Kunst und Architektur in St. Petersburg

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Michael Lausberg
Kunst und Architektur
in St. Petersburg
Michael Lausberg
Kunst und Architektur
in St. Petersburg
Tectum Verlag
Michael Lausberg
Kunst und Architektur in St. Petersburg
 Tectum Verlag Marburg, 2017
ISBN: 978-3-8288-6647-8
(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter
der ISBN 978-3-8288-3887-1 im Tectum Verlag erschienen.)
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Kunst und Architektur in St. Petersburg
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung……………………………………………………………….. 4
2. Eckdaten zur Stadtgeschichte………………………………………….9
2.1 Stadtgründung…………………………………………………………………….9
2.2 Petrinische Reformen……………………………………………………………..16
2.3 Peter der Große als Nachfolger von Alexander Newski………………………….42
2.4 Katharina II. und der Ausbau St. Petersburg zu einem kulturellen Zentrum……..50
2.5 Petersburger Blutsonntag…………………………………………………………54
2.6 „Leningrader Blockade“………………………………………………………….58
3. Russisch-orthodoxe Kirche als Kulturträger…………………………...66
4 Eremitage………………………………………………………………...105
4.1 Entstehung und Geschichte………………………………………………………105
4.2 Gold der Skythen…………………………………………………………………133
4.3 Fundstücke aus der Zeit der Kiewer Rus‘………………………………………...151
4.4 Fabergé-Eier………………………………………………………………………159
4.5 Mittel- und westeuropäische Kunstsammlung……………………………………170
4.6 Russische Avantgarde…………………………………………………………….178
4.7 Majolika und Fayencen…………………………………………………………...242
5 Architektonische und künstlerische Highlights…………………………252
5.1 Palastplatz…………………………………………………………………………252
5.2 Kloster Smolny……………………………………………………………………254
5.3 Schloss Peterhof…………………………………………………………………..256
5.4 Russische Kunstakademie………………………………………………………...265
5.5 Katharinenpalast und der Park……………………………………………………288
5.6 Kasaner Kathedrale……………………………………………………………….300
5.7 Stroganow-Palais………………………………………………………………….302
2
5.8 Isaakskathedrale………………………………………………………………306
5.9 Auferstehungskirche…………………………………………………………..310
5.10 Alexander-Newski-Kloster…………………………………………………..320
5.11 Russisches Museum………………………………………………………….325
6 Literatur………………………………………………………………333
3
1 Einleitung
Die russische Metropole Sankt Petersburg, im Newadelta am Finnischen Meerbusen
gelesen, hat eine wechselvolle Geschichte: Nach der Stadtgründung firmierte sie unter
dem Namen St. Petersburg, zwischen 1914 und 1924 wurde der Name in Petrograd
verändert, 1924 wurde sie nach dem Revolutionsführer in Leningrad umgewandelt. Erst
1991 nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus in der Sowjetunion bekam sie
wieder ihren ursprünglichen Namen St. Petersburg.
Sankt Petersburg ist nach Moskau die zweitgrößte Stadt Russlands und ein wichtiges
Kultur- und Wirtschaftszentrum. Die Stadt hat mehr als 5 Millionen Einwohner, mit den
Banlieus in der Umgebung vielleicht sogar 6 oder 7 Millionen. In Sankt Petersburg
existieren etwa 40 Hochschulen, zahlreiche Forschungsinstitute und wissenschaftliche
Einrichtungen, etwa 50 Museen, darunter die weltberühmte Eremitage, unzählige
Bibliotheken, Kultureinrichtungen und Theater. Die Russische Nationalbibliothek ist die
zweitgrößte Bibliothek Russlands und eine der drei Nationalbibliotheken des Landes.
Sie wurde 1795 durch Katharina II. gegründet und hat einen Bestand von über
30 Millionen Medien, davon über 450.000 Handschriften (Ostromir-Evangeliar, Codex
Petropolitanus Purpureus, Codex Leningradensis u. a.). In ihrem Bestand befinden sich
Bücher in 85 Sprachen. Die 1714 gegründete Bibliothek der Akademie der
Wissenschaften weist über 20 Millionen Bände auf. Die Puschkin-Bibliothek besitzt mit
5000 Werken einen wertvollen Bestand von Werken aus der privaten Bibliothek des
Dichters.
In wirtschaftlicher Hinsicht war und ist Sankt Petersburg ein wichtiger Hochsee- und
Binnenhafen mit Kanalverbindung zum Kaspischen und Weißen Meer.
Zur Verteidigung der im Nordischen von den Schweden zurückeroberten Gebiete
begann Zar Peter I. 1702/03 mit der Errichtung der Festungen Kronstadt und
Schlüsselburg. Der Baubeginn der Peter-und-Pauls-Festung im Mai 1703 auf einer Insel
der Newamündung galt als Gründung der Stadt. Vor einer Bebauung des sumpfigen
Geländes waren umfangreiche Entwässerungensanlagen notwendig. Ab 1704 entstand
die Schiffswerft (Admiralität). Mit der Verlegung der Hauptstadt von Moskau nach
Sankt Petersburg, was unter den Moskowitern nicht gerne gesehen wurde, setzte ein
rascher Aufschwung ein. Der Stadtbrand 1737 bremste die Entwicklung der Stadt, im
Anschluss daran mussten zahlreiche Renovierungsarbeiten durchgeführt werden.
4
Dem raschen Wachstum der Stadt und ihren Bewohnern entsprach ein Aufschwung von
Handel, Handwerk und Industrie, besonders nach dem Bau der ersten Eisenbahn von
Sankt Petersburg nach Zarskoje Selo 1837. Maschinenbau und Papierfabriken ergänzten
die traditionellen Industriezweige Textil- und Baustoffindustrie.
Die schlechte soziale Lage der Arbeiter und wirtschaftliche Krisen 1902-1904 führten
zu einer Reihe von Aufständen. Die Oktoberrevolution nahm hier mit dem Sturm auf
das Winterpalais ihren Anfang. Während des 2. Weltkriegs war die Stadt 900 Tage lang
von Ende 1941 bis Frühjahr 1944 von der deutschen Wehrmacht belagert (Leningrader
Blockade), was zu mehr als 600.000 Opfer führte. Die Kriegsschäden in historischen
Kern der Stadt wurden bald nach 1945 behoben und zu einer typischen Stadt in der
sozialistischen Sowjetunion. Die frühere Residenz der Zaren als elitäres Element der
Tyrannei sollte möglichst an den Rand gedrängt werden. In den Folgejahren hielt die
Stadt ihren Ruf als große Industriestadt und eines der wissenschaftlichen Zentren der
Sowjetunion. Das politisch-kulturelle Zentrum Russlands und der Sowjetunion lag zu
dieser Zeit aber klar in Moskau.
Drei Bauepochen verleihen St. Petersburg ihr unverwechselbares Erscheinungsbild: bis
1725 entstanden erste einfache Barockbauten unter niederländischem-deutschen
Einfluss (Architekt D. Trezzini), bis 1760 die italienischen barocken Großbauten unter
dem Architelt Rastrelli und 1760-1850 klassizistische Bauwerke. Als erstes größeres
Bauensemble entstand seit 1703 die Peter-und-Pauls-Festung mit der Peter-und-PaulsKathedrale (1712-1732), die 1787 noch umgebaut wurde. Trezzini erbaute den
Sommerpalais Peters des Großen 1714, ungefähr gleichzeitig mit dem MenschikowPalais durch D. Fontana und G. Schädel und der Kunstkammer 1718-1734 auf der
Wassiljewinsel.
Rastrelli schuf auf dem Südufer der Newa neben der Admiralität den sogenannten
Vierten Winterpalais 1754-1965. Er erbaute unter anderem auch das Smolny-Kloster
mitsamt der Kathedrale. Das Kloster Smolny wurde 1748-1964 erbaut, ein
klassizistischer Innenausbau wurde Anfang des 19. Jahrhunderts vorgenommen. Bauten
des Klassizismus sind weiterhin die Kleine Eremitage (1764-1767), die Akademie der
Schönen Künste
1764-1788 durch Vallin de la Mothe, die Akademie der
Wissenschaften (1783-1789 durch G. Quarenghi, die Eremitage 1775-1784 von J. M.
