Freiheit zum Sterben – kein Recht auf Tötung

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Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
ALBIN ESER
Freiheit zum Sterben – kein Recht auf Tötung
Ein Beitrag zum strafrechtlichen Thema des 56. Deutschen
Juristentages 1986 in Berlin
Originalbeitrag erschienen in:
Juristenzeitung 41 (1986), S. 786-795
.1 Z
786
Zur strafrechtlichen Abteilung:
Professor Dr. Albin Eser, Freiburg
Freiheit zum Sterben — Kein Recht auf Tötung
– Ein Beitrag zum strafrechtlichen Thema des 56. Deutschen Juristentages 1986 in Berlin*–
I. Zum Anlaß
Wenn spätere Generationen einmal über die bewegenden
Themen unserer Zeit zu urteilen haben, könnten sich vielleicht die gegenwärtigen Auseinandersetzungen über Schaffung, Bewahrung und Beendigung menschlichen Lebens als
epochal erweisen. Gewiß gehören Leben und Sterben zu den
» ewigen Themen" der Menschheit. Was aber unsere Zeit
besonders prägt, ist die Tatsache, daß dem Menschen noch
niemals zuvor in seiner Geschichte ein derartiges Maß an
lebensschaffendem wie auch lebensgefährdendem Potential in
die Hand gegeben war. Diese polaren Dimensionen finden
auch im Gesamtprogramm des diesjährigen DJT ihren Niederschlag. Während sich die zivilrechtliche Abteilung mit der
„künstlichen Befruchtung beim Menschen" und damit immerhin mit einem Teilaspekt seines modernen „Schöpfungspotentials" beschäftigt, ist die umweltrechtliche Abteilung mit einem „Bedrohungspotential" befaßt, dessen mögliche apokalyptischen Ausmaße nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl selbst für den engagiertesten Kernkraftbefürworter kaum
noch verdrängbar sein dürften. Im Vergleich zu diesen gleichsam großflächigen lebensrelevanten Potentialen geht es in der
strafrechtlichen Abteilung mehr um die » Lebensmacht" des
einzelnen Individuums: um die Möglichkeit, wenn nicht gar
sein Recht, sich seines Lebens zu » bemächtigen", indem er
ihm selbst ein Ende setzt oder durch andere setzen läßt.
Ob diese Problematik unter dem ihr vom DJT gegebenen
Titel „Recht auf den eigenen Tod? – Strafrecht im Spannungsverhältnis zwischen Lebenserhaltungspflicht und Selbstbestimmung" voll erfaßt ist, wird noch zu erörtern sein, ebenso wie
die Frage, warum das darin angedeutete Spannungsverhältnis
gerade heute zum Problem geworden ist. Jedenfalls ist nicht
zu verkennen, daß es sich dabei – gemessen an öffentlicher
Diskussion, Reformbewegungen und ständig anschwellender
Literatur – um ein geradezu » weltbewegendes" Phänomen
handelt'. Auch unser Land macht dabei keine Ausnahme:
Nachdem sich bereits zahlreiche Akademien und Gesellschaften dieser Problematik angenommen und spektakuläre Einzelfälle publizistische Aufmerksamkeit gefunden haben, konnte
auch der deutsche Gesetzgeber nicht mehr länger umhin,
zumindest zu einer ersten Problemerfassung eine öffentliche
Anhörung zum Thema „Sterbehilfe" vor dem Rechtsausschuß
des Bundestages durchzuführen'. Nicht zuletzt dadurch angespornt hat sich auch der bereits durch andere AlternativEntwürfe hervorgetretene Arbeitskreis von Strafrechtsprofessoren aufgerufen gefühlt, unter Hinzuziehung von Medizinprofessoren aus verschiedenen Einzeldisziplinen einen Gesetzentwurf zur Sterbehilfe vorzulegen3 .. Somit erweist sich
* Dieser Beitrag ist zugleich auch Herrn Ministerialdirigenten a. D. Dr. med.
h. c. Walther Weissauer zum 65. Geburtstag gewidmet: in dankbarerAnerkennung
seiner vielfältigen Verdienste um das Medizinrecht, wie sie nicht zuletzt in
seinem Referat auf dem 52. DJT ihren Ausdruck gefunden haben.
1 Daher wäre es sicherlich aufschlußreich, dieses Thema auch aus rechtsvergleichender Sicht zu behandeln. Diese ursprüngliche Absicht hat sich jedoch
schon aus Raumgründen nicht verwirklichen lassen. Deshalb darf ich auf den
Sammelband „Rechtsvergleichende Materialien zur Sterbehilfe" verweisen, der
demnächst in der Reihe * Beiträge und Materialien aus dem Max-Planck-Institut
für ausländisches und internationales Strafrecht Freiburg" erscheinen wird. Eine
erste „Rechtsvergleichende Übersicht zur Sterbehilfe im ausländischen Recht"
habe ich für die ST-Anhörung „Sterbehilfe" (vgl. Anm. 2 S. 178-179) gegeben.
Deutscher Bundestag, 10. Wahlperiode 1983, 6. Ausschuß, Protokoll
Nr. 51: Stenographisches Protokoll über die 51. Sitzung des Rechtsausschusses
am 15. Mai 1985 (abgekürzt: BT-Anhörung „Sterbehilfe").
3 Alternativentwurf eines Gesetzes über Sterbehilfe (AE-Sterbehilfe), vcrgelegt von j. Baumann, H. Bochnik, A.-E. Brauneck, R.-P. Calliess, G. Carsten-
die Programmgestaltung für den diesjährigen DJT, zu dem
neben dem vorbereitenden Gutachten von Otto 4 noch die
Einleitungsreferate von Hiersche aus medizinischer Sicht und.
von Tröndle aus juristischer Sicht sowie sicherlich noch sonstige Begleit- und Folgebeiträge zu erwarten sind', als ein Akt
weiser Voraussicht.
Zu dieser primär rechtspolitisch auszurichtenden Diskussion einige Beobachtungen und Überlegungen beizutragen, ist
das Ziel dieser Zeilen: Dies natürlich nicht im Sinne einer
Problemerschöpfung, geschweige einer Einzelauseinandersetzung mit der kaum noch überschaubaren Literatur, hatte sich
doch selbst das umfangreiche Gutachten von Otto dazu außerstande gesehen'. Ebensowenig ist hier ein geschlossener
Überblick über die verschiedenen Erscheinungsformen der
Hilfe im und zum Sterben beabsichtigt'. Vielmehr kann es bei
diesen mehr grundsätzlichen Erwägungen allein darum gehen,
angesichts der Vielfalt von Fallkonstellationen, Argumenten
und Tendenzen gewisse Grundlinien und Richtpunkte zu
markieren, die mir de lege ferenda als wesentlich erscheinen'.
sen, A. Eser, H .-P.J ensen, A. Kaufmann, U. Klug, H.-G. Koch, M. v. Lutterotti,M.
Perels, K. Rolinski, C. Roxin, H. Schöch, W. Schöne, H. Schüler-Springorum,H.-L.
Schreiber,J.Theyssen,J. Wawerski, G. Wolfslast, K.-J.Zülch, VerlagThiemeStuttgart 1986.
Otto, Recht auf den eigenen Tod? Strafrecht im Spannungsverhältnis zwischen Lebenserhaltungspflicht und Selbstbestimmung, Gutachten D zum 56.
Deutschen juristentag Berlin 1986 (abgekürzt: DJT-Gutachten).
s So namentlich der mir freundlicherweise bereits in Manuskriptform überlassene Beitrag meines Freiburger Fachkollegen R. Schmitt, Das Recht auf den
eigenen Tod, vorgesehen für MDR 1986, H. 8. Vgl. ferner Anm. 1 sowie
H °erster, Rechtsethische Überlegungen zur Freigabe der Sterbehilfe, NJW
1986, 1786-1792: Mich mit diesem Beitrag, weil erst nach Drucklegung meines
Manuskripts zugegangen, nicht näher befassen zu können, bedauere ich umso
mehr, als H °erster sich vorwiegend mit einigen meiner Arbeiten auseinandersetzt, ohne aber dabei dem Gesamt meiner Argumentation voll gerecht geworden zu sein.
.Otto, DJT-Gutachten, Vorwort (S. 9). Über die dort im Anhang angeführte
(aber ihrerseits selektierte) Literatur hinaus sei - ebenfalls ohne Anspruch auf
Vollständigkeit - noch auf folgende zwischenzeitlich erschienene Literatur
hingewiesen: Dölling, Suizid und unterlassene Hilfeleistung, NJW 1986,
S. 1011-1017; Fiebig, Freiheit für Patient und Arzt, 1985; Herzberg, Der Fall
Hackethal: Strafbare Tötung auf Verlangen?, NJW 1986, 1635-1644; Holyst,
Selbstmord und Selbsttötung, 1986; v. Lutterotti, Menschenwürdiges Sterben,
1985; Kruse/Wagner (Hrsg.), Sterbende brauchen Solidarität, 1986. Vgl. ferner die
Literaturhinweise bei Eser, in: Schönke/Schröder, 22. Aufl. 1985, Vorbem. 12,
21, 33 sowie bei Koch, Euthanasie, Sterbehilfe. Eine dokumentierte Bibliographie, 1984.
7 Insoweit darf ich global verweisen auf meine Gesamtdarstellungen in:
Schönkel Schröder, Vorbem. 21-48, vor § 211, § 216 Rdn. 1-18, sowie Eser,
Sterbehilfe und Euthanasie in rechtlicher Sicht, in: Eid (Hrsg.), Euthanasie oder
Soll man auf Verlangen töten?, 1. Aufl. 1975, S. 45-70; 2. Aufl. 1985 (leider
gegenüber der 1. Aufl. unverändert, da Ergänzungen und Aktualisierungen
nicht möglich waren); Eser, Der manipulierte Tod? - Möglichkeiten und
Grenzen der Sterbehilfe aus rechtlicher Sicht, in: Schwartländer (Hrsg.), Der
Mensch und sein Tod, 1976, S. 61-81; Eser, Lebenserhaltungspflicht und Behandlungsabbruch in rechtlicher Sicht, in Auer/ it.fezenser, Zwischen Heilauftrag und Sterbehilfe, 1977, S. 75-147. Vgl. ferner zu bestimmten Einzelaspekten
Eser, Grenzen der Behandlungspflicht aus rechtlicher Sicht, in: Lawin/Huth
(Hrsg.), Grenzen ärztlicher Aufklärungs- und Behandlungspflicht, 1982,
S. 77-94; Eser, Sterbewille und ärztliche Verantwortung, in: Medizinrecht
(MedR) 1985, S. 6-17; Eser, Medizin und Strafrecht: Eine schutzgutorientierte
Problemübersicht, ZStW 97 (1985), S. 1-46; sowie die in den Anm. 1, 8, 12, 18,
36 angeführten Arbeiten.
1 Erste Vorarbeiten dazu Eser, Neues Recht des Sterbens? Einige grundsätzliche Betrachtungen, in: Eser (Hrsg.), Suizid und Euthanasie als human- und
sozialwissenschaftliches Problem, 1975, 5. 392-407; in modifizierter Fassung
Eser, Zum „Recht des Sterbens" - Einige grundsätzliche Überlegungen, in:
Fritsche/Goulonl Eser/ Braun/ feien, Das Recht auf einen menschenwürdigen
Tod?, 1977, S. 21-42; Eser, Der Arzt zwischen Eigenverantwortung und Recht
- Zur Problematik -ärztlichen Ermessene', in: Mieth/Weber (Hrsg.), Anspruch
der Wirklichkeit und christlicher Glaube, 1980, 5, 166-189, in überarbeiteter
Fassung Eser, Die Rolle des Rechts im Verhältnis von Arzt und Patient, in: F.
17/1986
Eser, Freiheit zum Sterben — Kein Recht auf Tötung
Dies möchte ich in vier Schritten tun: Zunächst durch einen kurzen
Blick auf den medizinischen und sozialen Hintergrund und die daraus
resultierenden Schutzbedürfnisse (II). Dem hat sich eine Analyse der
dabei zu unterscheidenden normativen Dimensionen und kollidierenden Prinzipien anzuschließen (III). Daran wird das geltende Recht zu
messen sein (IV). Da sich dessen Unzulänglichkeiten kaum anders als
durch legislatorische Maßnahmen werden beheben lassen, ist abschließend auf entsprechende Reformentwürfe einzugehen (V). Um dabei
nicht in der Fülle von Material zu ertrinken, sei nicht zuletzt ihrer
Aktualität wegen dem Gutachten von Otto und dem AE-Sterbehilfe
besondere Beachtung geschenkt: dem ersteren, weil er jedenfalls
vorerst ohne gesetzliche Korrekturen auszukommen hofft; dem letzteren, weil er solche für unverzichtbar hält.
