Bologna-Diskurs

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Anmerkungen zum Text: zu lesen wäre primär nur (S. 1-15); die Dokumente sind
Unterstrichen; der real zu lesende Text umfasst nur 10 Seiten; im Anhang ist ein
bisschen Kontextrohmaterial (2 policy-frames (S. 15-17) und 3 polity-frames (S.1826) und Methodisches (S. 26))
1. Diskurse
1.1. Bologna schreiben
Bologna-Erklärung, 19. Juni 1999
„(1) Dank der außerordentlichen Fortschritte der letzten Jahre ist der europäische Prozess für
die Union und ihre Bürger zunehmend eine konkrete und relevante Wirklichkeit geworden.
Die Aussichten auf eine Erweiterung der Gemeinschaft und die sich vertiefenden
Beziehungen zu anderen europäischen Ländern vergrößern die Dimension dieser Realität
immer mehr. (2) Inzwischen gibt es in weiten Teilen der politischen und akademischen Welt
sowie in der öffentlichen Meinung ein wachsendes Bewusstsein für die Notwendigkeit der
Errichtung eines vollständigeren und umfassenderen Europas, (3) wobei wir insbesondere auf
seinen geistigen, kulturellen, sozialen und wissenschaftlichtechnologischen Dimensionen
aufbauen und diese stärken sollten.
(4) Inzwischen ist ein Europa des Wissens weitgehend anerkannt als unerlässliche
Voraussetzung für gesellschaftliche und menschliche Entwicklung sowie als unverzichtbare
Komponente der Festigung und Bereicherung der europäischen Bürgerschaft; (5) dieses
Europa des Wissens kann seinen Bürgern die notwendigen Kompetenzen für die
Herausforderungen des neuen Jahrtausends ebenso vermitteln wie ein Bewusstsein für
gemeinsame Werte und ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einem sozialen und kulturellen
Raum.
(6) Die Bedeutung von Bildung und Bildungszusammenarbeit für die Entwicklung und
Stärkung stabiler, friedlicher und demokratischer Gesellschaften ist allgemein als wichtigstes
Ziel anerkannt, besonders auch im Hinblick auf die Situation in Südosteuropa.
(7) Die Sorbonne-Erklärung vom 25. Mai 1998, die sich auf diese Erwägungen stützte,
betonte die Schlüsselrolle der Hochschulen für die Entwicklung europäischer kultureller
Dimensionen. (8) Die Erklärung betonte die Schaffung des europäischen Hochschulraumes
1
als Schlüssel zur Förderung der Mobilität und arbeitsmarktbezogenen Qualifizierung seiner
Bürger und der Entwicklung des europäischen Kontinents insgesamt.
(9) Mehrere europäisch Länder haben die Aufforderung, sich für die in der Erklärung
dargelegten Ziele zu engagieren, angenommen und die Erklärung unterzeichnet oder aber ihre
grundsätzliche Übereinstimmung damit zum Ausdruck gebracht. (10) Die Richtung der
Hochschulreformen, die mittlerweile in mehreren Ländern Europas in Gang gesetzt wurden,
zeigt, dass viele Regierungen entschlossen sind zu handeln.
(11) Die europäischen Hochschulen haben ihrerseits die Herausforderung angenommen
und eine wichtige Rolle beim Aufbau des europäischen Hochschulraumes übernommen, auch
auf der Grundlage der in der Magna Charta Universitatum von Bologna aus dem Jahre 1988
dargelegten Grundsätze. (12) Dies ist von größter Bedeutung, weil Unabhängigkeit und
Autonomie der Universitäten gewährleisten, dass sich die Hochschul- und Forschungssysteme
den sich wandelnden Erfordernissen, den gesellschaftlichen Anforderungen und den
Fortschritten in der Wissenschaft laufend anpassen.
(13) Die Weichen sind gestellt und das Ziel ist sinnvoll. (14) Dennoch bedarf es
kontinuierlicher Impulse, um das Ziel größerer Kompatibilität und Vergleichbarkeit der
Hochschulsysteme vollständig zu verwirklichen. (15) Um sichtbare Fortschritte zu erzielen,
müssen wir diese Entwicklung durch Förderung konkreter Maßnahmen unterstützen. (16) An
dem Treffen am 18. Juni nahmen maßgebliche Experten und Wissenschaftler aus allen
unseren Ländern teil, (17) und das Ergebnis sind sehr nützliche Vorschläge für die zu
ergreifenden Initiativen.
(18) Insbesondere müssen wir uns mit dem Ziel der Verbesserung der internationalen
Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Hochschulsystems befassen. (19) Die Vitalität und
Effizienz jeder Zivilisation lässt sich an der Attraktivität messen, die ihre Kultur für andere
Länder besitzt. (20) Wir müssen sicherstellen, dass die europäischen Hochschulen weltweit
ebenso attraktiv werden wie unsere außergewöhnlichen kulturellen und wissenschaftlichen
Traditionen.
(21) Wir bekräftigen unsere Unterstützung der in der Sorbonne-Erklärung dargelegten
allgemeinen Grundsätze, und wir werden unsere Maßnahmen koordinieren, um kurzfristig,
auf jeden Fall aber innerhalb der ersten Dekade des dritten Jahrtausends, die folgenden Ziele,
die wir für die Errichtung des europäischen Hochschulraumes und für die Förderung der
europäischen Hochschulen weltweit für vorrangig halten, zu erreichen:
-
(22) Einführung eines Systems leicht verständlicher und vergleichbarer Abschlüsse, auch
durch die Einführung des Diplomzusatzes (Diploma Supplement) mit dem Ziel, die
2
arbeitsmarktrelevanten Qualifikationen der europäischen Bürger ebenso wie die
internationale Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Hochschulsystems zu fördern.
-
(23) Einführung eines Systems, das sich im wesentlichen auf zwei Hauptzyklen stützt:
einem Zyklus bis zum Abschluss (undergraduate) und einen Zyklus nach dem ersten
Abschluss (graduate). (24) Regelvoraussetzung für die Zulassung zum zweiten Zyklus ist
der erfolgreiche Abschluss des ersten Studienzyklus, der mindestens drei Jahre dauert.
(25) Der nach dem ersten Zyklus erworbene Abschluss attestiert eine für den
europäischen Arbeitsmarkt relevante Qualifikationsebene. (26) Der zweite Zyklus sollte,
wie in vielen europäischen Ländern, mit dem Master und/oder der Promotion
abschließen.