Velten, die Alexander-Newski-Kathedrale 1776-1790 von I. E. Sturow, die Kasaner
5
Kathedrale 1802-1812 von A.N. Woroschnin und I. E. Sturow, sowie die IsaakKathedrale 1817-1857 und die Neue Eremitage durch L. von Klenze.
Unter K. I. Rossi entstanden die schönsten Platzanlagen: Platz der Künste mit dem
Palast des Großfürsten Michael (heute Staatliches Russisches Museum). Die südliche
Fassade des Gebäudes ist mit einem Relief ("Der Ruhm Russlands") und dem
kaiserlichen Wappen geschmückt. Seit 1817 nahm das Schloss eine Technikschule auf,
die durch viele große russische Persönlichkeiten der Vergangenheit bewohnt wurde, den
Schriftsteller Fjodor Dostojevski einschließend. Permanente Ausstellungen im MichaelPalast sind die Porträtgalerie von russischen Aristokraten des 18.-19. Jahrhunderts, und
Ausstellung von Skulpturporträts des 18. Jahrhunderts. Vor der Hauptfassade ließ Paul
ein Denkmal Peters des Großen aufstellen mit der Inschrift "Dem Urgroßvater vom
Urgroßenkel".
Rossi schuf weiterhin die Anlage um das heutige Puschkin-Theater (1829-1832),
Generalstabsgebäude und Triumpfbogen am Schlossplatz und Petersplatz mit Gebäude
des Senats und der Synode. Das Alexandra- oder Alexandrinski-Theater wurde auf
Erlass der Zarin Elisabeth I. 1756 gegründet. Eine aus Schülern des Kadettenkorps
zusammengestellte Truppe bildete das erste ständige Theater Russlands. Erst 1832
erhielt das Ensemble sein heutiges prächtiges Gebäude, das unter Leitung des
Architekten Rossi entstand. Zahlreiche russische Theaterstücke wurden auf der Bühne
des Alexandrinski-Theaters uraufgeführt, darunter Werke wie „Der Revisor“ (1836) von
Nikolai Wassiljewitsch Gogol, Stücke von Alexander Sergejewitsch Gribojedow, 1896
„Die Möwe“ von Anton Pawlowitsch Tschechow. Zu den berühmten Regisseuren des
Theaters gehörten Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold und Grigori Michailowitsch
Kosinzew.
Das historische Zentrum von Sankt Petersburg wurde von der UNESCO zum
Weltkulturerbe erklärt. In der Umgebung von Sankt Petersburg entstanden die Schlösser
Pawlowsk, Petrodworez und Puschkin, die allerdings in diesem Werk aus Platzgründen
nicht behandelt werden können.1
Von den zahllosen Museen der Stadt ist die Eremitage mit 2,4 Millionen Besuchern
(2009) das bestbesuchte und international bedeutendste.2 Die Eremitage zählt in
1
Vgl. Dazu Perigi, I.: Leningrad und die Schlösser der Umgebung, Stuttgart 1984
2
6
Norman, G.: The Hermitage. London 1997, S. 12
Russland neben dem „Staatliche Museum für Bildende Künste A. S. Puschkin“3 in
Moskau zur wichtigsten Kunstgalerie. Es sind Sammlungen über prähistorische Kultur,
Kunst und Kultur der Antike, Kunst und Kultur der Völker des Ostens, westeuropäische
Kunst und russische Kunst zu sehen.4
Im Archiv des Museums befinden sich fast drei Millionen Objekte, unter anderem
archäologische Fundstücke sowie die neben dem Louvre und dem Prado bedeutendste
Sammlung klassischer europäischer Kunst. In mehr als 350 Sälen sind über 60.000
Exponate ausgestellt. Zu den ausgestellten Bildern gehören Werke holländischer und
französischer Meister wie Rembrandt, Rubens, Matisse und Paul Gauguin. Außerdem
sind zwei Gemälde des italienischen Universalgenies Leonardo da Vinci sowie 31
Gemälde des spanischen Malers Pablo Picasso ausgestellt. Das Museum hat etwa 2.500
Mitarbeiter.
Während die Malerei der Kern der Sammlung ist, beherbergt die Eremitage auch
Zeichnungen, über 50.000 Druckgraphiken (Holzschnitte, Lithographien, Radierungen)
verschiedener Genres und Epochen, und umfangreiche Sammlungen angewandter
Kunst. Dazu gehören insbesondere Kirchengerät des 11. bis 15. Jahrhunderts,
Emailarbeiten und Elfenbeinschnitzereien des 15. bis 18. Jahrhunderts.
Daneben sammelten vor allem die Kaiser angewandte russische Kunst wie Teppiche
und Porzellan. Die Sammlung an russischen Gewändern des 18. bis 20. Jahrhunderts ist
3
Das „Staatliche Museum für Bildende Künste A. S. Puschkin“ in Moskau, benannt nach dem russischen
Nationaldichter Alexander Sergejewitsch Puschkin, wurde. von 1961 bis 2013 wurde es von Irina Antonowa
geleitet, ihre Nachfolgerin als Direktorin ist Marina Loschak. Die Initiative für die Gründung eines
bürgerlichen Bildungsmuseums geht bereits auf erste Ideen in den 50er Jahren des 18. Jahrhunderts zurück.
Doch es sollte mehr als hundert Jahre dauern, bevor der Gedanke erste Formen annahm. Ein wichtiger
Anstoß war 1862 die Überführung der Kunstsammlung des Grafen Nikolai Petrowitsch Rumjanzew von
Sankt Petersburg nach Moskau, die dort in einem eigenen Museum ausgestellt wurden.
Da das so genannte Rumjanzew-Museum ständig unter Mangel an Finanzen und Ausstellungsfläche litt,
entstand unter dessen Direktor Iwan Wladimirowitsch Zwetajew, der auch Professor an der Moskauer
Universität war, eine Initiative, die den Stein zur Gründung des Museums endgültig ins Rollen brachte. Er
überwand alle Hindernisse und sammelte die Mittel für einen neuen Museumsbau. Die Grundsteinlegung
erfolgte 1898, nach Plänen des Architekten Roman Klein mit Beteiligung der Ingenieure Wladimir Schuchow
und Iwan Rerberg. Nach einer Bauzeit von 14 Jahren konnte das „Kaiser-Alexander III.-Museum der
schönen Künste“ am 31. Mai 1912 feierlich eröffnet werden. 1917–1937 hieß es „Museum der schönen
Künste“. Den Grundbestand der Sammlung bildeten Gipsabgüsse berühmter Skulpturen der westlichen Kunst
aus Mittelalter und Renaissance. Aber dass man sich nicht nur mit Kopien begnügen wollte, zeigte bereits die
Tatsache, dass von Anfang an auch eine ansehnliche Sammlung altägyptischer Originale, die Zwetajew 1909
von dem Ägyptologen Wladimir Semjonowitsch Golenischtschew erworben hatte, und 12 frühe italienische
Gemälde, die der russische Diplomat M. S. Schtschukin, Generalkonsul in Triest, gestiftet hatte, ausgestellt
werden konnten. Dieser Gemäldebestand konnte in den Folgejahren kontinuierlich ausgebaut werden und
entwickelte sich zum bedeutendsten und international bekanntesten Sammlungsteil des Museums.
4
7
Norman, G.: The Hermitage. London 1997, S. 27
beeindruckend. Unter den Gewändern befinden sich unter anderem über 300
Zarengewänder von Peter dem Großen.
Ebenfalls gehören zur Sammlung in der Eremitage 14.000 Stück Porzellan aus allen
großen Manufakturen, darunter besonders Meißen und Sèvres. Ebenfalls zur
angewandten Kunst zählen große und bedeutende Sammlungen an Teppichen, Gobelins
und Möbelkunst. Die Sammlung der Plastiken ist mit über 2000 Objekten eine der
größten der Welt. Sie enthält unter anderem Werke von Michelangelo und Rodin.
Dieses Buch hat sich zum Ziel gesetzt, Kunst und Architektur in St. Petersburg
systematisch vorzustellen und im Gegensatz zu älteren Darstellungen auf den neuesten
Forschungsstand zu bringen. Dies ist anhand der Fülle der Untersuchungsgegenstände
nur möglich, wenn eine Auswahl der zu untersuchenden Objekte vorgenommen wird.