II. Zum medizinischen und sozialen Hintergrund —
neue Schutzaspekte
1. Ohne damit ein abschließendes » Soziogramm" modernen
Sterbens erstellen, geschweige im einzelnen empirisch belegen.
zu wollen, erscheinen doch folgende Phänomene für die gegenwärtige Situation des physisch Todkranken oder auch nur
psychisch Lebensmüden charakteristisch':
—Während bis vor wenigen Jahrzehnten — jedenfalls in der
Regel — der körperlich oder seelisch kranke Mensch in seiner
Familie eingebunden und damit auch in ihr aufgehoben blieb,
wird er heute in ein Krankenhaus oder eine Anstalt verbracht.
Gewiß geschieht dies zwecks medizinisch besserer Versorgung, aber auch um den Preis seiner sozialen Dislozierung: Er
wird „ent-familiarisiert" und durch Verlust seiner vertrauten
Privatsphäre „ent-intimisiert".
—Während ihm früher meist nur der Hausarzt als Krankheitsund Sterbebegleiter zur Seite stand, der mit seiner Biographie
und seinen familiären Umständen vertraut war und damit
auch sein „Gesamtwohl" besser einzuschätzen vermochte,
sieht sich der heutige Krankenhauspatient einem Team von.
Spezialisten und einem schichtweise wechselnden Pflegepersonal gegenüber, so daß ihm eine gleichbleibende Bezugsperson fehlt: Dadurch wird der gewählte „Arzt des Vertrauens"
durch den vorgegebenen „Arzt nach Dienstplan" abgelöst.
— Während früher dem „natürlichen Ende" nur wenig entgegenzusetzen und der Tod als „unabwendbares Schicksal"
hinzunehmen war, ja vielleicht sogar als „Erlösung" von
anders nicht abwendbaren Leiden und Schmerzen begrüßt
wurde, hat die moderne Medizin sowohl Möglichkeiten der
Schmerzlinderung wie auch der Lebensverlängerung eröffnet,
die den „natürlichen" Leidens- und Sterbensprozeß künstlich
unterdrücken oder jedenfalls verzögern können. Demzufolge
ist das Schicksal nicht mehr hinzunehmen, sondern abzuwenden: Aus den von der Medizin geweckten Hoffnungen werden Erwartungen des Patienten und aus dieser Erwartungshaltung entsteht ein Anspruchsdenken auf Einsatz alles Möglichen. Bleibt der Erfolg aus, so hat der Arzt „versagt": Er
selbst empfindet es als „Niederlage", die Angehörigen argwöhnen mangelnden Einsatz, wenn nicht gar Kunstfehlerhaftigkeit. Dadurch entsteht ein Erfolgsdruck im Sinne von
Lebenserhaltung „um jeden Preis".
— Während früher der dafür zu zahlende Preis nicht zuletzt
von den persönlichen und familiären Ressourcen des Patienten abhängig war, ist dieser heute solchen individuellen Zufälligkeiten weithin enthoben, weil in das soziale Netz der
Krankenversorgung eingebunden. Dieser Zugewinn an
Gleichheit in der Teilhabe an verfügbaren Mitteln bedeutet
aber zugleich auch Teilhabe an deren Mangel. Insofern ist die
solidarische Verbreiterung der Hilfsgrundlage auch mit einer
Nivellierung und „Sozialisierung" verbunden: Der Patient ist
nicht mehr der Einzelne und Einzige — er ist zum » einen unter
Kaufmann (Hrsg.), Ärztliches Handeln zwischen Paragraphen und Vertrauen,
1984, S. 111-129.
9 Vgl. dazu auch AE-Sterbehilfe (Anm. 3), S. 1 f.
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anderen", er ist vom Individuum zum sozialen und damit
auch ökonomisch relevanten „Versorgungsfall" geworden.
— Während die mit jedem Kranksein verbundene Auslieferung
an andere für den früheren Patienten auf die ihn auch sonst
umsorgenden Personen beschränkt blieb, wird in fremder
Umgebung der Verlust an individueller Selbstbestimmung
weitaus krasser empfunden. Dem versucht sich der Betroffene
entgegenzustemmen, indem er die Selbstbestimmung zum
Postualt erhebt: Nicht der »wohlmeinende" Arzt, sondern
der Patient selbst will darüber befinden dürfen, was seinem
Wohle dient. Dadurch sind — zu Recht oder zu Unrecht das
„objektive Wohl" und der „subjektive Wille" des Patienten
weithin zu antagonistischen Parolen geworden.
—Während früher dem Ausscheiden aus dem Berufsleben oft
schon bald auch das Ende der physischen Existenz folgte, geht
heute dem biologischen Tod oft schon lange der „soziale Tod"
voraus. Damit aber hat das Weiterleben scheinbar jeden Sinn
verloren: Der Mensch wartet nur noch auf sein Ende, oft
schon außerhalb der Gemeinschaft, unpersönlich in einem
Altersheim oder Krankenhaus. Diesem buchstäblichen »Absterben" glaubt sich der moderne Mensch entgegenstemmen
zu sollen, indem er den Tod wieder »persönlich" macht, und.
sei es auch nur dadurch, daß er über seinen Eintritt mitbestimmen will. Deshalb möchte er seinen Sterbewillen respektiert
sehen.
— Während früher die Medizin ausschließlich als Helferin
erschien, wird sie heute auch als Bedrohung empfunden:
Indem es ihr immer mehr gelingt, die zeitliche Dimension des
Lebens und damit seine „Quantität" zu verlängern, scheint
seine „Qualität" an Gehalt zu verlieren: Biologische Extension auf Kosten personaler Würde — Lebensverlängerung als
„Sterbensverlängerung". Auch dieser Ambivalenz der Medizin sucht man das ” Recht auf Tod" entgegenzusetzen.
—Während früher Selbsttötung von Grund auf verfemt war
und dann erst allmählich als tragische Entscheidung toleriert
wurde, wird darin heute sogar ein Akt letzter Selbstverwirklichung erblickt: Bereitschaft zum Sterben als Teil der Lebensbewältigung, Selbsttötung als »Signatur von Freiheit" 1°. Auch
dies sind Einstellungen, von denen die moderne Einschätzung
von Leben und Sterben geprägt ist.
2. Ohne diese gesellschaftlichen Phänomene, deren beispielhafte Auflistung sich leicht erweitern ließe, abschließend werten zu wollen, bleibt im Hinblick auf die Schutzaufgabe des
Rechts eine gewisse Gegenläufigkeit der Interessen zu konstatieren:
— Auf der einen Seite das Interesse des Patienten, solange
wie irgend möglich am Leben erhalten zu werden. In dieser
Schutzrichtung, wie sie praktisch bis in unser Jahrhundert
hinein allein bestimmend war, geht es um den Schutz gegen
vorzeitige Lebensverkiirzung. Dabei darf das Recht, wenn es
Mißbrauch abwehren will, nicht nur den besorgten Angehörigen und den wohlmeinenden Arzt im Auge haben, sondern
muß — mit „gesundem Mißtrauen" — auch mit jenem Erben
rechnen, der den Eintritt des Erbfalls glaubt beschleunigen zu
sollen, oder mit jenem Arzt oder Pfleger, dem die Behandlung
und Versorgung des unheilbar Kranken zur sinnlos erscheinenden Last geworden ist. Und selbst wenn eine Gesellschaft,
die das Selbstbestimmungsinteresse des einzelnen respektieren
will, dem Menschen, der aus dieser Welt hinaustreten will,
den Weg nicht zwangsweise versperren soll, muß doch die
Rechtsordnung dafür Sorge tragen, daß nicht Menschen aus'
dieser Welt hinausfallen oder gar hinausgestoßen werden, die
bei einfühlsamerer Beachtung ihres wahren Willens eigentlich
noch gar nicht hinaustreten wollten. Insofern muß das Recht
verhindern, daß die Erleichterung des Sterbens nicht
'0 So nicht etwa ein Agnostiker, sondern der evangelische Theologe/. Pkt-
eher, In Verteidigung des Suizids, in: Eser, Suizid (Anm. 8), S. 233, 244.
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Eser, Freiheit zum Sterben – Kein Recht auf Tötung
Alibi sozialer Versäumnisse und daß Sterbehilfe nicht zur
Sterbensnachhilfe wird.
— Auf der anderen Seite jedoch — und dem kommt angesichts
einer Medizin, für die der Tod nicht nur in beschleunigender,
sondern auch in hinausschiebender Richtung manipulierbar
geworden ist, kaum geringere Bedeutung zu — geht es heute
auch um die Verhinderung „übermäßiger Lebensverlängerung". Dies kann in zweifacher Hinsicht zum Problem werden: Zum einen gegenüber einem Arzt, der — aus welchen
Gründen auch immer: sei es aus ethischer Überzeugung oder
aus wissenschaftlichem Forschungsinteresse — eine Hinauszögerung des Todes „um jeden Preis" und zwar selbst entgegen
einem ausdrücklichen Sterbeverlangen des Patienten glaubt
versuchen zu dürfen oder gar zu müssen: Insofern geht es um
den Schutz des Patienten gegen eine „aufgedrängte Lebensverlängerung". — Zum anderen gegenüber einem Patienten
(oder seinem Angehörigen), der „bis zum letzten Atemzug"
den Einsatz jeglicher Lebenserhaltungsmaßnahmen glaubt erwarten zu dürfen: Insofern geht es um die Frage, inwieweit
sich der Arzt einem „übermäßigen Lebensverlängerungsanspruch" soll entziehen dürfen.
Diese „janusköpfige" Gegenläufigkeit von Lebensverlängerungsinteresse einerseits und Sterben(lassen)dürfen andererseits kommt auch in der Fassung des DJT-Themas treffend
zum Ausdruck, wenn darin von einem „Spannungsverhältnis
zwischen Lebenserhaltungspflicht und Selbstbestimmung" die
Rede ist. Denn je größer die Möglichkeiten der Medizin, den
Korpus des Menschen noch am Leben zu erhalten, desto
dringlicher wird das Selbstbestimmungsinteresse des Patienten, auch über sein Sterben. Eine andere Frage aber ist, ob
dieses Spannungsverhältnis allein mit der Frage nach einem
„Recht auf den eigenen Tod" zu lösen ist.
III. Normative Dimensionen — Kollidierende
Prinzipien
Wenn man als Jurist und speziell als Strafrechtler mit diesem
Problemkomplex konfrontiert wird, ist man leicht geneigt,
unvermittelt in überkommenen Grundfiguren zu denken und
dadurch deren Abhängigkeit von bestimmten Vorentscheidungen zu verkennen. Auch wenn es letztlich nicht zu umgehen sein wird, die Komplexität der Problematik dadurch zu
reduzieren, daß man — wie allgemein zu beobachten und jetzt
auch wieder von Otto demonstriert — von bestimmten Fallgruppen ausgeht und dabei insbesondere zwischen „Sterbehilfe ohne Lebensverkürzung", „passiver Sterbehilfe" (durch
Verzicht auf lebensverlängernde Therapie oder die Einstellung
einer begonnenen lebensverlängernden Therapie), »aktiver
Sterbehilfe" (durch Verkürzung des verlöschenden Lebens
mittels aktiver Einflußnahme auf den Krankheitsprozeß) und
» Beihilfe zur Selbsttötung" differenziert", muß man sich dabei doch zweierlei bewußt bleiben: Zum einen, daß bei einer
solchen Ausrichtung am überkommenen Recht 'Von vorneherein nur ein Ausschnitt von weitaus vielfältigeren empirischen
Varianten eigen- oder fremdhändiger Lebensverkürzung erfaßt wird '2. Und zum anderen, daß diese Selektion auf bestimmten normativen Vorgaben beruht, die ihrerseits einer
Reflexion bedürfen: Dies jedenfalls dann, wenn man sich
nicht mit einer bloßen Erklärung oder Einzelremedur des
geltenden Rechts begnügen will, sondern — der Tradition des
DJT entsprechend — eine rechtspolitische Zielsetzung verfolgt.