(...)“ (Bildungsminister 1999)
Die oben und weiter unten im Text angeführten Diskursfragmente sind die Grundlage der
„Bologna-Reformen“. Sie gelten als Beschlüsse von mittlerweile über 40 europäischen
Bildungsministern, die zwar keine rechtliche Gültigkeit beanspruchen können, aber zumindest
von den Unterzeichnern als verbindliche Dokumente behandelt werden. Das bedeutet
zweierlei. Erstens ist nicht der rechtliche Status dieser Dokumente von Interesse sondern die
Inhalte, die von den Ministern beschlossen wurden. Dies setzt zweitens voraus, dass diese
Erklärungen und Kommuniqués nicht als europäische „Symbolpolitik“ gelten. Vielmehr
verbindet sich damit ein fester Wille der europäischen Bildungsminister. Dies muss gerade
vor dem Hintergrund der völkerrechtlichen Unverbindlichkeit dieser Papiere und deren
Inhalte von Bedeutung sein. Die Reformen des Studiensystems, die im Rahmen des
„Bologna-Prozesses“ durchgeführt werden, gelten daher nicht selten in öffentlichen Reden
und Stellungnahmen als eine „grundlegende Reform“ oder gar „Revolution“. Von einem
„revolutionären Prozess“ kann man in der Regel zwei Voraussetzungen erwarten. Einerseits
ein „revolutionäres“ Subjekt, das von einer „heroischen Aura“ umgeben ist, und zweitens
klare Forderungen. Auch wenn der „Bologna-Prozess“ keine „Revolution“ ist sondern nur
eine „Reform“, dann können wir zumindest ein Subjekt erwarten, das selber spricht und sagt,
was es will.
Im folgenden wollen wir insbesondere die Bologna-Erklärung und einige Teile der
Nachfolgekommuniqués einerseits nach Behauptungen und Forderungen absuchen, die auf
die Inhalte der Dokumente verweisen, und andererseits fragen, wie und von wem diese
Behauptungen und Forderungen hervorgebracht und verantwortet werden. Dafür wurde der
Text in einzelne Aussageabschnitte gegliedert, die von (1) bis (33) durchnummeriert sind. Der
3
Text lässt sich zunächst grob in drei thematische Blöcke einteilen. Der erste Block (1) bis (12)
beschreibt einleitend die allgemeine Bedeutung der Hochschulen für Europa, der zweite
Block (13) bis (21) leitet die dann folgende Aufzählung der Hochschulreformmaßnahmen ein.
Von (22) bis (33) werden schließlich Maßnahmen aufgezählt. Wir haben uns hier
exemplarisch auf die Maßnahme beschränkt, die als die einschneidendste Maßnahme im
„Bologna-Prozess“ gilt (Bachelor und Master), und die unterschiedlichen Formulierungen
dieser Reformmaßnahme aus der Bologna-Erklärung, dem Prag-Kommuniqué und dem
Berlin-Kommuniqué angeführt.
In der Aussage (1) wird konstatiert, dass „der europäische Prozess“ für „die Union und
ihre Bürger“ eine „konkrete“ und „relevante“ „Wirklichkeit“ geworden ist, sowie dass sich
„die Dimension dieser Realität“ durch die „Erweiterung“ und sich „vertiefende Beziehungen“
zu „anderen europäischen Ländern“ „vergrößert“. In Aussage (2) kommen mit „weiten Teilen
der politischen und akademischen Welt“ und der „öffentlichen Meinung“ zwei Stimmen
(Sx/y) zu Wort, die sich für die „Errichtung eines vollständigeren und umfassenderen
Europas“ aussprechen. Jedoch zeigt sich diese Forderung nicht über einen Willen oder ein
Interesse, sondern über ein „wachsendes Bewusstsein für die Notwendigkeit der Errichtung
eines vollständigeren und umfassenderen Europas“. Durch das Personalpronomen „wir“ in
Aussage (3) solidarisieren sich die Unterzeichner dieser Erklärung, die Minister, zunächst
vordergründig mit den Forderungen, die von diesen beiden Stimmen (Sx/y) hervorgebracht
werden. Diese Solidarisierung erfolgt durch das Relativadverb „wobei“, das in diesem
Kontext die Forderungen der ersten beiden Stimmen ergänzt um die Forderung danach, „auf
seinen geistigen, kulturellen, sozialen und wissenschaftlichtechnologischen Dimensionen“
aufzubauen. Diese Ergänzung, Erweiterung bzw. Spezifizierung des Forderungskatalogs wird
durch das Adverb „insbesondere“ bekräftigt. Allerdings verläuft dieser Akt der
„Spezifizierung/Ergänzung“ etwas komplizierter und ist insgesamt komplexer aufgebaut, als
es die gerade vorgenommen lineare Beschreibung nahe legt.
Das Adverb „insbesondere“, das Relativadverb „wobei“ und das Personalpronomen
„wir“ sind Äußerungspartikel, die auf den Äußerungskontext verweisen und drei Sprecher
instituieren. Das allinklusive „Wir“ verweist nicht nur deiktisch auf die Unterzeichner der
Bologna-Erklärung, sondern schließt die beiden Sprecher der vorherigen Aussage (2) ebenso
mit ein, wie ein umfassenderes, nicht weiter bezeichnetes „europäisches Publikum“. Mit
„wir“ werden hier mehr oder weniger alle denkbaren Sprecherfiguren mit eingeschlossen.
Interessanter mit Blick auf die polyphone Struktur dieser Aussage ist dagegen das
Relativadverb „wobei“ und das Adverb „insbesondere“. Zwar verweist „wobei“ anaphorisch
4
auf Aussage (2) zurück und leitet in Verbindung mit „insbesondere“ cataphorisch eine
Spezifizierung des in Aussage (2) Geforderten ein. Dies gelingt aber nur um den Preis einer
Distanzierung von dem in Aussage (2) geforderten. So wird durch „wobei“ eine Stimme (Sa)
instituiert, die das in Aussage (2) geforderte zurückweist („Nein, es besteht nicht die
Notwendigkeit der Errichtung eines vollständigeren und umfassenderen Europas“), wobei der
mit „wir“ induzierte Sprecher (Sp) sich mit dieser Stimme zunächst solidarisiert und sich
damit von (Sx/y) distanziert, um dann durch „insbesondere“ diese Distanzierung aufzuheben,
indem das in Aussage (2) Gesagte spezifiziert wird. Damit gelingt es (Sp) durch die
Konstruktion von (Sa), der schließlich als künstliches Standbein fallengelassen werden kann,
sich weder mit (Sx/y) zu solidarisieren, noch sich mit (Sx/y) nicht zu solidarisieren bzw. sich
weder von (Sx/y) zu distanzieren, noch sich von (Sx/y) nicht zu distanzieren. Diese
ambivalente Konstruktion der „Spezifizierung/Ergänzung“ hat den strategischen Vorteil, dass
der Sprecher (Sp) Teile der Inhalte der Forderung von (Sx/y) übernehmen kann, ohne die
Forderung selbst übernehmen zu müssen. Man überlässt es den „weiten Teilen der politischen
und akademischen Welt sowie in der öffentlichen Meinung“ die Forderung zu artikulieren,
um sich dann auf das, was einmal im Raum steht, beziehen zu können, ohne sich den Vorwurf
einhandeln zu müssen, eine Forderung vorgetragen zu haben.