Manches wird daher nur angerissen oder nicht in der Länge erfasst, die eigentlich
notwendig wäre. Da ohne kunsthistorische und architekturgeschichtliche Exkurse vieles
gar nicht verstanden und dies nicht beim Leser vorausgesetzt werden kann, wird dies an
manchen Stellen notwendigerweise eingefügt.
Zunächst wird die stadtgeschichtliche Gründung und Entwicklung St. Petersburg
beschrieben, bevor dann eine längere Abhandlung über die russisch-orthodoxe Kirche
als Kulturträger erfolgt. Dann steht die Eremitage als wahrscheinlich bekanntestes
Kulturobjekt in St. Petersburg im Mittelpunkt, wobei einige ihrer Kulturschätze genauer
beleuchtet werden. Danach folgt eine Übersichtsdarstellung anderer künstlerischer und
architektonischer Highlights in St. Petersburg. In der umfangreichen Literaturübersicht
finden sich Werke, die sich zur Vertiefung des einen oder anderen Themas, das hier
vielleicht zu kurz gekommen ist, anbieten.
8
2 Eckdaten zur Stadtgeschichte
2.1 Stadtgründung
Die Stadtgründung von Sankt Petersburg ist Gegenstand eines um Peter den Großen
gewobenen politischen Mythos.5 Danach soll der weitsichtige Zar bereits bei deren
erstem Anblick eine unbewohnte und öde Sumpflandschaft an der Newa-Mündung zum
Standort seiner zukünftigen Hauptstadt, eines „Fensters nach Europa“ für Russland,
ausgewählt haben. Die wortmächtigste und am häufigsten zitierte Ausformulierung
dieses Mythos von der eine „Hauptstadt aus dem Nichts“ erschaffenden Willenskraft
Peters des Großen findet sich in dem Gedicht Der eherne Reiter (1834) von Alexander
Puschkin.
Tatsächlich ignoriert diese populäre Erzählung von den Ursprüngen Sankt Petersburgs
jedoch, dass der Bereich der unteren Newa schon lange zuvor Teil einer
Kulturlandschaft war, des Ingermanlandes. Dort lebten seit dem 10. Jahrhundert
Vertreter verschiedener finno-ugrischer Völker größtenteils von der Landwirtschaft. Zu
Beginn des 14. Jahrhunderts stritten Schweden und Nowgorod unentschieden um eine
Kontrolle über das Gebiet. Eine als Landskrona überlieferte schwedische Siedlung an
diesem Ort wurde angeblich im Jahr 1301 zerstört. Danach einigte man sich darauf, die
Region als Pufferzone zwischen den Einflusssphären zu betrachten, in der keine
Festungen errichtet werden durften.
In den folgenden Jahrhunderten wurde das Gebiet zumindest als Landungsstelle für die
Newa befahrende Schiffe, möglicherweise aber als Handelsplatz genutzt. Letzteres gilt
sicher für die Zeit einer erneuten schwedischen Dominanz in der Region nach der
Errichtung der Festung Nyenschanz im Jahr 1611 und der sie bald umgebenden Siedlung
Nyen. Beide lagen auf dem Stadtgebiet des heutigen Sankt Petersburg am nördlichen
(oder rechten) Ufer der Newa. Es gibt Hinweise auf größere städtebauliche Ambitionen
der Schweden für Nyen im 17. Jahrhundert.6 Allerdings erlebten diese einen herben
Rückschlag, als Siedlung und Festung 1656 während des Zweiten Nordischen Krieges
von russischen Truppen zerstört wurden.
5
6
Kusber, J.: Kleine Geschichte St. Petersburgs, Regensburg 2009, S. 28
Schlögel, K./ Schenk, F. B./Ackeret, M. (Hrsg.): Sankt Petersburg. Schauplätze einer Stadtgeschichte,
Frankfurt am Main 2007,
9
Dem baldigen Wiederaufbau folgte am 1. Mai 1703, während des Großen Nordischen
Krieges, die endgültige Eroberung von Nyenschanz durch die newaabwärts
vorrückenden Russen unter Scheremetew. Nyen war zu diesem Zeitpunkt bereits von
den Schweden selbst präventiv geräumt und teilweise zerstört worden. Das Ende von
Nyen und Nyenschanz markierte gleichzeitig den Beginn der Stadtgeschichte von Sankt
Petersburg. Offiziell verbindet man diesen mit dem Datum 16. Mai. 1703.7 An diesem
Tag wurde auf einer Nyenschanz gegenüber gelegenen Insel im Newa-Delta der
Grundstein für die nach dem Namenspatron des Zaren benannte Peter-und-Paul-Festung
gelegt. In Urkunden und Karten aus der Gründungszeit finden sich neben der deutschen
Bezeichnung Sankt Petersburg die niederländisch klingenden Sankt Piter Bourgh oder
St. Petersburch.
Die Peter-und-Paul-Festung bildet die den Ursprung und das historische Zentrum der
Stadt Sankt Petersburg.8 Die auf der Haseninsel in der Newa gelegene Anlage
beherbergt heute vor allem Ausstellungen und Museen und ist sowohl Touristenmagnet
als auch Erholungsort für die St.-Petersburger. Die Festung ist zentraler Teil der zum
UNESCO-Weltkulturerbe erklärten St.-Petersburger Innenstadt.
Die Festung, deren Grundsteinlegung am 27. Mai 1703 als offizielles Gründungsdatum
Sankt Petersburgs gilt, kam nie ihrer eigentlichen Bestimmung als militärische Anlage
nach. Die Schweden, gegen die sie im Großen Nordischen Krieg vor allem schützen
sollte, wurden in den folgenden Jahren militärisch geschlagen und stellten seitdem keine
Gefahr mehr für das Russische Reich dar. Die Festung wurde ursprünglich von etwa
20.000 Männern aus Erdwällen und Holzbefestigungen in sechs Bastionen gebaut. Von
1706 bis 1740 wurde sie komplett aus Stein neu errichtet; sie hat seitdem die Form eines
unregelmäßigen Sechsecks, dessen Ecken weiterhin von Bastionen geschützt werden.
Bei dem von dem Schweizer Baumeister Domenico Trezzini geleiteten Bau starben, wie
bei der gesamten Gründung St. Petersburgs, Hunderte der eingesetzten Zwangsarbeiter.
Ab 1720 diente die Festung als Kasernenanlage und eines der berüchtigtsten
Gefängnisse des Zarenreiches. Von 1770 bis 1780 wurde die der Newa zugewandte
Seite mit Granit verkleidet. Berühmtheit erlangte der aus Jaroslawl stammende Bauer
und Dachdecker Pjotr Teluschkin im Jahr 1830, als er die durch einen Blitzschlag
7
8
Kusber, J.: Kleine Geschichte St. Petersburgs, Regensburg 2009, S. 37
Talbot Rice, T.: Die Kunst Russlands. Zürich 1965, S. 164
10
beschädigte Kirchturmspitze mit dem Engel mittels einer Strickleiter in sechswöchiger
Arbeit reparierte.
War die Festung ein bedeutendes Symbol des Zarenreiches, war sie während der
russischen Revolutionen ein Zentrum des Aufstandes.9 Während der Februarrevolution
stürmten die Soldaten des Paulsregiments am 27. Februar das Gefängnis und befreiten
die Gefangenen. Bei einem Putschversuch der Bolschewiki erklärte sich die 8.000 Mann
starke Einheit in der Festung am 4. Juli 1917 mit den Bolschewiki solidarisch, ergab sich
aber zwei Tage später kampflos den Regierungstruppen.
Der größte Teil der Anlage wurde 1924 zu einem Museum erklärt. Die Festung, die die
ganze Haseninsel bedeckt, wurde während der Belagerung Leningrads im Zweiten
Weltkrieg beschädigt, danach aber wieder restauriert.
1991 wurde im Komplex eine von Michail Schemjakin gestaltete Bronzeskulptur Peters
I. aufgestellt, die für heftige öffentliche Diskussionen in der Stadt sorgte, da Peter mit
disproportional kleinem Kopf und großen Füßen und Händen dargestellt ist. Trotzdem
gilt das Denkmal mittlerweile als Glücksbringer für die Petersburger.