Auch Otto hat dies insoweit getan, als er seinen Erörterungen
" So jedenfalls die Grobgliederung von Otto, DJT-Gutachten S. 29f, Ähnliche Differenzierungen finden sich auch in anderen Gesamtdarstellungen (vgl.
die Nachweise in Anm. 6), meine eigenen Arbeiten (Anm. 7) nicht ausgenommen.
12 Näher zu solchen Variablen Eser, Erscheinungsformen von Suizid und
Euthanasie – Ein Typisierungsversuch, in: Eser, Suizid (Anm. 8), S. 4-8.
.1Z
zu den vorgenannten Fallgruppen die Frage nach einem (verneinten) „Recht auf Selbsttötung" und einem (bejahten)
„Recht auf den eigenen Tod" voranstellt. Indes bleibt zu
fragen, ob das Spektrum dieser am DJT-Thema orientierten
Differenzierung nicht doch einerseits noch zu erweitern und
andererseits zu spezifizieren wäre, und sei es auch nur, um
damit die Grundlinien des geltenden Rechts letztlich noch
besser abstützen zu können. Zuvor jedoch bleiben, um möglichen Fehleinstellungen vorzubeugen, noch andere normative
Dimensionen dieser Thematik zu beleuchten.
1. Auf der einen Seite ist immer wieder der Vorstellung zu
begegnen, dem Problem der Sterbehilfe sei am besten dadurch
beizukommen, daß man den Grenzbereich des Sterbens zum
„Freiraum" ärztlichen Ermessens erklärt. Dahinter steht die
vor allem in Ärztekreisen weitverbreitete Auffassung, daß —
zum einen — das Sterben ein so intimer Prozeß sei, daß es
geradezu verfremdend wirken müsse, wenn das Recht hineindirigiert, und daß — zum anderen — kein Fall dem anderen
gleiche und daher dem Arzt ein möglichst weiter Ermessensspielraum einzuräumen sei '4. Dieser Auffassung konnten sich
selbst manche Gerichte nicht verschließen: So etwa im Fall der
Karin Quinlan, wo vom Erstrichter die Frage, ob ein Patient
vom Respirator abzuhängen sei oder nicht, als eine „medizinische Entscheidung und keine justizielle" erachtet wurde und
demzufolge das Abschalten dem Ermessen des behandelnden
Ärzteteams und der Standeskontrolle der Ärzteschaft anheimzustellen sei. Auch die Entscheidung des BGH im Wittig-Fall,
wo der Suizid-Patientin die Beachtlichkeit ihres Sterbewillens
abgesprochen wurde, um statt dessen das Sterbenlassen in die
ärztliche Verantwortung zu stellen i s , ist — wie der Beifall in
Ärztekreisen zeigt — vor solchen Deutungen nicht gefeit '6.
Gegenüber solchen Bestrebungen, so verständlich sie in
Respektierung des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und
Patient auch sein mögen, bleibt jedoch zu bedenken, daß auch
das Sterben noch ein Teil des Lebens ist und der Staat im
Hinblick auf die grundrechtliche Schutzgarantie menschliches
Leben nicht der Disposition Dritter anheimstellen darf, sondem die Letztverantwortung für dessen Schutz in der Hand
behalten muß, und sei es auch nur dadurch, daß ärztliches
Handeln auf bestimmte Grundsätze verpflichtet und deren
Beachtung überwacht wird.
2. Auf der anderen Seite jedoch — und diesem gegenteiligen
Extrem ist ebenfalls entgegenzutreten — ist im Strafrecht kein
Allheilmittel zu erblicken. Diese Fehlvorstellung kommt beispielsweise darin zum Ausdruck, daß dieselben Ärzte, die
einerseits für ein möglichst großes Ermessen bei Aufnahme
oder Abbruch einer Behandlung eintreten — und zwar
„wohlmeinend" selbst über den Kopf des Patienten hinweg
andererseits für Strafbarkeit der Suizidteilnahme glauben plädieren zu müssen. Ginge es dabei um die unterschiedliche
Einschätzung von passivem Sterbenlassen einerseits und aktivem Töten andererseits, so wäre jene divergente Einstellung
immerhin verständlich — wobei freilich bereits verwundern
muß, daß ansonsten gerade in der Ärzteschaft gerne gegen die
Unterscheidung von aktiver und passiver Sterbehilfe Stellung
bezogen wird, weil die Übergänge fließend seien, was sich
insbesondere an der Schmerzlinderung mit tödlichem Risiko
zeige, wo die in Kauf genommene Lebensverkürzung trotz
aktiven Tuns durchaus für akzeptabel gehalten wird. Genau
u Otto, Dir-Gutachten S. 11ff. bzw. S. 22 ff.
" Näher dazu wie auch zum Folgenden – jeweils mit Einzelbelegen – Eser,
in: AueriMenzellEser (Anm. 7), S. 76 ff. sowie allgemein zum *ärztlichen Ermessen« in Mieth/Weber (Anm. 8) S. 166 ff.
'5 BGHSt 32, 367 f. = JZ 1984, 893 (dazu R. Schmitt S. 866).
'6 Vgl. Eser McdR 1985, S. 6, 15 f. Was dort zunächst nur prognostiziert
werden konnte, hat sich inzwischen – soweit ersichtlich – zwar nicht literarisch,
aber in persönlichen Stellungnahmen artikuliert, indem – entgegen meinet
Kritik – die Einräumung ärztlichen Ermessens verschiedentlich als ..eigentlich
recht vernünftig« bezeichnet wurde.
17/1986
Eser, Freiheit zum Sterben – Kein Recht auf Tötung besehen steht jedoch etwas anderes dahinter, nämlich das
Bestreben, das Strafrecht mit der ärztlichen Ethik in Deckung
zu bringen: Was diese erlaubt – so das medizinisch indizierte
Sterbenlassen bis hin zur Schmerzlinderung mit lebensverkürzendem Risiko –, sollte auch straffrei sein; und was diese
mißbilligt – wie die Beihilfe zur Selbsttötung –, sollte eigentlich strafbar sein.
Dabei wird jedoch zweierlei verkannt: Zum einen, daß sich
die ärztliche Berufsethik weder notwendigerweise mit der
allgemeinen Ethik noch mit dem Recht zu decken braucht.
Demzufolge kann dem Arzt aus berufsethischen Gründen
untersagt sein, was – wie derzeit die Beihilfe zur Selbsttötung
– vom Strafrecht toleriert wird und damit in die moralische
Verantwortung des einzelnen gestellt ist. Diese unterschiedlichen Wertungsebenen, die dem Mediziner „als Mitmensch"
erlauben, was ihm " als Arzt" untersagt ist, aufzuheben, würde
bedeuten, die Arztethik zur allgemeinen Richtschnur und das
Strafrecht zum Büttel einer sektoralen Berufsethik zu machen.
Damit würde – zum anderen – verkannt, daß das Recht über
Lebenserhaltung und Schmerzlinderung hinaus – auch noch
von anderen oder ergänzenden Prinzipien geleitet sein kann,
wie etwa von einer – im Vergleich zu der primär am „Wohl"
des Patienten orientierten Arztethik – höheren Respektierung
des Patientenwillens.
Diese unterschiedlichen Wertungsebenen sind auch keineswegs nur als Schwäche unseres Normensystems zu begreifen.
Denn im Unterschied zur Konfundierung von Recht und
Ethik in totalitären Staaten, wo die wechselseitige Abstützung
letztlich auch zu ethischer Nivellierung führen kann, eröffnet
die – trotz nicht zu bestreitender Wechselbezüglichkeit –
jeweilige Autonomie von Recht, Standesethik und allgemeiner
Ethik die Möglichkeit zu sittlicher Selbstverantwortlichkeit:
Dies mag im einen Fall zu einer hinter dem Recht zurückbleibenden » Gewissensentscheidung" führen, im anderen Fall
aber auch zu einem die rechtlichen Anforderungen übersteigenden " Heroismus" anspornen. Insofern kann es dem Recht
– und dabei insbesondere auch dem Strafrecht – allein darum
gehen, jene Grundwerte zu markieren, die für ein sozialverträgliches Zusammenleben unverzichtbar sind, im übrigen,
aber noch durchaus Freiraum für sittliche Selbstverantwortung zu lassen. In diesem Sinne ist auch im Bereich der
Sterbehilfe das Strafrecht lediglich als fundamentale Grundlage und minimaler Rahmen für einen erforderlichenfalls erzwingbaren Lebensschutzstandard zu verstehen, nicht aber als
Allzweckinstrument einer – wie auch immer gearteten –
Hochethik.
3. Mit der Verkennung dieser unterschiedlichen Dimensionen hängt eine weitere Fehlvorstellung zusammen: der Glaube an die Absolutheit und Ausnahmslosigkeit von Prinzipien.
Ganz abgesehen davon, ob es eine solche Absolutheit bei
handlungsleitenden Normen überhaupt gibt", ist dies jedenfalls im rechtlichen Bereich zu bezweifeln, und zwar selbst
beim Lebensschutz. Denn wenn das Leben wahrhaft " absolut" – nämlich ohne jede Rücksicht auf die Umstände und
über etwaige gegenläufigen Prinzipien hinweg – geschützt
wäre, wie ließen sich dann tödliche Notwehr, Tötung im
.Krieg oder – wie auch hierzulande lange praktiziert – die
Todesstrafe rechtfertigen? Das beliebte Argument, daß die
Schutzgarantie natürlich nur für » unschuldiges Leben" gelte,
mag vielleicht noch bei der Todesstrafe greifen, obgleich selbst
dies bereits brüchig wird, wenn die Todesstrafe nicht nur für
Mord, sondern auch zur Sanktionierung von nicht-vitalen
Rechtsgutsverletzungen (wie häufig bei Staatsschutzdelikten)
verhängt wird – wird doch damit unter Umständen sogar
bloßen Territorialansprüchen oder eigennützigen Machtsicherungsinteressen Vorrang gegenüber dem Leben eingeräumt.
'7 Was bereits für den ethischen Bereich namentlich von Böckle, Fundamentalmoral, 1977, insbes. S. 307 ff., verneint wird.
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Und noch weniger taugt jene Erklärung, wenn es um die
Rechtfertigung von tödlicher Notwehr gegenüber einem zwar
objektiv rechtswidrig, aber subjektiv schuldlos handelnden
Angreifer geht, bzw. wenn wie im Kriegsfall ein individuell
unschuldiger, ja vielleicht sogar zum Wehrdienst gezwungener Gegner getötet wird: Schon angesichts solcher „Tötungsberechtigungen" kann von absolutem Lebensschutz keine Re-
de sein.
Mit dieser Feststellung sei natürlich keineswegs einer Ab-
wertung des Lebens das Wort geredet, sondern lediglich
Illusionen vorgebeugt; denn um nicht auf dem trügerischen
Sand eines vermeintlich absoluten Lebensschutzprinzips zu
bauen und etwaige Ausnahmen allein dem vielzitierten „Werteverfall" unserer Zeit anzulasten, gilt es, sich gegenüber einer
weit verbreiteten Fehleinschätzung bewußt zu machen, daß
selbst der Schutz des Lebens wohl schon immer nur ein
relativer gewesen ist und dies offenbar auch gar nicht anders
sein kann. Wenn man nämlich die rechtsgeschichtlichen
Wandlungen des Lebensschutzes unvoreingenommen zu
Kenntnis nimmt, so konnte es immer nur darum gehen,
zwischen dem „Heiligkeits"-Anspruch des Lebens einerseits
und gewissen „Qualitäts"-Anforderungen menschlichen Daseins andererseits einen erträglichen Kompromiß zu finden 1".
