancen und Grenzen liegen
und wie sie sich möglicherweise für die vielfältigen Praxisfelder des Lehrens und Lernens
operationalisieren lassen.
Zunächst gilt es aber, die möglichen Implikationen einer kulturwissenschaftlichen Perspektive auf das Lernen genauer zu explizieren.
2.
Lernen: eine kulturwissenschaftliche Annäherung
Wenngleich der Begriff der Kulturwissenschaft(en) beileibe kein unumstrittener ist, stehen
die kontrovers geführten Diskussionen um Sinn und Unsinn der neueren geisteswissenschaftlichen Ausrichtung (vgl. Nünning/Nünning 2008; Assmann 2006) nicht im Mittelpunkt dieses Bandes. Die hier versammelten Autorinnen und Autoren verstehen die kulturwissenschaftliche Perspektive vielmehr als ein „Bemühen, disziplinäre Grenzen zu überwinden“ (Nünning/Nünning 2008: 2) und als Möglichkeit, die „polyphone und multiperspektivische“ (ebd.) Dimension von Lernen interdisziplinär auszuloten. Wir sind der Ansicht, dass „die kulturwissenschaftlichen Konzepte und ‚Wenden‘ […] nicht nur zu einer
zunehmenden Vernetzung der wissenschaftlichen Disziplinen und zum Aufschwung interdisziplinärer Forschung und Lehre bei[ge]tragen, sondern auch den beteiligten Disziplinen
eine Vielzahl produktiver Impulse“ gegeben haben (Hallet/Nünning 2007: 1).
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Die an diesem Band beteiligten Disziplinen werden dabei allesamt als Vertreter der
Bildungswissenschaften verstanden, die in Erweiterung des Bildungsbegriffes Konzepte
von Bildung, Erziehung und Sozialisation aus erziehungswissenschaftlicher, schulpädagogischer, allgemein- und sonderpädagogischer sowie aus fachdidaktischer Perspektive einbeziehen. Für die Herausgeber ist diese fächerübergreifende Neuausrichtung programmatisch, da eine adäquate Annäherung an die tief greifenden Veränderungen der deutschen
Bildungslandschaft der letzten Jahre, die sich unmittelbar auf Konzepte von Lernen auswirken, am ehesten durch eine „inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit“ (Nünning/Nünning 2008: 3) erfolgen kann, bei der sozusagen das ganze Bildungssystem zu einem kulturwissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand erhoben wird.
In einem sehr weiten Verständnis ist Kultur alles, „was von Menschen gemacht ist“
(Assmann 2006: 17). Das macht eine kulturwissenschaftliche Betrachtung aber keineswegs
beliebig. Vielmehr bietet die facettierte Darstellung eines kulturell relevanten Forschungsbereichs die Chance, Polyphonie und Multiperspektivität durch den gemeinsamen Fokus zu
einem Schlaglicht zu bündeln, um auch die Aspekte von Lernen zu erhellen, die sonst nur
unzureichend auszuleuchten wären. Denn „die Kulturwissenschaften [sind] nicht aus einer
neuen M(eth)ode oder theoretischen Wende entstanden“, sondern eine mögliche Antwort
auf aktuelle gesellschaftliche und damit auch kulturelle Veränderungen (ebd.: 14).
Lernen ist wie gesagt „eine komplexe kulturelle Aktivität“ (Hallet 2007: 31), die „gesellschaftlichen Normen, Kanonisierungen von Wissen und Fertigkeiten sowie Qualifikationserwartungen verpflichtet und staatlichen Rahmenbedingungen unterworfen“ ist (ebd.).
Kulturpädagogische Ansichten von Lernen waren und sind demnach vorwiegend normativer Natur (vgl. Assmann 2006: 17). Dabei legte und legt die Kanonisierung der ‚Hochkultur‘ Lerninhalte fest, die als Elite der kulturellen Produktion angesehen wurden bzw. werden. Zugegebenermaßen kann Lernen, insbesondere schulisches Lernen, niemals ohne Normativität auskommen. Die Frage ist nur, wie und von wem diese Normen gesetzt werden,
und wie sie sich auf die verschiedenen Teilbereiche der Lernkultur auswirken. Es besteht
die begründete Hoffnung, durch die „Anerkennung des Konstruktcharakters kollektiver
Bedeutungssysteme“ (Hu 2007: 14 f.) klärende Hinweise in der Lernkultur selbst zu finden.
Die interdisziplinäre Annäherung an das kollektive Bedeutungssystem soll bisher übersehene Handlungsspielräume und -möglichkeiten multiperspektivisch aufzeigen und entlang
der gemeinschaftlichen kulturellen Handlungen verorten, die das kollektive Bedeutungssystem stetig aktualisieren.
Welche Ansätze die kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Lernen den
bildungswissenschaftlichen Teildisziplinen bietet, soll im nun folgenden Abschnitt dargelegt werden.
14
3.
Kultur: Eine bildungswissenschaftliche Annäherung
Der Begriff Kultur wurde zwar bereits als semiotisches Bedeutungsgewebe umschrieben.
Es bedarf jedoch einer noch genaueren Klärung des Kulturbegriffs, um den hier interessierenden Betrachtungsgegenstand der Lernkultur genauer ab- bzw. eingrenzen zu können.
