Gerechtigkeit im modernen Wirtschaftssystem. Möglichkeiten und Grenzen der Wirtschaftsethik FH-Prof. Priv.-Doz. Dr. Michael Litschka Ziele des Vortrags ! Grundlagen der Disziplin Wirtschaftsethik ! Ethik und Markt ! Verschiedene Theorien der Wirtschaftsethik ! Unternehmensethik ! Gerechtigkeit und Wirtschaft Grundlagen der Wirtschaftsethik Wirtschaftsethik Ökonomik Ethik Wirtschaftsethik ! Makroebene – Wirtschaftsethik – Ethik der Rahmenordnung ! Mesoebene – Unternehmensethik – Ethik der Unternehmung ! Mikroebene – Individualethik – Ethik des Managements Einleitung • Makroebene – Wirtschaftsethik • Mesoebene – Unternehmensethik • Mikroebene – Individualethik • Schlüsselbegriffe: • Gerechtigkeit • Fairness • Verantwortung • CSR • Stakeholder-Management Grundprobleme der Ethik heute • Armut, Ungleichverteilung der Einkommen • Steigende Arbeitslosigkeit • Marktversagen • Umweltproblematik • Unternehmensskandale • Bereicherungsstrategien des Managements • „Wirtschaftskrise“ Aufgaben der (Wirtschafts-) Ethik heute • Problemanalyse aus philosophischer und ökonomischer Sicht • Interdisziplinarität • Dialogische, intersubjektive Vermittlung • Brücke zwischen „Sein“ und „Sollen“ • Kriterien für verantwortliches Handeln • Lehrpläne für Management-Ausbildungen • Praxisvermittlung (z.B. Ethik-Kodizes), Fallstudien • Analyse von Anreizsystemen und Institutionen Grundbegriffe der (Wirtschafts-) Ethik • Werte – Wünschenswerte Ziele • Normen – Handlungsanleitungen • Moral – Gesamtheit der Normen und Werte • Ethos – Innere Moral (Einstellung, Haltung) • Ethik – Reflexive Beschäftigung mit Moral • Ökonomik – Wissenschaft von der Bewirtschaftung knapper Ressourcen unter dem Prinzip der materiellen Zweck-Mittel Optimierung und Nutzenmaximierung • Homo Oeconomicus – Modell zur Erklärung ökonomisch rationalen Verhaltens der Menschen Ethische Systeme Ethisches System Gesinnungsethik Tugendethik Pflichtenethik, Deontologie Folgenethik, Teleologie Materiale Ethiken Formale Ethiken Monologische Ethiken Dialogische Ethiken Bewertungsgrundlage Persönliche Einstellung Tugendhafte Entscheidung Pflichtgemäße Entscheidung, Maxime Handlungsfolgen, Nutzen der Beteiligten Inhaltlich bestimmte Normen und Werte Prozesse, die zu ethisch korrekten Entscheidungen führen Innerliche Reflexion Diskurs Beispiel Christliche Moral Aristotelische Ethik Kantische Ethik Utilitarismus Die zehn Gebote Rawl’sche Gerechtigkeitstheorie Kategorischer Imperativ Diskursethik Modell der mehrdimensionalen Verantwortung Ebenen der Verantwortung Ort der Verantwortung Makro Rahmenordnung Meso Unternehmung Mikro Individuum Vollzug der Verantwortung Politik, NGOs, NPOs, Gesellschaft Organisation, Kultur Tugenden, Ethos, Pflicht The Case Against Ethics – (politische) Gegenargumente ! Funktionalismus (Friedman): Ethik ist (systematisch) unnötig, da Gewinnmaximierung automatisch zum Gemeinwohl beiträgt " Shareholder Interessen zählen mehr als alles andere ! Instrumentalismus: Ethik ist notwendig, aber nur wenn es dem Geschäftserfolg dient; ethics “pays off”; " nur mächtige Stakeholder werden beachtet; Akzeptanz wird mit Legitimität verwechselt ! Spendenethik: Ethik kann man sich nur leisten, nachdem man Profite gemacht hat " das Geschäftsmodell wird nicht ethisch hinterfragt ! U n m ö g l i c h k e i t s t h e o r e m : E t h i k i s t u n m ö g l i c h , d a d e r Wettbewerbsdruck Gewinnmaximierung “verlangt” " Gewinnmaximierung und Gewinnorientierung werden verwechselt, zudem können Unternehmen an der Rahmenordnung mitwirken Ethik und Markt Verhaltensmodell der Ökonomik Gesamtwirtschaftliches Optimum Unsichtbare Hand maximieren Nutzen/Gewinn Ind.1/Unt.1 Ind.2/Unt.2 Ind.3/Unt.3 Realität • Abbau der Sozialleistungen • Rückzug des Staates • Weitergabe der Verantwortung an das Individuum • Ökologie (externe Effekte), Altersproblematik,... • neoklassische Ökonomik – neoliberale Politik • beruht auf „ökonomischem Rationalismus“ (der Annahme, ökonomisch-rationales