Dies gilt selbst für die katholische Moral, die an sich die
Achtung des Lebens am striktesten verficht; denn wenn den
lehramtlichen Äußerungen zur Frage erlaubter Sterbehilfe zu
entnehmen ist, daß „der letzte Bewertungsmaßstab nicht die
maximale Prolongation des Lebens im biologischen Sinne,
sondern die Verwirklichung jener humanen Werte (ist), denen
das biologische Leben untergeordnet ist" '9, so liegt bereits
darin die Erkenntnis, daß das Leben weder als biologisches
Abstraktum noch als normatives Absolutum, sondern als
sowohl personal qualifizierungsbedürftig wie auch in Relation
zu anderen Humanwerten zu sehen ist. Diese prinzipielle
"Relativität" des Lebensschutzes wird umso deutlicher, wenn
man sich im säkularen Raum des Rechts bewegt, das – über
die für Sterbehilfe allgemein bedeutsame Wahrung der Menschenwürde hinaus" – speziell beim Sterbenlassen auf Verlangen oder bei Straffreiheit der Suizidteilnahme auch dem
Selbstbestimmungsinteresse des Betroffenen Rechnung tragen
will, ganz zu schweigen von tödlicher Notwehr oder Tötung
im Kriege, wo das Leben unter Umständen sogar dem Schutz
von nicht-personalen Drittinteressen geopfert wird: Alles dies
wäre nicht möglich ohne das Eingeständnis, daß das Recht
selbst beim Lebensschutz Kompromißcharakter hat – indem
gegenläufige Interessen miteinander abzuwägen und unter
Berücksichtigung tendenzieller Folgewirkungen in eine optimale Konkordanz zu bringen sind. Dies macht die Suche nach
dem » richtigen" Rahmen von Sterbehilfe gewiß nicht leichter,
aber jedenfalls redlicher – und bewahrt vielleicht auch vor
vordergründiger Prinzipienreiterei.
4. Mit dieser – gewiß bedauernswerten, aber wohl unvermeidlichen – Anerkennung der grundsätzlichen Relativität
(auch) des Lebensschutzes stellt sich natürlich die Frage nach
den maßgeblichen Relationen: Von welchen Prinzipien ist
dabei auszugehen? Welche Abwägungsfaktoren sind dabei zu
18 Näher dazu Eser, Zwischen „Heiligkeit« und „Qualität« des Lebens, in:
Tradition und Fortschritt im Recht Festschrift zum 500jährigen Bestehen der
Tübinger Juristenfakultät (hrsg. von J. Gernhuber), 1977, S. 377-414, insbes.
S. 413 f.
19 So – in Resümierung päpstlicher Verlautbarungen – der katholische Moraltheologe Auer, Läßt die Position der katholischen Kirche zur passiven und
aktiven Sterbehilfe Raum für ein Umdenken hinsichtlich der von ihr bisher
vertretenen moralischen Grundsätze?, in: DGHS (Hrsg.), 5. Europäischer Kongreß für Humanes Sterben, 1985, S. 77-84,80 f.; im gleichen Sinne bereits Auer,
Die Unverfügbarkeit des Lebens und das Recht auf einen natürlichen Tod, in:
Auer/ Menze / Eser (Anm. 7), S. 1-51, insbes. S. 23 ff.
» Diese Vorrangsstellung der Menschenwürde vor dem Leben tritt – fast
schon im Übermaß und daher nicht in jedem Falle ohne weiteres nachvollziehbar– namentlich im DJT-Gutachten von Otto zutage (vgl. insbes. S. 24 ff., 34ff.,
73 ff., 96).
790
Eser, Freiheit zum Sterben — Kein Recht auf Tötung
berücksichtigen? Welche Folgewirkungen der jeweiligen Lösung wären zu bedenken? Wo sind Grenzen zu ziehen?
Vielleicht ist zum Zentrum dieses hier nicht voll entfaltbaren
Problemkomplexes am besten dadurch vorzustoßen, daß man
die vom DJT gestellte Frage nach einem „Recht auf den
eigenen Tod" zu den beiden Extrempositionen in Beziehung
setzt: nämlich zur totalen Verneinung jeder Art von Verfügbarkeit über das Leben einerseits und zur radikalen Absicherung eines solchen Rechts andererseits. Denn dabei wird sich
zeigen, daß zwischen diesen beiden Polen ein abstufbares
Kontinuum von Lebensschutzpositionen besteht, innerhalb
dessen das „Recht auf den eigenen Tod" zwar eine mittlere,
aber deswegen noch keineswegs allseits tragfähige Position
einnimmt. Dies läßt sich vielleicht am besten verdeutlichen,
wenn man sich von den beiden Extrempositionen her der
Mitte nähert:
– Wäre einerseits im Sinne einer „Heiligkeits"-Position die
menschliche Existenz als ein jeglicher Disposition entzogenes
und unbedingt zu erhaltendes Gut zu verstehen, so wäre jede
Art von qualitativer Lebensbewertung wie auch jede Art von
Lebensverkürzung ausgeschlossen, und zwar gleich, ob durch
dritte oder eigene Hand. Damit aber wäre auch für ein „Recht
auf den eigenen Tod" von vorneherein kein Raum, ja noch
mehr: Das Recht zum Weiterleben wäre sogar als eine Weiterlebenspflicht zu verstehen, die ihrerseits auf seiten Dritter das
Recht, wenn nicht sogar die Pflicht auslösen würde, den
Betroffenen auch gegen seinen Willen am Leben zu erhalten.
Dann ist natürlich auch für einen Wegfall von Rettungspflichten selbst bei Hilfsverzicht des Betroffenen kein Raum,
ebenso wie dann konsequenterweise sowohl der Suizidversuch wie auch die Suizidteilnahme einschließlich der Nichtverhinderung eines Suizids unter Strafe zu stellen wären.
– Wäre andererseits im Sinne einer „ Verfügbarkeits"-Position
auch das Leben als unbeschränkt disponibel zu betrachten, so
wäre damit ein Weg eröffnet, der zwar das „Recht auf den
eigenen Tod" einschließen, aber letztlich doch weit darüber
hinausgehen würde. Denn konsequenterweise müßte dann
über die Selbsttötung und die Teilnahme daran hinaus auch
die einverständliche Tötung durch einen Dritten straffrei,
wenn nicht sogar gerechtfertigt sein, und zwar nicht nur auf
Verlangen, sondern bereits bei Einwilligung des Betroffenen.
Auch dürfte es bei einem konsequent durchgehaltenen
„Selbstverfügungsrecht" weder auf den Zustand noch auf die
Motivation des Betroffenen bzw. seines Helfers ankommen;
alleinentscheidend für die Straffreiheit wäre die freiwillige
Entscheidung für den Tod. Ja, noch mehr: wenn man das
Reden von einem „Recht" auf den „eigenen", „natürlichen",
„würdigen" oder wie auch immer qualifizierten – Tod wirklich ernstnähme und konsequent zu Ende dächte, dann ginge
es nicht nur um die von Otto behandelte Alternative zwischen,
einem (verneinten) „Recht auf Selbsttötung" und einem (bejahten) „Recht auf den eigenen Tod" 21 , sondern um eine viel
breitere Skala von denkbaren Möglichkeiten: nämlich über die
schlichte "Freiheit zum Sterbendürfen" hinaus um das Recht,
dafür die Hilfe anderer in Anspruch nehmen zu dürfen, und,
falls man sich zur Selbsttötung außer Stande fühlte, um das
Recht auf Tötung durch Dritte, wobei mit diesem Recht, falls
zugleich als „Anspruch" auf Tötung zu verstehen, eine entsprechende Pflicht des Staates korrespondieren müßte, für die
Einlösung dieses „Tötungsanspruchs" geeignete Einrichtungen zur Verfügung zu stellen.
Wie an anderer Stelle bereits näher dargetan", ist keine
dieser beiden Extrempositionen akzeptabel: die „Heiligkeits"Position – unter anderem – schon deshalb nicht, weil damit
21 Vgl. oben zu Anm. 13.
22 Zu solchen Konsequenzen vgl. Möllering, Schutz des Lebens — Recht auf
Sterben, 1977, S. 86 ff., 92 f. m. weit. Nachw.
23 Eser, Suizid (Anm. 8), S. 394 ff. sowie in FritscheiGoulon/EserlBr ni
Riviet (Anm. 8), S. 24 ff.
das Lebensrecht letztlich zu Lebenszwang pervertiert würde.
Die „Verfügbarkeits"-Position – unter anderem – schon deshalb nicht, weil mit Anerkennung eines Lebensverfügungsanspruchs die Weichen für eine Selbstaufgabe menschlicher Sozietät gestellt wären und der Staat dazu sogar noch Hilfestellung geben müßte.
Deshalb ist zwischen den beiden Extremen eines heiligkeitsorientierten „Lebenszwanges" einerseits und eines selbstbestimmungsorientierten „Tötungsanspruchs" andererseits
nach einer mittleren Position zu suchen. Dazu erscheint es
angebracht, sich zunächst einmal die Skala möglicher Abstufungen zwischen jenen beiden Polen vor Augen zu führen:
– (1) Weiterlebenspflicht des Betroffenen mit Todesverhinderungspflicht Dritter (abgesichert durch entsprechende Unterlassungsstrafbarkeit)
— (2) Zwar keine Pflicht des Betroffenen zu selbsterhaltenden.
Maßnahmen, aber Eingriffspflicht Dritter zwecks Lebenserhaltung
– (3) Zwar passives Sterbensrecht des Betroffenen, aber Strafbarkeit der (versuchten) aktiven Selbsttötung mit Verhinderungspflicht Dritter
– (4) Zwar Straflosigkeit (versuchter) Selbsttötung, aber Strafbarkeit der aktiven Suizidteilnahme sowie der Tötung auf
Verlangen
– (5) Sterbendürfen ohne Verhinderungspflicht Dritter aufgrund „einverständlichen" Behandlungsverzichts bzw. -abbruchs
– (6) Sterbenlassendürfen durch Dritte aufgrund „einseitigen"
Behandlungsverzichts bzw. -abbruchs, wobei dies jeweils
noch von unterschiedlichen Voraussetzungen abhängig sein
kann
– (7) Recht auf Schmerzlinderung selbst unter lebensverkürzendem Risiko
– (8) Freiheit zur Selbsttötung und Zulassung der Teilnahme
daran, aber Strafbarkeit aktiver Tötung auf Verlangen
— (9) Recht auf Selbsttötung mit Recht auf Hilfe Dritter
– (10) Recht auf Tötung durch Dritte unter Zulassung aktiver
Tötung auf Verlangen
– (11) Anspruch auf Tötung mit entsprechender Durchführungspflicht des Staates.
Versucht man innerhalb dieser Skalierung, die sicherlich
noch weiteren Abstufungen zugänglich wäre, das heute
weithin akzeptierte „Recht auf den eigenen Tod" zu lozieren,
so muß zunächst einmal dessen parolenhaft ungriffige Schlagwortartigkeit irritieren. Denn wenn von einem „Recht auf den
eigenen Tod" die Rede ist, warum soll dann dies – um eine
durchgehende Differenzierung von Otto aufzugreifen" – nur
für den Fall einer „definitiv gesetzten Todesursache" gelten.
und nicht auch für den Fall eines „vorzeitigen" Sterbeverlangens? Und wird nicht „Menschenwürde" zu biologistisch
verstanden, wenn sie erst bei dem – wie auch immer zu
interpretierenden – „drohenden Zusammenbruch der Personalität «16 relevant werden soll? Oder wenn vom „Recht auf
den eigenen Tod" gesprochen wird, warum soll dann davon
ausgerechnet die „selbstverfügte" und damit eigentlich „ureigenste" Tötung ausgeschlossen sein? Und wenn schließlich
das „Recht auf den eigenen Tod" – wie auch von Otto
zutreffend betont – keinesfalls als „Anspruch gegenüber Drit-;
ten" soll verstanden werden dürfen 2', was bleibt dann eigent;
lich noch an positivem Aussagegehalt von diesem Postulat
übrig? Gewiß mag mit Otto ein möglicher Gegenstand dieses'
Rechts in dem „Anspruch gegen Dritte, die Verwirklichung
24 So etwa hinsichtlich der unterschiedlichen Begründungen für die Straffrei
heit der Suizidteilnahme; denn obgleich diese schon tathestandlieh mangels
Haupttat — ausgeschlossen ist, bleibt doch die Frage, warum die Selbsttötung
ihrerseits nicht strafbar ist: wegen bloßer Entschuldigung oder weil gerechtfer-*
tilgt? Vgl. Eser in Schänke/Schröder Vorbem. 25 f. vor S 211.