Zunächst ist festzustellen, dass nicht von einem einheitlichen Kulturbegriff auszugehen ist. Unterschiedliche Epochen brachten verschiedene Auffassungen und Konzepte von
Kultur hervor. Mit Aufkommen des Begriffs in der Antike wurde unter Kultur vor allem die
ökonomische (cultura) und religiöse (cultus) Pflege verstanden (vgl. Ort 2008: 19). Nach
„einer Bedeutungsverengung“ auf diese Begrifflichkeiten im Mittelalter weitete sich dann
Kultur in der Renaissance zu einem abstrakteren Begriff, mit dem in Abgrenzung zu den
Naturphänomenen die Formen menschlicher Produktion und Interaktion bezeichnet wurden
(vgl. ebd.). In der Aufklärung avancierte Kultur dann zu einem Prinzip der kontinuierlichen
Verbesserung und des Fortschritts. Die Kultur wurde mit Kant als moralische der pragmatischen Dimension der Zivilisation gegenübergestellt (vgl. ebd.: 21). Im 18. Jahrhundert
erhielt „der Begriff auch eine geschichtsphilosophische Bedeutung. Er bezeichnet nunmehr
die historische Entwicklung der Menschheit“ (Hejl 2005: 106). Dagegen stand die durch
Rousseau begründete Kulturkritik (vgl. Ort 2008: 21), die „Kultur als Objekt der Kritik in
einer weiten, Zivilisation einschließenden Bedeutung“ verstand und „die Leitunterschiede
zwischen Kultur und Natur“ erneut aufgriff, um diesmal Natur „positiv zu markieren“
(ebd.). In der Mitte des 19. Jahrhunderts trat dann „neben den aus der Goethezeit stammenden normativen Kulturbegriff“ noch ein wissenschaftlicher (Hejl 2003: 106). Seitdem überlagern sich zumeist normative und deskriptive Auffassungen von Kultur, wobei im 20.
Jahrhundert vor allem die begriffliche Unterscheidung zwischen Kultur und Gesellschaft
eine wichtige Rolle spielte. Durchlässig wurde die dabei herausgebildete Dichotomie erst
wieder durch „eine sozialtheoretisch anschließbare, nicht-normative Definition von Kultur
als symbolisches System“ (Ort 2008: 24), der vor allem die Ansätze Ernst Cassirers und
Max Webers den Weg bereiteten und die sich zu einem kultursemiotischen Ansatz entwickelten (vgl. Posner 2008). Die Sozialtheorie und damit vorrangig die Soziologie, aber auch
die Kultur- und Sozialanthropologie sowie Ethnologie forcierten ein „prozesshaftfunktionales Verständnis von Kultur“ (Ort 2008: 25), wobei vor allem der von Talcot Parson geprägte differenzierungstheoretische Kulturbegriff zu nennen ist, der Kultur und deren
Äußerungsformen „systemtheoretisch als funktional bestimmte soziale Teilsysteme“ versteht (Sommer 2005: 112 f.).
Eine zeitgemäße kulturwissenschaftliche Annäherung an das Phänomen Lernkultur erfordert daher eine systemische Herangehensweise, die nach den funktionalen Teilsystemen
der Lernkultur differenziert. Hierbei kann strukturell zwischen folgenden drei Ebenen unterschieden werden:
15
MESOEBENE
Bildungssystem
MAKROEBENE
Informelles
Lernen
Lerninstitution
Abb. 1
MIKROEBENE
Unterrichtsgeschehen
Strukturelle Merkmale des Systems Lernkultur
Das Bildungssystem setzt der Institution und damit dem Unterricht einen verbindlichen
Rahmen. Es steuert, wählt aus und nimmt Einfluss auf kulturelle Inhalte und Zielsetzungen.
Die Mesoebene beeinflusst die Makro- und Mikroebene. Das informelle Lernen, das insbesondere Einfluss auf individuelle Dispositionen der Lernenden als kulturelle Aktanten hat,
ist ebenso Teil der Mesoebene. Diese Einflüsse finden ihren Ausdruck subjektspezifisch
und beeinflussen prozesshaft-funktionale Interaktionen sowohl auf der makro- wie auch auf
der mikrostrukturellen Ebene.
Für eine multiperspektivische Betrachtung der Lernkultur erscheint der Ansatz der
Kultursemiotik als besonders produktiv. Die Semiotik als Grundwort (Determinatum) des
Begriffs meint die Lehre von den Zeichen: Zeichen stehen für Bezeichnetes. Die Zeichen
selbst sind dabei nicht vorrangig von Bedeutung. Ihnen wird Bedeutung zugewiesen, durch
Konventionalisierung, durch Einigung ihrer Benutzer, sprich durch kulturelle Prozesse.
Zeichen können bildlicher oder lautlicher Natur sein. Zeichen als Signifikante verweisen
auf kulturelle Konzepte als Signifikate, „sie setzen voraus, dass es jemanden gibt, der sie
versteht“ (Posner 2008: 39). Folgt man dem semiotischen Ansatz, funktioniert das gemeinschaftliche, kulturelle Verstehen vor allem mittels dreier Sorten von Zeichen (vgl. Linke/Nussbaumer/Portmann 2001: 19-24):
Indexikalische Zeichen als erste Klasse haben eine hinweisende Funktion, die auf gemeinsamer kultureller Erfahrung beruht. Das Zeichen und das zugrunde liegende Konzept
stehen in direkter Beziehung zueinander. Ikonographische Zeichen als zweite Klasse beruhen auf einer abbildenden Funktion mit konkret wahrnehmbarer Beziehung. Das Zeichen
ist dem Bezeichneten ähnlich, repräsentiert es lautlich oder bildlich. Symbolische Zeichen
als dritte Klasse verweisen auf die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem vor
allem durch ihre kulturelle Bedingtheit. Anders als die direkte und die wahrnehmbare Beziehung repräsentieren Symbole einen abstrakten Bedeutungszusammenhang zwischen
Zeichen und Bezeichnetem, der innerhalb der Gemeinde der Zeichenbenutzer konventionalisiert wurde. Kulturelle Zeichen können unter der Voraussetzung als symbolische Zeichen
verstanden werden, dass „menschliches Verhalten als symbolisches Handeln gesehen wird“
(Geertz 1987: 16). Der kultursemiotische Ansatz geht demnach davon aus, „dass die symbolischen Formen einer Gesellschaft ihre Kultur ausmachen“ (Posner 2008: 39).