In Aussage (4) und (5) wird behauptet, dass ein „Europa des Wissens“ eine
„unerlässliche Voraussetzung für gesellschaftliche und menschliche Entwicklung sowie als
unverzichtbare Komponente der Festigung und Bereicherung der europäischen Bürgerschaft“
ist und „seinen Bürgern die notwendigen Kompetenzen für die Herausforderungen des neuen
Jahrtausends ebenso vermitteln“ kann „wie ein Bewusstsein für gemeinsame Werte und ein
Gefühl der Zugehörigkeit zu einem sozialen und kulturellen Raum“. Diese Behauptung wird
in der 3. Person Singular, der „Nicht-Person“ nach Benveniste, vorgetragen („Es ist
anerkannt, dass X“) und durch das Verb „anerkannt“, das konstatierend in der 3. Person
vorgetragen wird, einem Sprecher untergeschoben, der weder genannt, noch spezifiziert oder
irgendwie soziographisch verortet wird. Ohne die Adverbien „inzwischen“ und „weitgehend“
würde hier gesagt werden, dass absolut jeder und jede in Zeit und Raum das in Aussage (4/5)
behauptete unterschreiben würde. Durch das Adverb „weitgehend“ wird dieser völlig
unbestimmte Raum auf die möglichst unbestimmte Art und Weise, die uns die deutsche
Sprache zur Verfügung stellt, eingegrenzt. Jeder, der mit der Behauptung in Aussage (4/5)
nicht einverstanden ist, kann sich jenseits der Grenze, die durch „weitgehend“ gezogen ist,
verorten, diejenigen, die damit einverstanden sind, diesseits. Zudem erschwert diese Art der
schwammigen Grenzziehung einen Streit über die Grenze selbst. Da nicht klar ist, wo die
5
Grenze zwischen denjenigen, die einverstanden sind, und denjenigen, die nicht einverstanden
sind, verläuft, kann keine Seite der anderen vorwerfen, falsche Lager zu konstruieren. Jeder
kann sich selbst seine Grenze ziehen. Das Adverb der Zeit „inzwischen“ kann als eine
Variante des deiktischen Partikels der Zeit „jetzt“ gelesen werden. „Inzwischen“ markiert
einen zeitlichen Ort, ein „hier“, der wiederum einen anderen zeitlichen Ort, ein „damals“, in
sich trägt. Anders als „jetzt“ könnte „inzwischen“ folgendermaßen umschrieben werden:
„Jetzt ist es so, damals war es anders“. Das Adverb „inzwischen“ hat also eine polytemporale
Struktur. Dadurch wird das in Aussage (4/5) Behauptete mitsamt der durch das Adverb
„weitegehend“ evozierten Grenze in einem Raum des „jetzt“ verortet, wobei der nicht weiter
spezifizierte Raum des „damals“ als eine Art Rückzugsgebiet für jene zur Verfügung steht,
die dem, was in Aussage (4/5) behauptet wird, widersprechen. Der Kreis derjenigen, die die in
Aussage (4/5) vorgetragene Behauptung vertreten, wird also durch zwei Grenzziehungen
markiert, die einerseits so schwammig sind, dass niemand weiß, wer genau wo steht
(„weitgehend“) und wann genau das einmal anders gewesen sein soll („inzwischen“) und
andererseits so unklar formuliert sind, dass die Grenze selbst kaum verortbar ist. So könnte
„weitgehend“ 60% aber auch 90% bedeuten und „inzwischen“ die letzten 3 oder auch 20
Jahre ausschließen. In Verbindung mit „inzwischen“ könnte „weitgehend“ auch 40%
bedeuten, wenn „damals“ mit dem in Aussage (4/5) Behaupteten niemand einverstanden
gewesen ist. Nicht zuletzt muss der Sprecher (Sp) diese Behauptung nicht einmal selbst
vertreten, wird doch durch die Anwendung der 3. Person exophorisch auf eine anonyme
Instanz verwiesen, die das in Aussage (4/5) Gesagte vertritt.
Aussage (6) wiederholt im Kern das, was Aussage (4/5) bereits artikulierte. Interessanter
für die diskursive Operationsweise der Bologna-Erklärung sind dagegen die Aussagen (7) bis
(10). Hier wird zunächst durch das anaphorische Pronomen „diese“ behauptet, dass die
Sorbonne-Erklärung, die ein Jahr vor der Unterzeichnung der Bologna-Erklärung in Paris von
Deutschland, Frankreich, Groß Britannien und Italien unterschrieben wurde, sich auf das in
Aussage (4), (5) und (6) Behauptete bezieht und darüber hinaus gesagt, dass die SorbonneErklärung „die Schlüsselrolle der Hochschulen für die Entwicklung europäischer kultureller
Dimension“ und „die Schaffung des europäischen Hochschulraumes als Schlüssel zur
Förderung der Mobilität und arbeitsmarktbezogenen Qualifizierung seiner Bürger und der
Entwicklung des europäischen Kontinents insgesamt“ betont. In diesen Aussagen wird eine
anderes Papier zitiert, um diverse Inhalte hervorzubringen. Die Sorbonne-Erklärung fungiert
hier als ein Sprecher (Ss), dem bestimmte Inhalte zugeschrieben werden, die im Hinblick auf
ihre genaue Bedeutung nicht klar verortet werden. Die Aussage in der Bologna-Erklärung ist
6
eine deskriptive Behauptung („Die Sorbonne-Erklärung sagt/betont X“); die Aussage der
Sorbonne-Erklärung wird jedoch als eine normative Forderung vorgetragen. Dies wird
insbesondere in Aussage (9) deutlich („Aufforderung“), wo darüber hinaus behauptet wird,
dass „mehrere Europäische Länder“ sich zu dem in der Sorbonne-Erklärung Geforderten
bekennen und ebendiese Regierungen auch entschlossen sind zu handeln. Die exophorischen
Partikel „mehrere Europäische Länder“, „in mehreren Ländern Europas“ und „viele
Regierungen“ verweisen hier auf eine Sprecherinstanz (Sr), die sich zu dem von (Ss)
Geforderten bekennt bzw. das von (Ss) Geforderte verantwortet und sich mit dem Sprecher
(Ss) weitesgehend solidarisieren kann. Die Aussagen (7) bis (10) bleiben hingegen im
„Berichtsmodus“ der „3. Nicht-Person“ [NP] (Benveniste). Das heißt, dass die Unterzeichner
(Unp) der Bologna-Erklärung auf (Ss) und (Sr) exophorisch verweisen, um über diverse
Forderungen zu berichten. Allerdings sind jene Individuen, die sich mit (Ss) und (Sr)
verbinden, weitesgehend die gleichen Individuen, die das, was im Berichtsmodus behauptet
wird, verantworten müssen (Unp). Die Unterzeichner-Individuen (Ui) verweisen auf die
Sprecher-Individuen (Si) und lassen so sich selbst woanders sagen, was sie hier
dokumentieren. Das Individuum spaltet sich in ein Subjekt der Forderung und ein NichtSubjekt des Berichtens. Der Vorteil dieser Strategie liegt darin, dass erstens nicht alle (Ui)s
identisch sein müssen mit allen (Si)s und zweitens jedes (Ui) sich nach belieben von (Si)
distanzieren oder emphatisch damit identifizieren kann. Für ein und dasselbe Individuum
stehen mit (Ss), (Sr) und dem leeren Ort (Unp) drei diskursive Positionen bereit, auf die es
nach Gutdünken hin und her springen kann.