25 Otto. DIT-Guuchten bei C (S. 29ff.) bzw. D (S. 72ff.).
2‘ Otto, aa0 S. 62ff.
27 Otto, aaO S. 23.
17/1986
Eser, Freiheit zum Sterben - Kein Recht auf Tötung
des eigenen Todes nicht zu be- oder zu verhindern", zu
erblicken sein; doch selbst gegenüber dieser Formulierung
wäre zu fragen, ob man dabei eigentlich noch von einem
echten „Anspruch" sprechen kann: Denn würde nicht auch
dies eine notfalls erzwingbare Pflicht Dritter zur Abstandnahme implizieren?
Desungeachtet kommt jedoch in dieser Problemumschreibung ein durchaus zutreffender Gedanke zum Vorschein, der
lediglich etwas anders zu benennen wäre. Denn worum es in
den ganzen Auseinandersetzungen um die Möglichkeiten und
Grenzen der Sterbehilfe letztlich geht, ist die Freiheit zum
Sterben: und zwar sowohl zum Sterbendürfen des Betroffenen wie auch zum Sterbenlassendürfen durch Dritte. Wenn
zumindest diese Freiheit im Sinne eines „status negativus"
gegen die Aufdrängung von Lebenszwang einerseits und gegen die Inpflichtnahme Dritter andererseits abgesichert wäre,
wäre sowohl das gewährleistet, was mit „Sterben in Würde"
gemeint ist, wie auch das abgeblockt, was auf einen „Tötungsanspruch" hinauslaufen könnte.
Demzufolge wären in der obigen Skala einerseits jedenfalls
die Positionen (1) bis (4) sowie andererseits die Positionen (9)
bis (11) als inakzeptabel auszugrenzen: Erstere deshalb, weil
sie der Freiheit zum Sterben entgegenstehen; letztere deshalb,
weil damit ein die Freiheit zum Sterben übersteigendes Recht
auf Tötung samt Hilfsanspruch proklamiert wird. Demgegenüber kommt die Freiheit zum Sterben zweifellos am klarsten
in der Position (5) zum Ausdruck. Doch dürften zu diesem
Bereich auch die Positionen (7) und (8) zu rechnen sein:
Erstere deshalb, weil es hier ohnehin nicht um gezielte Tötung, sondern um eine Abwägung zwischen Leidensheroismus und Lebensrisiko geht und bei Lösung dieses buchstäblich höchstpersönlichen Konflikts rechtlicher Erduldungszwang fehl am Platze wäre. Letztere deshalb, weil es bei der
Freiheit zur Selbsttötung – im Unterschied zu Position (9) –
nicht um ein Tötungsrecht, sondern lediglich um die Abschirmung gegenüber Behinderungen Dritter geht und mit bloßer
Zulassung der Teilnahme das Fremdtötungsverbot tabu
bleibt".
Einordnungsbedürftig bleibt somit nur noch die Position
(6), und diese ist bezeichnenderweise gerade aus dem letztgenannten Grunde problematisch. Denn während es bei allen
übrigen Positionen um (tatsächlich oder zumindest mutmaßlich) „selbstgewolltes" Sterben geht, wird beim Sterbenlassendürfen durch Dritte, ohne daß ein entsprechender Wille des
Patienten erkennbar ist, einseitig" über diesen befunden.
Dies noch mit einem „Recht auf den eigenen Tod" begründen
zu wollen, dürfte selbst mit kühnsten Interpretationskünsten
schwierig sein: Auch insoweit bleibt daher mit Verkürzung
des DJT-Titels auf ein selbstbestimmungsorientiertes „Recht
auf den eigenen Tod" ein praktisch höchst bedeutsamer Problembereich zumindest thematisch ausgespart". Doch auch
mit einer „Freiheit zum Sterben" wird jedenfalls dann kaum
zu argumentieren sein, wenn man für die Inanspruchnahme
von Freiheit einen darauf • gerichteten Willen voraussetzt.
Wenn man sich daher nicht, wie dies gelegentlich bei Aufdrängung von „Menschenwürde wider Willen" geschieht, zu
21 Otto, ebenda.
2' Näher zu diesem tiefgreifenden normativen Unterschied zwischen bloßer
Teilnahme an tödlicher » Selbstverfügung' und » fremdverfügender* Tötung auf
Verlangen vgl. auch Eser, Suizid (Anm. 8) S. 398 EL sowie in Fritsche/Goulon/
Eser/Braun/Ried« (Anm. 8) S. 31 0.
xl Was jedoch - erfreulicherweise - Otto in seinem DIT-Gutachten nicht
daran gehindert hat, diese Thematik, wenngleich unter Ausklammerung des
Sterbenlassens von schwergeschädigten Neugeborenen (vgl. sein Vorwort S. 9),
dennoch einzubeziehen (S. 49ff., 72f.),
St Vgl. etwa die Auseinandersetzungen um die » Menschenunwürdigkeit" von
einverständlichen Peep-Shows (BVerwG NJW 1982, 664 m. Anm. v. Ohlshausen NJW 1982, 2221 ff., Höfling/Gern NJW 1983, 1582 ff.) oder von einverständlicher Unterwerfung unter einen Lügendetektor (BVerfG NJW 1982, 375
m. Anm. Schwabe NJW 1982, 367 f., Amelang NStZ 1982, 38 ff., Achenbach
NStZ 1984, 350 ff.).
791
einer aufgedrängten » Freiheit" zum Sterben versteigen oder
das „Recht" auf den eigenen Tod nicht zu einer entsprechenden „Pflicht" zur Inanspruchnahme dieses Rechts pervertieren will, so bleibt nichts anderes als das Eingeständnis, daß
sich der „einseitige" Behandlungsabbruch schwerlich mit irgendwelchen Selbstbestimmungsargumenten begründen läßt,
sondern einer anderen Grundlage bedarf. Ob diese dadurch
zu gewinnen ist, daß man – wie vor allem im Fall irreversiblen
Bewußtseinsverlusts – die Lebenserhaltungspflicht von vorn-
herein entsprechend einschränkt bzw. mit Zumutbarkeits-
grenzen oder Rechtfertigungsgrundsätzen arbeitet ist zwar
eine rechtsdogmatisch wichtige, aber gegenüber der damit
verbundenen Grundwerteproblematik eher nachrangige Frage, die hier nur aufgeworfen, aber nicht weiter verfolgt werden kann. Denn vorrangig entscheidungsbedürftig ist die Frage, wie unter den heutigen Gegebenheiten der ärztliche Auftrag zu bestimmen ist" und wieviel der einzelne an sozialem
Einsatz für sein Leben legitimerweise erwarten darf. Das aber
ist weniger eine rechtsdogmatische als vielmehr eine sozialpolitische Frage, die nicht zuletzt davon abhängt, wieviel diese
unsere Gesellschaft für die Erhaltung verlöschenden Lebens
zu tun bereit ist und wie sie dabei unter Berücksichtigung
sonstiger öffentlicher Aufgaben die Prioritäten setzen will34.
5. Bevor daraus strafrechtliche Konsequenzen zum geltenden wie auch zu einem künftigen Recht zu ziehen sind, bleibt
noch ein mehr sozialethisches Prinzip anzusprechen: die mitmenschliche Solidarität. Wenn sich hier die »Freiheit zum
Sterben" als rechtlicher Angelpunkt herausgestellt hat, so ist
dies weder als moralische Billigung der Selbsttötung und noch
weniger als Aufforderung zu verstehen, den Lebensmüden
einfach sich selbst zu überlassen. Im Gegenteil: wie bereits an
anderer Stelle dargetan", ist für mich das Leben ein viel zu
hoher Wert, als daß ich dessen Preisgabe – und zwar gleich, ob
durch eigene oder fremde Hand – leichthin für moralisch
verantwortbar hielte. Auch müßte man auf empirischer Ebene
bei Annahme von Freiverantwortlichkeit weitaus skeptischer
sein, als dies immer wieder in der Rechtsprechung geschieht'.
Dies ist jedoch kein hinreichender Grund, um einen Mitmenschen mit strafrechtlichen Mitteln – und sei es auch nur
mittelbar durch Verhinderungspflichten Dritter – zum Weiterleben zu zwingen, sofern er aufgrund eigener Gewissensentscheidung wohlüberlegt und offenbar frei von Willensmängeln daraus scheiden will. Mitmenschliche Solidarität,
wenn aufgezwungen, macht die betroffene Person zum Objekt. Auch insoweit ist die Menschenwürde als unantastbar zu
respektieren. Das aber scheint am besten dadurch gewährleistet, daß das Weiterlebenwollen und Sterbendürfen frei ist von
rechtlichem Zwang, um statt dessen die moralische Verpflichtung zu mitmenschlicher Solidarität zur Geltung kommen zu
lassen.
IV. Unzulänglichkeiten des geltenden Rechts
Wenn vorangehend auf das geltende Recht allenfalls beiläufig
Bezug genommen wurde, so geschah das nicht von ungefähr;
denn da es hier – wie schon eingangs erwähnt – primär um
rechtspolitische Grundsatzüberlegungen geht, hätte die Fixie" Näher dazu - auch mit Darstellung meiner eigenen Lösungsvorstellungen der Meinungsüberblick in Auer/ Menzel/ Eser (Anm. 7) S. 119 ff. sowie in
Schönlee/Schröder Vorbem. 29 f. vor 211.
" Im Ansatz wohl ebenso Otto, DIT-Gutachten S. 36.
34 Auf diese - bislang noch viel zu wenig beachtete, weil verständlicherweise
gerne verdrängte Abhängigkeit des Lebenserhaltungsgebots von dem, was der
einzelne von seinen Mitmenschen und der Gesellschaft insgesamt an Hilfe
überhaupt erwarten und fordern darf, hat insbesondere schon Sax, Zur recht-,
lichen Problematik der Sterbehilfe durch vorzeitigen Abbruch der Intensivbehandlung, JZ 1975, S. 137-151, 149, hingewiesen.
" Eser, MedR 1985, 17.
m Vgl. Eser in Schönlee/Schröder Vorbem. 34, 36, 43 sowie in Auer/Menzel/
Eser (Anm. 7) S. 103 ff.
792
Eser, Freiheit zum Sterben - Kein Recht auf Tötung
rung auf vorgegebene Positionen leicht das Blickfeld verengen
und verzerren können. Auch im folgenden ist daher weder
eine Einzeldarstellung des geltenden Rechts noch eine dogmatische Auseinandersetzung mit bestimmten Positionen beabsichtigt. Vielmehr geht es allein darum, inwieweit Gesetz und
Praxis die vorangehend als Leitpunkt anerkannte „Freiheit
zum Sterben" zu gewährleisten vermögen bzw. einer entsprechenden Reform bedürfen. Selbst das kann freilich in diesem
Rahmen nur angedeutet werden.
1. Ein vorab bewußt zu machender Grundmangel des geltenden Rechts liegt bereits darin, daß es – abgesehen von der
Strafmilderung bei Tötung auf Verlangen (5 216 StGB) –
keinerlei Sonderregeln für Hilfe in und zum Sterben gibt, wie
ja überhaupt das StGB den Besonderheiten ärztlichen Handelns in keiner Weise Rechnung trägt". Demzufolge ist auch.
für den hier in Frage stehenden Bereich auf allgemeine Verbots- und Erlaubnisnormen zurückzugreifen, die jedoch weder eine sachlich angemessene noch eine hinreichend klare
Handhabung ermöglichen.
Das ist keineswegs als Vorwurf gegenüber dem historischen
Gesetzgeber von 1871 zu verstehen; denn wie hätte er voraussehen sollen, in welcher Weise sich die Möglichkeiten der
Medizin entwickeln würden? Inzwischen jedoch kommt man
an der Tatsache nicht vorbei, daß das überkommene Recht vor
allem in zweierlei Hinsicht hinter der Entwicklung zurückgeblieben ist: Zum einen insofern, als die gegenwärtigen Lebensschutztatbestände ausschließlich gegen Lebensverkürzung gerichtet sind, ohne dem neuen Schutzinteresse gegen „aufgedrängte Lebens- und Sterbensverlängerung" Rechnung zu
tragen". Zum anderen insofern, als es beim Schutz des Lebens
bislang lediglich um seine quantitativ-zeitliche Dimension
geht, während Aspekte der Leidensminderung und Sterbenserleichterung und damit die qualitativ-personale Dimension
würdevollen Sterbens – denn auch dabei geht es ja noch um
ein Stück Leben – unberücksichtigt bleiben. Gewiß ließe sich
dem – wie einmal mehr von Otto demonstriert – bis zu einem
gewissen Grad nach Notstandsgrundsätzen Rechnung tragen"; aber selbst auf diesem Wege, der ohnehin über keineswegs sichere Interpretationsbrücken führt, bleibt die Menschenwürdigkeit des Sterbens eben nur sekundäres Rechtfertigungsvehikel, ohne zu einem primären Schutzziel zu erstarken.
