Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik Herausgegeben im Auftrag der Konferenz für Geschichtsdidaktik vom Vorstand Band 9 Herausgegeben vom Vorstand der Konferenz für Geschichtsdidaktik: Michael Sauer, Charlotte Bühl-Gramer, Anke John, Astrid Schwabe und Alfons Kenkmann Michael Sauer / Charlotte Bühl-Gramer / Anke John / Marko Demantowsky / Alfons Kenkmann (Hg.) Geschichtslernen in biographischer Perspektive Nachhaltigkeit – Entwicklung – Generationendifferenz Mit 34 Abbildungen V& R unipress Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0309-7 ISBN 978-3-8470-0309-0 (E-Book) Mit freundlicher Unterstützung des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur im Rahmen von PRO*Niedersachsen. Ó 2014, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Inhalt Michael Sauer Zum Stand von Disziplin und Verband . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Charlotte Bühl-Gramer Geschichtslernen in biografischer Perspektive – Nachhaltigkeit – Entwicklung – Generationendifferenz. Einführung in das Tagungsthema . 23 Horst Kuss Aufbruch zu einer neuen Geschichtsdidaktik? Ein Rückblick auf Göttingen 1973 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Sektion 1: Geschichte – Biografie – Identität Charlotte Bühl-Gramer Geschichte – Biografie – Identität. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . 49 Felix Hinz Biografie und geschichtliche Sinnbildung bei Autoren historischer Bestsellerromane. Tanja Kinkel, Rebecca Gabl¦, Peter Berling und Wolfgang Hohlbein im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Martin Lücke Wechselhafte Geschichte und kohärentes Leben. Autobiografische Texte von Peter Martin Lampel (1894 – 1965) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Marco Dräger Generation(en) und Geschichte(n). Generationelle Auseinandersetzungen in der Geschichtskultur am Beispiel der Etablierung von Deserteur-Denkmälern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 6 Inhalt Sektion 2: Nachhaltiger Geschichtsunterricht Anke John Nachhaltiger Geschichtsunterricht. Einführung . . . . . . . . . . . . . . 105 Markus Daumüller / Manfred Seidenfuß Geschichtsunterricht – was bleibt? Die Sicht der Schulabgängerinnen und Schulabgänger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Dirk Urbach »Wenn man da in irgendeiner Form ein Samenkorn gesetzt hat«. Nachhaltiger Geschichtsunterricht aus Lehrersicht . . . . . . . . . . . . . 139 Jörg van Norden Frei lernt es sich am besten? Ein Forschungsbericht zur Progression narrativer Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Sektion 3: Geschichte in außerschulischen Ausbildungskonzepten Alfons Kenkmann Geschichte in außerschulischen Ausbildungskonzepten. Einführung . . . 177 Sabine Mecking Neben Steuern und Recht. Geschichte als Ausbildungsinhalt in der Finanzverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Christoph Spieker Geschichtslernen in biographischer Perspektive. Polizeiliche Traditionsarbeit in der Erinnerungsarena . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Christina Kakridi Geschichtsunterricht als Integrationshilfe? Einige Überlegungen zu Theorie und Praxis historischer Bildungsarbeit für Einwanderer . . . . . 211 Christian Bunnenberg Geschichte in der Offiziersausbildung der Bundeswehr . . . . . . . . . . 229 Sektion 4: Entwicklung des Geschichtsbewusstseins Michael Sauer Entwicklung des Geschichtsbewusstseins. Einführung . . . . . . . . . . . 243 7 Inhalt Georg Götz »Ich mag Geschichte auch ganz gerne«. Fachfremde Lehrer und ihr Geschichtsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Markus Kübler / Sabine Bietenhader / Urs Bisang / Claudio Stucky Historisches Denken bei 4- bis 10-jährigen Kindern. Was wissen Kinder über Geschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Lale Yildirim Doppeltes semi-historisches Bewusstsein? Entwicklung des Geschichtsbewusstseins bei Schülerinnen und Schülern mit türkeistämmigem Migrationshintergrund der dritten Generation . . . . . 289 Sektion 5: Zur Zeitgeschichte der Geschichtsdidaktik Marko Demantowsky Zur Zeitgeschichte der Geschichtsdidaktik. Einleitung . . . . . . . . . . . 309 Thomas Sandkühler Geschichtsdidaktik als gesellschaftliche Repräsentation. Diskurse der Disziplin im zeitgeschichtlichen Kontext um 1970 . . . . . . . . . . . . . 313 Friederike Volkmer-Tolksberg Zur Verbandsgeschichte der KGD 1970 – 1995 . . . . . . . . . . . . . . . 333 Markus Bernhardt Geschichtsdidaktik nach PISA – Bilanzen und Perspektiven. Eine bibliometrische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Michele Barricelli Geschichtsdidaktik nach PISA – Bilanzen und Perspektiven. Zum Jubiläum: Die Weisheit der Zahl und die Gründe des Erzählens . . . . . . 365 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Michael Sauer Zum Stand von Disziplin und Verband Dass die 20. Zweijahrestagung der »Konferenz für Geschichtsdidaktik« in Göttingen stattfindet, hat – neben praktischen Gründen – einen besonderen Anlass. Im Jahre 1973, vor 40 Jahren also, haben sich hier, angeregt von Walter Fürnrohr, die deutschen Geschichtsdidaktiker zum ersten Mal zu einer bundesweiten Tagung versammelt. Der Sache nach hat sich damals die Geschichtsdidaktik als wissenschaftliche Disziplin konstituiert, wenngleich die »Konferenz für Geschichtsdidaktik« sich erst im Jahre 1995 die Form eines eingetragenen Vereins gegeben hat. Göttingen ist also gewissermaßen ein geschichtsdidaktischer Erinnerungsort. Unsere Tagung wird dem inhaltlich in zweifacher Weise Rechnung tragen. Mein Vorgänger hier in Göttingen, Horst Kuss, wird uns als Zeitzeuge einige Erinnerungen an die Tagung von 1973 darbieten. Und die Abschlusssektion der Tagung wird unter dem Titel »Zur Zeitgeschichte der Geschichtsdidaktik« das Jubiläum als Anlass zur Beschäftigung mit der eigenen Geschichte und zur Selbstreflexion aufgreifen. Als ich mir den Band zur damaligen Tagung1 angesehen habe, fiel mir auf, wie anders als heute dort gearbeitet wurde: Nicht so sehr forschungsorientiert, nicht nur im klassischen Format des Vortrags, sondern mit einem Schwerpunkt auf der konzeptionellen Selbstverständigung, sehr suchend, sehr diskursiv in unterschiedlichen, auch kleineren Diskussions- und Arbeitsgruppen. Das war vielleicht bezeichnend für diese Phase der Selbstfindung und Etablierung – ich habe es im Rückblick aber auch als sehr lebendig, sehr offen, sehr intensiv wahrgenommen. Unsere diesjährige Tagung findet am selben Ort statt wie die damalige, hier in den Räumen der ehemaligen Pädagogischen Hochschule. Lassen wir uns also vom spiritus loci, von der Erinnerung an 1973, ein wenig beflügeln. 1 Walter Fürnrohr (Hrsg.): Geschichtsdidaktik und Curriculumentwicklung I. Beiträge zur Neugestaltung von Unterricht und Studium. München 1974. 10 Michael Sauer Zum Tagungsthema Zu unserem Tagungsthema nur wenige Worte; Charlotte Bühl-Gramer wird dies nachher in ihrer inhaltlichen Einführung breiter entfalten. Der Titel »Geschichtslernen in biographischer Perspektive« markiert ein Forschungsfeld, das in der Geschichtsdidaktik bislang noch weitgehend ein Desiderat darstellt. Wir wissen wenig über langfristige Prozesse historischer Bewusstseinsbildung und historischen Lernens. Während in vorliegenden empirischen Forschungen der Akzent vor allem auf unterrichts- bzw. schulzeitbezogenen Untersuchungen liegt, ist es hier nötig, vor- und außerschulische Entwicklungsprozesse insbesondere auch in längsschnittlicher Perspektive in den Blick zu nehmen. Dabei geht es einerseits um institutionelle Kontexte – die Funktion und die Ziele von historischem Lernen in außerschulischen Ausbildungskontexten –, andererseits um individuelle Prozesse, also etwa die langfristige Wirksamkeit und Orientierungsfunktion historischen Lernens, die Bedeutung von Geschichte in der nachschulischen Biografie, die Verarbeitung eigener Vergangenheit in autobiografischen Lebenskonstruktionen, die Entwicklung von Geschichtsbewusstsein auf allen Altersstufen – in weites und spannendes Arbeitsfeld also. Innere Entwicklung des Verbandes Es ist eine lange Tradition, dass die oder der Vorsitzende zu Beginn der Zweijahrestagungen über die Entwicklung und Tätigkeit des Verbandes in den letzten beiden Jahren berichtet. Eng verstanden, hätte dieser Bericht seinen Ort eigentlich in der Mitgliederversammlung. Da es aber auch um den Stand der Disziplin in einem weiteren Sinne geht, ist es sicherlich gerechtfertigt und sinnvoll, darüber an dieser Stelle zu sprechen. Ich beginne mit dem Einfacheren, den gewissermaßen technischen Informationen. Mit dem heutigen Tag hat die »Konferenz für Geschichtsdidaktik« 312 Mitglieder, darunter 10 korporative. Wir haben damit nach Gewinnen und Verlusten in den letzten zwei Jahren 29 Mitglieder hinzugewonnen. Zum längerfristigen Vergleich: Vor zehn Jahren hatte die KGD 201 Mitglieder. Wir haben also ein deutliches und kontinuierliches Wachstum zu verzeichnen. Information und Kommunikation Seit 2008 verfügt die KGD über eine sehr funktional eingerichtete Homepage, die als Informations- und Kommunikationsplattform unentbehrlich geworden ist. Dass ein solches Instrument vorher nicht zur Verfügung stand, kann man sich Zum Stand von Disziplin und Verband 11 heute eigentlich gar nicht mehr vorstellen. Dieser Modernisierungsprozess ist im laufenden Jahr um einen weiteren Schritt ergänzt worden. Im März ist unsere Homepage vom Server der Universität Bochum, auf dem sie bislang beheimatet war, auf den Server der Bayerischen Staatsbibliothek und dort in das Portal historicum.net umgezogen. Dieses Portal bietet für einen wissenschaftlichen Fachverband wie den unseren eine inhaltlich hervorragend passende und zudem renommierte Umgebung. Im Berichtszeitraum ebenfalls neu eingerichtet worden sind der Twitter-Account der KGD und die Präsenz auf Academia.edu, zugänglich über unsere Homepage. Ich darf bei dieser Gelegenheit noch einmal darauf hinweisen, dass auf unserer Homepage die Möglichkeit besteht, unter dem Stichpunkt »Forschung« und weiter »Projektübersicht« über Qualifikationsvorhaben zu informieren, die an den einzelnen Standorten laufen. Diese Einträge dienen nicht nur der Information innerhalb der Disziplin, sondern können auch ein Ausweis entsprechender Aktivitäten nach außen hin sein. Deshalb wäre es sehr zu wünschen, dass alle Standorte dieses Instrument konsequent und systematisch nutzen – bislang ist dies leider noch nicht der Fall. Als weiteres neues Medium der Kommunikation und Information hat der Vorstand den Newsletter eingerichtet, der seit 2007 mindestens zwei Mal jährlich erscheint. Diese Innovationen sind vor allem verbunden mit dem Namen von Marko Demantowsky, der damals sein Amt als Öffentlichkeitsreferent im Vorstand der KGD angetreten hat. Er wird mit dem Ende der Wahlperiode morgen turnusgemäß nach sechs Jahren aus seinem Amt ausscheiden. Ihm sei an dieser Stelle sehr herzlich für die Impulse gedankt, die er unserem Verband gegeben