Überträgt man diesen Ansatz auf die Lernkultur, dann bedeutet das Verstehen der inhärenten symbolischen Formen einer Kultur vor allem, „Vermutungen über Bedeutung
anzustellen, diese Vermutungen zu bewerten und aus den besseren Vermutungen erklärende
16
Schlüsse zu ziehen“ (Geertz 1987: 30). Denn eine als Zeichensystem gedeutete Lernkultur
besteht zuerst „aus individuellen und kollektiven Zeichenbenutzern, die Texte produzieren
und rezipieren, durch die mit Hilfe konventioneller Codes Botschaften mitgeteilt werden,
welche den Zeichenbenutzern die Bewältigung ihrer Probleme ermöglichen“ (Posner 2008:
54).
Für eine systematische Analyse der Lernkultur bietet sich ferner eine Betrachtung nach
den folgenden drei Dimensionen an: a) der sozialen Dimension, sprich der Gesellschaft, die
von den individuellen und kollektiven Zeichenbenutzern gebildet wird, b) der materialen
Dimension, also die von der Zivilisation produzierten und rezipierten Texte und c) der
mentalen Dimension, das heißt die in den Codes der Zeichenbenutzer enthaltenen Mentalitäten (vgl. ebd.: 47-55). Versteht man die Oberflächenphänomene einer Kultur als Zeichen,
bietet ihre Betrachtung die Möglichkeit, auch auf die ihnen zugrunde liegenden Strukturen
zu schließen. Diese erfahren ihren Ausdruck schließlich nicht zuletzt in den Produkten und
Artefakten, die neben den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, Praktiken und Institutionen einer Kultur auch die kollektiven Denk- und Gefühlsweisen sowie handlungsleitende
Werte und Normen widerspiegeln (vgl. Nünning/Nünning 2008; Nünning/Surkamp 2006).
Eine kultursemiotische Betrachtung der Lernkultur als kulturelles Subsystem widmet
ferner dem Verhalten der kulturellen Aktanten eine besondere Aufmerksamkeit. Ist doch
davon auszugehen, dass es „der Ablauf des Verhaltens ist – oder genauer gesagt, der Ablauf
des sozialen Handelns –, in dessen Rahmen kulturelle Formen ihren Ausdruck finden“
(Geertz 1987: 25). Das (implizierte oder explizierte) Verhalten der Aktanten innerhalb der
Lernkultur bringt überhaupt erst Materiales hervor, das einerseits kulturell bedingt ist, andererseits aber auf die Kultur selbst zurückwirkt. Es ist sozusagen Bezeichnetes und Bezeichnendes in einem, denn die Artefakte und Produkte der „materialen Zivilisation“ sind
„auf Mentefakte und Codes (Mentalität) angewiesen, sollen sie eine Funktion für die soziale Kultur übernehmen“ (Ort 2008: 33). Dem Verhalten der kulturellen Subjekte kommt in
diesem Ansatz aber auch deshalb eine übergeordnete Rolle zu, da Lernprozesse vor allem
auf die potentielle Veränderung des Verhaltensrepertoires von Lernenden abzielen bzw.
soziales Verhalten stets auf kulturelle Problemlöseprozesse bezogen ist.
Entsprechend der oben beschriebenen Dimensionierung von Lernkultur ergeben sich
u.a. folgende mögliche Fragestellungen:
MATERIALE DIMENSION
SOZIALE DIMENSION
MENTALE DIMENSION
ƒ Mit welchen kulturellen
Artefakten wird sich in der
Lernkultur auseinandergesetzt?
ƒ Wie wird innerhalb der Lernkultur agiert?
ƒ Welche Konzepte von Lernen liegen zugrunde?
ƒ Welche konventionalisierten
Codes liegen zugrunde?
ƒ Welche Denkweisen und
handlungsleitende Normen
lassen sich ausmachen?