Das Gebäude mit seinen zwölf Meter hohen Wällen und sechs Bastionen wurde schon
früh als Gefängnis benutzt, in das insbesondere die politischen Gefangenen des
Zarenreiches gesperrt wurden. In der Festung saßen viele berühmte Gefangene. Der erste
war 1717 Alexei, der Sohn Peters I.; es folgten Teilnehmer des Dekabristenaufstandes,
Fjodor Dostojewski, Maxim Gorki, Michail Bakunin, Peter Kropotkin, Alexander
Iljitsch Uljanow, der Bruder Lenins. Ab 1872 befanden sich diese im neu gebauten
Gefängnis in der Trubezkoi-Bastion. Die 36 Einzelzellen hatten jeweils ein in die Wand
eingelassenes Eisenbett und einen Tisch sowie einen Schemel. Zusätzlich gab es einen
Karzer. Sie dienten um 1880 als Untersuchungsgefängnis für die zahlreichen Inhaftierten
der Narodnaja Wolja, die mehrere Attentate auf Alexander II. ausgeführt hatten, u. a.
Wera Figner, Ljudmila Wolkenstein, Alexander Solowjow, Michail Frolenko.10
Nach
der
russischen
Februarrevolution
1917
befanden
sich
Hunderte
von
Funktionsträgern des Zarenreiches in dem Gefängnis, teilweise auch um sie vor dem
Volkszorn zu schützen. Nach der Oktoberrevolution wurde die provisorische Regierung
Kerenski hier inhaftiert – es handelte sich um die letzten Gefangenen in der Peter-Paul9
Doroschinskaja, J.: Leningrad und Umgebung. Moskau 1980, S. 131
10
Talbot Rice, T.: Die Kunst Russlands. Zürich 1965, S. 165
11
Festung. Heute dient die Trubezkoi-Bastion als Museum, in dem unter anderem auch
Wachsfiguren der berühmtesten Gefangenen ausgestellt werden.
Auf dem Gelände der Festung befindet sich die von 1713 bis 1732 gebaute Peter-undPaul-Kathedrale, in deren Innenraum die meisten russischen Kaiser seit dem 18.
Jahrhundert begraben liegen. Die Kathedrale wurde ebenfalls von Domenico Trezzini
gestaltet. Ihr 122,5 Meter hoher Turm mit einem sieben Meter hohen Engelsstandbild
auf der vergoldeten Spitze war für lange Zeit, wie von Peter dem Großen angeordnet,
das höchste Gebäude der Stadt. Heute wird sie nur vom städtischen Fernsehturm
übertroffen.11
Der Innenraum wurde mit Trophäen aus dem Nordischen Krieg und Wandmalereien
geschmückt. Die Särge der Zaren wurden aus weißem Marmor gestaltet, einzig
Alexander II. und seine Frau bekamen Särge aus grünem beziehungsweise rotem
Marmor, da man sie für die Befreiung der Leibeigenen in ihrer Regierungszeit besonders
würdigen wollte. Seit 1998 befinden sich in einem angeschlossenen Raum die Gräber
der letzten Zarenfamilie.
Ungewöhnlich für eine russisch-orthodoxe Kirche besitzt die Peter-und-Paul-Kathedrale
eine Kanzel. Angeblich wurde diese nur einmal benutzt – um Leo Tolstoi 1902 zu
exkommunizieren.
Angeschlossen an die Kathedrale ist die von 1896 bis 1908 gebaute Grabkapelle. 12 In ihr
wurden diverse Verwandte der Kaiser beerdigt und auch heute dient sie – nach mehreren
Rechtsstreitigkeiten – wieder als Begräbnisstätte der Familie Romanow. Vor der
Kathedrale befindet sich der Friedhof der Kommandanten der Peter-und-Paul-Festung,
eine der ältesten erhaltenen Friedhofsanlagen Russlands, in dem – sehr ungewöhnlich für
die Zeit – sowohl Protestanten als auch russisch-orthodoxe Christen liegen.
Der Festungsbau beherbergt heute diverse Museen, zum einen die Dauerausstellung zur
Stadtgeschichte von 1703 bis 1924, zum anderen unter dem Namen Museum des alten
Petersburg wechselnde Ausstellungen zu einem ähnlichen Themengebiet.
Direkt am Tor liegt eine weitere Ausstellungsfläche, in der abwechselnd internationale
Fotografen ihre Werke zeigen. In den Kasematten befindet sich eine Druckerei, in der
11
12
Doroschinskaja, J.: Leningrad und Umgebung. Moskau 1980, S. 130
Moll, M.: Architektur in Russland, Aachen 1990, S. 132
12
auf altem Originalgerät vor Zuschauern (und zum Verkauf) historische Drucke gefertigt
werden.
Da sich von 1932 bis 1933 eine Forschungsstätte für sowjetische Luft- und Raumfahrt
auf dem Gelände befand, ist hier heute ein Museum für Raketenbau und Raumfahrt
untergebracht. Heute sind hier die nachgebildeten Konstruktionsbüros der Raketenbauer,
Sputniks sowie kosmisches Zubehör wie etwa Original-Raumanzüge ausgestellt.
Ebenfalls auf dem Gelände ist ein Münzmuseum mit einer funktionsfähigen
Münzprägeanstalt, in der bis heute russisches Kleingeld, Orden und Medaillen geprägt
werden.13
Die Peter-und-Paul-Festung gilt bis heute als das Herz Sankt Petersburgs. Besonders
nachdrücklich wird sie den Bewohnern der Stadt täglich um zwölf Uhr mittags in
Erinnerung gebracht. Seit dem 18. Jahrhundert wird um diese Zeit eine Kanone
abgefeuert, ursprünglich diente dies dazu, den Stadtbewohnern die genaue Uhrzeit
mitzuteilen.14
Entgegen dem zuvor zitierten Mythos gibt es keine Quellen, die glaubhaft belegen
würden, dass Peter der Große das Bollwerk von Beginn an als Keimzelle einer größeren
Siedlung oder gar seiner zukünftigen Hauptstadt angesehen hätte. 15 In erster Linie sollte
die Peter-und-Paul-Festung zunächst wohl die Funktion von Nyenschanz übernehmen,
also die Newa-Mündung strategisch absichern, nur jetzt für die Russen. Die äußeren
Bedingungen für eine Stadtgründung waren denkbar ungeeignet, soweit stimmt die
Überlieferung. Das Delta wurde häufig von Überschwemmungen heimgesucht, ein
Großteil der Gegend war nicht einmal für die Landwirtschaft geeignet. Nur einige
Fischer hielten sich hier in den Sommermonaten auf. Später sollte es aufgrund der
ungünstigen Lage immer wieder zu Überschwemmungen kommen, bei denen zahlreiche
Bewohner ihr Leben ließen.
Dass Peter der Große trotz der widrigen Gegebenheiten diesen Ort schließlich für seine
neue Hauptstadt auswählte, ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass hier vorzüglich ein
Seehafen angelegt werden konnte und zudem der Anschluss an das binnenrussische
13
14
15
Moll, M.: Architektur in Russland, Aachen 1990, S. 134
Doroschinskaja, J.: Leningrad und Umgebung. Moskau 1980, S. 130
Volkov, S.: St. Petersburg. A Cultural History, New York 1995, S. 76
13
Flusssystem gegeben war.16 Dies kommt dadurch zum Ausdruck, dass das Stadtwappen
neben dem Zepter einen See- und einen Binnenanker zeigt. Des Weiteren war die Nähe
zu Westeuropa ausschlaggebend, ging es Peter dem Großen doch darum, Russland zu
modernisieren.