Während Aussage (11) und (12) abschließend die „Hochschulen“ zu Wort kommen und
das bisher Gesagte unterstützen lässt, wird mit Aussage (13) eine Art Wendepunkt markiert.
Mit „die Weichen sind gestellt“ wird auf alles vorher Gesagte anaphorisch zurückverwiesen
und konstatiert, dass „die Weichen gestellt“ sind, wobei der zweite Teilsatz von Aussage (13)
„und das Ziel ist sinnvoll“ wie ein feierliches, emphatisches Bekenntnis zu „die Weichen sind
gestellt“ wirkt. An dieser Stelle tritt ein Subjekt (Sp) durch das Adjektiv „sinnvoll“ erstmalig
mit einer Stellungnahme hervor, um sich in Aussage (14) durch das Adverb „dennoch“ gleich
wieder zurückzunehmen. Die Rücknahme weist zwar eine ähnliche Struktur wie die
„Spezifizierung“ in Aussage (2/3) auf, konstituiert allerdings ein Subjekt, das den Leser über
die dann folgenden, spannungsgeladenen Zeilen hinweg begleiten wird. „Dennoch“ instituiert
einen Sprecher (Sa), der das in Aussage (13) von (Sp) Vertretene zurückweist („Nein, die
Weichen sind nicht gestellt und das Ziel ist nicht sinnvoll“) und einen Sprecher (Sp1), der das
dort von (Sp) Vertretene befürwortet. Das Subjekt (Sp) solidarisiert sich mit und distanziert
7
sich von beiden Sprechern und tritt dadurch als jemand auf, der es in gewisser Hinsicht
„besser weiß“ als (Sp1) und (Sa), indem Subjekt (Sp) mit „erhobenem Zeigefinger“ darauf
hinweist, dass es „kontinuierlicher Impulse“ (14) und der „Förderung konkreter Maßnahmen“
(15) bedarf. Der Spannungsbogen, der ausgehend von Aussage (13) aufgebaut wurde, setzt
sich hier fort, indem das Subjekt (Sp) dem Leser der Bologna-Erklärung zu verstehen gibt,
dass in den folgenden Passagen „die Katze aus dem Sack“ gelassen wird. Was ist ein
„vollständigere[s] und umfassendere[s] Europa“ (2), ein „Europa des Wissens“ (4), worin
besteht nun die „Bedeutung von Bildung und Bildungszusammenarbeit“ (6) und „die
Schlüsselrolle der Hochschulen“ (7), welche Elemente enthält der „Europäische
Hochschulraum“ „als Schlüssel zur Förderung der Mobilität und arbeitsmarktbezogenen
Qualifizierung seiner Bürger und der Entwicklung des europäischen Kontinents insgesamt“
(7)? Bevor uns (Sp) allerdings diese Frage(n) beantwortet, verweist die Bologna-Erklärung in
Aussage (18) deiktisch mit „an dem Treffen am 18. Juni“ zunächst auf sich selbst und
rekrutiert einige Experten („nahmen Experten und Wissenschaftler aus allen unseren Ländern
teil“), um das zuvor installierte Subjekt des Wissens (Sp) mit noch mehr Wissen auszustatten,
wodurch es gelingt, den Spannungsbogen für den Leser in letzter Sekunde noch einmal um
ein paar Grad zu dehnen. Der Leser muss sich allerdings noch ein wenig über ein paar
feierliche und staatstragende Formulierungen („Die Vitalität und Effizienz jeder Zivilisation
lässt sich an der Attraktivität messen, die ihre Kultur für andere Länder besitzt“ (19))
hinweggedulden, bis er erfährt, wie die Minister (Sp) den „Europäischen Hochschulraum“
innerhalb der „ersten Dekade des dritten Jahrtausends“ (21) bauen wollen.
Eine der in Deutschland populärsten Maßnahmen, die zur Schaffung eines Europäischen
Hochschulraumes umgesetzt werden sollen, ist die Einführung von Bachelor und Master.
Diese Maßnahme wird in der Bologna-Erklärung folgendermaßen festgeschrieben:
„(23) Einführung eines Systems, das sich im wesentlichen auf zwei Hauptzyklen stützt: einem
Zyklus bis zum ersten Abschluss (undergraduate) und einen Zyklus nach dem ersten
Abschluss (graduate). (24) Regelvoraussetzung für die Zulassung zum zweiten Zyklus ist der
erfolgreiche Abschluss des ersten Studienzyklus, der mindestens drei Jahre dauert. (25) Der
nach dem ersten Zyklus erworbene Abschluss attestiert eine für den europäischen
Arbeitsmarkt relevante Qualifikationsebene.“
Hier wird klar und deutlich gesagt, dass es sich um zwei aufeinander folgende Abschlüsse
handelt, wobei die Zulassung zum zweiten Zyklus den erfolgreichen Abschluss des ersten
8
Zyklus’ zur Voraussetzung hat, der selbst schon berufqualifizierend sein und mindestens drei
Jahre andauern soll. Der zweite Abschluss kann folgendermaßen benannt werden:
„(26) Der zweite Zyklus sollte, wie in vielen europäischen Ländern, mit dem Master und/oder
der Promotion abschließen.“
Damit wurde von den Ministern beschlossen, was sowieso schon europäische Realität ist: ein
Abschluss, der mindestens drei Studienjahre umfasst und ein darauf aufbauender Abschluss,
der zum Master und zur Promotion oder zur Promotion führt. Auf der Ministerkonferenz, die
zwei Jahre später in Prag stattfand, einigten sich die Minister auf folgende Formulierung:
„(...) (27) Mit Genugtuung haben die Ministerinnen und Minister festgehalten, dass das Ziel –
(28) die Einführung gestufter Abschlussgrade, die auf zwei Hauptstufen basieren, wobei
Hochschulbildung als Undergraduate-Studium und Graduate-Studium definiert wird – in
Angriff genommen und erörtert worden ist. (29) Einige Länder haben diese Struktur bereits
eingeführt, und einige weitere Länder sind stark daran interessiert. (30) Es ist wichtig
festzustellen, dass in vielen Ländern die Abschlüsse als Bachelor und Master oder
vergleichbare zweistufige Abschlüsse an Universitäten und an anderen
Hochschuleinrichtungen erworben werden können. (...)“ (Bildungsminister 2001)
Neu ist an diesen Kommuniqués, dass die Minister hier weitesgehend gar nicht mehr selber
sprechen. Vielmehr installiert das Kommuniqué einen Erzähler, der über das, was die Minister
auf der Konferenz gesagt, getan und gedacht haben, berichtet („Mit Genugtuung haben die
Ministerinnen und Minister festgehalten, dass X“ (27)) und an der einen oder anderen Stelle
plötzlich selbst das Wort ergreift. So verweist das Adjektiv „wichtig“ in Aussage (30) auf
einen Sprecher (Se), der in gewisser Hinsicht als Anwalt des „Bologna-Prozesses“ auftritt.