Dieser Mangel schutzspezifischer Sonderregelungen wird
noch dadurch potenziert, daß die statt dessen heranzuziehenden allgemeinen Prinzipien, weil teilweise gegenläufig, für
Wertungswidersprüche empfänglich sind. Das zeigt sich bereits im Gegenüber des grundsätzlichen Fremdtötungsverbots
einerseits und der Straffreiheit der Selbsttötung andererseits;
denn diese beiden Prinzipien müssen spätestens dann miteinander in Konflikt geraten, wenn – wie bei Suizidteilnahme
und Tötung auf Verlangen – ein Dritter in das Tötungsgeschehen einbezogen wird. Dieser Wertkonflikt wird naturgemäß
noch komplizierter, wenn man auch noch das grundsätzliche
Selbstbestimmungsrecht des Patienten sowie die Wahrung
seiner Menschenwürde hinzunimmt"'. Ein solches Konfliktpotential zu konstatieren, soll nun freilich nicht heißen, daß
zu seiner Vermeidung schlicht das eine Prinzip dem anderen
zu opfern wäre; denn wenn es – wie schon zuvor (bei 111.3)
37 Vgl. Eser (Anm. 7) ZStW 97, insbes. 3 ff. - Und selbst soweit es dann doch
einmal irgendwelche Sonderregeln für ärztliche Tätigkeit gibt, wie beispielsweise für Arzneimittelprüfung nach dem Arzneimittelgesetz von 1976 (§§ 40-212,
95-98), fehlt es an der notwendigen Abstimmung mit dem StGB: vgl. Eser,
Kontrollierte Arzneimittelerprobung in rechtlicher Sicht, in: Internist 3 (1982),
218-226.
3$
Vgl. oben 11.2.
39
Otto, DJT-Gutachten 5. 34, 42ff., 50, 56ff., 92 sowie neuestens auch
Herzberg NJW 1986, 1639 f.
4° Dazu Eser, in Eid (Anm. 7) S. 49 ff. sowie Eser, Der Arzt im Spannungsfeld von Recht und Ethik, in Focus MHL (Med. Hochschule Lübeck) 3 (1986)
S. 48-55.
Z
festgestellt – richtig ist, daß es auch im Bereich des Lebensschutzes keine Absolutheit von Prinzipien gibt, dann ist das
Eingehen von gegenseitigen Kompromissen kein zu vermeidendes, sondern im Sinne optimaler Konkordanz ein zu erstrebendes Ziel. Wohl aber gilt es zu verhindern, daß sich.
solche Wertkonflikte zu Wertungswidersprüchen auswachsen, die – wie vom BGH im Wittig-Fall selbst eingeräumt" –
von der Rechtsprechung allein offenbar nicht zu lösen sind.
Muß sich aber da nicht der Gesetzgeber auf den Plan gerufen
fühlen?
2. Dies gilt insbesondere für die derzeit mangelnde Gewährleistung „einverständlichen" Sterben(lassen)dü,fens und
damit für den eigentlichen Kernbereich der Freiheit zum
Sterben". Denn obgleich selbst die Rechtsprechung an der
Straffreiheit aktiver Suizidteilnahme nicht vorbeikommt, hat
doch bekanntlich der BGH diese Grundentscheidung des
Gesetzgebers dadurch weitgehend unterlaufen, daß er späte-.
stens bei Verlust der eigenen Handlungsfähigkeit des Betroffenen eine Erfolgsabwendungspflicht des Garanten bzw. eine
Jedermann-Hilfspflicht (nach § 323 c) dekretiert". Zwar fehlt
es nicht an Versuchen, diese Rettungspflicht auf Suizidfälle zu
beschränken", um damit wenigstens bei „Normalpatienten"
weiterhin eine einverständliches Sterbenlassen zu ermöglichen. Doch ganz abgesehen davon, ob dieses Bemühen um
„Schadensbegrenzung" eines verfehlten – weil bereits die Freiheit zum Sterben verleugnenden – Grundansatzes überhaupt
tauglich ist", bleibt jedenfalls die Differenzierung zwischen
„Suizidenten" und „Normalpatienten" in Zweifel zu ziehen,
und zwar sowohl aus normativen Gründen – weil diskriminatorisch und in sich widersprüchlich – wie auch -wegen medizinisch-psychologischer Vordergründigkeit". Ähnliches wäre
auch gegen Ottos Differenzierungsversuch zwischen dem Fall
einer „definitiv gesetzten Todesursache" einerseits und davorliegenden Stadien – nämlich noch nicht definitiv gesetzter
bzw. noch reversibler Todesursache – andererseits" einzuwenden. Denn ganz ungeachtet der Frage, wie solche Phasen
medizinisch voneinander abgrenzbar und notfalls forensisch
nachweisbar sein sollen, ist auch diese Differenzierung mit
zweierlei erkauft: mit einer Abwertung verlöschenden Lebens
und mit einem Nichternstnehmen der Freiheit zum Sterben.
Denn solange der Sterbewille nur dann und allein deshalb
beachtenswert sein soll, wenn und weil es sich um bereits
definitiv verlöschendes Leben handelt, geht es im Grunde gar
nicht um eine positive Respektierung der Freiheit zum Sterben, sondern lediglich um eine eher negative Preisgabe nicht
mehr erhaltenswerten Lebens und damit um dessen Abwertung.
3. Beruht sonach schon das einverständliche Sterben(lassen)dürfen derzeit auf brüchiger Grundlage, so betritt man,
mit dem „einseitigen" Behandlungsabbruch völlig ungesichertes Gelände. Denn außer dem inzwischen weithin als Abbruchsgrund akzeptierten irreversiblen Bewußtseinsverlust
4' Vgl. BGHSt 32, 367, 371.
" Vgl. oben III 4 zu Position (5).
4 Näher zu den Entwicklungsstufen dieser Rechtsprechung, die im WütigFall BGHSt 32, 367 JZ 1984, 893 ihren - vorläufigen (?) - Höhepunkt
erfahren hat, u. a. Eser MedR 1985, 6 ff., Gropp, Suizidbeteiligung und Sterbehilfe in der Rechtsprechung, NStZ 1985, 97-103.
44 So namentlich der Berichterstatter des BGH im Witzig-Fall Kratzer, Strafrechtliche Überlegungen zum Selbstbestimmungsrecht des Patienten und zur
Zulässigkeit der Sterbehilfe, MDR 1985, 710-716, sowie in: Anhörung „Sterbehilfe" (Anm. 2) S. 79 f. Vgl. ferner die einschränkenden Interpretationsversuche
von Otto, DJT-Gutachten S. 63ff., 75ff.
45 Vgl. demgegenüber Eser MedR 1985, 16 sowie in: Anhörung „Sterbehilfe
(Anm. 2) S. 83 f. Auch die Logik, mit der Kutzer das Gegenteil des vom BGH (in
NJW 1983, 350/351) Gesagten herzuleiten versucht (MDR 1985, 711 Anm. 13),
ist mir nicht nachvollziehbar. Weiterhin skeptisch auch Schmitt (Anm. 5) bei C
11.
4' Näher Eser MedR 1985, 14 f. Gropp NStZ 1985, 103.
47 Otto, DJT-Gutachten C (S. 29ff.) bzw. D (S. 72 ff.).
41 Vgl. Otto, DJT-Gutachten S. 35 m. weit. Nachw., aber auch Schmitt
(Anm. 5) bei D IV.
17/1986
Eser, Freiheit zum Sterben — Kein Recht auf Tötung
gibt es für das Vorfeld zwar verschiedenartige Vorschläge",
aber noch keine abgesicherten Kriterien. Auch der BGH hat
insoweit die Unsicherheit eher noch vergrößert, indem er das
Schicksal des Betroffenen zwar einerseits der „pflichtgemäßen
ärztlichen Entscheidung" überläßt", ohne aber andererseits
für die Eingrenzung dieses Ermessensspielraums hinreichend
klare Entscheidungskriterien zu benennen. Das aber ist
schon deshalb bedauerlich genug, weil der Bereich „einseitigen" Unterlassens oder Abbrechens lebenserhaltender Maßnahmen, sofern man nicht den Bereich „einverständlichen"
Sterbenlassens durch Überstrapazierung „mutmaßlichen"
Sterbeverlangens realitätswidrig überdehnen will, ohnehin
schon groß ist. Und dieser wird naturgemäß noch größer,
wenn – wie im Wittig-Urteil tendenziell angelegt – dem
Sterbewillen die grundsätzliche Beachtlichkeit aberkannt und
damit – durch zwangsläufige Eliminierung „einverständlichen" Sterbenlassens – der „einseitige" Behandlungsabbruch
zum Regelfall wird 52 Damit aber wird das Fehlen von klaren
Entscheidungskriterien umso fataler.
4. Solche Regelungsmängel wiegen naturgemäß umso
schwerer, je mehr man sich der Grenze zum aktiven Tun
nähert. Das gilt namentlich für den Streit um die dogmatische
Einordnung des sog. » technischen" Behandlungsabbruchs
durch Abstellen lebenserhaltender Geräte, wie etwa von Respiratoren. Daß dies – je nachdem, ob als bloßes Unterlassen
oder als positives Tun zu behandeln – zu unterschiedlicher
Zulässigkeit sollte führen können, wäre für den gesunden
Menschenverstand nur schwer begreiflich zu machen. Falls
man aber einerseits nicht den Weg bloßen Unterlassens glaubt
gehen zu können und damit der Zugang zu den zuvor erörterten Regeln für Sterbenlassen verschlossen bleibt, andererseits
aber auch bei Annahme von aktivem Tun zum gleichen Ergebnis kommen will, sieht man sich zu Lösungen gezwungen,
die zwar – wie jetzt wieder von Otto demonstriert" – den
Dogmatiker zu konstruktiven Höchstleistungen mit buchstäblich Orwell'schen Visionen herausfordern können, dies
aber damit erkaufen müssen, daß entweder von vorneherein
der Schutzzweck des Lebensachtungsgebots eingeschränkt
wird oder fragwürdige Rechtfertigungsbrücken zu bauen
sind'. Auch dieser sich aus dem Schweigen des Gesetzes
ergebende Streit trägt nicht gerade zur Rechtssicherheit bei –
im Gegenteil dürfte dies einer der Gründe für das vielbeklagte
Faktum sein, daß selbst im Falle irreversiblen Bewußtseinsverlusts der Arzt die Maschinerie glaubt aufrechterhalten
zu müssen, statt den Moribunden in Würde sterben zu lassen.
5. Ähnliches gilt für den Regelungsmangel bei Schmerzlinderung mit lebensverkürzendem Risiko. Selbst wenn zutreffen
mag, daß die Straflosigkeit einer solchen „indirekten Euthanasie" schon seit langem nicht mehr streitig sei", sind die
Begründungen dafür nach wie vor höchst strittig" und demzufolge auch die jeweiligen Grenzen problematisch. Damit
aber sieht sich gerade der gewissenhafte Arzt einem strafrechtlichen Risiko ausgesetzt.
49 Vgl. fähnke, Leipziger Kommentar zum StGB (LK), 10. Aufl. 1980, Vorbem. 18 f. vor s 211; Otto, DJT-Gutachten S. 49f. bzw. 5. 72f., 87ff., jeweils
m. weit. Nachw.; zu meinen eigenen Vorstellungen vgl. Eser in Auer/ Menzel/
Eser (Anm. 7) S. 119 ff. sowie in Schänke/Schröder Vorbem. 29 vor s 211.
so BGHSt 32, 367, 377 ff.