Erst ab dem Jahr 1706 ist, durch die Zwangsrekrutierung zahlreicher Leibeigener für die
Bauarbeiten an der Newa-Mündung, ein wirklicher Plan für die Errichtung einer neuen
Stadt erkennbar. Sobald dieses Ziel vor Augen stand, wurde es mit großem Nachdruck
und mit Rücksichtslosigkeit von Zar Peter in wenigen Jahren umgesetzt. Während die
Stadt in ihren Grundmauern erstand, verbot er die Errichtung von Steingebäuden in ganz
Russland außerhalb Sankt Petersburgs – jeder verfügbare Steinmetz sollte an der
Erbauung der neuen russischen Hauptstadt arbeiten. Die Flucht von Arbeitern aus der
Stadt und vom oft tödlichen Bauprojekt wurde mit harten Strafen geahndet. 17
1706 wurden 30.000 Leibeigene im Zarentum Russland zwangsrekrutiert, 1707 waren es
40.000. Ungefähr die Hälfte von ihnen schaffte es, auf dem Weg nach Nordwesten zu
fliehen. Schon während der Errichtung der Stadt kamen vermutlich Zehntausende von
Zwangsarbeitern und Leibeigenen ums Leben. Sie starben an Sumpffieber, Skorbut, an
der Ruhr oder einfach an Hunger und Entkräftung. Große Teile der Stadt sind auf
Pfählen im Boden errichtet, aufgrund der großen Zahl von Toten beim Bau sprechen
viele Leute davon, dass sie eigentlich auf Skeletten ruht. Zudem befand Russland sich
noch bis 1721 im Krieg gegen Schweden, mehrere Gefechte fanden in der Nähe der
gerade gegründeten Zarenresidenz statt. Erst nachdem die Schweden 1709 in der
Schlacht bei Poltawa geschlagen worden waren, konnte die Stadt weitgehend als
gesichert angesehen werden.
Da der russische Adel nicht bereit war, in die Stadt zu ziehen, beorderte Peter ihn nach
Sankt Petersburg.18 Die Familien mussten mit ihrem gesamten Haushalt in die Stadt
ziehen,
in
Häuser,
deren
Stil
und
Größe
genau
festgeschrieben
waren –
selbstverständlich auf eigene Kosten. 1714 standen in Sankt Petersburg etwa 50.000
bewohnte Häuser, die Stadt war die erste in Russland, die eine offizielle Polizei sowie
16
17
18
Schlögel, K.: Petersburg. Das Laboratorium der Moderne 1909–1921, Frankfurt am Main 2009, S. 36
Volkov, S.: St. Petersburg. A Cultural History, New York 1995, S. 123
Schlögel, K.: Petersburg. Das Laboratorium der Moderne 1909–1921, Frankfurt am Main 2009, S. 42
14
eine effektiv funktionierende Feuerwehr hatte. Die Innenstadt wurde abends und nachts
künstlich beleuchtet, die Bewohner dazu angehalten, Bäume zu pflanzen.
Das Bauprogramm des Zaren konnte nur mit drastischen Maßnahmen durchgeführt
werden.19 Baumaterialien waren an der Newamündung ein seltenes Gut. So wurde 1710
ein Erlass herausgegeben, nach dem jeder Einwohner der Stadt jährlich 100 Steine
abliefern oder aber eine hohe Geldstrafe zahlen musste. Jedes Frachtschiff, das die Stadt
anlief, musste einen bestimmten Prozentsatz der Ladung Steine anliefern. Ein Erlass von
1714 besagte, dass Steinbauten nur noch in Sankt Petersburg gebaut werden durften
(dieser Erlass wurde erst 1741 wieder aufgehoben). Die drakonischen Erlasse des Zaren
zeigten Erfolg: Schon 1712 erklärte Peter der Große Sankt Petersburg anstelle von
Moskau zur Hauptstadt des Russischen Zarentums. Bis auf ein kleines Zwischenspiel in
den Jahren 1728–1732, als der Hof in Moskau weilte, blieb Petersburg seitdem und bis
1918 Hauptstadt Russlands. Beim Adel stieß die Maßnahme auf wenig Begeisterung,
nur ungern gab man die bequemen Wohnsitze in Moskau auf.
Peter ließ Handwerker und Ingenieure aus ganz Europa, insbesondere aus Deutschland
und den Niederlanden, kommen, die die neue Hauptstadt von Anfang an zu einem
Zentrum europäischer Technik und Wissenschaft machen sollten. Zu dieser Zeit wurde
die deutschsprachige St. Petersburgische Zeitung gegründet, die erste und inzwischen
älteste Zeitung der Stadt.
2.2 Petrinischen Reformen
Peter der Große leitete zahlreiche Reformprojekte ein, die in der Wissenschaft als
petrinische Reformen bezeichnet werden.
19
Simons, P.: Die Liebenden von Leningrad, Augsburg 2008, S. 102
15
Die Petrinischen Reformen sind die Bezeichnung für die Reformen in verschiedenen
Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens, die von Zar Peter I. seit seiner
Rückkehr von der Großen Gesandtschaft (1698) bis zum plötzlichen Tode des Kaisers
Peter I. (1725) durchgesetzt worden sind.20
Sie wurden unter den Bedingungen des langjährigen und schließlich siegreichen Großen
Nordischen Krieges mit Schweden eingeleitet und durchgesetzt. Vielfach improvisierte
man, einen Generalplan gab es nicht. Die oft sprunghaften petrinischen Reformen
betrafen das Militärwesen, die Verwaltung, die Steuern, die Wirtschaft und die Kirche.
Die Menschen gleich welcher Schicht, wurden zwangsweise in den Dienst des Staates
gestellt. Im Gegensatz zu früheren Zaren glaubte Peter I., dass eine wirksame
Modernisierung des Landes sich nicht auf das Militärische beschränken dürfe, sondern
das Ganze des zeitgenössischen Lebens umfassen müsse.
Die petrinischen Reformen brachen mit den altrussischen Traditionen (Gründung
weltlicher Schulen, Zurückdrängung der Macht der Kirche) und trugen zur
Modernisierung des Russischen Reiches bei, die letztlich zur Großmachtstellung
Russlands im 18. Jahrhundert führte.
An der Wende zum 18. Jahrhundert öffnete Zar Peter der Große das teilweise in
mittelalterlichen Strukturen erstarrte Zarentum Russland westeuropäischen Einflüssen
und förderte Wissenschaft und Kultur. Russland lag technologisch zu dem Zeitpunkt
hinter den meisten Staaten Westeuropas zurück. Dazu beigetragen hatte die
Abschirmungspolitik des Staatsapparates und der Kirche, die nur da Lücken bot, wo
man den Westen benötigte. Auch griff der Moskauer Staat im Falle kriegerischer Gefahr
noch auf Adelsaufgebote zurück und war zudem wegen seiner schwachen Finanzkraft
nicht in der Lage, den Schutz des riesigen, nur unzureichend erschlossenen Territoriums
überall erfolgreich zu übernehmen.21
Der junge Herrscher hatte sich durch Aufenthalte in der Moskauer Ausländer-Vorstadt,
der Nemezkaja sloboda, und seine Aufenthalte während seiner ersten großen
Auslandsreise von März 1697 bis August 1698, der sogenannten Großen Gesandtschaft,
in den Niederlanden und England ein genaues Bild von Westeuropa, seinem Wissen und
seiner Technik gemacht.
20
21
Hellmann, M. u.a.: Weltgeschichte – Russland, Band 31, Frankfurt am Main 1998, S. 221
Schmidt, C.: Russische Geschichte 1547–1917, München 2003, S. 145
16
Eine umfassende Reformierungspolitik setzte eine tragende und fähige Bürokratie
voraus,
die
die
Maßnahmen
weitergeben
konnte.
Die
vorhandenen
Administrationsorgane waren für diese Zwecke aber unzulänglich. Waren die am
Anfang durchgeführten Reformen in diesem Bereich noch überhastet, wurden diese
nach der Schlacht von Poltawa sorgfältiger ausgearbeitet. Auch wurden vielfach
ausländische Fachkräfte und Gelehrte herangezogen, die Entwürfe und Reglements
ausarbeiteten.22
-
Der erste Abschnitt begann mit der Stadtreform von 1699 – um den Machtmissbrauch
der Voevoden zu begrenzen, ließ Peter I. am 30. Januar 1699 in einem Ukas Rathäuser
für die Städte errichten. Von den Kaufleuten bestimmte Bürgermeister sollten sämtliche
Steuer- und Rechtsfragen der Handelstreibenden an sich ziehen, um den Kaufleuten
Rechtssicherheit zu gewähren, dem Staat aber ungeschmälerten Steuerfluss zu sichern.
-
der zweite Abschnitt folgte mit der Gouvernementsreform von 1708/09 – mit einem
Ukas wurde das Staatsterritorium in acht Gouvernements aufgeteilt, deren
Steueraufkommen den jeweiligen Befehlshabern zur Truppenversorgung diente. Durch
diese eingeleitete Dezentralisierung wurde gewährleistet, dass in einem Kriegsfall, in
dem sich ja Russland befand, zumindest Teile des Landes verteidigungsfähig blieben.