ƒ Welche Produkte u. Artefakte bringt sie hervor?
z.B. Unterrichtsmaterial,
Schülerprodukte, Lehrpläne,
Bildungsstandards, Schulprogramme
Abb. 2
ƒ Welche Rolle spielen die
Praktiken der Lernkultur?
z.B. Unterrichtsgeschehen, Lernerrollen, Lehrerrollen, Schulgemeinde, Rollen im informellen
Lernen
z.B. pädagogische und didaktische Prämissen
Verortung der Lernkultur innerhalb der kultursemiotischen Dimensionen
17
Diese Dimensionierung der Lernkultur erfolgt allein aus heuristischen Zwecken. In der
kulturellen Praxis treten die drei Dimensionen nicht mono-, sondern stets multidimensional
auf. Lernen umfasst als Auseinandersetzung mit kulturell Relevantem, also mit den symbolischen Formen der Kultur, stets materiale, mentale sowie soziale Aspekte. Dabei lässt sich
die lernende Auseinandersetzung mit bzw. ‚Aneignung‘ von Kultur entlang zweier Pole
beschreiben. Lernen kann einerseits primär gruppenspezifisch betrachtet werden, dann steht
das Lernen in seiner institutionell realisierten Form im Vordergrund. Dieser Pol wird hier
als Akkulturation bezeichnet. Ihm gegenüber liegt der Pol der Enkulturation, der sich auf
das individuelle bzw. subjektspezifisch realisierte Lernen bezieht. Zwischen diesen beiden
Polen findet Lernen statt:
Akkulturation
- auf Gruppen bezogen
- institutionell realisiert
Abb. 3
Enkulturation
LERNEN
- auf Individuen bezogen
- subjekspezifisch realisiert
Lernkultur im Spannungsfeld von Akkulturation und Enkulturation
Lernkulturelle Prozesse können zwischen diesen beiden Polen sukzessiv, iterativ wie rekursiv verlaufen, d.h. sie gehen sowohl einander voraus (Enkulturation folgt auf gelungene
Akkulturation), können aber auch synchron und auf sich selbst bezogen vonstatten gehen.
Der akkulturative Pol bezieht sich dabei vor allem auf fachliche Qualifikationen, die sich in
den Anforderungsprofilen der Bildungsgänge niederschlagen, welche durch bildungssystemische Zielsetzungen und institutionelle Rahmenbedingungen vorgegeben sind. Der
enkulturative Pol bezeichnet hingegen das Hineinwachsen der Lernenden in die sie umgebende Kultur, was zwar auch als (an)geleiteter Lernprozesse realisiert werden kann, jedoch
in der Regel keinen konkreten Qualifikationserwartungen unterliegt, wie das bei der Akkulturation der Fall ist. Aspekte von Enkulturation sind eher allgemein- und persönlichkeitsbildende Lehr-/Lernziele, die der Emanzipation und kulturellen Mündigkeit der Lernenden
zuarbeiten und deren kulturelle Partizipation durch die Ausbildung deutender und interpretativer Fähigkeiten sowohl auf rezeptiver als auch produktiver Ebene verbessern wollen.
Akkulturation meint in dem hier verwendeten Sinne vor allem die präskriptive kulturelle
Weitergabe, Enkulturation hingegen den Transfer des Gelernten hinsichtlich der über die
gesellschaftlich-kulturellen Erwartungen hinausgehenden semiotischen Partizipation.2
Die hier beschriebene kulturwissenschaftliche und lernkulturelle Fokussierung bedeutet, die
jeweiligen Betrachtungsgegenstände der nachfolgenden Beiträge doppelt zu situieren: einerseits entlang der Position innerhalb der Lernkultur und den damit verbundenen kultursemiotischen Dimensionen, und andererseits entlang der immanenten Möglichkeiten zur
Verbesserung der kulturellen Teilhabe. Der letztgenannte Aspekt lässt sich mit der Frage
präzisieren, wie sich die erklärenden Schlüsse einer kulturwissenschaftlichen Perspektive
2
18
Vgl. Berg/Franke i.d. Bd.
auf die Lernkultur selbst auswirken. Oder anders formuliert: Welche Aspekte sind kulturell
bedeutsam und welches Potenzial bieten sie hinsichtlich der Weiterentwicklung und ‚kulturellen Evolution‘ der Lernkultur?
19
Literatur
Assman, Aleida (2006): Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin: Erich Schmidt Verlag.
Fend, Helmut (1996): Neue Theorie der Schule. Eine Einführung in das Verstehen von Bildungssystemen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Fend, Helmut (2008): Schule gestalten. Systemsteuerung, Schulentwicklung und Unterrichtsqualität.
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Geertz, Clifford (1987): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt: Suhrkamp.
Hallet, Wolfgang (2007): Literatur und Kultur im Unterricht. Ein kulturwissenschaftlicher didaktischer Ansatz. In: Hallet, Wolfgang/Nünning, Ansgar (2007) (Hg.). Neue Ansätze und Konzepte
der Literatur- und Kulturdidaktik. Trier: WVT, 31-48.
Hallet, Wolfgang/Nünning, Ansgar (2007) (Hg.). Neue Ansätze und Konzepte der Literatur- und Kulturdidaktik. Trier: WVT.
Hallet, Wolfgang/Nünning, Ansgar (2007): Einleitung. Neue fachwissenschaftliche Konzepte – neue
fachdidaktische Perspektiven. Kontext, Konzeption und Ziele des Bandes. In: Hallet, Wolfgang/
Nünning, Ansgar (Hg.): Neue Ansätze und Konzepte der Literatur- und Kulturdidaktik. Trier:
WVT, 1-12.
Hejl, Peter (2005): Kultur. In: Nünning, Ansgar (Hg.): Grundbegriffe der Kulturtheorie und Kulturwissenschaft. Stuttgart: Metzler, 105-108.
Hu, Adelheid (2007): Kulturwissenschaftliche Ansätze in der Fremdsprachendidaktik. In: Hallet,
Wolfgang/Nünning, Ansgar (Hg.): Neue Ansätze und Konzepte der Literatur- und Kulturdidaktik.
Trier: WVT, 13-30.
Hurrelmann, Klaus (92006): Einführung in die Sozialisationstheorie. Weinheim: Beltz.