hat. Die Vorstandsunterlagen der KGD lagen bislang verstreut bei verschiedenen ehemaligen Vorsitzenden oder Vorstandsmitgliedern. Im März vergangenen Jahres haben wir mit der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) Berlin einen Vertrag über die Archivierung unserer Akten geschlossen. Sie werden dort nicht nur aufbewahrt, sondern ohne Kosten für uns erschlossen und stehen dann für Forschungen zur Geschichte der KGD und der Disziplin zur Verfügung. Nachwuchsförderung Eine wichtige Aufgabe der KGD ist die Nachwuchsförderung. Auf unserer letzten Mitgliederversammlung 2011 haben wir beschlossen, regelmäßig Nachwuchstagungen, jedoch an wechselnden Standorten, stattfinden zu lassen. Dankenswerterweise haben sich damals die Kollegen Tobias Arandt und Manfred Seidenfuß spontan dazu bereiterklärt, die Nachwuchstagung 2012 an der Pädago- 12 Michael Sauer gischen Hochschule Ludwigsburg zu organisieren. Das hat, auch mit einer großen Zahl von Teilnehmern, hervorragend funktioniert. Dafür sei den beiden noch einmal im Namen der gesamten KGD gedankt. Dass die eigentliche Betreuung des Nachwuchses vor Ort an den jeweiligen Standorten erfolgen muss, versteht sich von selbst. Ergänzend stärker ausgebaut werden könnte eine mittlere Ebene, auf der Vorträge oder Kolloquien im Austausch zwischen einzelnen Standorten oder bezogen auf ein Bundesland stattfinden. Dies wäre eine Aufgabe für unsere Regionalgruppen. »Außenbeziehungen« Ich spreche kurz zwei »Außenbeziehungen« der KGD an. Die »Gesellschaft für Fachdidaktik«, zu deren Mitgliedern wir gehören, hat in jüngster Zeit ihre eigenen Aktivitäten verstärkt: Die im Oktober stattfindende Tagung haben wir über unsere Homepage angekündigt, in der Diskussion ist die Gründung einer eigenen Zeitschrift. So sehr eine Kooperation der Fachdidaktiken zu begrüßen ist, die dazu geeignet ist, ihre Position gegenüber den Fachwissenschaften und etwa auch bei der DFG zu stärken, so müssen wir doch auch die mit diesen Aktivitäten verbundenen, im Moment allerdings noch überschaubaren Kostensteigerungen im Blick behalten. Es ist eine gute Tradition, dass der oder die amtierende Vorsitzende der KGD auch als Mitglied in den Ausschuss des Historikerverbands gewählt wird. Dies ist auf der letzten Mitgliederversammlung des Historikerverbands am Rande des Mainzer Historikertags geschehen. Vornehmste Aufgabe des Ausschusses ist die Mitwirkung bei der Planung der Historikertage. Der nächste Historikertag 2014 wird ebenfalls hier in Göttingen stattfinden. Deswegen liegt es mir ganz besonders am Herzen, noch einmal darauf hinzuweisen, dass bis Ende Oktober 2013 Sektionen für den Historikertag beim VHD angemeldet werden können. Der Geschichtsdidaktik stehen traditionell zwei Sektionen zu, bei einer größeren Zahl von Bewerbungen trifft der Ausschuss die Auswahl zwischen diesen. Dasselbe gilt natürlich auch für die Bewerbungen im Bereich der Fachwissenschaft, bei denen stets eine größere Anzahl von Anträgen abgelehnt werden muss. Publikationen der KGD Ich komme zu den Publikationen der KGD, zunächst zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik. Das Jahresheft 2012 war dem Thema »Menschenrechtsbildung, Holocaust Education, Demokratieerziehung« gewidmet, betreut wurde es Zum Stand von Disziplin und Verband 13 von Bettina Alavi und Susanne Popp, die sich damit nach dem turnusgemäßen Ausscheiden aus dem Vorstand gleich in neue Verpflichtungen gestürzt haben. Das aktuelle Heft zum Thema »Visual History« wurde betreut von Markus Bernhardt – die KGD-Mitglieder haben es pünktlich vor unserer Tagung erhalten.2 Allen dreien sei an dieser Stelle noch einmal sehr herzlich für ihre Arbeit gedankt. Der Vorstand ist an dem peer review-Verfahren der Zeitschrift nur mittelbar beteiligt, indem er die zu begutachtenden, vorher anonymisierten Beiträge vom Heftbetreuer an die Gutachter weiterleitet. Dennoch lässt sich nach meinem Eindruck sagen, dass mittlerweile eine gewisse Routinisierung des Verfahrens eingetreten ist. Die Termine werden besser eingehalten, die Gutachten selbst scheinen knapper und punktgenauer zu werden. Eine neue Vereinbarung haben wir im Hinblick auf die Rezensionen in der Zeitschrift getroffen. Sie werden, sofern die jeweiligen Autoren damit einverstanden sind, mit einem Jahr Abstand auf der Rezensionsplattform »Recensio.net« veröffentlicht. Damit werden sie – in guter Gesellschaft mit Besprechungen aus zahlreichen anderen Zeitschriften – für eine größere Öffentlichkeit bequem zugänglich und besser wahrnehmbar, gleichzeitig bleibt unser Interesse und das des Verlags an einer zeitlich begrenzten Exklusivität gewahrt. In der Reihe »Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik« sind seit unserer letzten Tagung zwei Bände erschienen, nämlich die Dissertation von Astrid Schwabe zum Thema »Historisches Lernen im World Wide Web«3 und der Band zu unserer Augsburger Tagung4. In Vorbereitung ist der Band zur Ludwigsburger Nachwuchstagung. Ich darf bei dieser Gelegenheit noch einmal daran erinnern, dass in dieser Reihe, die vom jeweils amtierenden Vorstand herausgegeben wird, sowohl einzelne Forschungsarbeiten wie Tagungsbände erscheinen können. Qualifikationsarbeiten von Mitgliedern werden mit einem Zuschuss von 625 Euro unterstützt. Voraussetzung für die Aufnahme in die Reihe ist bei Dissertationen eine Benotung mit mindestens magna cum laude. 2 Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 11 (2012): Menschenrechtsbildung, Holocaust Education, Demokratieerziehung; Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 12 (2013): Visual History. 3 Astrid Schwabe: Historisches Lernen im World Wide Web: Suchen, flanieren oder forschen? Fachdidaktisch-mediale Konzeption, praktische Umsetzung und empirische Evaluation der regionalhistorischen Website Vimu.info. Göttingen 2012. 4 Susanne Popp/Michael Sauer/Bettina Alavi/Marko Demantowsky/Alfons Kenkmann (Hrsg.): Zur Professionalisierung von Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern. Nationale und internationale Perspektiven. Göttingen 2013. 14 Michael Sauer Geschichtsdidaktische Neuerscheinungen Nur ein kurzer Blick sei auch auf andere Verlage und Reihen geworfen, in denen aktuell Veröffentlichungen zur Geschichtsdidaktik erscheinen. Die Vielzahl der Neuerscheinungen verbietet es, auf einzelne genauer einzugehen. Noch immer an erster Stelle ist hier der Wochenschau-Verlag zu nennen. Mit einiger Verspätung ist dort – herausgegeben von Michele Barricelli und Martin Lücke und unter Beteiligung zahlreicher Kolleginnen und Kollegen – das zweibändige »Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts« erschienen5. In Besprechungen sind konzeptionelle Unausgewogenheiten, zu geringer Praxisbezug und wechselhafte Qualität der Beiträge moniert worden, die sich bei einem Werk dieses Kalibers freilich nur schwer vermeiden lassen. Alles in allem handelt es sich gewiss um eine eindrucksvolle konzeptionelle und natürlich auch organisatorische Leistung, die zur Profilbildung unserer Disziplin beiträgt. Hervorzuheben ist selbstverständlich auch Hans-Jürgen Pandels »Geschichtsdidaktik«6, für die Joachim Rohlfes in der »Zeitschrift für Geschichtsdidaktik« viele lobende, aber durchaus auch hintersinnige Worte gefunden hat: »Es regt an und fordert zu Zustimmung oder Widerspruch heraus – wobei der Widerspruch (einschließlich der Einschränkung) die produktivere Variante darstellt.«7 Erwähnenswert ist gewiss auch der von Christoph Kühberger herausgegebene Band über »Historisches Wissen«, in dem eine ganze Reihe von Kolleginnen und Kollegen wichtige und grundsätzliche begriffliche und konzeptionelle Klärungen vorgenommen hat.8 Schließlich nenne ich den von Johannes Meyer-Hamme, Holger Thünemann und Meik Zülsdorf-Kersting herausgegebenen Sammelband »Was heißt guter Geschichtsunterricht?« mit seinem anregenden Ansatz einer Unterrichtsanalyse im Vergleich.9 Und ganz aktuell zu ergänzen: »Der europäische Bildersaal«, herausgegeben von Susanne Popp und Michael Wobring.10 Hatte bis vor einiger Zeit der Wochenschau-Verlag im Hinblick auf geschichtsdidaktische Veröffentlichungen nahezu eine Monopolstellung inne, so hat sich mittlerweile das Verlagsangebot deutlich verbreitert. In der Reihe »Geschichtskultur und historisches Lernen« des LIT-Verlages, herausgegeben 5 Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. 2 Bde. Schwalbach/Ts. 2012. 6 Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis. Schwalbach/Ts. 2013. 7 Joachim Rohlfes: Rezension in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 12, 2013, S. 236. 8 Christoph Kühberger (Hrsg.): Historisches Wissen. Geschichtsdidaktische Erkundung zu Art, Tiefe und Umfang für das historische Lernen. Schwalbach/Ts. 2012. 9 Johannes Meyer-Hamme/Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Was heißt guter Geschichtsunterricht? Perspektiven im Vergleich. Schwalbach/Ts. 2012. 10 Michael Wobring/Susanne Popp: Der europäische Bildersaal. Bilder, die Geschichte machen. Schwalbach Ts. 2013. Zum Stand von Disziplin und Verband 15 von Bernd Schönemann und Saskia Handro, sind die Dissertationen von Barbara Hanke, Kristina Lange und Martin Schlutow sowie die Habilitationsschrift von Olaf Hartung erschienen, außerdem das dreibändige Werk von Wolfgang Jacobmeyer zur Geschichte des deutschen Schulgeschichtsbuchs.11 Dazu kommt die Reihe »Zeitgeschichte – Zeitverständnis« mit zwei kleineren Abschlussarbeiten.12 Noch jung ist die Reihe »Historica und Didactica« im Röhrig Universitätsverlag. Dort sind im betreffenden Zeitraum der von Bärbel Kuhn und Susanne Popp herausgegebene Band über »Kulturgeschichtliche Traditionen der Geschichtsdidaktik«, zwei von Bärbel Kuhn und Astrid Windus herausgegebene Bände über »Religiöse Dimensionen im Geschichtsunterricht« sowie »Umwelt und Klima im Geschichtsunterricht« sowie schließlich ein Band von Susanne Popp und Mitarbeitern über »Flugblätter – Plakate – Propaganda« erschienen.13 Ebenfalls recht neu ist das geschichtsdidaktische Programm des Kohlhammer Verlags. In der von Werner Heil herausgegebenen Reihe »Geschichte im Unterricht« sind bislang vor allem seine eigenen Arbeiten herausgekommen; mit seinem recht speziellen Ansatz eines kompetenzorientierten Geschichtsunterrichts hat er sich mittlerweile in vier Bänden bis in die Zeitgeschichte durchgearbeitet.14 Zwei Bände sind bislang in der von Gerhard Fritz herausgegebenen 11 Barbara Hanke: Geschichtskultur an höheren Schulen von der Wilhelminischen Ära bis zum Zweiten Weltkrieg. Das Beispiel Westfalen (Geschichtskultur und historisches Lernen Bd. 6). Berlin 2011; Kristina Lange: Historisches Bildverstehen oder Wie lernen Schüler mit Bildquellen? Ein Beitrag zur geschichtsdidaktischen Lehr-Lern-Forschung (Geschichtskultur und historisches Lernen Bd. 7). Berlin 2011; Martin Schlutow: Das Migrationsmuseum. Geschichtskulturelle Analyse eines neuen Museumstyps (Geschichtskultur und historisches Lernen Bd. 10). Berlin 2012; Olaf Hartung: Geschichte Schreiben Lernen. Empirische Erkundungen zum konzeptionellen Schreibhandeln im Geschichtsunterricht (Geschichtskultur und historisches Lernen Bd. 9). Berlin 2013; Wolfgang Jacobmeyer : Das deutsche Schulgeschichtsbuch 1700 – 1945. Die erste Epoche seiner Gattungsgeschichte im Spiegel der Vorworte. 