31 Näher Eser MedR 1985, 15 f.
32 So auch schon die Befürchtungen von Schmitt, Der Arzt und sein lebensmüder Patient, JZ 1984, 866-869, 868.
53 Otto, DJT-Gutachten 5. 42ff.
54 Zum Meinungsstand im einzelnen vgl. — neben Otto u0 — Eser in Auer/
MenzeUEser (Anm. 7) S. 138 ff. sowie in Scbönke/Schröder Vorbem. 32 vor
s 211, feneriähniee LK Vorbem. 161. vor S211.
$5
So Schmitt (Anm. 5) bei D 1 vgl aber demgegenüber noch MaurachSchroevIer, Strafrecht, Bes. Teil, Teilbd. I, 6. Aufl. 1977, S. 15 sowie die Nachw.
bei Otto, DJT-Gutachten S. 57 mit Anm. 135.
36 Vgl. Eser in Auer/ Eser/ Menzel (Anm. 7) S. 88 ff. sowie in Schänke/Schröder Vorbem. 26 vor s 211, Otto, DJT-Gutachten S. 54ff.
793
6. Auch das Schweigen des Gesetzes zum Sterbenlassen von
schwerstgeschädigten Neugeborenen erweist sich immer mehr
als abträglich, und zwar nicht nur für die Rechtssicherheit,
sondern auch für den Lebensschutz: Eltern und Ärzte fühlen
sich in ihrer Entscheidungsnot vom Recht alleingelassen. Und
unter dem dadurch entstandenen Grauschleier einer undurchsichtigen Praxis laufen die betroffenen Neugeborenen Gefahr,
selbst dann durch Nichtbehandlung preisgegeben zu werden,
wenn ein lebenserhaltender Eingriff an sich möglich wäre.
Auch wenn es bei dieser sog. „Früheuthanasie" weder um
Freiheit zum Sterben noch überhaupt um Sterbehilfe, sondern
im Grunde bereits um Eugenik geht", bleibt bei allem Verständnis für die nicht zuletzt zeitgeschichtlich bedingte Sensibilität dieser Problematik zu bedauern, daß sie – wie namentlich auch bei Otto" – immer wieder ausgeklammert wird".
Denn ratlosen Eltern und Ärzten für den Ernstfall einen
Verbotsirrtum in Aussicht zu stellen, wie dies angesichts der
Unsicherheit der Rechtslage naheliegen könnte", mag sich
zwar als " Erste Hilfe" anbieten, kann aber sicherlich keine
Dauerlösung sein. Hier tut sowohl Offenlegung der Probleme
wie auch rechtliche Klarstellung not, wenn einer unkontrollierten Ausuferung Einhalt geboten werden soll.
7. Wäre die Möglichkeit des Sterben(lassen)dürfens – einschließlich bei freiverantwortlichem Suizid – in der hier vertretenen Weise abgesichert, so wäre damit auch den Forderungen nach Legalisierung der Tötung auf Verlangen – ganz
abgesehen von den bereits genannten grundsätzlichen Bedenken – schon praktisch der Boden weitgehend entzogen".
Deshalb wäre insoweit gegenüber dem geltenden Verbot allenfalls seine Ausnahmslosigkeit selbst in Extremsituationen
zu monieren. Solchen Fällen aber, wie sie etwa dann auftreten
können, wo sich ein Gelähmter aus einem unerträglich gewordenen Leiden nicht selbst zum Tode verhelfen kann, wird man
jedoch allenfalls durch Einräumung eines Absehens von Strafe
Rechnung tragen können".
V. Zur Notwendigkeit und Möglichkeit einer Reform
1. Angesichts der offenbaren Unzulänglichkeiten des geltenden Rechts, wie sie vorangehend zutage traten, muß es überraschen, daß von manchen ein gesetzgeberisches Reformbedürfnis nach wie vor verneint wird". Dies ist jedoch leicht erklärbar, wenn man nach den Hintergründen für diese unterschiedliche Einstellung sucht und sich die Abhängigkeit der Reformbedürftigkeit vom jeweiligen Reformziel klarmacht.
Begnügt man sich damit, daß bei gesetzlich offenen Fragen
die Rechtsprechung sich schon irgendwie durchzufinden wisse, zumal ja die Lehre bereits adäquate Lösungen bereithalte°,
so mag das vielleicht den beruhigen, der sich letztendlich auf
den »gesunden Menschenverstand der Richter" glaubt verlas57 Vgl. Eser in Auerhiienzel/Eser (Anm. 7) S. 141 ff.
DJT-Gutachten Vorwort (S. 9).
59 Zu ersten Lösungsbemühungen vgl. die Nachw. bei Schmitt (Anm. 5) bei
D III, der diesen Problemkreis freilich selbst noch nicht für ‚gesetzgebungsreif"
hält. Auch im AE-Arbeitskreis, der sich immerhin zu einem ersten Regelungsteilschritt durchgerungen hat (AE-Sterbehilfe § 214 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2), gab es
durchaus Stimmen, die diesen Problembereich überhaupt nicht angesprochen
sehen wollten.
60 Vgl. zu einem Freiburger Fall Eser in Lawin/Huth (Anm. 7) S. 78.
61 Vgl. oben 111.4 sowie in Eser, Suizid (Anm. 8) S. 400, ferner Möllering
(Anm. 22) S. 93 ff.
62 Vgl. Schmitt (Anm. 5) bei D II.
63 So auch Otto, DJT-Gutachten S. 93. Vgl. auch Eser, in Suizid (Anm. 8)
S. 400 m. Anm. 41.
64 So — nach Kutzer (Anm. 44), der allenfalls umgekehrt an Verschärfungen
durch Strafbarerklärung selbstsüchtiger Suizidteilnahme denkt (MDR 1985,
716) — jetzt namentlich auch Otto, DJT-Gutachten 5. 90ff. (vgl. aber auch unten
zu Anm. 74) sowie die überwiegende Meinung auf dem 4. Rechtspolitischen
Kongreß der CDU/CSU (vgl. Annecke ZRP 1986. 153. 141
'5
dieser Tendenz etwa Otto aaO.
794
Eser, Freiheit zum Sterb en — Kein Recht auf Tötung
sen zu dürfen. Ohne diesen in Zweifel ziehen zu wollen,
wird man aber bereits fragen müssen, ob nicht gerade das
Strafrecht als handlungsleitendes Recht den Bürger als dem
eigentlichen Normadressaten mehr schuldig ist als nur die
Inaussichtstellung einer nachträglich richtigen Beurteilung.
Gegenüber einem solchen post factum-Modell ä la „die Rechtsprechung wird's schon richten" ist bereits die ante factum
wichtige Orientierungsfunktion des Gesetzes in Erinnerung
zu rufen°. Dafür aber kann nicht schon genügen, daß es – wie
gerade im Bereich der Sterbehilfe – einschlägige Lehrmeinungen und Literatur in Fülle gibt. Denn ganz abgesehen von der
Zumutung an den Nichtjuristen, sich in Grundfragen von
Leben und Sterben mit einer Mischung von schweigsamem
Gesetz, teils zuwiderlaufender Rechtsprechung und wiederum gegenläufiger Lehre konfrontiert zu sehen, wo selbst der
Jurist kaum noch durchzublicken vermag, und ganz abgesehen von der – durch das dem allgemeinen Trend zuwiderlaufende Wittig-Urteil einmal mehr belegten – Ungewißheit, ob
und inwieweit die Rechtsprechung selbst einer weithin akzeptierten Lehre folgen wird", also ganz abgesehen von solchen
erschwerenden Unsicherheiten hat der Bürger gerade in diesem Fundamentalbereich menschlichen Zusammenlebens das
Recht auf ein Gesetz, das ihm auch ohne langwieriges Wälzen
von Entscheidungssammlungen und Kommentaren die
Grundlinien für sein Handeln erkennbar macht. Schon davon
aber kann, wie erst jüngst wieder der von Otto präsentierte
Konstruktionsaufwand zeigt", derzeit keine Rede sein.
Deshalb ist in erster Linie Rechtsklarheit geboten, und zwar
für alle Beteiligten: für den Patienten, damit er sowohl vor
vorzeitiger Lebensverkürzung wie auch vor aufgedrängter
Lebensverlängerung sicher sein kann; für den Arzt, damit er
Sicherheit darüber hat, inwieweit er zur Lebenserhaltung
verpflichtet bzw. umgekehrt berechtigt ist, von lebensverlängernden Behandlungen abzusehen oder leidensmindernde
Maßnahmen auch um den Preis einer etwaigen Sterbensbeschleunigung einzusetzen; für den Angehörigen, damit er
weiß, was von ihm selbst an Hilfe erwartet wird bzw. was er
dem Arzt an lebensverlängernden Wünschen oder auch sterbensbeschleunigenden Ansinnen zumuten darf m. Angesichts
dieses Allgemeininteresses geht insbesondere auch der beliebte Verweis auf einschlägige Richtlinien von Ärzteorganisationen – ganz ungeachtet ihrer strafrechtlichen Beachtlichkeit n –
von Grund auf fehl; denn Sterbehilfe ist nicht bloß Sache eines
sektoralen Standesrechts, sondern geht jeden Bürger an. Im
übrigen ist dieses Klarstellungsbedürfnis selbst für solche
Formen von Sterbehilfe zu betonen, die – wie die Schmerzlinderung mit lebensverkürzendem Risiko – weithin außer Streit
stehen; denn selbst auf die Gefahr hin, damit »schlafende
Hunde zu wecken", ist die Rechtsordnung gerade dem
gewissenhaften Arzt Sicherheit und Klarheit schuldig.
Darüber hinaus ist ein Eingreifen des Gesetzgebers umso
mehr geboten, wo einem Korrekturbedüifnis gegenüber abweichender Rechtsprechung Rechnung zu tragen ist. Dies gilt
insbesondere für das Geflecht von Unterlassungsstrafbarkeit,
mit dem der BGH die Straflosigkeit der Suizidteilnahme zu
" So die tröstlich gemeinte Empfehlung von Kutzer, in Anhörung „Sterbehilfe" (Anm. 2) S. 51/105 f.
u Vgl. Vorwort zum AE-Sterbehilfe (Anm. 3).
6' Vgl. Eser MedR 1985, 7.
69
hier, ohne dazu inhaltlich Stellung nehmen zu wollen, lediglich auf
die sich beim »technischen" Behandlungsabbruch aus der Abgrenzung von Tun
und Unterlassen ergebenden Folgeprobleme sowie auf den bei Selbsttötung
zunächst ausgeweiteten Begriffs des „Unglücksfalles" mit nachfolgender Einschränkung der „,Hilfspflicht" hingewiesen sei (Otto, DJT-Gutachten S. 42 ff.
bzw. S. 47ff., 69ff.).
70 Zu dieser leider auch bei Otto allenfalls beiläufig erwähnten– Dimension
des Angehörigen vgl. Eser MedR 1985, 16 f. sowie in Auer/ I inzel/Eser
(Anm. 7) S. 116 f.
7' Vgl. Eser MedR. 1985, 16.
72 So die Befürchtung von Schmitt (Anm. 5) D I.
73 Vgl. oben IV. 2 sowie Schmitt (Anm. 5) bei A III, B.
07Z
unterlaufen sucht". Insoweit würde selbst Otto, sofern der
BGH zu einer Selbstkorrektur nicht bereit sein sollte, entgegen seiner sonstigen Zurückhaltung eine gesetzliche Remedur
für geboten halten".
Nicht weniger dringlich ist ein Tätigwerden des Gesetzgebers schließlich dort, wo es um Grundwertungen geht, die
von der gesamten Rechtsgemeinschaft zu verantworten sind.
Ein solches Wertentscheidungsbedürfnis besteht insbesondere
für den einseitigen sowie für das Behandeln oder Sterbenlassen von schwerstgeschädigten Neugeborenen". Man sage nicht, daß diese Fragen viel zu delikat
seien, um in der Öffentlichkeit diskutiert zu werden. Wer so
argumentiert, muß sich den Verdacht gefallen lassen, den
Grauschleier der Unkontrolliertheit klaren und allgemein verbindlichen Schutzvorschriften vorzuziehen und dem individuellen Ermessen des einzelnen Arztes zu überlassen, was in
Gestalt des Gesetzgebers von der Allgemeinheit zu verantworten wäre. Auch in einer Nichtregelung kann eine Wertentscheidung liegen – und dies nicht selten gerade zum Nachteil
derer, die sich selbst nicht wehren können.