Hurrelmann, Klaus/Grundmann, Matthias/Walper, Sabine (2008): Zum Stand der Sozialisationsforschung. In: Hurrelmann, Klaus/Grundmann, Matthias/Walper, Sabine (Hg.): Handbuch Sozialisationsforschung. 7., vollständig überarbeitete Auflage. Weinheim und Basel: Beltz Verlag, 14-31.
Linke, Angelika/Nussbaumer, Markus/Portmann Paul (2001): Studienbuch Linguistik. 4., unveränderte Auflage. Tübingen. Niemeyer.
Nünning, Ansgar/Nünning, Vera (Hg.) (2008): Konzepte der Kulturwissenschaften. Stuttgart: Metzler.
Nünning, Ansgar/Surkamp, Carola (2006): Englische Literatur unterrichten. Grundlagen und Methoden. Seelze-Verlber: Klett/Kallmeyer.
Ort, Claus-Michael (2008): Kulturbegriffe und Kulturtheorien. In: Nünning, Ansgar/Nünning, Vera
(Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Stuttgart: Metzler, 19-38.
Posner, Roland (2008): Kultursemiotik. In: Nünning, Ansgar/Nünning, Vera (Hg.): Konzepte der
Kulturwissenschaften. Stuttgart: Metzler, 39-72.
Sommer, Roy (2005): Kulturbegriff. In: Nünning, Ansgar (Hg.): Grundbegriffe der Kulturtheorie und
Kulturwissenschaft. Stuttgart: Metzler, 112-114.
Trommsdorff, Gisela (2008): Kultur und Sozialisation. In: Hurrelmann, Klaus/Grundmann, Matthias/Walper, Sabine (Hg.): Handbuch Sozialisationsforschung. 7., vollständig überarbeitete Auflage. Weinheim und Basel: Beltz Verlag, 229-239.
Von Hentig, Hartmut (2004): Bildung. Ein Essay. Weinheim: Beltz.
20
Vorbemerkungen zum Kapitel
Lernen als kulturelle Teilhabe
Lothar Bredella
Die vier unter dem Titel „Lernen als kulturelle Teilhabe“ abgedruckten Beiträge sind von
besonderer Bedeutung, weil sie in der gegenwärtigen bildungspolitischen Situation, in der
die Leistungsüberprüfung formaler Kompetenzen im Mittelpunkt steht, die Aufmerksamkeit auf bildungsrelevante Inhalte und Kompetenzen richten. In den von der Kultusministerkonferenz verabschiedeten Bildungsstandards heißt es ausdrücklich, dass die Inputorientierung zugunsten einer Outputorientierung aufgegeben werden müsse und dass nur die
Kompetenzen als Bildungsstandard anerkannt werden sollen, die „in Aufgabenstellungen
umgesetzt und prinzipiell mit Testverfahren erfasst werden können“ (BMBF). Doch Bildung lässt sich weder in- noch outputorientiert erfassen, sondern vollzieht sich in Prozessen
und Dialogen, in denen Schülerinnen und Schüler neue Einsichten mit relevanten Inhalten
über sich selbst und die Welt gewinnen können.
Der Begriff kulturelle Teilhabe ist ein sehr offener Begriff. In dem Beitrag über das
Schreiben im Sachfach Geschichte weist Olaf Hartung darauf hin, dass er unter Schreibkompetenz nicht „das orthografisch einwandfreie und motorisch flüssige Schreiben“ versteht. Für ihn besteht sie vielmehr darin, dass sich Schülerinnen und Schüler „aktiv als
Produzenten von kulturellen Bedeutungen“ verstehen. Diese Formulierung deutet schon an,
auf welcher Ebene in den vier Beiträgen von kultureller Teilhabe die Rede ist. Es handelt
sich nicht um Kulturtechniken wie Rechnen, Lesen und Schreiben, sondern um Kompetenzen, die es ermöglichen, an kulturellen Sinnbildungsprozessen und Auseinandersetzungen
teilzunehmen. Bei den sehr offenen Kompetenzen wie interkulturelles Verstehen, Reflexionsfähigkeit, historisches Lernen durch Schreiben und ästhetische Bildung sind jedoch
auch noch normative Momente enthalten, die überhaupt erkennen lassen, ob und inwieweit
die jeweiligen Kompetenzen erreicht worden sind. Auf diese normativen Momente werde
ich bei der Besprechung der einzelnen Beiträge hinweisen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie
Schülerinnen und Schüler als kreative und reflexive Wesen begreifen, die von ihrer Kultur
nicht nur geprägt werden, sondern sie auch mitgestalten. Kultur erscheint somit als Ort, an
dem kommuniziert wird, Bedeutungen ausgehandelt werden und miteinander und gegeneinander gehandelt wird. Das bedeutet, dass Kulturen keine homogenen, sondern heterogene Gebilde sind, in denen es zu Auseinandersetzungen kommt.
21
1.
Zu Thorsten Fuchs: „Kultur-Negation und Kulturtranszendenz.
Kulturwissenschaftliche Perspektiven in den Bildungswissenschaften
avant la lettre“
Fuchs untersucht die Schriften von Michele Borrelli und von Jörg Ruhloff, die in den
1980er Jahren erschienen sind und in denen er kulturwissenschaftliche Perspektiven avant
la lettre entdeckt. Was sind diese kulturwissenschaftlichen Perspektiven?