3 Bde. (Geschichtskultur und historisches Lernen Bd. 8). Berlin 2011. 12 Lisa Marie Hauschke: Empirische Untersuchungen zur Relevanz historischer Fragen im Geschichtsunterricht aus Lehrerperspektive (Zeitgeschichte – Zeitverständnis Bd. 24). Berlin 2012; Lisa Rodenhäuser : Zwischen Affirmation und Reflexion. Eine Studie zur Rezeption von Zeitzeugen in Geschichtsdokumentationen (Zeitgeschichte – Zeitverständnis Bd. 25). Berlin 2012. 13 Bärbel Kuhn/Susanne Popp (Hrsg.): Kulturgeschichtliche Traditionen der Geschichtsdidaktik. St. Ingbert 2011; Bärbel Kuhn/Astrid Windus (Hrsg.): Religiöse Dimensionen im Geschichtsunterricht. St. Ingbert 2012. Bärbel Kuhn/Astrid Windus (Hrsg.): Umwelt und Klima im Geschichtsunterricht. St. Ingbert 2013; Michael Wobring/Susanne Popp/Daniel Probst/Claudius Springkart (Hrsg.): Flugblätter – Plakate – Propaganda. Die Arbeit mit appellativen Bild-Text-Dokumenten im Geschichtsunterricht. St. Ingbert 2013. 14 Werner Heil: Vorantike und antike Welt. Kompetenzorientiert unterrichtet nach dem Stuttgarter Modell. Stuttgart 2011; Werner Heil: Welt des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Stuttgart 2012; Werner Heil: Neuzeit. Das 19. Jahrhundert. Stuttgart 2013; Werner Heil: Zeitgeschichte. Das 20. Jahrhundert. Stuttgart 2013. 16 Michael Sauer Reihe »Einführung in das Geschichtsstudium an Pädagogischen Hochschulen« erschienen, darunter ein Lehrbuch zur Geschichtsdidaktik, das sich speziell an Studierende des Grund-, Haupt- und Realschullehramts richtet.15 Selbstverständlich gibt es neben diesen erwähnten noch eine Vielzahl weiterer Veröffentlichungen an verschiedenen Orten, dazu zahlreiche unterrichtspraktische Arbeiten und natürlich die obligatorischen Zeitschriften. Hier ein Resümee zu ziehen fällt schwer. Man wird gewiss sagen können, dass die Produktivität der Disziplin im Laufe der Jahre immer weiter zugenommen und ein recht beeindruckendes Niveau erreicht hat. Neben wissenschaftlichen Studien im engeren Sinne spielen Veröffentlichungen mit Lehrbuch- oder Handreichungscharakter eine wichtige Rolle. Für eine Vermittlungswissenschaft ist dies ein genuines Aufgabenfeld. Schließlich geht es darum, Erkenntnisse und Anregungen der Geschichtsdidaktik für Schule und Lehrerbildung fruchtbar zu machen. Diesen oft geforderten Praxisbezug, der freilich nicht kurzschlüssig und banal gedacht werden darf, scheint mir unsere Disziplin alles in allem durchaus zu leisten. Das inhaltliche Spektrum der Veröffentlichungen ist außerordentlich weit. Greift man etwas weiter aus und lässt etwa die letzten fünf Jahre Revue passieren, dann hat vor allem die Zahl, aber auch die inhaltliche und methodische Bandbreite empirischer Arbeiten in geradezu erstaunlicher Weise zugenommen, wenngleich vieles davon nicht in Buchform erschienen ist. Auch im Felde der Geschichtskultur sind zahlreiche Arbeiten herausgekommen, obwohl sich hier im Vergleich mit der Geschichtswissenschaft und dem Paradigma der »Erinnerungskultur« die begrenzten Ressourcen unserer Disziplin schmerzlich bemerkbar machen. Weniger Aufmerksamkeit als in anderen Fachdidaktiken scheint mir bislang noch immer die Lehrerforschung gefunden zu haben, obgleich unsere letzte Zweijahrestagung diesem Thema gewidmet war und einzelne Untersuchungen im Entstehen sind. Wer sich in einer Wissenschaftsdisziplin insbesondere als Einsteiger orientieren will, benötigt Hilfestellung. Ein wichtiges Instrument dafür sind Bibliografien. Ich darf bei dieser Gelegenheit noch einmal darauf hinweisen, dass angebunden an unsere Homepage eine gut strukturierte Auswahlbibliografie zu finden ist, die Markus Bernhardt und Marko Demantowsky in Fortführung der Arbeit von Hilke Günther-Arndt erstellt haben. Nützlich scheint mir dort vor allem auch der Verweis auf englischsprachige Titel zu sein. 15 Gerhard Fritz (Hrsg.): Fachwissenschaft. Ein Studienbuch für Studierende Grund-, Hauptund Realschule. Stuttgart 2011; Gerhard Fritz (Hrsg.): Geschichte und Fachdidaktik. Ein Studienbuch für Studierende Grund-, Haupt- und Realschule. Stuttgart 2012. Zum Stand von Disziplin und Verband 17 Stellenausschreibungen und Berufungen Zentral für das Standing einer wissenschaftlichen Disziplin ist natürlich ihre personelle Verankerung an den Universitäten. Seit unserer letzten Tagung hat es erfreulicherweise eine ganze Reihe von Ausschreibungen für geschichtsdidaktische Professuren gegeben; dabei handelt es sich zum Teil um neu geschaffene Stellen, so in Aachen, Bonn, Köln, Mainz, Paderborn und zuletzt Rostock. Von Seiten der Institutionen wird bei solchen Verfahren in letzter Zeit – wie auch bei anderen Fachdidaktiken – stets beklagt, der »Markt sei leergefegt«. Insofern sind die Berufschancen für promovierte und darüber hinaus erkennbar breiter ausgewiesene Nachwuchswissenschaftler im Moment gerade noch günstig; dieses Zeitfenster wird sich jetzt allerdings wohl rasch schließen. Bei den Berufungsverfahren ist zum Teil wieder einmal deutlich geworden, dass das bei den Fachdidaktiken nachgefragte Qualifikationsprofil im Vergleich mit den Fachwissenschaften einigermaßen unscharf ist und sich die Erwartungshaltungen nicht unbedingt an disziplinspezifischen Qualitätsstandards orientieren. Man sucht dann etwa nach dem bewährten Praktiker, der sicherlich auch gut Studierende im Praktikum betreuen könne. Das Gegenteil davon ist der vorwiegend fachwissenschaftlich ausgewiesene Kollege, der aber auch schon einmal im Bereich der Geschichtsdidaktik publiziert hat. Das solche Auffassungen und daraus resultierende Berufungen einer klaren Profilbildung der Geschichtsdidaktik nach innen und außen nicht förderlich sind, liegt auf der Hand. Mir scheint es deshalb wichtig zu sein, dass wir uns innerhalb der Disziplin bei der Mitwirkung an solchen Verfahren an einem klaren geschichtsdidaktischen Anforderungsprofil in Forschung und Lehre orientieren und dieses vertreten, wobei natürlich ein solider Praxishintergrund sehr erwünscht ist und fachwissenschaftliche Publikationen eine ergänzende Qualifikation bilden. Begutachtung von Forschungsanträgen Einen ähnlichen Appell möchte ich aussprechen im Hinblick auf die Begutachtung von Forschungsanträgen. Ich habe den Eindruck, dass Anträge von Kolleginnen und Kollegen insbesondere in DFG-Verfahren aus der Disziplin selbst bisweilen allzu kritisch beurteilt werden. Wir kennen alle die strukturellen Probleme, mit denen wir es zu tun haben: Es gibt kein Fachkollegium für die Fachdidaktiken, die abschließende Entscheidung über Anträge aus der Geschichtsdidaktik werden deshalb – je nach Selbsteinordnung des Antragstellers – in den Fachkollegien Geschichtswissenschaften, Erziehungswissenschaft oder Psychologie gefällt. In allen drei Gremien wird man nicht unbedingt von 18 Michael Sauer vornherein Verständnis für die Forschungsfragen und -methoden der Geschichtsdidaktik voraussetzen können. Die Gutachter dagegen kommen in der Regel aus unserer eigenen Disziplin. Umso wichtiger ist es, dass sie unsere Anträge – selbstverständlich unter Wahrung fachlicher Standards – mit einer kollegialen Grundeinstellung wahrnehmen und gewissermaßen Übersetzungsarbeit zu leisten versuchen. Überkritische Begutachtungen dagegen lassen unsere Disziplin in den Gremien als generell nicht antragsfähig erscheinen – damit wird dem Standing der Disziplin ein Bärendienst geleistet. Umfrageergebnisse Hiermit komme ich zu den Ergebnissen der Umfrage zum Stand der Disziplin. Susanne Popp hat als Vorsitzende dieses Instrument ins Leben gerufen. Ich habe die Zahl der Fragen in diesem Jahr etwas erweitert und vor allem einer Gesamteinschätzung der Lage des Fachs mehr Platz eingeräumt – durchaus in dem Bewusstsein, dass eine Auswertung der offenen und weitgespannten Fragestellung schwierig sein dürfte. Geschlossene Items wurden schlicht nach Häufigkeitsverteilung ausgewertet; bei offenen Items wurden die Antworten in Kategorien zusammengefasst, von denen ich mich hier nur auf die meistgenannten beziehe. Wir haben insgesamt 58 Standorte angeschrieben; es gab 41 Rückmeldungen, wobei in 5 Fällen die Konzeption des Fragebogens als für den Standort nicht oder nur teilweise passend bezeichnet wurde. Es geht hier also im Kern um die Auswertung von 36 Antworten, das sind knapp zwei Drittel der Standorte. Ausstattung Die personelle Ausstattung wurde in Bezug auf die Lehre von 47 Prozent als ausreichend, von 53 als unzureichend bewertet. Im Hinblick auf die Forschung ist die Unzufriedenheit noch stärker ausgeprägt: Hier beurteilen nur 41 Prozent die Ausstattung als ausreichend, 59 als unzureichend. Bei der Lehre wird am häufigsten eine generelle Unterversorgung mit Stellen genannt, an zweiter Stelle mangelnde Kontinuität beim Personal. Hohe zeitliche Belastungen durch Lehre, Prüfungen und Korrekturen werden als Problem bei der Lehre, aber noch stärker als Hindernis bei der Forschung angeführt; es seien keine ausreichenden Zeitressourcen für Forschung und insbesondere für Antragstellungen vorhanden. Etwas positiver beurteilt wird die finanzielle Ausstattung: 53 Prozent betrachten sie als ausreichend, 44 als unzureichend. Insgesamt stellt die Ausstattung of- Zum Stand von Disziplin und Verband 19 fensichtlich ein erhebliches Problem dar, auch wenn man in Rechnung stellt, dass entsprechende Wunschvorstellungen prinzipiell nach oben offen sind.16 Verhältnis zur Fachwissenschaft Das Verhältnis zur Fachwissenschaft vor Ort wird mit 64 Prozent überwiegend positiv eingeschätzt, von 19 Prozent als schwierig – das ist kein ideales, aber doch immerhin auch kein allzu problematisches Ergebnis. Die freien Äußerungen zu diesem Item weisen keine eindeutigen Schwerpunkte auf, positiv genannt werden sowohl individuelle Faktoren – angenehme kollegiale Kontakte – wie strukturelle Voraussetzungen, negativ eine Vernachlässigung von Seiten der Fachwissenschaft und eine Reduzierung des Didaktikbildes auf Lehrerausbildung und Unterrichtsmethodik. Studiengänge Der Didaktikanteil an den Lehramtsstudiengängen wird von 67 Prozent als genau richtig angesehen, 30 Prozent halten ihn für zu gering. Eine Veränderung der Studiengänge gab es in den letzten beiden Jahren in 37 Prozent der Fälle. In 84 Prozent davon ist es zu einer Erhöhung des Anteils der Geschichtsdidaktik gekommen. Die Effekte der Modularisierung werden in 64 Prozent aller Antworten positiv gesehen, in 25 negativ, bei 11 Prozent gibt es keine Angaben. Das meistgenannte Positiv-Argument ist die Etablierung einer klaren konsekutiven Struktur, das häufigste Negativ-Stichwort »Verschulung« mit inhaltlicher Einengung und erhöhtem Verwaltungsaufwand – man sieht, dass dasselbe Phänomen hier sehr unterschiedlich wahrgenommen wird. Das gilt auch für die Praxissemester. Mit diesen sind an den meisten Standorten noch keine Erfahrungen gesammelt worden; wo sie vorliegen, werden sie 16 Im Hinblick auf die personelle und finanzielle Ausstattung waren bereits auf der Göttinger Geschichtsdidaktik-Tagung vor 40 Jahren Wünsche formuliert worden, die zum Teil noch heute aktuell sind. Unter Leitung von Walter Fürnrohr hatte eine Diskussionsrunde zum Thema »Das Studium der Geschichtsdidaktik im Rahmen der Ausbildung von Lehrern für die Sekundarstufen« eine Resolution verabschiedet. In Punkt 5 heißt es dort: »Entsprechend ihren umfangreichen Aufgaben in Forschung und Lehre muß die Didaktik der Geschichte personell und finanziell besser ausgestattet werden: insbesondere müssen über den Aufbau von Fachbibliotheken und Mediotheken hinaus Mittel für empirische Forschung zur Verfügung gestellt werden sowie die technische Ausstattung zur Unterrichtsbeobachtung, die auch den nötigen schulpraktischen Studien im Rahmen fachdidaktischer Ausbildung dienen.