2. Was die gesetzestechnische Form einer Regelung für
Sterbehilfe betrifft, wäre es natürlich begrüßenswert, wenn
dies im Zuge einer gleichzeitigen Regelung der Heilbehandlung geschehen könnte: etwa in der Weise, daß – einer alten.
Reformforderung entsprechend – die „eigenmächtige Heilbehandlung" vertatbestandlicht wird und alles sonstige auf Heilung und Leidensverminderung ausgerichtete ärztliche Handeln als tatbestandslos zu betrachten wäre. Gegen eine solche
„Heilbehandlungslösung", wie sie offenbar Tröndle – einer
gesprächsweisen Andeutung zufolge – für sein DJT-Referat
vorschwebt, drängen sich jedoch aus der Sicht der Sterbehilfe
sogleich folgende Fragen auf: Falls danach ärztliches Handeln
generell straffrei und einziges Strafbarkeitskriterium nur noch
das Handeln gegen den Willen des Patienten sein soll, wird
damit nicht eine viel zu weitgehende – weil möglicherweise .
auch einverständlich aktive Lebensverkürzung, umfassende –
Straffreistellung erreicht bzw, umgekehrt die Möglichkeit des
praktisch höchst bedeutsamen „einseitigen Behandlungsabbruchs" von vorneherein verbaut? Und wie soll überhaupt
Nichtaufnahme einer Behandlung – und damit ein weiter
Bereich passiven Sterbenlassens – zwecks Tatbestandsausschlusses als „Heilbehandlung" verstanden werden können?
Wenn man aber dafür allein schon auf das ärztliche Moment
der Nichtbehandlungsentscheidung abheben wollte, würde
dann nicht im Umkehrschluß jegliches – und zwar auch
einverständliches – Sterbenlassen durch Angehörige zur Strafbarkeit . führen – mit zwangsläufiger Diskriminierung zwischen Arzten und Angehörigen? Schon diese wenigen Fragen
legen die Vermutung nahe, daß mit einer solchen Lösung die
an sich erstrebenswerte Enttatbestandlichung der „Heilbehandlung" entweder mit fragwürdigen Auswirkungen für die
Sterbehilfe erkauft würde oder letztlich denn doch nicht ohne
eine positive Definierung von Heilbehandlung und Sterbehilfe
auszukommen wäre.
3. Nicht zuletzt aus diesem Grund erscheint mir eine
positive Ausforrnulierung zulässiger Sterbehilfe, so wie dies
jüngst der AE-Sterbehilfe" versucht hat, als der bessere Weg.
Da ich diesen Entwurf im wesentlichen selbst mitgetragen
habe und seine Begründung hoffentlich für sich selber spricht,
möchte ich mich hier mit einigen schlagwortartigen Hinweisen zu seinen Zielen und Leitgedanken begnügen 71:
74 Otto, DJT-Gutachten S. 94, 99.
75 Vgl. oben IV. 3.
74 Vgl. oben IV. 6.
77 Vgl. oben zu Anm. 3.
71 V I. dazu auch die Einführung zum AE-Sterbehilfe, insbes. S. 2 8.
17/1986
Eser,
Freiheit zum Sterben – Kein Recht auf Tötung
– Schaffung von Rechtsklarheit für alle Beteiligten
– Versuch einer möglichst umfassenden und aus sich selbst
heraus verständlichen Regelung '9
– Sicherung des Lebensschutzes ohne Lebenszwang
– Schutzwürdigkeit des Lebens unter Ablehnung jeder Differenzierung nach seinem Wert"
– Ermöglichung optimaler Leidensminderung
– Selbstbestimmung des Betroffenen als Regelungsgrundlage
– Vorrang der Hilfe im Sterben gegenüber der Hilfe Ilim
Sterben
– Respektierung freiverantwortlicher Selbsttötung durch Begrenzung von Rettungspflichten wider Willen des Betroffenen
– bei Zweifeln an der Verantwortlichkeit Vorrang der Lebenserhaltung: in dubio pro vita
– Beibehaltung der grundsätzlichen Strafbarkeit der Tötung
auf Verlangen, daher allenfalls ausnahmsweises Absehen
von Strafe
– Bindung ärztlichen Ermessens an objektivierbare Entscheidungskriterien
– Verzicht auf ausdrückliche Kriminalisierung einer Weigerung, dem Sterbeverlangen eines Patienten nachzukommen".
In diesem Sinne schlägt der AE-Sterbehilfe vor, den 16. Abschnitt des StGB über „Straftaten gegen das Leben" durch
folgende Vorschriften zu ergänzen:
„§ 214: Abbruch oder Unterlassung lebenserhaltender Maßnahmen
(1) Wer lebenserhaltende Maßnahmen abbricht oder unterläßt, handelt nicht rechtswidrig, wenn
1. der Betroffene dies audrücklich und ernstlich verlangt oder
2. der Betroffene nach ärztlicher Erkenntnis das Bewußtsein unwiederbringlich verloren hat oder im Falle eines schwerstgeschädigten
Neugeborenen niemals erlangen wird oder
3. der Betroffene nach ärztlicher Erkenntnis sonst zu einer Erklärung über Aufnahme oder Fortführung der Behandlung außerstande
ist und aufgrund verläßlicher Anhaltspunkte anzunehmen ist, daß er
im Hinblick auf Dauer und Verlauf seines aussichtslosen Leidenszustandes, insbesondere seinen nahe bevorstehenden Tod, diese Behandlung ablehnen würde, oder
4. bei nahe bevorstehendem Tod im Hinblick auf den Leidenszustand des Betroffenen und die Aussichtslosigkeit einer Heilbehandlung die Aufnahme oder Fortführung lebenserhaltender Maßnahmen
nach ärztlicher Erkenntnis nicht mehr angezeigt ist.
(2) Abs. 1 gilt auch für den Fall, daß der Zustand des Betroffenen
auf einem Selbsttötungsversuch beruht.
Insoweit unterscheidet sich der AE-Sterbehilfe einerseits namentlich auch
von Schmitts Regelungsvorschlag (Anm. 5 bei F), der verschiedene Regelungsprobleme – wie insbes. beim „einseitigen" Behandlungsabbruch und bei Behandlung von schwergeschädigten Neugeborenen – bewußt ausgeklammert hat
(vgl. Anm. 5 zu III bzw. IV). Andererseits ist jedoch „umfassend" nicht
unbedingt als „abschließend" zu verstehen; denn daß sicherlich noch manche
andere Probleme einer Lösung harren, darüber war sich natürlich auch der AEArbeitskreis im klaren. Deshalb konnte es im Moment nur darum gehen,
zumindest die derzeit konsensfähig erscheinenden Positionen gesetztestechmach umzusetzen, was natürlich nicht bedeuten muß, daß – um gleich einem zu
erwartenden Einwand zu begegnen – alles nicht ausdrücklich Geregelte zwangsläufig rechtswidrig sein müßte.
go
Insoweit unterscheidet sich der AE-Sterbehilfe namentlich vom Vorschlag
Schmitts, eine Lebensverlängerung gegen den Willen des Betroffenen im Rahmeneines
neuzuschaffenden Tatbestands der „eigenmächtigen Heilbehandlung « ausdrücklich unter Strafe zu stellen (Anm. 5 bei C III, F III); denn ganz
abgesehen davon, daß sich klaren Fällen eigenmächtiger Behandlung derzeit
bereits durch den Körperverletzungstatbestand begegnen läßt (vgl. AE-Sterbehilfe S. 7), erscheint es arztethisch problematisch, wenn das hier primäre
Anliegen des Sterbenlassendürfens schlankweg als ein strafrechdich erzwingbares S terbenlassenmussen zu verstehen wäre und sich dadurch gerade der sensible
Arzt angesichts des schmalen Grats zwischen vorzeitiger Lebensverkürzung
oder eigenmächtiger Lebensverlängerung entweder mit dem einen oder dem
anderen Bein „im Gefängnis" wähnen könnte.
795
214 a: Leidensmindernde Maßnahmen
\X'er als Arzt oder mit ärztlicher Ermächtigung bei einem tödlich
Kranken mit dessen ausdrücklichem oder mutmaßlichem Einverständnis Maßnahmen zur Linderung schwerer, anders nicht zu behebender Leidenszustände trifft, handelt nicht rechtswidrig, auch wenn
dadurch als nicht vermeidbare Nebenwirkung der Eintritt des Todes
beschleunigt wird.
§ 215: Nichthinderung einer Selbsttötung
(1) Wer es unterläßt, die Selbsttötung eines anderen zu hindern,
handelt nicht rechtswidrig, wenn die Selbsttötung auf einer frei verantwortlichen, ausdrücklich erklärten oder aus den Umständen erkennbaren ernstlichen Entscheidung beruht.
(2) Von einer solchen Entscheidung darf insbesondere nicht ausgegangen werden, wenn der andere noch nicht 18 Jahre alt ist oder wenn
seine freie Willensbestimmung entsprechend §§ 20, 21 StGB beeinträchtigt ist.
216: Tötung auf Verlangen
(1) Ist jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des
Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist auf Freiheitsstrafe von
sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen (unverändert).
(2) Das Gericht kann unter den Voraussetzungen des Abs. 1 von
Strafe absehen, wenn die Tötung der Beendigung eines schwersten,
vom Betroffenen nicht mehr zu ertragenden Leidenszustandes dient,
der nicht durch andere Maßnahmen behoben oder gelindert werden
kann.
(3) Der Versuch ist strafbar (bisheriger Absatz 2).
VI. Ausblick
Man braucht kein Prophet zu sein, um vorauszusehen, daß
den Empfehlungen des DJT über den Tag hinaus signalhafte
Bedeutung zukommt: indem entweder die weitere Diskussion
vorerst abgeblockt oder zukunftsweisend für eine legislative
Reform geöffnet wird. Wenn ich letzterem bis vor kurzem
selbst eher zurückhaltend gegenüberstand, dann vor allem
deshalb, weil ich noch keine konsensfähige Basis für ein
Tätigwerden des Gesetzgebers zu sehen vermochte und statt
dessen besser auf Wegweisung durch die Rechtsprechung
glaubte vertrauen zu dürfen. In beiderlei Hinsicht hat sich
jedoch inzwischen Wesentliches geändert: Einerseits besteht
nach dem wenig geradlinigen und zudem auch fehlorientierten
Kurs der Rechtsprechung wenig Hoffnung, daß auf diesem
Wege eine akzeptable Lösung gefunden werden könnte. Andererseits hat das Ergebnis des AE-Arbeitskreises gezeigt, daß
selbst bei zunächst weit auseinandergehenden Grundeinstellungen – und zwar sowohl zwischen wie auch unter Medizinern und Juristen – dennoch ein tragfähiger Konsens erreichbar ist, wenn man sich mit unvoreingenommener Offenheit
und Bereitschaft zur Toleranz auf die anstehenden Fragen
einläßt. Das soll nicht heißen, daß wir für unseren Entwurf
letzte Vollkommenheit in Anspruch nehmen wollten. Deshalb
ist Kritik willkommen, solange sie sich nicht mit vordergründigen Einwänden begnügt, sondern mit Blick auf das Gesamtziel um konstruktive Verbesserungen bemüht ist. Gleiches gilt
natürlich auch für etwaige andere Reformvorschläge, die jedenfalls nicht das Opfer jener werden sollten, die mit formalistischer Beckmesserei, im Grunde nichts anderes als,ihre insgeheime Reformunwilligkeit zu kaschieren suchen. Nicht als ob
eine Regelung nicht auch gesetzestechnisch in Ordnung sein
müßte. Nur darf diese abschließende Feinarbeit nicht den Mut
nehmen, überhaupt eine Regelung anzustreben, die – anders
als der gegenwärtige Rechtszustand – nicht nur dem konstruktionserfahrenen Juristen zugänglich ist, sondern auch für
den eigentlich angesprochenen Bürger mehr Transparenz und
Orientierung bringt. Es wäre dem diesjährigen DJT sehr zu
wünschen, daß er sich dieser sowohl humanitären wie auch,
rechtstaatlichen Herausforderung im Grenzbereich des Sterbens gewachsen zeigt.
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