Es geht Borelli um eine interkulturelle Pädagogik. Wie Fuchs aufzeigt, liegt ihr ein
Kulturbegriff zugrunde, der sich dagegen wendet, dass Kulturen als homogen und statisch
gesehen werden und dass sie auf Nationales reduziert werden: „Es gibt weder die deutsche
noch die türkische, italienische Kultur, wie es auch nicht das deutsche, das türkische und
griechische … Denken gibt“ (Borrelli). Das bedeutet für Borrelli positiv gewendet, dass
Kultur die „Prozesshaftigkeit des Gewordenen, die Möglichkeit des Bewußt-Werdens im
Denken, die gedankliche ‚Verarbeitung‘ gesellschaftlicher Erfahrungen“ (Borrelli) beinhaltet. Daraus ergeben sich für Fuchs folgende Ziele für die interkulturelle Bildung: Die Schülerinnen und Schüler sollen Kulturen in ihrer Geschichtlichkeit, in ihrem Prozesscharakter
und in ihrer Veränderbarkeit erkennen und dabei lernen, "ihr eigenes Selbstverständnis
infrage zu stellen". Daher ist kulturelle Bildung "Kultur-Negation". Auf diese Weise kann
erreicht werden, dass beim Erkennen unterschiedlicher Kulturformationen und Kulturmuster die Befangenheit in der eigenen Kultur erfahren wird und dass damit verhindert wird,
dass Kultur zum Absoluten wird.
Ähnlich wie Borelli betont Ruhloff, dass interkulturelle Pädagogik ihr Ziel verfehlt,
wenn sie ihre Aufgabe darin sieht, ausländischen Kindern das Wissen zu vermitteln, das sie
benötigen, um sich in ihrer neuen Kultur kollektiv und individuell behaupten zu können.
Pädagogik dürfe nach Ruhloff nicht „zur Erfüllungsgehilfin von Gesellschaft“ werden und
dürfe nicht die Schülerinnen und Schüler zur Bindung an ihre Kultur erziehen, weil in einem solche Vorgehen die Gefahr liegt, die Werte der eigenen Kultur zu verabsolutieren.
Die pädagogische Aufgabe in einer pluralistischen Gesellschaft müsse vielmehr darin gesehen werden, „dass eine bis dahin selbstverständliche Auffassung vom eigenen kulturellen
Leben ‚fragwürdig‘ wird“ (Fuchs). Insofern ist Bildung für Ruhloff „Kulturtranszendenz“.
Das Verstehen der fremden Kultur ist an dem Ziel ausgerichtet, zur eigenen Kultur in Distanz zu treten und eine Diskussion darüber zu führen, wie die Teilhabe „eines jeden an der
Frage nach vernünftigen gemeinsamen Lebensformen“ (Fuchs) ermöglicht werden kann.
Im Mittelpunkt von Kultur-Negation und Kulturtranszendenz steht das Ziel, eigene
Positionen zu relativieren, um auf diese Weise Absolutheitsansprüche und Ethnozentrismus
zu überwinden. Insofern haben beide Positionen Ähnlichkeit mit der Auffassung von interkultureller Kompetenz, wie sie Ram Ram Adhar Mall entwickelt. Für ihn ist sie eine „normative Selbsttransformation“ (Mall 2003: 197), die beinhaltet, dass wir auf Absolutheitsansprüche verzichten und den Mut aufbringen, „mit und in Differenzen zu leben und Diskurse
zu führen“ (Mall 2000: 344).
In dem Beitrag von Fuchs steht eine Vorstellung von interkultureller Pädagogik im
Mittelpunkt, die die Distanzierung von der eigenen Kultur und die Forderung nach Selbstbestimmung in den Fokus rückt. Handelt es sich hier aber nicht um eine Pädagogik, die nur
für individualistische Kulturen und Gesellschaften gilt und nicht als allgemeingültig ausgegeben werden darf? Muss nicht gerade interkulturelle Pädagogik darauf achten, dass nicht
22
das Partikuläre als das Universelle ausgegeben und damit das Fremde und Andere vereinnahmt? Ich kann diese Problematik hier nur erwähnen. Michael Pauen verweist auf Studien,
nach denen „die japanische Erziehung eher auf die Identifikation mit der Gruppe, Höflichkeit und Aufmerksamkeit gegenüber anderen abzielt, während die amerikanische Erziehung
Unabhängigkeit und individuellen Ausdruck fördert“ (Pauen 2006: 225). Es geht hier aber
auch nicht nur um kulturell unterschiedliche Bildungsvorstellungen, sondern auch um die
Frage, ob Erziehung zu Selbstbestimmung und Unabhängigkeit die ganze Spannbreite unseres Handelns abdeckt. Wie Annette C. Baier ausführt, kann die Ethik der Unabhängigkeit
nur bedingt unser Verhalten erklären. Wichtiger ist für sie „an ethics of care“, die sie wie
folgt definiert: „a felt concern for the good of others and for community with them“ (Baier
1994: 19). Es ist offensichtlich, dass hier nicht Erziehung zur Selbstbestimmung und Unabhängigkeit gegen eine Erziehung zur Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft ausgespielt werden kann. Kwame Appiah, der entschieden für die Freiheit des Einzelnen eintritt,
betont aber auch, dass er sich nicht Menschen, „without any involuntary ties, unbound and,
utterly free“ (Appiah 2005: 45) vorstellen kann. In seinem einflussreichen Essay „The Politics of Recognition“ betont Charles Taylor, dass zur unserer Selbstachtung auch die Anerkennung unserer kollektiven Identität gehört. Das zeigt sich besonders eindringlich, wenn
wir aufgrund unserer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur, Religion, Ethnie oder
Nation als minderwertig angesehen werden und wenn wir diese herabsetzenden Urteile
verinnerlichen. Die Missachtung unserer kollektiven Identität führt dann zu Selbstverachtung und Selbsthass. Wir sehen hier, wie unsere Selbstachtung von der Anerkennung unserer kollektiven Identität abhängt, und wir nur bedingt, als autonome Individuen existieren.