Der Sprecher (Se) konstatiert, „dass in vielen Ländern die Abschlüsse als Bachelor und
Master oder vergleichbare zweistufige Abschlüsse an Universitäten und an anderen
Hochschuleinrichtungen erworben werden können“, und er weist darauf in, dass der Leser
diesen Sachverhalt bitte zur Kenntnis nehmen möge, ohne daraus selbst weitere
Schlussfolgerungen zu ziehen. So weist (Se) den Leser auf die eine oder andere Tatsache hin,
deutet vorsichtig an, wer wo steht, ohne jedoch sich selbst als jemand hinzustellen, der etwas
persönlich vertritt, noch als jemand, der in der Position wäre, Strafen zu verteilen.
9
Weitere zwei Jahre später, auf der Berlin-Konferenz 2003, wird Problematik des
zweistufigen Studiensystems schließlich folgendermaßen formuliert:
(31) Die Abschlüsse des ersten Studienzyklus sollten im Sinne des Lissabon-Abkommens
den Zugang zum zweiten Zyklus, Abschlüsse des zweiten Zyklus den Zugang zum
Doktorandenstudium ermöglichen. (...)“ (Bildungsminister 2003)
Hier wird vom Erzähler mehr oder weniger empfohlen („sollte“), dass der zweite Abschluss
dem ersten folgt und das Doktorandenstudium dem zweiten Abschluss. Damit lassen die
Minister 4 Jahre nach der Unterzeichnung der Bologna-Erklärung ihrem Erzählersprecher
(Se) erstmalig eine klare Empfehlung aussprechen, wonach es nicht zwei sondern drei
Abschlüsse geben soll. Einen feierlichen Beschluss der Minister selbst, wo der erste
Abschluss den Titel „Bachelor“ trägt und der zweite Abschluss den Titel „Master“, finden wir
auch im Kommuniqué der dritten Bologna-Nachfolgekonferenz in Bergen 2005 nicht. Zwar
wird der Bolognakompetente Leser dem unwissenden Leser der Bologna-Dokumente empört
entgegnen, dass es doch klar sei, dass mit dem „ersten Abschluss“ der „Bachelor“ und mit
dem „zweite Abschluss“ der „Master“ gemeint war. Sicherlich, der Bolognakompetente Leser
weiß das, weil er sich in den zahlreichen Ko- und Kontexten des Bologna-Diskurses auskennt.
Und er hat auch kein Problem damit, in die Bologna-Dokumente genau diese Forderung nach
Bachelor und Master hineinzulesen und klar und deutlich zu sagen: „Der Bologna-Prozess
bedeutet die Einführung von Bachelor und Master!“. Ja, der Bolognakompetente Leser kann
und weiß das alles! Aber warum die Minister nicht? Wie ist es zu erklären, dass die Minister
zahlreiche andere Sprecher wie die „politische und akademische Welt“, die „öffentliche
Meinung“, die Sorbonne-Erklärung, „viele Regierungen“ etc. zu Wort kommen lassen, um
diese Sprecher Dinge fordern und beschreiben zu lassen, die weitesgehend bedeutungsleer
bleiben? Wie interpretieren wir einen diskursiven Mechanismus, der ein wissendes,
staatstragendes Subjekt einen Spannungsbogen ziehen lässt, der schließlich in nicht nur
völkerrechtlich sondern darüber hinaus inhaltlich unverbindlichen Maßnahmen zur
„Errichtung eines Europäischen Hochschulraumes“ erschlafft? Müssen wir vor dem
Hintergrund dieser Ergebnisse konstatieren, dass die Bologna-Erklärung fast nichts bedeutet
und das Wenige auch noch von irgendwelchen anonymen Figuren vertreten wird? Sicherlich,
wenn wir davon ausgehen, dass die Bedeutung des „Bologna-Prozesses“ sich in der Tiefe der
Worte und der Entschlossenheit seiner Minister erschöpft. Aber die Bedeutung von Diskursen
erschöpft sich nie allein in den Texten. Die Texte sind immer auch auf engere und weitere
10
Kontexte und Kotexte angewiesen. Aus der Sicht der Bologna-Erklärung sind die begeisterten
Lesexperten und Expertenleser sowie die nationalen und regionalen Umsetzungsaktivitäten
ein wichtiger Kontext, wo zahlreiche weitere Texte produziert werden. Ohne diese Kontexte
wäre die Bologna-Erklärung auch dann bedeutungslos, wenn ihre Forderungen und
Behauptungen inhaltlich etwas aussagen würden.
1.2. Bologna lesen
Seit der zweiten Bologna-Nachfolgekonferenz in Berlin 2003 zählen policy-Fragen zu
„Qualität“ zu den Top-Themen im „Bologna-Prozess“. Auf jener Berlin-Konferenz wurde
eine Arbeitsgruppe aus EUA (Hochschulrektoren, Europa), EURASHE
(Bildungseinrichtungen, Europa), ESIB (Studierende, Europa) und ENQA (Europäisches
Netzwerk zur Qualitätssicherung) zusammengestellt, die den Auftrag erhielt, in ein
Arbeitspapier zu Standards und Richtlinien zur Qualitätssicherung zu erarbeiten. Dieses
Papier mit dem Titel „Standards and Guidelines for Quality Assurance in the European
Higher Education Area“ wurde auf dritten Nachfolgekonferenz in Bergen 2005 von den
Ministern als Grundlage für die Qualitätssicherung beschlossen. In einem Artikel mit dem
Titel „Neues zur Qualitätsfrage. Entwicklungen auf der Bergen-Konferenz“, veröffentlicht in
einer Sonderausgabe des Hochschulmagazins „DUZ“ zum „Bologna-Prozess“, unterstützt und
finanziert vom Bundesministerium (BMBF) und der Hochschulrektorenkonferenz (HRK),
bezieht sich Jürgen Kohler, Vorsitzender des deutschen Akkreditierungsrates (AR), zunächst
auf jenen Passus im Bergen-Kommuniqué, wo das Papier der Arbeitsgruppe beschlossen
wird. Anschließend berichtet Kohler über einen Aspekt zur Qualitätssicherung aus dem
Arbeitspapier selbst, wonach Qualitätssicherung nicht nur die Überprüfung der Qualität von
Studiengängen, sondern darüber hinaus die Überprüfung des Vorhandenseins eines Systems
der Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität an Hochschulen beinhaltet. Das folgende
Textdokument folgt unmittelbar dieser Erörterung. Das Wort „damit“ in Aussage (1) verweist
anaphorisch auf diesen Sachverhalt zurück. Um den Zusammenhang zu illustrieren, wird
unten der letzte Satz des vor „damit“ Gesagten mit angeführt.