-
Die letzte Phase erfolgte mit dem neuerlichen Umbau des Gouvernements 1719 – der
Befehl zur Neuordnung der Provinzen erging am 29. Mai 1719: zunächst wurde der
Gouverneur vieler Rechte entzogen, so leitete der Voevode unter Umgehung des
Gouverneurs die Steuern direkt nach Petersburg weiter. Die nunmehr 11 Gouverneure
behielten im Wesentlichen ihre militärischen Kompetenzen. Zweitens wurde die Zahl
der von Voevoden geleiteten Provinzen auf 50 erhöht. Schließlich richtete Petersburg in
der lokalen Verwaltung eine Vielzahl neuer Ämter ein, um die Gewaltenteilung zu
verankern.
Ab 1711 stand der Senat als oberste Zentralbehörde im Mittelpunkt der
Reformbemühungen. Der Senat war eine Gruppe der höchsten Würdenträger des
Landes, die beratende Funktion hatten und in der Lage sein sollten, die Regierung bei
Abwesenheit Peters zu führen. Mit dem Ukas vom 22. Februar 1711 wurden neun
Männer zu Senatoren, wobei mit der Leibkanzlei als Teil der alten Bojarenduma auch
personelle Kontinuitäten zutage traten. Der Senat hatte das Justizwesen zu leiten und
das gesamte Feld der Innenpolitik. Die zuvor bestandene Bojarenduma wurde daraufhin
22
Hellmann, M. u.a.: Weltgeschichte – Russland, Band 31, Frankfurt am Main 1998, S. 224ff
17
abgesetzt. Der Senat wurde nach Möglichkeit mit Personen besetzt, die aufgrund ihrer
Kompetenz ausgewählt wurden. Das Militär- und Außenministerium hatte dabei eine
Schlüsselstellung, sie waren immer in engem Kontakt mit dem Zaren. Der Senat bestand
mit nur wenigen Änderungen bis 1917.23
Die Reform der zentralen Ämter war lange vorbereitet und im Ausland beobachtet,
Gottfried Wilhelm Leibniz gab beispielsweise nützliche Tipps. Andere Länder wie
beispielsweise Schweden dienten teilweise als Vorbilder. Aufgrund dessen wurden – als
modernste Neuerung – sogenannte Kollegien eingeführt, die in etwa die Funktion von
Ministerien hatten. Peter führte von diesen Kollegien 10 ein, die folgende Ressorts
hatten: Berg (Bergbau), Manufaktur (Manufakturen), Kommerz (Handel), Staatskontor
(Staatsfinanzen), Kammer (Finanzen des Zaren), unterstand dem Senat, Krieg (Militär),
Admiralität
(Marine),
Außen,
Justiz,
Kirchenangelegenheiten
(erst
1721
dazugekommen, stand neben dem Senat).
Die Kollegien wurden vom hohen Adel gebildet.24 Viele Probleme der Verwaltung
entstanden
mit
den
Kollegien
aufgrund
von
Ressortüberschneidungen
und
Konkurrenzdenken. Doch dieses Verwaltungssystem blieb prinzipiell bis 1917 erhalten.
Große Veränderungen gab es vor allem in den Bereichen Kultur, Kirche, Wissenschaft
und Bildung.
Für eine erfolgreiche und nachhaltige Reorganisation des Verwaltungsapparates
bedurfte es aber eines bedeutenden Signals, um mit den festgefahrenen Moskauer
Traditionen zu brechen. Dieses Signal bot sich an, nachdem russische Truppen am 1.
Mai 1703 bis zur Newa-Mündung vorgestoßen waren. Der Zar ließ nun nach eigenem
Plan ab dem 16. Mai die Peter-und-Paul-Festung errichten mit dem Ziel, ein dauerhaftes
„Fenster zum Norden“ zu etablieren und damit die Öffnung für die Modernisierung
deutlich zu machen. Im November traf das erste holländische Handelsschiff ein,
zugleich entstand die erste russische Waren- und Wechselbörse.
23
24
Granin, D.: Peter der Grosse, Berlin 2001, S. 45
Schmidt, C.: Russische Geschichte 1547–1917, München 2003, S. 154
18
In den folgenden Jahren wurde der Ausbau der neuen geplanten Hauptstadt, Sankt
Petersburg exzessiv vorangetrieben, ungeachtet aller Opfer.25 Dafür beorderte Zar Peter
seit 1704 für die Sommermonate 24.000 Arbeitskräfte in die Sümpfe des neu eroberten
Mündungsdeltas der Newa. Seit 1708 stieg die Zahl auf bis zu 40.000. Es kam zu
Unruhen, vor allem in Südrussland. 1712 wurde die Regierung von Moskau nach St.
Petersburg verlegt. Um die neue zentrale Rolle der Stadt als Fenster nach Norden zu
fördern, erzwang Zar Peter I. seit 1720 die Umleitung fast des gesamten russischen
Außenhandels vom bis dato bedeutendsten russischen Außenhandelshafen Archangelsk
nach St. Petersburg.
Während der Regierungszeit des Zaren Peter I. 1689 bis 1725 wurden durch Patrick
Gordon, François Le Fort und Andere die Grundlagen einer modernen Armee nach
westeuropäischem Vorbild geschaffen.26 Als Initialzündung für die grundlegende
Reformierung erwies sich die Katastrophe infolge der Schlacht bei Narva im Großen
Nordischen Krieg im Jahr 1700, bei der sich die russische Armee als deutlich unterlegen
gegenüber einer viel kleineren schwedischen Streitmacht erwies. Zu der Zeit verfügte
der Zar über ein Heer von 100.000 Mann, das durch die Auflösung der StrelitzenRegimenter 1698 und die Verstoßung der Strelitzen aus dem Heer um 30.000 Mann
geschwächt wurde.
Da die schwedische Hauptarmee auf dem polnischen Kriegsschauplatz gebunden war,
nutzte Zar Peter I. die Situation und baute Schritt für Schritt die Armee wieder auf.27
Durch Rekrutierungen konnte die Armee wieder gestärkt werden und umfasste 1705
bereits wieder 200.000 Soldaten, nach 34.000 im Jahr 1700. Peter I. ernannte
ausländische Experten, die die Truppen – ausgestattet mit modernen Waffen – in den
Methoden der westeuropäischen Kriegsführung schulen sollten. Um die bei Narva
verloren gegangene Artillerie schnell wieder aufzubauen, ließ Peter I. Kirchenglocken
konfiszieren, um aus ihnen Kanonen herzustellen. So verfügte im Frühjahr 1701 die
russische Armee wieder über 243 Kanonen, 13 Haubitzen und 12 Mörser. Danach
wurden weitere
Anstrengungen unter der
Leitung geschickter holländischer
25
Hellmann M./ Zernack, K./ Schramm, G.: Handbuch der Geschichte Russlands, Band 6, Berlin/Wien
2008, S. 290
26
Granin, D.: Peter der Grosse, Berlin 2001, S. 58
27
Arouet de Voltaire, F. M.: Geschichte Karls XII., Königs von Schweden. Deutscher Bücherbund,
Hamburg/Stuttgart 1963, S. 54
19
Geschützgießer unternommen, um die Artillerie weiter zu modernisieren. In Lüttich,
Europas ältester und wichtigster Waffenfabrik, wurden 15.000 neue Musketen gekauft.
Weitere Punkte der Heeresreform von 1705 und davor waren:28
-
Die alte Moskowiter Reiterei wurde durch Dragonerverbände ersetzt, die keine reinen
Adelsverbände mehr darstellten.
-
Weitere Anstrengungen wurden für den Aufbau von militärischen Ausbildungsstätten
unternommen. Ferner wurden die ehemaligen Spielregimenter Peter des Großen, das
Preobraschenski- und das Semjonowski-Regiment als privilegierte Eliteeinheiten der
Zaristischen Garde errichtet.
-
Der Adel, der bisher im Rahmen des Adelsaufgebotes dienstverpflichtet war und als
Gefolgsleute Dienstlehen erhalten hatten, wurde von nun an als regelmäßig besoldete
Offiziere in die Armee eingebunden. Das Unteroffizierskorps und die Mannschaften
wurden durch Bauern und Bürger der Städte gestellt. Die Dienstzeit betrug 15–20 Jahre.