Denken, v.a. Effizienz und Maximierung, führe auch in der Wirtschaftspolitik zu sozial erwünschten Ergebnissen) • Markt soll den Staat und die Bürger als Moral-schaffende Instanz ersetzen • Wirtschaftsethik will Alternativen aufzeigen Gleichheit und Gerechtigkeit • Woher kommt die Ungleichheit auf Märkten – Diskussion • Anhaltspunkte: Talent, Startchancen, Effizienz? • Anhaltspunkte: Eingriffe der Politik mit welchem Motiv? Experimente • Spieltheoretische Experimente der Ökonomik lassen an Nutzenmaximierung als alleinigem Motiv zweifeln • Beispiel: Ultimatum-Spiel • Alternative Handlungs- und Entscheidungskriterien: • Fairness • Altruismus • Reziprozität Ethik in den Wirtschaftswissenschaften Klassik Neoklassik/ Monetarismus Keynesianismus Konzeption von Moral: Die „unsichtbare Hand“ lenkt die Gesellschaft auch ohne Moral zu einer „spontanen Ordnung“, Individuum aber als moralisches Wesen konzipiert Ökonomik als positive Wissenschaft ist fast ohne Moralvorstellung möglich Ökonomie muss sich realen moralischen Problemen stellen (Bsp.: Arbeitslosigkeit) Gewünschte Wirtschaftspolitik: Arbeitsteilung und freie Märkte sichern Gemeinwohl, Staat sorgt für Sicherheit und Bildung Konkurrenzkapitalismus und freies Unternehmertum ermöglichen, Staatseingriffe zurückdrängen Nachfrageorientierung, Konjunktur- und Fiskalpolitik Dominierendes ethisches Prinzip: Utilitarismus Pareto-Kriterium Gesellschaftlich nützliche Produktion Wirtschaftsethische Theorien – zwei Beispiele John Rawls • John Rawls: „Theorie der Gerechtigkeit“ • Sozialvertragstheorie • Urzustand, „veil of ignorance“ • Menschen würden sich auf zwei Grundprinzipien einigen: • jede Person hat Anspruch auf größtmögliche Grundfreiheiten • Ungleichheiten sind erlaubt, wenn: • Ämter und Positionen allen gleich offen stehen • die am wenigsten Begünstigten den größten Vorteil haben Amartya Sen • Wohlfahrt kann nicht nur von Nutzen abhängen – mehr Informationen nötig • Wahlhandlungen können nicht nur nach dem erwarteten Ergebnis getroffen werden (also nicht nur utilitaristisch) • Personen können Ziele und Werte bilden, ohne einen Nutzen daraus zu ziehen • Und: Nutzen abstrahiert von sozialer Situation (Bsp.: Bettler mit weniger Nutzenzuwachs zufrieden als Reicher, doch ein Verlust an Nutzen wiegt viel mehr als bei Reichen • Freiheit dient nicht nur dem Erreichen von Zielen, sondern hat intrinsischen Wert (Bsp.: Hungern oder Fasten) • „Capability“ meint die Freiheit, aus verschiedenen Alternativen wählen zu können, um Wohlfahrt zu erreichen, gleichzeitig aber auch die Wohlfahrt direkt zu beeinflussen Der Capability Approach – Anwendung • Da Fähigkeiten der Menschen, Ressourcen in Ziele umzuwandeln, unterschiedlich sind, muss Politik darauf Rücksicht nehmen • Freiheiten oder Grundgüter reichen nicht – die Fähigkeiten der Menschen müssen erhöht werden, diese auch umzusetzen • Berücksichtigung der Wahlmöglichkeiten erhöht den Lebensstandard: Vergleich schwarze Bevölkerung der USA vs. Gesamtbevölkerung China oder Bundesstaat Kerala (Indien) – Lebenserwartung geringer trotz höherem BIP! • Wie ist das möglich? • Rationales Handeln umfasst für Sen auch Fairness, Empathie und Pflichtgefühl, nicht nur atomistisches Nutzenmaximieren • Erweiterung der Freiheiten und Fähigkeiten ist Ziel und Mittel der Wirtschaftspolitik Der Capability Approach – Beispiele ! Bildungs-, Gesundheits- und Medienpolitik müssen „befähigen“ ! Lebenserwartung: ! Berücksichtigung der Wahlmöglichkeiten erhöht den Lebensstandard: Lebenserwartung kann trotz höherem BIP geringer sein! ! Weil: Alphabetisierung, Bildungschancen, Zugang zu Gesundheitsleistungen, weniger Gewaltbereitschaft... ! Besser als BIP: Quality of Life und Human Development Indizes ! Bildung: ! Befähigung zur „Qualifikation“, „Gesamtschule“? ! B e f ä h i g u n g a u c h d e r H o c h s c h u l e i n r i c h t u n g e n (Studienplatzfinanzierung?) Beispiele 2 ! Migration: ! Befähigung zur Teilnahme am