„(...) Auf diesen Zweck gerichtet, sollen Hochschulen außer einer Selbstverpflichtung auf
Qualität auch eine Strategie zur fortgesetzten Qualitätsentwicklung einführen. (einzeiliger
Absatz im Originaldokument)
11
(1) Damit wird angedeutet, dass zumindest neben der Programmebene als Gegenstand
der zu Akkreditierungszwecken zu analysierenden Qualität auch die hochschuleigenen
Vorkehrungen zur Steuerung der institutionellen Prozesse bei Studiengangsentwicklung und –
fortschreibung Akkreditierungsobjekt sein sollen. (2) Aus der Sicht des bisherigen deutschen
Akkreditierungsansatzes hat dies eine erhebliche Brisanz, (3) weil damit für die interne, die
externe und die agenturbezogen-externe Qualitätssicherung nicht mehr ausreichend erscheint,
sich auf die Betrachtung des Studiengangs als solchen, also gewissermaßen des „Produkts“,
zu beschränken, ohne den Blick auch auf die studiengangentwickelnde Qualität der
Hochschule, also quasi des „Produzenten“, zu richten.“
Der einzeilige Absatz im Originaldokument und das Wort1 „damit“ markieren zunächst einen
Bruch zwischen dem Bericht über die Inhalte des Arbeitspapiers und der Interpretation, die ab
„damit“ folgt. Die anaphorische Geste des Wort „damit“, verbunden mit dem einzeiligen
Absatz, verweist auf den Äußerungskontext der Aussage. Diese beiden Äußerungsspuren
erzeugen beim Leser Aufmerksamkeit für das, was der Sprecher (Sp) nun zu sagen hat. In
mündlichen Reden werden solche Äußerungsabdrücke durch das Heben des Kopfes, das
Zuwenden zum Publikum oder eine Veränderung in der Stimmlage evoziert. Schriftliche
Diskurse müssen auf andere Ressourcen zurückgreifen. Eine dieser Ressourcen ist das
Einfügen eines Absatzes. Eine andere Möglichkeit wäre gewesen, statt „damit wird
angedeutet“ „damit wird nun angedeutet“ zu sagen.
Das Subjekt (Sp) wird in Aussage (1) als ein Leser des „Bologna-Prozesses“
hervorgebracht, der die Dokumente ausführlich studiert hat und mit viel Hintergrundwissen
als Experte auslegen kann. Nach der berichtenden Darstellung über die „neuesten
Entwicklungen zu Qualitätsfragen“ wird (Sp) in Aussage (1) als Interpretateur dieser neuesten
Entwicklungen sichtbar, indem er sich (evoziert durch den Äußerungsabdruck) einem
Publikum zuwendet, dem unterstellt werden kann, dass es über Dinge, die (Sp) kennt, nicht
Bescheid weiß. Das Verb „angedeutet“ und das Adverb „zumindest“ sowie das Wort „auch“
instituieren einen Sprecher (Sb), den (Sp) behaupten lässt, dass „neben der Programmebene
der Qualität die Prozessebene der Qualität akkreditiert werden muss“ (Fx), und einen
Sprecher (Sa), der dies verneint („Nein, die Programmebene muss nicht akkreditiert werden“
(Fy)). Das Subjekt (Sp) weist in Aussage (1) den Sprecher (Sa) dabei vollständig zurück, ohne
jedoch gänzlich die Position von (Sb) zu beziehen. Sprecher (Sb) vertritt hier die Position des
„Bologna-Prozesses“. So lässt (Sp) (Sb) im Namen des „Bologna-Prozesses“ fordern, dass
1
Nehmt mir das hier nicht übel. Ich muss erst noch die Wortarten suchen. :-)
12
(Fx), wobei sich Sprecher (Sp) als sachkundiger und aufmerksamer Leseexperte des
„Bologna-Prozesses“ nicht ganz darauf festlegt, ob (Fx) tatsächlich wahr ist. (Sp) weist zwar
(Fy) als „falsch“ zurück, kann sich jedoch auch nicht emphatisch auf „(Fx) = wahr“ festlegen.
In Aussage (2) bricht dieser Schwebezustand zusammen und es wird präsupponiert, dass
(Fx). Das polytemporale Adverb „bisherigen“ evoziert einen Zeitpunkt „jetzt“ und einen
Zeitpunkt „damals“. Dadurch wird ein Sprecher (Sad) evoziert, den (Sp) sagen lässt „es wird
die Programmebene akkreditiert“ (Fyd), wobei das, was (Sad) behauptet, auf den Zeitpunkt
„damals“ verschoben wird. Das Demonstrativpronomen „dies“ verweist anaphorisch auf
Aussage (1) zurück und positioniert die Problematik der Aussage (1) auf den Zeitpunkt
„jetzt“. Durch die Wertung „erhebliche Brisanz“ wird der Leseexperte (Sp) sichtbar, der nun
präsuppositional (Fx) übernimmt, wobei (Fx) (Fyd) ausschließt (wenn (Fyd) wahr ist, dann ist
(Fx) falsch; da (Fyd) wegen Aussage (1) aber in jedem Fall falsch ist, kann hier nun (Fx) wahr
sein). So gelingt es dem Leseexperten (Sp) sich mit dem, was (Sb) in Aussage (1) behauptet
hat, nämlich (Fx), zu identifizieren, ohne mit (Sb) zu verschmelzen. Der diskursive
Mechanismus, der hier zur Anwendung kommt, ist allerdings nicht die klassische
Präsupposition, sondern die Inferenz. Dadurch, dass (Fx), (Fy) und (Fyd) bereits geäußert
waren, konnte Leseexperte (Sp) aus den geäußerten Inhalten eine Variante isolieren, die den
offen gelassenen Ort (F...j) besetzt. Der Mechanismus der Inferenz geht dabei auf die Suche
nach adäquaten Optionen, die bereits vorhanden sind, jedoch nicht notwendigerweise diesen
Platz beziehen müssen. Der Leseexperte (Sp) kann nun problemlos vom Leser seines
Diskurses, dem interessierten Publikum, erwarten, dass (F...j) mit dem Inhalt von (Fx) gefüllt
werden muss, ohne jedoch die Form der Forderung von (Sb) in Aussage (1) zu übernehmen.
Die Grundstruktur des diskursiven Mechanismus von Aussage (2) wird in Aussage (3)
wiederholt und verfestigt. Das Wort „weil“ weist zunächst in Verbindung mit „damit“
anaphorisch auf Aussage (2) zurück. „Weil“ leitet zudem eine Begründung ein, die ebenfalls
eine Äußerungsmarkierung ist, und transportiert so die in Aussage (2) inferierte Behauptung
(Fx) in Aussage (3). In der Formulierung „nicht mehr ausreichend erscheint“ wird wiederum
ein Sprecher (Sb), den der Leseexperte (Sp) sagen lässt „der Studiengang, das ‚Produkt’, und
die studiengangentwickelnde Qualität der Hochschule, der ‚Produzent’, werden akkreditiert“
(Fx), und ein Sprecher (Sa) hervorgebracht, der (Fx) verneint. Der Leseexperte (Sp)
orchsetriert hier diese beiden Stimmen, indem er (Sa) zurückweist und durch die
Einschränkung „es scheint“ (Sb) Recht gibt und sich selbst als kritischer und sachkundiger
Experte bestätigt.