-
Als Spezialisten wurden ausländische Fachleute in die Organisation des russischen
Heeres integriert, wobei die Schlüsselpositionen von Russen besetzt blieben.
Die Zaristische Armee konnte zwischen 1701 und 1706 von 40 auf 78 Regimenter
vergrößert, und bis 1709 von Grund auf erneuert und reorganisiert werden, so dass sie in
der Lage war, mit den disziplinierten schwedischen Truppen mitzuhalten und in der
Schlacht bei Poltawa einen entscheidenden Sieg zu erringen, und die Wende des
Krieges herbeizuführen.29
Die Schlacht bei Poltawa am 27. Juni war die entscheidende Schlacht des
Russlandfeldzugs von Karl XII. im Großen Nordischen Krieg zwischen Russland unter
Peter I. und Schweden unter Karl XII.30 Die Schlacht stellte den Wendepunkt des
Krieges zugunsten der antischwedischen Koalition dar. In der Schlacht kämpften 37.000
28
Hellmann M./ Zernack, K./ Schramm, G.: Handbuch der Geschichte Russlands, Band 6, Berlin/Wien
2008, S. 324
29
Hellmann, M. u.a.: Weltgeschichte – Russland, Band 31, Frankfurt am Main 1998, S. 245
30
Richter, B.: Verbrannte Erde – Peter der große und Karl XII. Die Tragödia des ersten
Russlandfeldzuges. MatrixMedia Verlag, Göttingen 2010, S. 105f
20
Soldaten der russischen Armee mit 28 Artilleriegeschützen. Ihnen gegenüber standen
26.000 schwedische Soldaten mit vier einsatzfähigen Geschützen.31
Frühe schwedische Siege bei Kopenhagen und in der Schlacht bei Narva 1700 warfen
Russland und Dänemark zeitweilig aus dem Krieg. Allerdings war König Karl XII.
nicht fähig, den Krieg zu Ende zu bringen. So benötigte der schwedische König weitere
sechs Jahre, um den verbliebenen Gegner August von Sachsen-Polen zum Frieden zu
zwingen. In der Zwischenzeit baute Zar Peter I. seine Armee wieder auf. Die neue
russische Armee verfügte jetzt über gut ausgebildete Infanterie, wie sie für die
Anwendung der Lineartaktik notwendig war, und zeitgemäße Feuerwaffen.
Seit Ende Februar 1709 stand die schwedische Hauptarmee zwischen dem Psjol und der
Worskla, den nördlichen Nebenflüssen des Dnepr, mit dem Hauptquartier in
Budischtschi nördlich der Festung Poltawa.32 Den Vorschlag der Berater Karls, sich
aufgrund der vielen Ausfälle und des Munitionsmangels nach Polen zurückzuziehen,
wollte der König nicht annehmen. Im Frühjahr begann Karl XII. stattdessen die
Offensive wieder aufzunehmen. Seine erste Aktion war die Belagerung der Stadt
Poltawa Anfang April 1709, die er mit 8000 Mann durchführte. Der strategische Sinn
der königlichen Kampftaktik bestand darin, dass von hier aus der Vormarsch über die
Worskla ostwärts in Richtung Charkiw-Belgorod-Kursk auf Moskau erfolgen sollte.
Poltawa liegt am Fluss Worskla etwa 300 Kilometer ostsüdöstlich der ukrainischen
Hauptstadt Kiew und etwa 100 Kilometer südlich der russischen Grenze. Durch den
Winter war das Schießpulver unbrauchbar geworden und es fehlte auch an brauchbarer
Munition für die Kanonen. Folglich konnten die Schweden die Festung nicht
bombardieren, wodurch sich die Belagerung hinzog. Die Garnison der Festung hatte
eine Stärke von 4200 Soldaten unter dem Befehl des Obersten Alexei Stepanowitsch
Kelin. Diese wurden durch ukrainische Kosaken und die bewaffnete Bevölkerung
(insgesamt 2600 Mann) unterstützt. Es gelang ihnen während der folgenden 87
Belagerungstage die schwedischen Angriffe abzuwehren. Peter hatte so genug Zeit zum
Eitsatz der Festung eigene überlegene militärische Kräfte zusammenzuziehen.33
31
Englund, P.: The Battle That Shook Europe – Poltava and the Birth of the Russian Empire, London
2002, S. 78
32
Massie, R. K.: Peter der Große – Sein Leben und seine Zeit, Frankfurt/Main 1987, S. 65
33
Richter, B.: Verbrannte Erde – Peter der große und Karl XII. Die Tragödia des ersten
Russlandfeldzuges. MatrixMedia Verlag, Göttingen 2010, S. 76
21
Peter befand sich in der Zeit vor der Schlacht in einer akuten Notlage: Er musste seine
Kräfte und seine Aufmerksamkeit zwischen der schwedischen Bedrohung im Westen
und der des Aufstandes im ganzen Süden und Südwesten teilen.34 Sein Erscheinen auf
dem Hauptkriegsschauplatz verzögerte sich durch eine erneute Erkrankung, die sich von
Ende April bis Anfang Juni 1709 hinzog. Schließlich kamen die russischen Streitkräfte
mit insgesamt 42.500 Mann in 58 Infanteriebataillone und 17 Kavallerieregimenter und
102 Geschützen. Ende Mai auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses Worskla an.
Das russische Kommando fasste auf dem folgenden Kriegsrat am 16./27. Juni den
Beschluss, die Schlacht mit den Schweden zu führen. Am gleichen Tag überquerte die
russische Vorhut den Fluss nördlich der Stadt Poltawa, in der Nähe des Dorfes
Petrowka, und sicherte damit den Übergang der Hauptgruppe ihrer Armee, der am 20.
Juni/1. Juli erfolgte. Zar Peter der Große lagerte in der Nähe des Dorfes Semjonowka. 35
Während der rechte Flügel der Schwedischen Armee von der russischen Artillerie
zurückgedrängt wurde, überwältigte die russische Kavallerie die linke, von der
schwedischen Hauptarmee getrennte Flanke der Schweden unter Roos. Mit über 1000
Toten und wenig Munition war General Roos dazu gezwungen, sich in den Süden
zurückzuziehen. Seine Truppen suchten Zuflucht im Wald nördlich von Poltawa, wo sie
von der Kavallerie Menschikows zerschlagen wurden. Nachdem die schwedischen
Truppen unter Schlippenbach und Roos kapituliert hatten, drang die Kavallerie
Menschikows in Rücken und Flanke der schwedischen Hauptarmee vor. Die
schwedische Kavallerie versuchte vergebens, für die Infanterie Zeit zu gewinnen. Die
Schweden waren der russischen Übermacht nicht gewachsen und begannen den
Rückzug, der sich in eine regelrechte Flucht verwandelte. Unter dem unaufhaltsamen
Andrang der russischen Infanterie und Kavallerie gerieten die Schweden in Panik und
ergriffen in chaotischem Durcheinander die Flucht.
Noch am Abend der Schlacht veranstaltete Peter ein Bankett. Zu Ehren der gefangenen
schwedischen Generäle seinen Pokal erhebend, dankte er Ihnen als seinen Lehrmeistern
auf dem Gebiet der Kriegsführung. Die Träger, die Karl XII. auf einer Bahre
herumtrugen, fielen im russischen Feuer, die Bahre zerbrach und der König entkam erst
34
Englund, P.: The Battle That Shook Europe – Poltava and the Birth of the Russian Empire, London
2002, S. 107
35
Massie, R. K.: Peter der Große – Sein Leben und seine Zeit, Frankfurt/Main 1987, S. 82
22
im letzten Augenblick mit heftig blutender Wunde, von Masepa begleitet, vom
Kampfplatz.
