vom Durchschnittsverhalten“ anerkannten die Richter ein

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bei psychiatrischer Behandlung wird es den selbstbestimmten Patienten geben. Die bisherige
Praxis der Behandlung eines Betroffenen gegen seinen Willen mit Neuroleptika wird zum
Auslaufmodell.
Ausblick
Auch wenn in der Umfrage keine Fragen gestellt wurden, die auf die seit dem 1.1.2009 zum
einfachen Gesetz gewordene BRK eingehen, ist auch für die Gerichte der seit dem 17.5.2015
vorliegende Staatenbericht des zuständigen UN-Fachausschusses über Deutschland bedeutsam.
In ihm wird im Hinblick auf die Psychiatrie scharfe Kritik geübt, siehe insbesondere Artikel
11., 12., 25., 26., 29., 30., 33., 34. 38. Z.B. wird Zwangsbehandlung als Folter bezeichnet53.
Die Regelung zur Zwangsbehandlung zielt nach den Feststellungen des Deutschen Institutes
für Menschenrechte darauf ab, sich über das Kriterium der Einwilligungsunfähigkeit „über
den natürlichen Willen der betroffenen Person hinwegsetzen zu können und an die Stelle der
persönlichen Entscheidung die Entscheidung Dritter zu setzen – eine so genannte, durch die
BRK untersagte, ersetzende Entscheidungsfindung („substituted decision-making“).“
Ergänzend wird dort ausgeführt: „Im Lichte der aktuellen menschenrechtlichen Diskussion,
wie sie auch in Studien des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte (UN Doc. A/HRC/10/48
vom 26. Januar 2009) und in der Auslegungspraxis des UN-Fachausschusses für die Rechte
von Menschen mit Behinderungen im Zusammenhang der gesundheitlichen Versorgung von
Menschen mit Behinderungen Ausdruck findet, ist der Ansatz, wonach eine psychiatrische
Behandlung ohne freie und informierte Zustimmung der betroffenen Person, allein legitimiert
über die Entscheidung Dritter vorgenommen werden soll, menschenrechtlich in Frage gestellt.“54
Die gesetzlichen Regelungen des § 1906 BGB haben eine „Behinderung“ zum Kriterium, die
gemessen an den Grundsätzen des Artikel 14 der Behindertenrechtskonvention, Freiheit und
Sicherheit der Person, als Sondergesetzgebung gegen geltendes Konventionsrecht verstoßen.
So der UN-Fachausschuss für die BRK und dessen in der 14. Sitzung aufgestellten Richtlinien
zur Interpretation und dem Umgang mit dem Artikel 14 BRK55.
Das Bundesverfassungsgericht hatte zur Frage der Einwilligungsfähigkeit schon 2011 ausgeführt:
„In Deutschland existieren, nachdem von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie,
Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) in den neunziger Jahren initiierte Versuche
zur Etablierung medizinischer Standards für Zwangsbehandlungen nicht zu einem Ergebnis
geführt haben (vgl. Steinert, in: Ketelsen/Schulz/Zechert, Seelische Krise und Aggressivität,
2004, S. 44 <47>), keine medizinischen Standards für psychiatrische Zwangsbehandlungen,
aus denen mit der notwendigen Deutlichkeit hervorginge, dass Zwangsbehandlungen mit
dem Ziel, den Untergebrachten entlassungsfähig zu machen, ausschließlich im Fall
krankheitsbedingter Einsichtsunfähigkeit zulässig sind. Dass dementsprechend ein
Bewusstsein hierfür in den medizinischen und juristischen Fachkreisen noch nicht allgemein
verbreitet und eine gesetzliche Regelung, wie im Beschluss des Senats vom 23. März 2011
[ 5 3 ] h t t p : / / w w w. i n s t i t u t - f u e r - m e n s c h e n r e c h t e . d e / f i l e a d m i n / u s e r _ u p l o a d / P D F - D a t e i e n / U N Dokumente/CRPD_Abschliessende_Bemerkungen_ueber_den_ersten_Staatenbericht_Deutschlands_ENTWURF.pdf
[54] Aichele, Valentin, Stellungnahme der Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention anlässlich der
Öffentlichen Anhörung vom 10. Dezember 2012, im Rahmen der 105. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen
Bundestages
[55] http://www.ohchr.org/Documents/HRBodies/CRPD/14thsession/GuidelinesOnArticle14.doc
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vom Durchschnittsverhalten“22 anerkannten die Richter ein Selbstbestimmungsrecht jenseits
staatlicher Fürsorge.