13
Das Publikum weiß nun Bescheid! Nur, hat sich der Leseexperte vielleicht nicht doch ein
wenig verhaspelt? Oder ist das hier nur ein Druckfehler? Meinte unser Leseexperte mit der
zweiten Metapher wirklich den „Produzenten“ und nicht den „Produktionsprozess“? Sitzt da
vielleicht jemand im Publikum, dem etwas Klar gemacht werden sollte? Oder ist die
Problematik, die in Aussage (1) bis (3) entwickelt wurde, vielleicht gar nicht die Frage, ob nur
das „Qualitätsprodukt“ oder aber beides, das „Qualitätsprodukt“ und der
„Produktionsprozess“, akkreditiert werden muss? Am Ende des Beitrags bietet uns Jürgen
Kohler noch eine zusammenfassende Interpretation der „neuesten Entwicklungen zur
Qualitätsfrage“.
„(...) (4) Es bietet sich auch die Basis dafür, die Freiheit von Forschung und Lehre nach
Artikel 5 des Grundgesetzes und die Hochschulautonomie mit dem Akkreditierungssystem zu
verbinden, das von einem kleinteiligen Überwachungssystem zu einem System gelangt, das
auf dem Grundsatz des „vorsichtigen Vertrauens“ errichtet ist. (5) Und dass damit eine
Forderung schon des Berliner Kommuniqués von 2003 erfüllt wird, zeigt wiederum nur, (6)
dass das Akkreditierungswesen seine Legitimation aus dem Bologna-Prozess herleiten kann;
(7) dort heißt es sinngemäß, auch wenn dies eine Nachschau von außen nicht ausschließt: (8)
Die Zuständigkeit für die Qualitätssicherung liegt primär bei den Hochschulen.“
Durch die Formulierung/Nomen „Freiheit von Forschung und Lehre nach Artikel 5 des
Grundgesetzes“ und „Hochschulautonomie“ vs. „Akkreditierungssystem“ und „kleinteiliges
Überwachungssystem“ wird in Aussage (4) eine Lagerkonstellation konstruiert, die durch das
Zitat „‚vorsichtiges Vertrauen’“ vom Leseexperten (Sp) zurückgewiesen wird. Aufgrund des
Entscheidungssystems im kooperativen Bildungsföderalismus haben die Hochschulen das
Recht, über die Abschlüsse, die Inhalte der Lehre und die Durchführung der Lehre frei zu
entscheiden. Das betrifft gerade die Frage der Qualitätssicherung, die sich auf die
Ausgestaltung der Studiengänge bezieht. Dadurch könnten sich die Hochschulen
grundsätzlich dem Akkreditierungswesen entziehen und dies zur Not beim
Bundesverfassungsgericht einklagen. Denn im Gegensatz zur Genehmigungspraxis durch die
Ministerien greift die Akkreditierung direkt in die Studieninhalte ein. So wird in Aussage (4)
der Gremien-Subframe und der Legislativ-Subframe des BKFF (vgl. Kapitel 4, Abschnitt
1.2.1) mobilisiert, wodurch der diskursive Raum zunächst in zwei kontradiktorische Lager
„Freiheit von Forschung und Lehre“ (Hochschulen) vs. „Akkreditierungssystem als
kleinteiliges Überwachungssystem“ (Akkreditierungsrat) aufgeteilt wird. Das Nomen
14
„Hochschulautonomie“ mobilisiert dagegen den Hochschulsteuerungsframe (HSF) (vgl.
Kapitel 4, Abschnitt 1.1.1), wobei dieses Nomen in diesem Kontext eine den Hochschulen
zugeschriebene und allgemein, also auch vom Leseexperten und Vorsitzenden des
Akkreditierungsrates (Sp) anerkannte Forderung artikuliert.
Dieser kontradiktorischen Lagerkonstellation wird nun ein „System des ‚vorsichtigen
Vertrauens’“ gegenübergestellt. Die Formulierung „‚vorsichtiges Vertrauen’“ evoziert neben
(Sp) vier weitere Sprecher: Zunächst einen Sprecher, den (Sp) „vorsichtiges Vertrauen“ für
sich sagen lässt. Leseexperte (Sp) sagt also nicht selbst „vorsichtiges Vertrauen“, sondern
lässt einen Sprecher (Sz) das „System“ umschreiben, für das (Sp) Partei ergreift. Dieser
Sprecher (Sz) wird durch die Anführungszeichen instituiert. Sprecher (Sz) wiederum lässt
ebenfalls andere Sprecher zur Sprache kommen. Ein Sub-Sprecher (Za), der sagt „kein
Vertrauen“, einen Sub-Sprecher (Zb), der sagt „volles Vertrauen“ und einen Sub-Sprecher
(Zx), der sagt „weder ‚kein Vertrauen’ noch ‚volles Vertrauen’“ und damit sowohl (Za) als
auch (Zb) zurückweist. Mit diesem Sprecher (Zx) identifiziert sich (Sz). So gelingt es dem
Leseexperten (Sp) Stellung zu beziehen, indem er einen Anderen (Sz) sagen lässt, was er
fordert, der selbst „seine“ Forderung nur über einen weiteren Sprecher (Zx) artikuliert, der
letztlich nur Position bezieht, indem er zwei weitere Sprecher (Za) und (Zb) zurückweist! In
Aussage (5) triumphiert der Leseexperte regelrecht, indem er durch den Verweis auf das
Berlin-Kommuniqué sein ganzes Expertenwissen hervorholt und die Legitimität seiner
Agentur, des AR, aus den Forderungen des „Bologna-Prozesses“ in Form einer
formallogischen Ableitung herleitet. Auch wenn nun alles geklärt, die kontradiktorische
Frontstellung von „Hochschulen“ vs. „Akkreditierungsrat“ aufgelöst und mit dem „System
des ‚vorsichtigen Vertrauens’“ eine Lösung für das Problem gefunden scheint – instituiert das
Adjektiv „primär“ in Aussage (8), die wie ein Befreiungsschlag wirkt, nicht ein „sekundär“,
wodurch eben jene Lösung gleich wieder eine neue Polyphonie einleitet, die den Leseexperten
in einen weiteren Konflikt zwischen seiner unabhängigen Expertenrolle und seiner Rolle als
Politiker im System der Politikverflechtung des kooperativen Bildungsföderalismus schlittern
lässt?
Anhang:
1) policy-frames:
1.2.1. Qualitätsframe
15
Die Entstehung des Qualitätsframes (QF) geht zurück auf den Umschwung in der
hochschulpolitischen Debatte Anfang der 1990er Jahre, wo zunehmend die Hochschulen und
weniger der Staat Gegenstand der Debatte wurden (siehe auch „Studienreformframe“ und
„Hochschulsteuerungsframe“). Der QF zielt im Kern auf eine Evaluation der in den
Hochschulen erzielten Produkte und Dienstleistungen in Bildung und Wissenschaft. Lehre
und Forschung soll einerseits hinsichtlich der Effizienz der eingesetzten Mittel und
andererseits hinsichtlich des gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und ökonomischen
Bedarfs (Effektivität) begutachtet werden.