Über die russischen Verluste in der Schlacht bei Poltawa gibt es kaum Unklarheiten. Sie
beliefen sich auf insgesamt 1345 Tote und 3290 Verwundete. Hingegen waren bei den
Schweden 6901 Tote und Verwundete (darunter 300 Offiziere), sowie 2760 Gefangene
(darunter 260 Offiziere) zu beklagen.. Unter den Gefangenen befanden sich auch Fürst
Max von Württemberg, der Oberkommandierende Feldmarschall Carl Gustaf
Rehnskiöld, der Premierminister Graf Carl Piper.36
Nach der Schlacht sammelten sich die zurückflutenden Schweden im Lager bei
Puschkariwka. Insgesamt bestand die Armee mit den Truppen, die noch vor Poltawa
und an den verschiedenen Flussübergängen lagen, noch aus etwa 15.000 Mann (zum
größten Teil Kavallerie) und 6.000 Kosaken Als einzige Rückzugslinie stand der Weg
nach Süden zur Verfügung, der ins Gebiet der Krimtataren führte. Unter deren Schutz
hoffte Karl XII. seine Truppen reorganisieren und auffrischen zu können, bevor sie
durch osmanisches Gebiet nach Polen zurückgeführt würden.37
Man beschloss daher im schwedischen Hauptquartier, dass Karl XII., die Verwundeten
sowie eine Eskorte aus Schweden und Kosaken den Dnepr überqueren und durch die
Steppe zum Südlichen Bug auf osmanisches Gebiet ziehen sollte.38 Das Heer hingegen
sollte die Worskla wieder hinauf marschieren und nach Überwindung des Flusses an
einer Furt nach Süden zur Krim einschwenken. Von dort sollte es in Otschakow am
Schwarzen Meer wieder zum König stoßen. Um 8 Uhr traf jedoch eine russische
Kolonne von 6.000 Dragonern und 3.000 Kalmücken unter General Menschikow ein.
Angesichts
der
überall
zutage
tretenden
Demoralisierungs-
und
Auflösungserscheinungen sowie des aktuellen Mangels an Lebensmitteln und
Kriegsmaterial hielt Lewenhaupt einen erneuten Waffengang für aussichtslos und leitete
sofort
Verhandlungen
ein,
in
deren
Verlauf
Menschikow
ihm
normale
Kapitulationsbedingungen stellte. Nur die Kosaken würden nicht als Kriegsgefangene,
36
Englund, P.: The Battle That Shook Europe – Poltava and the Birth of the Russian Empire, London
2002, S. 97
37
Bremm, K.-J.: Im Schatten des Desasters – Zwölf Entscheidungsschlachten in der Geschichte Europas,
Norderstedt 2003, S. 76
38
Arouet de Voltaire, F. M.: Geschichte Karls XII., Königs von Schweden. Deutscher Bücherbund,
Hamburg/Stuttgart 1963, S. 79f
23
sondern als Verräter behandelt werden. Lewenhaupt beriet sich mit den verbliebenen
Generalen und Obristen und man einigte sich schließlich, zu kapitulieren, obwohl man
den gegenüberstehenden russischen Truppen zahlenmäßig fast doppelt überlegen war.
Am Morgen des 30. Juni um 11 Uhr kapitulierte das schwedische Heer mit rund 14.000
Soldaten, 34 Geschützen und 264 Fahnen. Die verbliebenen Kosaken flüchteten
größtenteils auf ihren Pferden, um der Bestrafung als Verräter zu entgehen. Die
Kolonne König Karls XII. erreichte wenige Tage später am 17. Juli den Südlichen Bug,
wo sie jedoch zwei Tage lang aufgehalten wurde, bis der Pascha von Otschakow seine
Erlaubnis erteilte, das Osmanische Reich zu betreten. Eine Nachhut von 600 Mann
schaffte das Übersetzen über den Bug nicht mehr und wurde von 6.000 russischen
Reitern unter General Wolkonski eingeholt und niedergemacht.39
Die schwedische Hauptarmee wurde völlig vernichtet, und Karl XII. war für die
nächsten sechs Jahre im Exil im Osmanischen Reich außer Gefecht gesetzt.40 Durch die
Niederlage Karls verlor dieser in wenigen Stunden das Ansehen, das er sich mit seinen
Siegen bis dahin in Europa erworben hatte. Die Siegesmeldungen erreichten durch
spezielle Kuriere alle gekrönten Häupter in Europa. Für die europäische Öffentlichkeit
war die Meldung vom Schlachtfeld bei Poltawa eine Nachricht, die anfangs ungläubiges
Staunen hervorrief. Macht und Ansehen in Europa gingen fortan von Karl auf Peter
über. Russland erschien nun als Großmacht der Zukunft und trat als ernsthafter Gegner
aller europäischen Mächte hervor.
Die Niederlage bedeutete für Schweden den völligen Zusammenbruch des strategischen
Konzepts Karls XII., die Gegner Schwedens nacheinander durch Anwendung
überlegener Kriegskunst auszuschalten.41 Dies bedeutete einen Wendepunkt des
Krieges. Dennoch blieb Schweden am Tage nach der Schlacht noch immer die
dominierende Großmacht in Nordeuropa mit einer Vorherrschaft im Ostseeraum.42 Peter
nutzte den erlangten Vorteil und befahl gleich nach der Schlacht die schwedischen
Ostseeprovinzen zu erobern. Es folgte zugleich die Wiederherstellung der Tripelallianz
39
40
41
Regan, G.: Battles that changed History. 2. Auflage, London 2002, S. 64
Massie, R. K.: Peter der Große – Sein Leben und seine Zeit, Frankfurt/Main 1987, S. 137
Regan, G.: Battles that changed History. 2. Auflage, London 2002, S. 90
42
Arouet de Voltaire, F. M.: Geschichte Karls XII., Königs von Schweden. Deutscher Bücherbund,
Hamburg/Stuttgart 1963, S. 136
24
zwischen Russland, Dänemark und Sachsen-Polen. Von nun an hatten Russland und
seine Verbündeten Dänemark-Norwegen und Sachsen die strategische Initiative und
begannen weiter beziehungsweise wieder, später gemeinsam mit ihren neuen
Verbündeten Preußen sowie Braunschweig-Lüneburg, in schwedisches Territorium
einzudringen.
Der Größe des Sieges entsprachen die Feiern, die der Zar in ganz Russland veranstalten
ließ. Ein einprägsames Schauspiel lieferte der Triumphzug, der am 21. Dezember 1709
in Moskau veranstaltet wurde. Unter dem Donner der Geschütze von den Mauern und
Wällen der Stadt herab und dem Geläut der Kirchenglocken setzte sich die
Marschkolonne in Bewegung, begleitet von Trompetenschmettern und Paukenschlag,
voran marschierten russische Garderegimenter mit den erbeuteten Trophäen, Fahnen
und Standarten, dann folgten die gefangenen schwedischen Offiziere in aufsteigendem
Rang bis zum Feldmarschall und dem Premierminister, alle zu Fuß. Der Abend schloss
mit einem großen Feuerwerk.43
Der 200. Jahrestag des Sieges wurde besonders aufwendig begangen. Zar Nikolaus II.
erschien an den Gedächtnisorten, um die Toten zu ehren und zahlreiche Gedenkstätten
einzuweihen, darunter die Weiße Rotunde, ein Aussichtsplateau an der Stelle, wo sich
die alte Festung befunden hatte. Im selben Jahr wurde ein Museum zur Geschichte der
Schlacht gestiftet, davor steht heute Zar Peter in voller Lebensgröße. Und auch der 250.
Jahrestag, der in die Tauwetter-Periode unter Chruschtschow fiel, wurde mit
Salutschüssen und einem Feuerwerk begangen. Monographien, Festveranstaltungen,
Sammelbände und Aufsätze komplettierten die Erinnerung an die 250-Jahr-Feier
1959.44
Am 10. September 1721 trat Schweden im Friedensvertrag von Nystad die Gebiete
Ingermanland, Livland, Estland, die Inseln Ösel und Dagö sowie Südkarelien an
Russland ab. Dafür erhielt es Finnland zurück, das Peter I. 1714 erobert hatte. Zudem
leistete Russland Schweden Reparationen in Höhe von 2 Millionen Reichstalern.
Im Zuge der Friedensverhandlungen am Ende des Krieges bot Königin Ulrika Eleonora
am 7. Januar 1720 auch August dem Starken einen Waffenstillstand an. Obwohl August
43
Bremm, K.-J.: Im Schatten des Desasters – Zwölf Entscheidungsschlachten in der Geschichte Europas,
Norderstedt 2003, S. 89
44
Englund, P.: The Battle That Shook Europe – Poltava and the Birth of the Russian Empire, London
2002, S. 138
25
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