Diese sehr knappen Hinweise wenden sich nicht gegen Kultur-Negation und Kulturtranszendenz, können aber auch ins Blickfeld rücken, was diese nicht in den Blick bekommen,
und dass Subjektivität auch immer schon auf Intersubjektivität angewiesen ist.
Fuchs kann mit seinem Beitrag aufzeigen, dass es in der Pädagogik kulturwissenschaftliche Ansätze bereits vor der kulturwissenschaftlichen Wende gab. Daher ist für ihn
die Pädagogik an einen „disziplinumspannenden Dialog“ interessiert, der jedoch von den
Kulturwissenschaften nicht aufgenommen wird. Sicherlich wäre ein solcher Dialog wünschenswert, aber man muss auch sehen, dass eine Differenz zwischen Kulturwissenschaften
und Pädagogik besteht. Pädagogik wie auch Didaktik stellen Erziehungs- und Bildungsziele
auf und bieten somit Orientierungen an. Die Diskussion um Kultur-Negation und Kulturtranszendenz ist dafür ein anschauliches Beispiel. Die Kulturwissenschaften distanzieren
sich, betont Aleida Assmann in Anlehnung an Uwe Steiner, von moralischen und pädagogischen Orientierungen. Sie beanspruchen für sich nur „eine besondere Kompetenz für Symbole – in Bezug auf ihre irreduziblen Struktur und Funktionsmechanismen, sowie ihre Wirkungen im Bereich von Alltag und Politik, von Kommunikation und Identitätsbildung, von
Macht und Konflikt“ (Assmann 2008: 28). Assmann begreift diese Auffassung für die Kulturwissenschaften als Befreiung von den Erwartungen nach Orientierung. Fuchs Forderung
nach einem Dialog wirft somit auch die Frage nach dem jeweiligen Selbstverständnis der
verschiedenen Disziplinen auf.
23
2.
Zu Matthias C. Fink: „Lernkultur und reflexives Lernen – Das didaktische
Potenzial der ePortfolio-Arbeit zur Förderung von Reflexivität“
Wie der Titel schon andeutet, sieht Fink seine Aufgabe darin, durch geeignete Aufgabenstellungen und Unterrichtsmethoden, die Schülerinnen und Schüler dazu anzuregen, ihre
Lernprozesse zu thematisieren und über sie zu reflektieren. Zunächst erläutert er den Begriff der Reflexivität in pädagogischen und bildungstheoretischen Schriften und zeigt auf,
dass Reflexivität aufs engste mit Selbstbestimmung zusammenhängt. Der Begriff der
Selbstbestimmung, der in der Pädagogik eine zentrale Rolle spielt, wird jedoch gegenwärtig
von einigen Gehirnphysiologen als Illusion abgetan. Sie betonen, dass im Gehirn alles nach
determinierten elektromagnetischen und chemischen Prozessen abläuft. Insofern kommt es
für die Pädagogik und Didaktik darauf an, einen Begriff von Selbstbestimmung zu entwickeln, der sich mit den Einwänden der Gehirnphysiologen auseinander setzt und sie gegebenenfalls widerlegt.
In seinem Buch Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung weist Michael Pauen zunächst auf Gehirnforscher hin, die behaupten, dass
Selbstbestimmung und Willensfreiheit mit wissenschaftlicher Erkenntnis unvereinbar sind.
So sagt Wolfgang Prinz: „Für mich ist unverständlich, dass jemand, der empirische Wissenschaft betreibt, glauben kann, dass freies, also nicht determiniertes Handeln denkbar ist“
(Prinz in Pauen 2006: 10). Für Wolf Singer ist die Auffassung, dass Menschen für ihr Handeln verantwortlich sind, „aus neurobiologischer Perspektive nicht haltbar“ (Singer in
ebd.). Es liegt auf der Hand, dass es sich hier um zentrale Fragen der Pädagogik und unseres Selbst- und Weltverständnisses handelt. Pauen zählt einige Veränderungen in unserem
täglichen Verhalten auf, wenn Selbstbestimmung und Freiheit sich als bloße Illusionen
erweisen sollten: „Wir würden normalerweise eine Person nicht für Handlungen bestrafen,
für die sie nicht verantwortlich war, weil sie sie gar nicht unterlassen konnte. Ebenso wenig
würden wir üblicherweise jemanden loben, wenn ihm gar nicht anderes übrig bleibt, als
eine eigentliche verdienstvolle Tat auszuführen“ (ebd.: 11).