« Walter Fürnrohr (Hrsg.): Geschichtsdidaktik und Curriculumentwicklung I. Beiträge zur Neugestaltung von Unterricht und Studium. München 1974, S. 359. 20 Michael Sauer jeweils zur Hälfte als problematisch oder als positiv beschrieben. Stichworte aus den Begründungen: Dafür spreche, dass Studierende für einen längeren Zeitraum einen realistischen Einblick in die Bedingungen und Anforderungen des Lehrerberufs erhielten. Genau gegenläufig wird moniert, dass im Praxissemester Didaktik auf Methodik reduziert werde; außerdem gebe es einen erhöhten Bürokratieaufwand. Die prospektive Einschätzung einer Einführung von Praxissemestern fällt mit 39 zu 28 Prozent leicht positiver aus. Erhofft wird vor allem eine sinnvolle Verbindung von Theorie, Empirie und Praxis, befürchtet werden eine Verwischung der Ausbildungsstruktur, eine Reduzierung der fachdidaktischen, eher theoretisch-konzeptionellen Grundausbildung sowie Kapazitätsprobleme, da der Arbeitsaufwand völlig unrealistisch eingeschätzt werde. An elf Standorten ist die Geschichtsdidaktik in den letzten zwei Jahren evaluiert worden – eine erstaunlich hohe Zahl. In sechs Fällen hat der Evaluationsbericht eine Verbesserung der Ausstattung für die Geschichtsdidaktik gefordert, in vier davon wurden die Verbesserungen auch realisiert. Qualifikationsarbeiten An 30 Prozent der Standorte gab es in den letzen zwei Jahren Promotionen. Die durchschnittliche Anzahl der Promotionen dort lag bei 1,75. Laufende Promotionsprojekte gibt es an 75 Prozent der Standorte, und zwar im Mittel 3,3. Weitaus seltener sind Habilitationen: Es gab an vier Standorten jeweils eine Habilitation, entsprechende Vorhaben werden allerdings für 14 Standorte angegeben. Drittmitteleinwerbungen gab es insgesamt an 72 Prozent aller Standorte mit einer durchschnittlichen Anzahl von 2,4 Projekten. Darunter sind allerdings nur drei DFG-Projekte. Das thematische Spektrum ist sehr weit gespannt, mehrfach genannt werden interkulturelles Geschichtslernen und Geschichtskultur. An internationalen Kooperationen beteiligt sind beeindruckende 61 Prozent der Standorte. Standing der Geschichtsdidaktik »Wie würden Sie insgesamt das heutige Standing der Geschichtsdidaktik in Deutschland charakterisieren? Welche Potentiale, Probleme und Desiderate sehen Sie?« So lautete das letzte, komplexe Item des Fragebogens. Hierauf hat es in vielen Fällen sehr ausführliche und detaillierte Antworten gegeben, die in den Aspekten und Einschätzungen weit gestreut sind und sich nur schwer pointiert Zum Stand von Disziplin und Verband 21 zusammenfassen lassen. Ich führe lediglich einige häufiger genannte Gesichtspunkte an. Positiv hervorgehoben wird der nachholende Anschluss der Geschichtsdidaktik an die empirische Forschung. Die empirische Unterrichtsforschung solle in Zusammenarbeit mit Bildungswissenschaftlern weiter ausgebaut werden. Als Themen werden die Kompetenzentwicklung von Schülerinnen und Schülern und von Lehrkräften sowie Forschungen zum Unterrichtsgeschehen und zum historischen Lernen außerhalb der Institution Schule genannt. Positiv vermerkt wird auch, dass die Geschichtsdidaktik erfolgreich neue Forschungsgebiete für sich erschlossen habe, insbesondere das Konzept Geschichtskultur biete weitere Potentiale mit theoretischen und empirischen Forschungsperspektiven und Anknüpfungsmöglichkeiten zur Fachwissenschaft. Konstatiert wird eine Bedeutungszunahme der Lehramtsausbildung generell sowie auch ein höherer Stellenwert und eine breitere Aufstellung der Geschichtsdidaktik innerhalb der Studiengänge. Probleme werden bei der Akzeptanz und Resonanz vonseiten der Nachbardisziplinen, der Praktiker und der Öffentlichkeit gesehen. Bei der Fachwissenschaft stoße die Geschichtsdidaktik auf wenig Interesse und habe nur ein geringes Ansehen, sie werde reduziert auf Unterrichtsmethodik, ihr Profil erscheine unklar. Die Kompetenzdebatte findet unterschiedliche Beurteilungen: Auf der einen Seite wird mehrfach eine zu starke Theorieorientierung beklagt und eine stärker pragmatische Ausrichtung gefordert, auf der anderen Seite eine Stärkung der Theorie präferiert. Folgende Desiderate werden erkennbar : Für die Forschung müsse die Geschichtsdidaktik besser ausgestattet werden. Der Zugang zu Drittmitteln solle verbessert werden. Es müsse eine bessere Kooperation mit der Fachwissenschaft entwickelt werden mit intensiverer Wahrnehmung der fachlichen Fragen in beiden Richtungen und stärkerer Einbindung in gemeinsame Forschung und Lehre. Die Nachwuchsförderung müsse intensiviert werden mit einem klaren geschichtsdidaktischen Qualifikationsprofil. Bilanz der Befragung Der Gesamteindruck dieser Befragungsergebnisse ist also durchaus ambivalent. Genannt werden Monita und Desiderata. Deutlich treten konkrete und grundsätzliche Hemmnisse zutage, vor allem die Belastung durch Lehr- und Prüfungsaufgaben, die bei uns offenbar erkennbar stärker ausgeprägt ist als bei den Kolleginnen und Kollegen aus der Fachwissenschaft. Es scheint mir wichtig, dass diese besonderen Belastungen auch außerhalb, also in der Fachwissenschaft und in den Hochschulen generell, wahrgenommen werden. Aber die Befragung zeigt 22 Michael Sauer auch, dass es Aktivitäten, Erfolge und Verbesserungen gibt, mit denen wir gerade angesichts der überschaubaren Ressourcen der Disziplin zufrieden sein dürfen. Charlotte Bühl-Gramer Geschichtslernen in biografischer Perspektive – Nachhaltigkeit – Entwicklung – Generationendifferenz. Einführung in das Tagungsthema1 »Der Unterricht über Weltgeschichte in den sogenannten Mittelschulen liegt nun freilich auch heute noch sehr im argen. Wenige Lehrer begreifen, daß das Ziel gerade des geschichtlichen Unterrichtes nie und nimmer im Auswendiglernen und Herunterhaspeln geschichtlicher Daten und Ereignisse liegen kann; daß es nicht darauf ankommt … wann diese oder jene Schlacht geschlagen, ein Feldherr geboren wurde, oder gar ein (meistens sehr unbedeutender) Monarch die Krone seiner Ahnen auf das Haupt gesetzt erhielt. Nein … darauf kommt es wenig an … Es wurde vielleicht bestimmend für mein ganzes späteres Leben, daß mir das Glück einst gerade für Geschichte einen Lehrer gab, der … es verstand, aus Gegenwart Vergangenes zu erleuchten, aus Vergangenheit aber die Konsequenzen für die Gegenwart zu ziehen … Mir hat dieser Lehrer Geschichte zum Lieblingsfach gemacht … Die Art des geschichtlichen Denkens, die mir so in der Schule beigebracht wurde, hat mich in der Folgezeit nicht mehr verlassen. Weltgeschichte ward mir immer mehr zu einem unerschöpflichen Quell des Verständnisses für das geschichtliche Handeln der Gegenwart, also für Politik.«2 Dieses autobiografische Selbstzeugnis könnte als ein Beispiel für die langfristige Wirksamkeit und Orientierungsfunktion historischen, unterrichtlichen Lernens in der nachschulischen Biografie gelesen werden. Zweifelsohne ist diese Textpassage aber auch ein Beleg für Hitlers Interesse, »…im biographischen Beginn bereits den späteren Revolutionär durchscheinen zu lassen«3 und damit auch die nachhaltige Wirkung des Geschichtsunterrichts durch seinen Lehrer Leopold Pötsch für den eigenen politischen Werdegang in ideologischer und propagandistischer Absicht als höchst bedeutsam zu stilisieren. Damit verweist dieses plakative Beispiel ja bereits auf drei Problemfelder des Tagungsthemas: 1. Autobiografische Selbstzeugnisse können als Quellengattung Auskunft über den Beitrag von Geschichtslernen und Geschichtsbewusstsein sowie zur personalen (biografischen) und sozialen (kommunikativen) historischen 1 Der Vortragstext wurde nur geringfügig verändert und mit Fußnoten versehen. Der Vortragsduktus ist im Wesentlichen erhalten geblieben. 2 Adolf Hitler : Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band. München 1934, S. 12 – 14. 3 Barbara Zehnpfennig: Adolf Hitler : Mein Kampf. Studienkommentar. München 2011, S. 19. 24 Charlotte Bühl-Gramer Identität geben.4 In der Forschungspraxis werden sie allerdings häufig nur als Steinbruch genutzt, um einzelne Stücke als historische Fakten herauszubrechen.5 Die erzählte Lebensgeschichte ist jedoch mit dem Lebensgeschehen nicht deckungsgleich. Daher können autobiografische Selbstzeugnisse anstelle der Frage nach der »Wahrheit« vor allem Fragen nach der kommunikativen Wirklichkeit und den Modi historischer Selbstthematisierung, die sich im autobiografischen Erzählen ausdrücken und formieren, beantworten. Deutlich wird daher an diesem Beispiel also in erster Linie, dass der Autor Wert darauf legt, seinen Geschichtsunterricht und seine Relevanzzuschreibungen von Geschichte als für sein weiteres Leben prägend und handlungsleitend darzustellen, er also in seinem retrospektiven Selbstentwurf eine Bedeutungszuweisung von Geschichte und Geschichtsunterricht für sein späteres Leben modelliert. 2. Nachhaltigkeit von Geschichtslernen und Geschichtsunterricht oder die Behauptung derselben ist kein Qualitätskriterium per se, sondern muss um andere Qualitätskriterien, wie etwa der Wissenschafts- und Quellenorientierung, ergänzt werden. Dabei enthüllt das eingangs angeführte Beispiel natürlich kein Novum geschichtsdidaktischer Forschung. Bereits 1986 stellte Bodo von Borries fest, dass die Kenntnis des Nationalsozialismus als »geschichtsgesättigte Bewegung« definitiv vor einem platten und selbstverständlichen Lob von Geschichtslernen und Geschichtsbewusstsein warnen sollte.6 3. Bleibt man bei diesem Beispiel, so ist überdies zu konstatieren, dass man bei heute negativ bewerteten Geschichtsepochen wie Kaiserreich und Nationalsozialismus relativ zuversichtlich ist, dem Geschichtsunterricht nachhaltige, negative Wirkmächtigkeit im Hinblick auf eine ganze Generation bescheinigen zu können, auch wenn umfassende empirische Belege dafür fehlen. Wenig zuversichtlich scheint man dagegen, was die langfristige Wirkkraft von Geschichtsunterricht in positiv konnotierten Epochen anbelangt. Auch diese sind in lebenslanger Perspektive bislang nicht erforscht – vielleicht gibt es diese aber auch nicht. Die Einführung in das weite Feld unseres Tagungsthemas versteht sich daher vor allem als knappe Problemanzeige rund um die Begriffstrias »Nachhaltigkeit«, »Entwicklung«, »Generationendifferenz«, denn als tour d’horizon durch 4 Bodo von Borries: Historisches Lernen und historische Identität im Spiegel von Autobiographien. Über Geschichtssozialisation vom Zweiten bis zum Dritten Reich. In: Hans Georg Kirchhoff (Hrsg.): Neue Beiträge zur Geschichtsdidaktik. Bochum 1986, S. 175 – 197, hier S. 178. 