Arbeitsmarkt und soz. Sicherheit ! Chancengleichheit oder keine Immigration ! Medien: ! Befähigung zum Medienkonsum (nicht nur Medienpädagogik, auch Zugang etc.) ! Befähigung auch der Medienunternehmen (nicht nur der Medienkonzerne), Bsp.: Online-Presseförderung? Qualitätsförderung? Unternehmensethik Verantwortung • Im vollkommenen Wettbewerb (dem perfektem Markt) wären Unternehmen Preisnehmer – Verantwortung nach außen wäre kaum möglich - der Markt könnte für ethische und soziale Ergebnisse sorgen • Unternehmen haben aber Marktmacht und somit Verantwortung • Warum können Organisationen verantwortlich gemacht werden? • kollektives Handeln (Großprojekte, strategisches Handeln, Informationsasymmetrien…) • Individuen oft nicht allein verantwortlich • Unternehmen haben eine „innere Struktur“ (z.B. vorgelagerte Entscheidungsprozesse, Organisationsstrukturen…) • Unternehmen sind „quasi-öffentliche“ Institutionen Wahrnehmung der Verantwortung Unternehmen ist Interessenskoalition unterschiedlicher Anspruchsgruppen • • Stakeholder-Management als Möglichkeit, diese Anspruchsgruppen zu • identifizieren • bewerten • in Strategie einzubeziehen • Transparenz • Informationen an Stakeholder gleich verteilen • Kriterien für die Auswahl der Stakeholder offen legen • Kriterien für Abwägung divergierender Interessen offen legen Bezugsrahmen für Stakeholder Menschheit, Zukunft Externe Stakeholder Aktionäre FK-Geber Staat Kunden Interne Stakeholder Mitarbeiter Technologie Management Eigenkapital Weltwirtschaft NGOs Konkurrenz Minderheiten Recht Lieferanten Gewerkschaften Öffentlichkeit Umwelt (Natur) Weitere wichtige Begriffe der Verantwortung Corporate Governance: System der Steuerung und Selbststeuerung sowie Kontrolle des Unternehmens; kann rechtlich, wirtschaftlich und ethisch ausgerichtet sein • • Bsp.: Wie motivieren Stock-Options Programme das Management? • Corporate Social Responsibility: Formen der Übernahme von Verantwortung für gesellschaftliche Anliegen • wenn Staat sich zurückzieht, können Unternehmen Verantwortungslücke füllen • Reputation! • neue Berichtsleitlinien: Social Reporting Verankerung der Verantwortung • Organisationsstruktur • Ethics Officer, Ethik-Komitee, Ethik Audit, Ethik Hotline (intern); Ethik Kommission (extern) • Organisationskultur • Sensibilisierung für ethische Problemfelder, Klärung und Abwägung von Konflikten, Festigung mittels Kodex u.ä. Gerechtigkeit und Wirtschaft Relevanz von Gerechtigkeitsfragen „In the long run, we are all dead, but not all of us at once“ J. Robinson Komparative Gerechtigkeit ! Sozialwahl immer mit Ethik verbunden ! Aufdeckung der Normativität in der „Wahl“ zwischen Alternativen ! J. Robinson: „Differences imply choices, and choices imply judgment“ ! „Komparative Gerechtigkeit“ statt „Vollkommene Gerechtigkeit“ Vergleich sozialer Zustände vs. Einziges Gerechtigkeitsprinzip Demokratie, Massenmedien & Gerechtigkeit ! Für interpersonelle Wohlfahrtsvergleiche sind Informationen über Marktergebnisse hinaus notwendig ! Über End-Zustände sollte intersubjektive Einigung erzielt werden ! Rolle der Medien: Entprovinzialisierung der Werte und Einbezug der „Anderen“ ! Schutz der Benachteiligten; pluralistische Wertebildung ! Kritische Prüfung der Argumente " öffentlicher Vernunftgebrauch (vs. Rationalität) ! Rawls: Publizität der Gerechtigkeitsgrundsätze motiviert zur Befolgung derselben ! Gerechtigkeit durch Diskussion Schlussfolgerungen Gerechtigkeit ! Die „echten“ Wahlmöglichkeiten der Menschen sind entscheidend für Wohlfahrt und Gerechtigkeit ! In vielen Politik-Bereichen sind „Befähigungen“ u.U. zielführender als reine Freiheiten/reine Chancen ! Gerechtigkeit kann als ein Erreichen und Vergleichen sozialer Zustände gesehen werden (als „comprehensive outcome“) ! Dazu braucht es Informationsvielfalt (die utilitaristische Ansätze nicht bieten) ! Capability Approach ist in Entwicklungspolitik ein Standard – Wirtschafts- und Sozialpolitik entwickelter Länder?