Seit 2011 fand in der höchstrichterlichen Rechtsprechung kontinuierlich bis heute ein
tiefgreifender Wandel statt. Dass Zwangsbehandlung rechtfertigende Eingriffe besondere
Grundrechtsintensität aufweisen, wurde in mehreren Leitsatzentscheidungen erstmals in dieser
Deutlichkeit anerkannt. Bei Einwilligungsfähigkeit eines Patienten kommen sie generell nicht
in Betracht.
Für den Maßregelvollzug wurde die Zwangsbehandlung mit Neuroleptika mangels hinreichender
Rechtsgrundlage erstmals mit Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes vom 23.3.201123
in Rheinland-Pfalz für unzulässig beschieden (vorausgegangene Eilentscheidung 2009). Die
dortige bislang herangezogene Eingriffsgrundlage, § 6 Absatz 1 Satz 2 MVollzG des
Bundeslandes Rheinland-Pfalz, wurde für nichtig erklärt. Es folgten weitere Nichtigkeitsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes vom 12.10.2011 zu § 8 UBG BW des Bundeslandes
Baden-Württemberg24 und am 10. Februar 2013 zu den landesgesetzlichen Regelungen der
§§ 22, 23 SächsPsychKG25. Im November 2013 erfolgte eine weitere Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichtes zum Erfordernis einer grundrechtlich nirgends hinzunehmenden
Rechtfertigung einer Zwangsbehandlung26 bezüglich einer hinreichenden Sachaufklärung,
ebenso in 201527. Auch Verletzungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes waren Gegenstand
der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung 28.
Gerade wegen der Potenzierung der Rechtsgutverletzungen des § 1906 BGB (dem Patienten
wird durch Unterbringung auf einer geschlossenen Station seine Freiheit vollständig entzogen;
er wird zwangsweise durch massive Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit veranlasst,
Psychopharmaka mit wesensveränderndem Einfluss und starken Nebenwirkungen einzunehmen)
kann es zur denkbar schwersten Eingriffsintensität beim Betroffenen kommen. Er unterliegt
schutzlos nicht nur dem Freiheitsentzug, sondern kumulativ hierzu der Zwangsbehandlung.
Sie geht oft einher mit Fixierungen und anderen freiheitsbeschränkenden Maßnahmen des §
1906 Abs. 4 BGB.
Eine Zwangsbehandlung eines einsichtsfähigen und einwilligungsfähigen Patienten muss
nach den verfassungsrechtlichen Vorgaben zum Selbstbestimmungsrecht des Patienten aus
den Entscheidungen von 2011 und 2012 generell ohne Ausnahme künftig ausscheiden.
Nur wenn ein Patient krankheitsbedingt nicht einwilligungsfähig sei, sei eine Zwangsbehandlung
bei hinreichenden gesetzlichen Vorgaben denkbar. Denn nur in diesem Falle könne der
Betroffene überhaupt gehindert sein, „seine grundrechtlichen Belange wahrzunehmen“. Das
könne ebenfalls „zu einer Verletzung der Menschenwürde führen“.
Das Bundesverfassungsgericht hatte damit eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung in sehr
engen Grenzen zugelassen. Der BGH hat darauf verwiesen, „dass das Fehlen von Zwangsbefugnissen zur Durchsetzung notwendiger medizinischer Maßnahmen dazu führen könne, dass
[22] BVerfG a.a.O. S. 224 f.
[23] BVerfG 2 BvR 882/09
[24] BVerfG 2 BvR 633/11
[25] BVerfG 2 BvR 228/12; zuvor schon BVerfG 2 BvR 2362/11 Beschluss vom 15.12.2011
[26] BVerfG, Beschluss vom 28. November 2013 – 2 BvR 2784/12 –, juris Regelung
[27] BVerfG, Beschluss vom 14. Juli 2015 – 2 BvR 1549/14, 2 BvR 1550/14
[28] BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 07. Juli 2015 – 2 BvR 1180/15 –, juris
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