5 Volker Depkat: Nicht die Materialien sind das Problem, sondern die Fragen, die man stellt. Zum Quellenwert von Autobiographien für die historische Forschung. In: Thomas Rahtmann/Nikolaus Wegmann (Hrsg.): Quelle. Zwischen Ursprung und Konstrukt. Ein Leitbegriff in der Diskussion. Berlin 2004, S. 102 – 117, hier S. 109. 6 Borries (Anm. 4), S. 178. Geschichtslernen in biografischer Perspektive 25 geschichtsdidaktische Forschungsbilanzen und -ergebnisse und soll in den Blick rücken, worüber wir alles nichts oder fast noch nichts wissen. 1. Nachhaltigkeit von Geschichtslernen Aus lerntheoretischer Sicht stellt Nachhaltigkeit den subjektiven Lernprozess und damit verbundene langanhaltende Wirkungen von Bildungsinterventionen und damit die Frage nach Aufgabenformaten, Methoden und Lehr-Lern-Konzepten ins Zentrum der Betrachtung, die den Erwerb eines anschlussfähigen historischen Wissens fördern. Überdies bezieht sich die Frage nach Nachhaltigkeit von (Geschichts-)Lernen nicht nur auf Lernwirkungen, sondern auch auf das Lernverhalten selbst, nämlich inwieweit dieses auch zukünftiges Lernen, also lebenslanges, selbstgesteuertes formelles und informelles Lernen sowie eine Lernbereitschaft in der nachschulischen Biografie ermöglicht – ein Anspruch, den der Deutsche Bildungsrat bereits 1970 formuliert hatte.7 Allerdings wurde die Vorstellung, dass historische Erkenntnis als Ergebnis von Geschichtslernen für die Orientierung des Menschen in der Gegenwart eine prinzipielle und damit auch nachschulisch biografisch relevante Notwendigkeit darstellt, bereits in den Anfängen von historischer Instruktion schon immer mitgedacht. Droysen betont sogar die grundsätzliche Bildungsfunktion historischen Denkens überhaupt.8 Das Ziel nachhaltigen Geschichtslernens entstammt also nicht ausschließlich der bildungstheoretischen Debatte von der Wissensgesellschaft, ihrem raschen, dynamischen Wandel von Wissen und der daraus resultierenden Kompetenzorientierung und Schlüsselqualifikationsdebatte. Bislang vorliegende empirische Forschungen zu wichtigen Einflussfaktoren auf die Nachhaltigkeit von Geschichtslernen in biografischer bzw. subjektorientierter Perspektive legen den Akzent vor allem auf unterrichtsbezogene Untersuchungen im Kontext der Entwicklung kindlichen und jugendlichen Geschichtsbewusstseins als analytische Kategorie.9 Dabei ist die Relevanzzuschreibung von »Geschichte« für das eigene Leben durch die Schülerinnen und Schüler ein zentraler Faktor historischer Bildung – darauf hat Johannes MeyerHamme noch einmal jüngst hingewiesen.10 Neben dem Kriterium der sozialen 7 Deutscher Bildungsrat (Hrsg.): Empfehlungen der Bildungskommission. Strukturplan für das Bildungswesen. Stuttgart.1970, S. 33. 8 Jörn Rüsen: Droysen heute – über verlorene Themen der Historik. In: ders.: Kultur macht Sinn. Orientierung zwischen Gestern und Morgen. Köln u. a. 2006, S. 31 – 62, hier S. 54. 9 Nicola Eisele-Brauch: Nachhaltiges historisches Lernen als Gegenstand empirischer Lehr/ Lernforschung. Ein Rückblick auf den Tagungssommer 2009. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 9 (2010), S. 143 – 159. Vgl. die Beiträge zu Sektion zwei in diesem Band. 10 Johannes Meyer-Hamme: Subjektorientierte historische Bildung. Geschichtslernen in der 26 Charlotte Bühl-Gramer Herkunft rücken beispielsweise die Kategorie Geschlecht und geschlechtsspezifische Interessen sowie die Bedeutung bzw. Berücksichtigung heterogener kultureller Zugehörigkeiten und Erinnerungsmilieus in der Migrationsgesellschaft in den Fokus geschichtsdidaktischer Forschung.11 Nachhaltige Lernerfahrungen scheinen also vor allem dann möglich, wenn die Schülerinnen und Schüler eine biografisch empfundene Bedeutung des Lerngegenstandes erkennen können bzw. diese durch Lehrkraft und Unterricht hergestellt werden kann. Allerdings ist an dieser Stelle auf die Befunde zur Tradierung von Geschichtsbewusstsein durch familiäre, intergenerationelle Kommunikation hinzuweisen, nach denen die Deutungen der familiären Geschichtsproduktion (als emotionales Geschichtsbewusstsein) und das Wissen aus dem schulischen Geschichtsunterricht im Bereich der Zeitgeschichte (als kognitive Dimension des Geschichtsbewusstseins) sich dabei zumeist nicht relationieren und für die Schülerinnen und Schüler biografisch hoch relevante Familiengedächtnisse als »private Zugänge zur Weltgeschichte«12 demnach wesentlich höhere Nachhaltigkeit auf das Geschichtsbewusstsein entfaltet als der Geschichtsunterricht.13 Auseinandersetzung mit widersprüchlichen Deutungsangeboten zur DDR-Geschichte. In: Deutschland Archiv 6/2012, URL: www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschland archiv/139259/subjektorientierte-historische-bildung?p=0 (abgerufen am 14. 6. 2913); ders./Bodo von Borries: »Sinnbildung über Zeiterfahrung«? Geschichtslernen im Spannungsfeld von Subjekt- und Institutionsperspektive. In: Hans-Christoph Koller (Hrsg.): Sinnkonstruktion und Bildungsgang. Zur Bedeutung individueller Sinnzuschreibungen im Kontext schulischer Lehr-Lern-Prozesse. Opladen 2008, S. 107 – 135. 11 Viola Georgi: Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland. Hamburg 2003; Meik Zülsdorf-Kersting: Sechzig Jahre danach. Jugendliche und Holocaust. Eine Studie zur geschichtskulturellen Sozialisation. Münster 2007; Viola Georgi/Rainer Ohliger : Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft. Hamburg 2009. Vgl. dazu auch den Beitrag von Lale Yildirim in diesem Band. 12 Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. München 2007, S. 70. 13 Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall: Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Unter Mitarbeit von Olaf Jensen und Torsten Koch. Frankfurt 2002; Hartmut Radebold (Hrsg.): Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen. München 2008. Janina Zölch betont eine noch ausstehende »Theorie der konkreten Weitergabe von Geschichtsbewußtsein«. Janina Zölch: Intergenerationelle Weitergabe des Geschichtsbewußstseins in deutschen Familien. Überlegungen zu markanten Befunden und ihrer Bedeutung – unter besonderer Berücksichtigung von rechtsextrem orientierten Mädchen und jungen Frauen. In: Alexandra Bauer (Hrsg.): Sozialisation und Unterricht im Kontext von Geschichte, Politik und Gesellschaft. Studien zur Rahmung und Konturierung historisch-politischen und sozialwissenschaftlichen Lernens. Hamburg 2006, S. 335 – 379, hier S. 348; Carlos Kölbl/Anna Schrack: Geschichtsbewusstsein intergenerational. In: Journal für Psychologie 21 (2013), H. 2, S. 1 – 28. In soziologischer Perspektive: Gerd Sebald u. a. (Hrsg.): Soziale Gedächtnisse. Selektivitäten in Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus. Bielefeld 2011. Geschichtslernen in biografischer Perspektive 27 Dabei verlässt die Tradierungsforschung derzeit nicht nur Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg als Forschungsthema14, sondern wendet sich auch anderen Tradierungsinstanzen von Geschichtsbewusstsein, wie etwa den peer groups, zu.15 In diesem Zusammenhang ist schließlich auf konzeptioneller Ebene auch die Einbeziehung geschichtskultureller Themen und Zugänge im Schulunterricht anzuführen, denen die Geschichtsdidaktik in den letzten Jahren mit guten Gründen einen hohen Stellenwert zuweist.16 Die lebensweltliche Präsenz von Geschichtskultur, verbunden mit der normativen Vorgabe, als Ziel des Geschichtsunterrichts Schülerinnen und Schüler zur Teilhabe an der Geschichtskultur zu befähigen, rückt damit als ein weiterer Faktor in den Blick, von dem man sich quasi prospektiv, über schulischen Unterricht hinaus, nachhaltige geschichtsrelevante Wirkungseffekte verspricht, womit sich informelles Geschichtslernen und Lernbereitschaft in die nachschulische Biografie überführen ließen. Um über die Schule hinaus nachhaltige Wirkungen des Geschichtsunterrichts durch Geschichtskultur im Unterricht empirisch feststellen zu können, ist das Konzept jedoch noch zu jung. Doch auch auf die Schulzeit bezogen sind etwa Untersuchungen zu nachhaltigen Lerneffekten außerschulischer Geschichtskultur, über deren Einflüsse auf historisches Wissen und Entwicklung historischen Denkens17, über wechselseitige Effekte von Geschichtskultur und Geschichtsunterricht oder über Bedeutsamkeitszuschreibungen des Unterrichtsfaches Geschichte durch Schülerinnen und Schüler, die sich in ihrem Unterricht mit Geschichtskultur auseinandergesetzt haben, wichtige empirische Forschungsdesiderate. 14 Vgl. etwa: Hartmut Radebold/Werner Bohleber/Jürgen Zinnecker (Hrsg.): Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen. Weinheim/München 2008. 15 Christian Gudehus: Tradierungsforschung. In: ders./Ariane Eichenberg/Harald Welzer (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2010, S. 312 – 318. 16 Vgl. etwa Horst Kuss: Geschichtskultur im Geschichtsunterricht. Eine neue Chance für historisches Lernen. In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 29 (2001), S. 10 – 21; Dietmar von Reeken: Geschichtskultur im Geschichtsunterricht. Begründungen und Perspektiven. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 55 (2004), S. 233 – 240. 