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, was selbstbestimmtes und freies Handeln
bedeutet. An einem Beispiel erläutert Pauen die hier angesprochene Problematik. Stellen
wir uns vor, dass ich die Entscheidung getroffen habe, Geld für die Bekämpfung des Hungers in der Dritten Welt zu spenden. Das scheint eine freie und selbstbestimmte Handlung
zu sein, wenn ich überzeugt bin, dass der Hunger in der Dritten Welt nur überwunden werden kann, wenn die Menschen sich in der Ersten Welt ändern. Doch stellen wir uns weiter
vor, dass ich bei näherem Überlegen zu dem Schluss komme, dass ich gar nicht selbstbestimmt und frei entschieden und gehandelt habe: „Besäße ich z. B. andere genetische Anlagen oder hätte ich eine andere Erziehung genossen, dann hätte ich mich vermutlich gegen
eine solche Spende entschieden, doch offenbar konnte ich weder meine genetischen Anlagen noch meine Erziehung frei wählen“ (ebd.: 45). Welche Konsequenzen ziehen wir aus
diesem Beispiel? Zeigt es, dass selbstbestimmtes und freies Handeln gar nicht möglich ist,
weil unser Handeln immer determiniert ist? Oder motiviert es uns, selbstbestimmtes und
freies Handeln nicht im Gegensatz zur Determination zu bestimmen? Stellen wir uns vor,
dass meine Entscheidung, Geld für die Dritte Welt zu spenden, nicht durch meine genetischen Anlagen und meine aus der Erziehung erworbenen Überzeugungen bedingt sind,
24
sondern dass ich nach einem unbedingten Willen, der von nichts abhängig ist, meine Entscheidung getroffen hätte. Was würde das bedeuten? In seinem Buch Das Handwerk der
Freiheit kritisiert Peter Bieri die Vorstellung von Selbstbestimmung und Freiheit als unbedingten Willen. Eine Handlung, die durch nichts festgelegt ist, wäre „vollständig zufällig“,
und eine Tat, die nichts mit den Motiven und Umständen des Handelnden zu tun hätte,
wäre „eine völlig unbegründete Tat“ (Bieri 2007: 22 f.). Hätte ich nach einem unbedingten
Willen bei meiner Spende gehandelt, wäre die Spende nicht mehr als meine Entscheidung
und Handlung verständlich. Sie hätte nichts mehr mit mir als Person und meiner Geschichte
zu tun. Sie wäre ein unverständliches und zufälliges Ereignis. Es macht deshalb keinen
Sinn selbstbestimmtes und freies Handeln als Ausdruck eines unbedingten Willens, der
absolut frei ist, zu konzipieren.
In einem Essay mit dem Titel „Sich bestimmen lassen: Ein revidierter Begriff von
Selbstbestimmung“ kritisiert Martin Seel die romantische Vorstellung, die besagt, dass wir
uns nur aus uns selbst bestimmen: „Bei sich zu sein, also so zu leben, wie man es selber
will, ist aber gar nicht möglich, ohne sich auf anderes einzulassen, und das heißt: so zu
leben, wie es keinem Begriff von sich selbst entspringt und entspricht“ (Seel 2002: 283).
Selbstbestimmung in einem radikalen Sinne ist ein unsinniger Begriff. Wir können uns nur
selbst bestimmen, wenn wir anerkennen, dass wir uns immer in bestimmten Situation befinden, in denen Vieles unserem Einfluss entzogen ist und dass sich erst dadurch bestimmte
Wahlmöglichkeiten eröffnen. Sobald wir uns außerhalb einer Situation stellen und uns nur
aus uns selbst bestimmen wollen, wird der Begriff der Selbstbestimmung unsinnig. Seel
formuliert diese Einsicht in folgenden Worten: „Wer nicht in vieler Hinsicht bestimmt
wäre, könnte selbst nichts bestimmen; es wäre nichts da, dem gegenüber eine eigene Bestimmung ein Gewicht haben könnte. Bestimmt zu sein ist ein konstitutiver Rückhalt von
Selbstbestimmung“ (ebd.: 288).
Diese Einsicht in einen realistischen Sinn von Selbstbestimmung erscheint mir für die
Pädagogik von entscheidender Bedeutung, weil wir deutlich machen können, dass Schülerinnen und Schüler nicht ihre Selbstbestimmung aufgeben, wenn sie sich auf das Gegenüber einlassen und sich von ihm auch bestimmen lassen. Im Gegenteil – nur so wird Selbstbestimmung und Reflexion möglich. Wie aber lässt sich vor diesem Hintergrund Selbstund Fremdbestimmung unterscheiden? Pauen bestimmt ein Minimalkonzept für selbstbestimmtes und freies Handeln: Es umfasst zwei Momente: Autonomie- und Urheberprinzip.
Das Autonomieprinzip bedeutet, dass wir selbstbestimmtes und freies Handeln von erzwungenen Handeln und zufälligen Handeln abgrenzen. Die Differenz ist nicht immer
leicht, aber in der Regel verfügen wir über die Kompetenz, zwischen ihnen zu unterscheiden. Erzwungenes Handeln liegt vor, wenn der Kassierer einer Bank mit vorgehaltener
Pistole aufgefordert wird, den Tresor zu öffnen. Zwanghaftes Handeln liegt auch vor, wenn
wir unter Hypnose etwas tun. Vom Urheberprinzip spricht Pauen, „wenn erst der Bezug auf
die Person selbst verständlich machen kann, warum in der gegebenen Situation die Handlung x und nicht die Handlung y vollzogen worden ist“ (Pauen 2006: 62). So wird meine
Spende für die Dritte Welt erst verständlich, wenn sie auf mich als Peron mit meinen bestimmten Überzeugungen und Wünschen als Urheber bezogen werden. Selbstbestimmtes
und freies Handeln steht jetzt nicht mehr im Gegensatz zu determinierten Handeln, sondern
25
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