17 Vgl. dazu den Beitrag von Sabine Bietenhader und Markus Kübler in diesem Band. 28 2. Charlotte Bühl-Gramer »Geschichte« in der nachschulischen Biografie – mehr Fragen als Antworten Welche Rolle schließlich Geschichtsunterricht in der nachschulischen Biografie und für lebenslanges historisches Lernen spielt, ob etwa eine nachschulische Stabilisierung und Konsolidierung stattfindet, in welchen Zeithorizonten möglicherweise eine Lernwirksamkeit eintritt und von welchen Faktoren dies abhängt, sind Fragestellungen, auf die die Geschichtsdidaktik derzeit noch keine Antworten zu geben weiß. Forschungen, die den Outcome bewerten, sind für diese Perspektive viel zu kurzfristig angelegt. Verlässt man schließlich das Forschungsfeld langfristiger biografischer Nachhaltigkeit von Geschichtsunterricht und widmet sich der Tatsache, dass das schulische historische Lernen auf der individuellen Ebene in einen lebenslangen, dynamischen Entwicklungsprozess des Geschichtsbewusstseins eingebettet ist und nur eine von vielen Instanzen darstellt, die auf das Geschichtsbewusstsein im weiteren Lebensverlauf Einfluss nehmen, betritt man ein weites Feld wichtiger, aber ebenfalls noch weitgehend offener Fragen. Erste maßgebliche Beiträge lieferte hierzu bisher vor allem Bodo von Borries, der das Geschichtsbewusstsein im Erwachsenenalter, Geschichtslernen als Faktor der Persönlichkeitsentwicklung und Formen persönlicher Aneignung von Geschichte anhand autobiografischer Zeugnisse, literarischer Texte und anderer Dokumente zum Gegenstand geschichtsdidaktischer Forschung machte.18 Ein Defizit an Längsschnittstudien zur biografischen Entwicklung des Geschichtsbewusstseins existiert jedoch nach wie vor.19 Als an die Studien von Borries anschlussfähige und ergänzende Fragestellungen wären etwa zu nennen: – wie sich Geschichtsbewusstsein als Prozess und Resultat nachhaltigen, lebenslangen Geschichtslernens auf allen Altersstufen weiterentwickelt; – welche Bedeutung Geschichtslernen in der nachschulischen Biografie ent18 Bodo von Borries: Zum Geschichtsbewußtsein von Normalbürgern. Hinweise aus offenen Interviews. In: Klaus Bergmann/Rolf Schörken (Hrsg.): Geschichte im Alltag – Alltag in der Geschichte. Düsseldorf 1982, S. 182 – 209; ders.: Geschichtslernen und Persönlichkeitsentwicklung. Aufgewiesen an autobiographischen Zeugnissen über die Zeit um den Ersten Weltkrieg. In: Geschichtsdidaktik 12 (1987), S. 1 – 14; ders.: Geschichtsbewußtsein, Lebenslauf und Charakterstruktur. Auswertung von Intensivinterviews. In: Gerhard Schneider (Hrsg.): Geschichtsbewußtsein und historisch-politisches Lernen. Pfaffenweiler 1988, S. 163 – 181; ders.: Geschichtslernen und Geschichtsbewußtsein. Empirische Erkundungen zum Gebrauch von Historie. Stuttgart 1988; ders.: Erlebnis, Identifikation und Aneignung beim Geschichtslernen. In: Neue Sammlung 38 (1998), S. 171 – 202. 19 Carlos Kölbl/Jürgen Straub: Geschichtsbewusstsein im Jugendalter. Theoretische und exemplarische empirische Analysen. In: Forum Qualitative Sozialforschung 2 (2001), Nr. 3, Art. 9, URL: www.qualitative-research.net/index.php/fqs/rt/printerFriendly/904/1972 (abgerufen am 12. 7. 2013). Geschichtslernen in biografischer Perspektive – – – – 3. 29 faltet oder eben nicht entfaltet, und welche nachschulischen Faktoren hierfür eine Rolle spielen; in welchen Lebenssituationen Geschichtslernen eine Rolle spielt; wie eigenes, fortschreitendes und fortgeschrittenes Leben mit Geschichte verknüpft wird und wie sich möglicherweise individuelle Sinnbildungsprozesse im Lebensverlauf verändern. Bei der Zeitgeschichte und den Zeitzeugen ist die nachträgliche Sinnkonstruktion über zeitliche Aufschichtungen bestens erforscht. Ebenso stehen schriftliche autobiografische Aufarbeitungen im Fokus zeitgeschichtlicher Forschung.20 Ob und inwiefern aber auch zeitliche Aufschichtungen und Erfahrungen im Lebensverlauf auch bei der Beschäftigung mit anderen, vor dem persönlichen Erleben liegenden Epochen zum Tragen kommen, wissen wir nicht. warum Geschichtslernen im Lebensverlauf möglicherweise unterbrochen und zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgenommen wird und welche Gründe dafür zu nennen wären; wie im großen Bereich des informellen historischen Lernens ein nachschulischer Lernbegriff zu schärfen ist. Hier wäre etwa zu klären, ob Erzählsituationen oder die vielfältigen Formen von Geschichtsinteresse und Beschäftigung mit Geschichte immer gleich auch mit einer »Lernsituation« gleichzusetzen sind. Empirisch fassbare Zugriffe: Gruppen – Lernkontexte – soziale Kommunikation über Geschichte Dabei stößt die Fassbarkeit verschiedenster individueller Sinnbildungsprozesse schnell auch an ihre forschungspragmatischen Zugriffsgrenzen – individuelle, selbstgesteuerte und informelle Lernprozesse eines »Lesers« manifestieren sich zum Beispiel kaum messbar. Empirisch fassbar dagegen wird Geschichtslernen in biografischer Perspektive durch Zugriffe auf bestimmte Gruppen und bestimmte Lernkontexte sowie auf Formen der sozialen Kommunikation über Geschichte. Dazu sollen an dieser Stelle einige forschungspragmatische Perspektiven skizziert werden: 20 Dorothee Wierling: Oral History. In: Michael Maurer (Hrsg.): Aufriß der historischen Wissenschaften. Bd. 7: Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft. Stuttgart 2003, S. 81 – 151; Christof Dejung: Oral History und kollektives Gedächtnis. Für eine sozialhistorische Erweiterung der Erinnerungsgeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 96 – 115; Ulrike Jureit: Autobiographien: Rückfragen an ein gelebtes Leben. In: Martin Sabrow (Hrsg.): Autobiographische Aufarbeitung. Diktatur und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert. Leipzig 2012, S. 149 – 157. 30 Charlotte Bühl-Gramer Eine empirisch gut fassbare Gruppe sind Lerngruppen in nachschulischen intentionalen und institutionalisierten Lernkontexten. In diesen Zusammenhang gehören Bernd Mütters entfaltete konzeptionelle Überlegungen zum »HisTourismus« als spezifische Bildungs- und Lernchance eines nichtprofessionellen Laienpublikums im Bereich der Erwachsenenbildung. Weitere neuere Untersuchungen zur Thematisierung von Geschichte in Volkshochschulen und Bildungszentren bilden jedoch ein Forschungsdesiderat, interdisziplinär intensiver beforscht werden dagegen Museen und Gedenkstätten als Orte informellen lebenslangen Lernens.21 Ein weiterer Zugang zur dem Feld der Fortsetzung organisierten historischen Lernens eröffnet sich durch Analyse der Bedeutsamkeit von Geschichte als Ausbildungsinhalt für bestimmte Berufsgruppen: Auf normativer Ebene gilt es dabei, die Funktionen und Kompetenzziele von Geschichtslernen in berufsfeldorientierten Ausbildungsgängen zu definieren und reflektieren. Empirische Zugriffe können Einblicke ermöglichen, wie sich organisiertes historisches Lernen im Erwachsenenalter fortsetzt, ob etwa Bedeutungszuweisungen des Schulfaches Geschichte von Jugendlichen mit denen von Erwachsenen in nachschulischen Ausbildungskontexten korrelieren oder sich verändern und ob historisches Wissen ein Qualifizierungsmerkmal darstellt und für die Berufsausübung als relevant erachtet wird. Einen spezifischen Bereich stellt schließlich die Untersuchung des Geschichtslernens von erwachsenen Zuwanderern als Aufnahmebedingung in und Partizipationsbefähigung für eine Gesellschaft im Kontext der historischen Dimension von Staatsangehörigkeit und als Teil staatspolitischer Bildung dar.22 21 Zuletzt: Bernd Mütter: HisTourismus als pragmatische Raumkonzipierung. Kategorien und Ziele historischen Lernens auf Reisen. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 10 (2011), S. 10 – 21. Ältere Untersuchungen zu historischem Lernen in der Erwachsenenbildung: Ulrich Kröll (Hrsg.): Historisches Lernen in der Erwachsenenbildung (Forum Geschichtsdidaktik 2). Münster 1984; Detlef Oppermann: Geschichte in der Erwachsenenbildung – Ein hoffnungsloser Fall?. In: Geschichtsdidaktik 8 (1983), S. 291 – 296; Siegfried Quandt: Die Vermittlung von Geschichte in der Erwachsenenbildung. Probleme, Prinzipien, Perspektiven. In: Hessische Blätter für Volksbildung 33 (1983), S. 35 – 52; Wolfgang Borchardt: Historisches Lernen in der Erwachsenenbildung. In: Das Forum 32 (1992), H. 2, S. 13 – 19. Zu lebenslangem Lernen in Gedenkstätten und Museen vgl. z. B. Bert Pampel: »Mit eigenen Augen sehen, wozu der Mensch fähig ist«. Zur Wirkung von Gedenkstätten auf ihre Besucher. Frankfurt a. M. 2007. Ohne spezifische Bezüge auf Geschichtsmuseen und historische Ausstellungen: Nora Wegener : Besucherforschung und Evaluation in Museen. Forschungsstand, Befunde und Perspektiven. In: Patrick Glogner-Pilz: Das Kulturpublikum. Fragestellungen und Befunde der empirischen Forschung. 2. Aufl. Wiesbaden 2011, S. 127 – 181; Hartmut John/Jutta Thinesse-Demel (Hrsg.): Lernort Museum – neu verortet! Ressourcen für soziale Integration und individuelle Entwicklung. Ein europäisches Praxishandbuch. Bielefeld 2004; Michael Eissenhauer/Dorothea Ritter (Hrsg.): Museen und Lebenslanges Lernen. Ein europäisches Handbuch. Berlin 2010. 22 Amanda Klekowski von Koppenfels: Testing for Integration and Belonging or a New Barrier Geschichtslernen in biografischer Perspektive 31 Als zweite empirisch fassbare Gruppe wären die Personen zu nennen, die professionell, semiprofessionell oder als Laien historische oder geschichtsnahe Berufe ausüben bzw. in ihrer Freizeit in entsprechenden Betätigungsfeldern aktiv sind. Professionsforschung in biografischer Perspektive könnte hier zum einen weitere Aufschlüsse darüber geben, warum, wann, wodurch und wie Geschichtslernen eine derart hohe Relevanzzuschreibung für das eigene Leben erfahren hat, dass es zu dauerhafter, lebensprägender Betätigung führt.23 Bodo von Borries hat in seinen Studien zu Autobiografien von Historikern etwa bereits darauf hingewiesen, dass hier historisch-politische und literarisch-ästhetische, fiktional-imaginative, demnach vielfältige geschichtskulturelle Sozialisationsfaktoren untrennbar zusammenspielen.24 In diesen Zusammenhang gehört schließlich auch eine geschichtsdidaktische Professionsforschung, die das berufsbiografische Lernen dieser Berufsgruppen untersucht.25 Hans-Jürgen Pandel bezeichnet Geschichtskultur als den »Geschichtsunterricht der Erwachsenen«26. So verstanden ist Geschichtskultur ein Geschichtslernen, das in informellen und häufig inzidentellen Lernprozessen stattfindet. Rezeptionsorientierte Studien und Wirkungsanalysen geschichtskultureller Präsentationen sowie die soziale Kommunikation ihrer Rezipienten stellen demnach weitere wichtige Forschungsfelder dar. Sie könnten Auskünfte über Einflüsse individueller Dispositionen – Vorwissen, eigene Deutungen, Persönlichkeitsmerkmale – bei der Auseinandersetzung mit geschichtskulturellen Sinnbildungsprodukten ermöglichen.27 Biografien, Autobiografien und andere 23 24 25 26 27 to Entry? Citizenship Tests in the United States and Germany. In: Ilker AtaÅ/Sieglinde Rosenberger (Hrsg.): Politik der Inklusion und Exklusion (Migrations- und Integrationsforschung 4). Göttingen 2013, S. 135 – 154. Vgl. die Beiträge zu Sektion 3 in diesem Band. Hartmut Lehmann/Otto Gerhard Oexle (Hrsg.): Erinnerungsstücke. Wege in die Vergangenheit. Rudolf Vierhaus zum 75. Geburtstag gewidmet. Wien/Köln/Weimar 1997. Borries (Anm. 4), S. 191 f. Marko Demantowsky : Zur Sozialisation von Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern. Einführung. In: Susanne Popp u. a. (Hrsg.): Zur Professionalisierung von Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern. Nationale und internationale Perspektiven (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 5). Göttingen 2013, S. 133 – 138; Markus Daumüller : Die Bedeutung der berufsbiographischen Perspektiven für die geschichtsdidaktische Lehrerforschung. In: Jan Hodel/Monika Waldis/B¦atrice Ziegler : Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik empirisch 12. Beiträge zur Tagung »Geschichtsdidaktik empirisch 12«. Bern 2013, S. 48 – 59. Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis. Schwalbach/Ts. 2013, S. 37. Für die Gattung Spielfilm vgl. etwa Sabine Moller : Spielfilme als Blaupausen des Geschichtsbewusstseins. Good Bye Lenin! aus deutscher und amerikanischer Perspektive. In: Susanne Popp u. a. (Hrsg.): Zeitgeschichte – Medien – Historische Bildung (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 2). Göttingen 2010, S. 239 – 256; Christian Gudehus/Stewart Anderson: Hotel Ruanda – Lesarten eines Films über Geschichte. In: WerkstattGeschichte 2010: werkzeug, S. 71 – 84; Andreas Sommer : Geschichtsbilder und Spielfilme. Eine 32 Charlotte Bühl-Gramer Egodokumente sind dabei ein geschichtskulturelles Medium, in dem sich – in unterschiedlichen medialen Vermittlungsformen – in einer spezifischen Verknüpfung von Lebensgeschichte und Zeitgeschichte die Wahrnehmung von Historischem als Subjektivität der Betroffenen darstellt und sich historische Erkenntnis in differenzierten Darstellungsweisen formiert. In traditionellen Verschriftlichungen und anderen medialen Modulationen als Strukturzusammenhang interpretiert, können diese Aufschlüsse geben, auf welche Weise Geschichte in der Lebensgeschichte identitätsrelevant wirksam wird und mit welchem Sinn Geschichte biografisch aufgeladen wird. Hier können die Forschungen von Bodo von Borries eine Fortsetzung finden – zumal Methodik und Theorie biografischen und autobiografischen Erzählens und Darstellens in literaturwissenschaftlicher, historischer wie interdisziplinärer Perspektive in den letzten Jahren weiter ausgefaltet wurden und die Geschichtsdidaktik mit ihrer Zentralkategorie des Geschichtsbewusstseins wichtige Beiträge liefern könnte.28 Erhebliche Zweifel scheinen dagegen angebracht gegenüber Versuchen, aus autobiografischen Erzählsituationen bzw. Texten vergleichbare Befunde zur Auseinandersetzung und Beschäftigung mit vor und außerhalb der eigenen Biografie liegender Geschichte abzuleiten. Als ergiebiger Forschungszugang für Geschichtslernen in biografischer Perspektive wäre schließlich der generationelle Zugriff zu nennen, durch den nicht nur empirisch fassbare Gruppen und deren Kommunikation über Geschichte in der Erinnerungs- und Geschichtskultur, sondern auch generationelle Prädispositionen biografischen Geschichtslernens in den Blick genommen werden können. Saskia Handro hat hierzu bereits 2002 geschichtsdidaktische Forschungspotenziale von »Geschichtsbewusstsein und Generation«29 aufgezeigt. Bezogen auf das Tagungsthema könnten dabei Zugriffe sowohl in horizontaler als auch vertikaler Perspektive relevant sein: Generation in horizontaler Perspektive in der Kategorie der Gleichzeitigkeit und mit der Bezugsgröße der qualitative Studie zur Kohärenz zwischen Geschichtsbild und historischem Spielfilm bei Geschichtsstudenten (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 5). Münster 2010. 28 Für die literaturwissenschaftliche Perspektive vgl. etwa: Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. 2. Aufl. Stuttgart/Weimar 2005; für die historische Perspektive vgl. Depkat (Anm. 3) sowie Dagmar Günther : »And now for something completely different«. Prolegomena zur Autobiographie als Quelle der Geschichtswissenschaft. In: Historische Zeitschrift 272 (2001), S. 25 – 61; für die interdisziplinäre Perspektive: Christian Klein (Hrsg.): Handbuch Biographie. Stuttgart 2009; Carsten Heinze: Identität und Geschichte in autobiographischen Lebenskonstruktionen. Wiesbaden 2009; ders./Alfred Hornung (Hrsg.): Medialisierungsformen des (Auto-)Biographischen. Konstanz/München 2013; Christiane Micus-Loos: Bildung, Identität, Geschichte. Ost- und westdeutsche Generationenerfahrung im Spiegel autobiographischer Texte. Paderborn 2012. 29 Saskia Handro: Geschichtsbewußstsein und Generation. Theoretische Reflexion, empirische Befunde und forschungspragmatische Überlegungen. In: dies. (Hrsg): Methoden geschichtsdidaktischer Forschung. Münster 2002, S. 171 – 186. Geschichtslernen in biografischer Perspektive 33 Gesellschaft versteht generationelle Vergemeinschaftungen als altersspezifische Deutungs- und Prägungseinheiten von und durch Geschichte. Dieser Forschungsansatz fragt danach, welche historischen Erlebnisse und Erlebnisformen von Geschichte als generationsspezifische Erlebnisvariante zu kollektiver Erfahrung von etwa Gleichaltrigen verarbeitet, in Erinnerung transformiert und in der Geschichtskultur kommuniziert werden. Dabei ist in der zeitgeschichtlichen Forschung nicht nur die starke Bindung von Generationsphänomenen an das Jugendalter, sondern auch die Fokussierung auf historische Großereignisse als generationsstiftende Erfahrung mit dem Zentralbeispiel »Erster Weltkrieg« inzwischen gelockert worden.30 Damit kann Geschichtslernen als dynamischer Prozess im Spannungsfeld biografisch-individueller und generationell-geschichtskultureller Dimensionen sichtbar gemacht werden.31 Auf die Gefahr, aus altersspezifischen Erfahrungseinheiten gemeinsames Geschichtslernen und kollektive Verhaltensweisen abzuleiten, muss allerdings hingewiesen werden, da Generationseinheiten nicht zwangsläufig mit Handlungseinheiten gleichzusetzen sind.32 Schließlich können generationelle Fragestellungen über die biografisch-zeitgeschichtliche Geschichtskultur hinaus gehen und danach fragen, in welchen Formen und mit welchen Medien sich verschiedene Generationen in die Geschichtskultur einbringen. Nicht nur im pädagogisch-psychoanalytischen und soziologisch-sozialpsychologischen Bereich der Tradierungsforschung wird dagegen Generation in vertikaler Perspektive mit der Bezugsgröße Familie konnotiert und Geschichte als ein sich in Abstammung, Genealogie, Herkunft und Generativität von Familien manifestierendes Phänomen thematisiert.33 Auch in der Geschichtskultur boomen derzeit generationelle und familiengeschichtliche Formationen34 und formieren nicht nur ein neues Bewusstsein für die tatsächliche historische Bedeutung familiärer Verknüpfungen, sondern spiegeln auch das Bedürfnis, Geschichte im Modus des Familiären wahrzunehmen.35 30 Ulrike Jureit: Generation, Generationalität, Generationenforschung, Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 11. 2. 2010, URL: http://docupedia.de/zg/Generation?oldid=84611 (abgerufen am 28. 7. 2013). 31 Vgl. die Beiträge zu Sektion 1 in diesem Band. 32 Dies thematisiert etwa die Dokumentation »Die Anwälte – Eine deutsche Geschichte« (2009) von Birgit Schulz über Horst Mahler, Otto Schily und Hans-Christian Ströbele. 33 Ohad Parnes/Ulrike Vedder/Stefan Willer : Das Konzept der Generation. Eine Wissenschaftsund Kulturgeschichte. Frankfurt a.M. 2008; zum narrativen Muster der Generation vgl. Sigrid Weigel: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Literaturwissenschaften. München 2006. 34 Als ein aktuelles Beispiel etwa Katja Petrowskajas Roman »Vielleicht Esther«, Frankfurt 2014. Als Beispiele für Fernsehproduktionen vgl. etwa die Fernsehfilme: »Die Manns – Ein Jahrhundertroman« (2001), »Krupp – Eine deutsche Familie« (2009), »Der Wagner-Clan. Eine Familiengeschichte« (2013) und die Dokumentation »Flick« (2010). 35 Stefan Willer: Biographie – Genealogie – Generation. In: Christian Klein (Hrsg.): Handbuch 34 Charlotte Bühl-Gramer Lenkt man schließlich noch einmal den Blick auf das Geschichtslernen in der Schule, so lässt sich in diesem Kontext auch die Frage nach generationellen Prädispositionen der Lehrer- und Schülerschaft und ihre Auswirkungen auf schulische Lehr-Lern-Prozesse stellen: Als ein signifikantes Beispiel mögen die häufig von Lehrkräften beschriebenen Schwierigkeiten dienen, im gegenwärtigen Geschichtsunterricht nachhaltiges Geschichtslernen zum Holocaust anzubahnen. Bisher vorliegende Forschungsergebnisse legen nahe, dass neben »Migration« vor allem der Aspekt »Generation« von besonderer Bedeutung ist: Die Tatsache, dass die heutigen Schülerinnen und Schüler in den 1990er Jahren geboren sind und damit bereits in Bezug auf die nationalsozialistische Vergangenheit als »vierte Generation« qualifiziert werden können, verweist auf ein vielschichtiges »Generationenproblem« in Bezug auf die Wissensvermittlung über den Holocaust. Generationendifferenz kann hier dahingehend beschrieben werden, dass die Lehrenden und Lernenden im Regelfall von unterschiedlichen generationellen Geschichtsdiskursen – etwa einem »Nie wieder« versus popkulturellem Nazi-Chic und Nazi-Trash – geprägt sind und einen anderen Zugang zu den Ereignissen und Folgen des Nationalsozialismus haben, der von der Schülergeneration häufig als Überpädagogisierung, von der Lehrergeneration hingegen als nicht sachadäquat wahrgenommen wird.36 Ob sich diese generationellen »gaps« auch für andere Unterrichtsinhalte identifizieren lassen, wäre eine weitere lohnende Fragestellung. Die Zweijahrestagung 2013 steht schließlich auch im Zeichen der mittlerweile 40jährigen Geschichte der »Konferenz für Geschichtsdidaktik«, so dass die Disziplingeschichte der Geschichtsdidaktik auch als generationelle Konstellation im zeithistorischen Kontext des Bildungsaufbruchs der 1970er Jahre in den Blick genommen wird.37 Die geschichtsdidaktischen Konzepte, die damals entwickelt wurden, haben nicht nur die Theoriebildung entscheidend geprägt38, Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart 2009, S. 87 – 94, hier S. 93; Bernhard Jahn: Die Familie als erzählerisches Problem. In: Katja Kauer (Hrsg.): Familie – Kultureller Mythos und soziale Realität. Berlin 2010, S. 129 – 148. Auch Christian Heuer hat darauf verwiesen, dass die Medien des Familiengedächtnisses die populäre Geschichtskultur zunehmend durchdringen. Christian Heuer : Ego-Dokumente und historisches Lernen. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Sprache und Geschichte. Berlin 2010, S. 139 – 159, hier S. 144. 36 Marcus Stiglegger: Nazi-Chic und Nazi-Trash. Faschistische Ästhetik in der populären Kultur. Berlin 2011; Phil C. Langer/Daphne Cisneros/Angela Kühner : Aktuelle Herausforderungen der schulischen Thematisierung von Nationalsozialismus und Holocaust. Zu Hintergrund, Methodik und Durchführung der Interviewstudie. In: Einsichten und Perspektiven 1/2008, URL: www.blz.bayern.de/blz/eup/01_08_themenheft/2.asp (abgerufen am 12. 06. 2013). 37 Vergleiche die Beiträge zu Sektion fünf in diesem Band. 38 Der Theoriebildung und ihrer Neubewertung widmet sich derzeit der Arbeitskreis »Geschichtsdidaktik theoretisch«. Vgl. dazu auch: Holger Thünemann: Abschied vom Ge- Geschichtslernen in biografischer Perspektive 35 sondern bildeten mit dem »Geschichtsbewusstsein« auch eine Zentralkategorie, mit der die Konstituierung und nachhaltige Etablierung der Geschichtsdidaktik als universitäre Wissenschaftsdisziplin gelang. schichtsbewusstsein? In: Public History Weekly 2 (2014) 5, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw2014 – 1266; Michael Sauer : »Sinnbildung über Zeiterfahrung«. In: Public History Weekly 2 (2014) 4, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014 – 1203 (abgerufen am 05. 02. 2014). Horst Kuss Aufbruch zu einer neuen Geschichtsdidaktik? Ein Rückblick auf Göttingen 1973 Mit der Wahl Göttingens als Ort ihrer 20. Zweijahrestagung ist die Konferenz für Geschichtsdidaktik dorthin zurückgekehrt, wo sie vierzig Jahre davor ihren Anfang genommen hatte. Zwar gab es schon in den vorausgehenden Jahren im Rahmen von Historikertagen oder Pädagogischen Hochschultagen lockere Zusammenkünfte von Geschichtsdidaktikern und Geschichtslehrern, aber die Tagung, die vom 2. bis 4. Oktober 1973 in Göttingen stattfand, war die erste, die als eigenständige, bundesweite Versammlung angelegt war. An ihr nahmen insgesamt etwa 180 Personen teil, Geschichtsdidaktiker, Geschichtslehrer, Geschichtswissenschaftler und Studierende aus der ganzen Bundesrepublik, einige sogar aus dem westlichen Ausland.1 1. Einladung zu einer Geschichtsdidaktischen Konferenz Der Gedanke, zu einer Tagung über den Zustand des Geschichtsunterrichts und der Geschichtsdidaktik einzuladen, ist 1972 am Rande des 29. Historikertages in Regensburg entstanden. Es war Walter Fürnrohr, Geschichtsdidaktiker an der Universität Erlangen-Nürnberg und zugleich Vorsitzender der Fachgruppe Geschichte in der Hochschulkonferenz für Erziehungswissenschaft und Fachdidaktik (HEF), der während einer Besprechung der in Regensburg anwesenden Geschichtsdidaktiker – fast alle kamen von Pädagogischen Hochschulen – den überraschenden Vorschlag machte, möglichst bald eine überregionale DidaktikTagung zu veranstalten, und zwar in Göttingen, weil dieses, verkehrsgeographisch gesehen, so günstig lag. In einem folgenden Rundschreiben stellte er fest,2 1 Offiziell war es eine »Tagung der Fachgruppe Geschichte in der Hochschulkonferenz für Erziehungswissenschaft und Fachdidaktik«, wobei der Name schon erkennen lässt, dass diese Zusammenkunft ursprünglich in der Tradition der Pädagogischen Hochschultage stand. Vgl. auch den Tagungsband: Walter Fürnrohr (Hrsg.): Geschichtsdidaktik und Curriculumentwicklung I. Beiträge zur Neugestaltung von Unterricht und Studium. München 1974. 2 Walter Fürnrohr, Fachgruppe Geschichte in der Hochschulkonferenz für Erziehungswissen- 38 Horst Kuss dass noch bei keinem deutschen Historikerkongress die Didaktik der Geschichte so viel Interesse wie in Regensburg gefunden hätte, und er wies darauf hin, dass gegenwärtig an zahlreichen Stellen in der Bundesrepublik an Geschichts-Curricula gearbeitet würde, ohne dass bisher unter den Geschichtsdidaktikern eine Grundlagendiskussion geführt worden wäre. Der thematische Rahmen der geplanten Tagung sollte daher weit gespannt sein, um möglichst vielen Mitwirkenden eine aktive Teilnahme an den verschiedenen Fachdiskussionen zu ermöglichen. Dass aus dem von Fürnrohr gewählten Tagungsthema »Geschichtsdidaktik und Curriculumentwicklung« am Ende mehr wurde als erwartet, nämlich der Aufbruch in ein neues wissenschaftliches Selbstverständnis der Geschichtsdidaktik, war anfangs keineswegs absehbar.3 2. Bewegte Jahre in Politik und Wissenschaft Es war eine aufregende und aufgeregte Zeit, das Jahrzehnt der siebziger Jahre, und dies auf mehreren Ebenen von Politik und Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft. Zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte gab es im Bundestag ein konstruktives Misstrauensvotum, das die Regierung Brandt/ Scheel am 27. April 1972 knapp überstand. Wenig später – am 3. Juni – traten die bis dahin hart umkämpften Ostverträge mit der Sowjetunion und Polen in Kraft, denen im Juni 1973 nach nicht weniger heftigen Auseinandersetzungen zwischen Bundesregierung und Opposition der Grundlagenvertrag mit der DDR folgte. Die innenpolitische Anspannung steigerte sich noch mehr, seitdem – nach dem Überfall auf die israelische Olympiamannschaft in München am 5. September 1972 – der Terrorismus in der Bundesrepublik gegenwärtig war.4 Heftige Debatten und Kontroversen über Inhalte und Methoden gab es auch schon länger in der Geschichtswissenschaft, in der bis in die frühen 1960er Jahre noch der Primat der politischen Geschichte vorgeherrscht hatte.5 Reinhart Koselleck hatte 1972 die »Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft« festschaft und Fachdidaktik, Rundschreiben Nr. 3, 12. 10. 1972, und Nr. 4, 4. 1. 1973. Privatarchiv Horst Kuss. 3 Auch Fürnrohr : Tagungsband (Anm. 1), S. 16, stellt fest, »diese Tagung hat mehr gehalten, als man sich von solch einem ersten Versuch versprechen durfte: Von ihr sind starke Impulse ausgegangen für die Zusammenarbeit der Geschichtsdidaktiker mit den Geschichtswissenschaftlern …« 4 Zu den politischen Ereignissen vgl. Andreas Rödder : Die Bundesrepublik Deutschland 1969 – 1990. München 2004. 5 Vgl. Hans-Ulrich Wehler : Geschichtswissenschaft heute. In: Jürgen Habermas (Hrsg.): Stichworte zur »Geistigen Situation der Zeit«. Bd. 2: Politik und Kultur. Frankfurt a. M. 1979, S. 709 – 753, hier S. 710 und 724. Aufbruch zu einer neuen Geschichtsdidaktik? 39 gestellt6 und Hans-Ulrich Wehler – und nicht nur er – plädierte für eine neue Kooperation von Geschichtswissenschaft und Sozialwissenschaften, die in das neue Paradigma der »Historischen Sozialwissenschaft« eingehen sollte.7 Die damit verbundene Forderung nach mehr »Theorie« stieß auf das gegensätzliche Plädoyer für »Erzählung« in der Geschichtswissenschaft, eine lang anhaltende Spannung, die sich bis auf die Frage der erzählenden Darstellungsweisen im Geschichtsunterricht auswirkte;8 hier gab es wachsende Zweifel an der Legitimität des historischen Erzählens im Unterricht.9 3. Geschichtsunterricht, Geschichtswissenschaft, Geschichtsdidaktik im Spannungsverhältnis Inzwischen hatten auch – abgesehen von den gleichzeitig stattfindenden Tagungen des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands – Themen und Probleme des Geschichtsunterrichts und der Geschichtsdidaktik ihren Platz auf den deutschen Historikertagen gefunden, so 1970 in Köln, 1972 in Regensburg, 1974 in Braunschweig usw.10 Eine Denkschrift »Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht« von 1971 sowie ein materialreicher Bericht über »Geschichte an Universitäten und Schulen« aus dem Jahr 1973, eine vierstündige Podiumsdiskussion »Geschichtsstudium – Geschichtsunterricht« während des Regensburger Historikertages, an der u. a. Karl-Georg Faber, Karl-Ernst Jeismann und Jürgen Kocka teilnahmen, und schließlich eine Erklärung des Verbandes der Historiker Deutschlands »Gesellschaftliche Aufgaben der Geschichtswissenschaft in der Gegenwart« sollten die kulturelle und politische Bedeutung von 6 Reinhart Koselleck: Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft. In: Werner Conze (Hrsg.): Theorie der Geschichtswissenschaft und Praxis des Geschichtsunterrichts. Stuttgart 1972, S. 10 – 28. 7 Hans-Ulrich Wehler : Geschichte als Historische Sozialwissenschaft. Frankfurt a. M. 1973; Wehler : Geschichtswissenschaft heute (Anm. 5), S. 737 f. 8 Vgl. Jürgen Kocka/Thomas Nipperdey (Hrsg.): Theorie und Erzählung in der Geschichte. München 1979, hier besonders die Beiträge von Hans-Ulrich Wehler und Golo Mann. 9 Zur damaligen Diskussion vgl. Dieter Riesenberger : Die Lehrererzählung im Geschichtsunterricht. In: Hans Süssmuth (Hrsg.): Historisch-politischer Unterricht. Medien. Stuttgart 1973, S. 41 – 69; Michael Tocha: Die Tränen des Prinzen oder Versuch, die Geschichtserzählung auf die Füße zu stellen. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 27 (1976), S. 619 – 624; ders.: Zur Theorie und Praxis narrativer Darstellungsformen mit besonderer Berücksichtigung der Geschichtserzählung. In: Geschichtsdidaktik 4 (1979), S. 209 – 222. 10 Vgl. Bericht über die 28. Versammlung deutscher Historiker in Köln/Rhein 31. März bis 4. April 1970. Stuttgart 1971 (= Beiheft zur Zeitschrift GWU), S. 10, 114 f.; Bericht über die 29. Versammlung deutscher Historiker in Regensburg 3. bis 8. Oktober 1972. Stuttgart 1973, S. 25, 88; Bericht über die 30. Versammlung deutscher Historiker in Braunschweig 2. bis 6. Oktober 1974. Stuttgart 1976, S. 65 – 72, 92 – 97, 113 – 115. 40 Horst Kuss Geschichte in Wissenschaft und Unterricht bezeugen.11 Es waren nicht zuletzt die Befürchtungen vieler Historiker, dass die Geschichte im schulischen Unterricht den sozialwissenschaftlichen Fächern weichen müsste, die solche Erklärungen als notwendig erscheinen ließen. Notwendig war allerdings auch die Annäherung von Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik, die seit dem Kölner Historikertag immer wieder angesprochen wurde. Hier waren es zuerst die Didaktikdefinitionen von Joachim Rohlfes und Karl-Ernst Jeismann, nicht etwa eine ältere wie z. B. die von Erich Weniger, die es möglich machten, die Geschichtsdidaktik als Teil der Geschichtswissenschaft anzuerkennen.12 Unter dieser Voraussetzung fiel es dem damaligen Vorsitzenden des Historikerverbandes, Werner Conze, nicht schwer, 1973 an der Göttinger Didaktiktagung teilzunehmen.13 4. Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik in der Krise Nicht anders als die Geschichtswissenschaft war auch der Geschichtsunterricht und, mit ihm verbunden, die Geschichtsdidaktik in eine Krise geraten, die eng mit der Herausforderung durch die Sozialwissenschaften zusammenhing. Geschichte als Unterrichtsfach galt vielfach als altmodisch, als wenig ergiebig, als jeder politischen Bildung fern stehend. Ein Handbuch des Geschichtsunterrichts, das 1963 in 3. Auflage erschienen war, sah den »naheliegendsten Bildungswert unseres Unterrichts« noch immer »in der Aneignung geschichtlichen 11 Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht. Lageanalyse – Folgerungen – Empfehlungen. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 23 (1972), S. 1 – 13; Joachim Leuschner/Hans-Heinrich Nolte/Brigide Schwarz: Geschichte an Universitäten und Schulen. Materialien – Kommentar – Empfehlungen. Stuttgart 1973 (= Beiheft zur Zeitschrift Geschichte in Wissenschaft und Unterricht); Geschichtsstudium – Geschichtsunterricht. Podiumsdiskussion während der 29. Versammlung Deutscher Historiker … am 6. Oktober 1972 in Regensburg. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 24 (1973), S. 391 – 426; Erklärung des Verbandes der Historiker Deutschlands: Gesellschaftliche Aufgaben der Geschichtswissenschaft in der Gegenwart. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 24 (1973), S. 354 – 356. 12 Joachim Rohlfes: Umrisse einer Didaktik der Geschichte. Göttingen 1971; Karl-Ernst Jeismann: Ziele und Wege des Studiums der Geschichtswissenschaft. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 24 (1973), S. 403 – 409; ders.: Didaktik der Geschichte. In: Erich Kosthorst (Hrsg.): Geschichtswissenschaft. Didaktik – Forschung – Theorie. Göttingen 1977, S. 9 – 33. 13 In seinem Einleitungsvortrag »Zur Lage der Geschichtswissenschaft und des Geschichtsunterrichts« auf dem Braunschweiger Historikertag 1974 erklärte Werner Conze, »dass die jüngste Entwicklung der Didaktik berücksichtigt und die Didaktik der Geschichte als Teil der Geschichtswissenschaft erkannt werden müsse.« In: 30. Versammlung (Anm. 10), S. 15.