Im Rahmen der leistungsorientierten Finanzierung (siehe auch
„Hochschulsteuerungsframe“), der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen
Hochschulen (siehe auch „Spitzenuniversitätenframe“ und „Internationalisierungsframe“) und
der Verbesserung der Lehre (siehe auch „Studienreformframe“) sollen Lehre und Forschung
in ein System der Qualitätssicherung eingebettet werden (vgl. Friedrich 2003). Dieses System
besteht aus drei Teilen: der Akkreditierung, der Evaluation und der Rechnungslegung
(Accountability). Zunächst werden allgemeine Ziele definiert, die der Akkreditierung zu
Grunde liegen. Im Falle der Lehre gehören pädagogisch definierte Kompetenzen wie Wissen,
Verstehen und Können sowie (vgl. Kultusministerkonferenz 2005) formale Strukturen wie
spezifische Abschlüsse (Bachelor/Master), Leistungspunktesysteme (ECTS), eine modularer
Aufbau des Studiums etc. zu diesen Zielen (siehe auch „Bolognaframe“). Im
Akkreditierungsprozess sollen Studiengänge von Akkreditierungsagenturen mit Blick auf
solche Kriterien überprüft werden. Dafür verfassen die Antrag stellenden Hochschulen
zunächst einen Bericht über den einzurichtenden Studiengang. Auf Grundlage dieses Berichts
sowie ein- bis mehrtägigen Begehungen der Hochschulen durch eine Begutachterkommission
erstellt die Akkreditierungsagentur einen Bericht, wo die Akkreditierung mit oder ohne
Auflage erteilt oder nicht erteilt wird. Die Akkreditierungsagenturen, die selbst von einem
Akkreditierungsrat zugelassen worden sind, sollen aus Repräsentanten der Wirtschaft, des
Staates, der Wissenschaft, der Studierenden und international zusammengesetzt sein.
Einige Jahre nach der Akkreditierung ist eine Evaluation vorgesehen. Das
Evaluationsverfahren überprüft im wesentlichen, ob der akkreditierte Studiengang so, wie er
im Rahmen der Akkreditierung zugelassen wurde, auch realisiert wurde. Der dritte Aspekt,
die Rechnungslegung, bezieht sich auf eine permanente Re-Akkreditierung und Evaluation in
der Zeit. Das heißt, Hochschulen sollen ständig die Aktualität, Effizienz und Notwendigkeit
der von ihr angebotenen Dienstleitungen nachweisen (siehe auch
„Hochschulsteuerungsframe“, „Studienreformframe“ und „Internationalisierungsframe“).
16
Das Qualitätssicherungssystem in der Forschung soll im Prinzip ebenso aufgebaut
werden. Allerdings tut sich der QF schwer, die Forschung ebenso klar zu verorten wie die
Lehre, weil in der Forschung diejenigen, die sie betreiben, auch diejenigen sind, die sie
beurteilen, nicht jedoch diejenigen, die sie finanzieren. Im Grundsatz gilt allerdings auch für
die Forschung, dass sie aktuellen internationalen Standards entsprechen (durch
Veröffentlichungen in entsprechenden Zeitschriften), effizient durchgeführt und permanent
begründet (Forschungsberichte) sowie gleichzeitig innovativ ausgerichtet sein soll.
1.2.2. Bolognaframe
Der Bolognaframe (BF) geht zurück auf eine Erklärung von 29 europäischen
Bildungsministerinnen und –ministern 1999, wurde 2000 in die Lissabonstrategie der
Europäischen Union eingebunden, wonach Europa zum „wettbewerbsfähigsten,
wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ werden soll, und entwickelte sich im Zuge
mehrerer Nachfolgekonferenzen weiter.
Der BF zielt auf die Erschaffung eines Europäischen Hochschulraumes (EHEA) bis 2010
und auf eine Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Hochschulen dieses
Raumes (siehe auch „Hochschulsteuerungsframe“ und „Internationalisierungsframe“). Zudem
soll der EHEA mit einem Europäischen Forschungsraum (ERA) verbunden werden (vgl.
Bildungsminister 2003). Um diese Kernziele zu realisieren, sollen alle Studiengänge auf
Bachelor- und Masterabschlüsse umgestellt werden und im Rahmen des EHEA leicht
verständlich und vergleichbar sein. Zudem soll das Studium eine Beschäftigungsfähigkeit
(Employability) aufweisen (siehe auch „Studienreformframe“), mit einem
Kreditpunktesystem (ECTS) und einem Diploma Supplement (siehe auch Europaframe“), das
den Inhalt des Studiums mehrsprachig darstellt, ausgestattet sein. Darüber hinaus sollen die
Studiengänge in Modulform strukturiert sein, eine Europäische Dimension erhalten (siehe
auch „Internationalisierungsframe“) und in ein Qualitätssicherungssystem eingebettet sein
(siehe auch „Qualitätsframe“). Diese Maßnahmen sollen neben der Beschäftigungsfähigkeit
innerhalb des EHEA die internationale Mobilität der Studierenden erleichtern (siehe auch
„Hochschulausbauframe“ und „Internationalisierungsframe“). Schließlich sollen alle
strukturellen Maßnahmen im Europäischen Rahmen abgestimmt und koordiniert werden (vgl.
Eckardt 2005, Bildungsminister 1999).
Auf der ersten Nachfolgekonferenz in Prag 2001 kam noch das Ziel hinzu, das
Lebenslange Lernen zu fördern, die Studierenden in den Reformprozess mit einzubinden und
17
die internationale Attraktivität des EHEA zu fördern (vgl. Bildungsminister 2001). Auf der
zweiten Nachfolgekonferenz in Berlin wurde das Doktorandenstudium als dritte Phase nach
Bachelor und Master sowie die Integration des EHEA mit dem ERA in den BF mit
aufgenommen (vgl. Bildungsminister 2003).
2) polity-frames:
1.3. polity-frames
Polity-frames beschreiben das hochschulpolitische Entscheidungssystem. In der
Politikwissenschaft spricht man hier auch vom institutionellen System (Scharpf). Wenn im
folgenden von „Akteuren“ die Rede ist, dann wird damit weder eine Akteurstheorie unterstellt
noch irgendeine andere Form von Subjektivismus. Wir benutzen den Begriff „Akteur“, weil
sich die „Akteure“ in den polity-frames selbst als Akteure bezeichnen. Dieses Wort dient also
nur der Markierung von diskursiven Instanzen, die in den Diskursen regelmäßig bezogen
werden können. Wie auch die policy-frames bestehen die polity-frames aus Terminals und
stellen allgemeine Bedeutungs- und Handlungsskripts dar. Allerdings liegt die Bedeutung
dieser frames auf einer anderen Ebene als die der policy-frames. Im folgenden sollen einige
zentrale Merkmale des institutionellen Systems herausgearbeitet werden, die wir im weitesten
Sinne als Terminals bezeichnen können. Ebenso wie die Elemente der policy-frames werden
auch die Elemente der polity-frames ausgehend von diskursiven Texten mobilisiert. Und
ebenso wie die policy-frames sind auch die polity-frames keine Idealtypen sondern
interdiskursive Ressourcen. Schließlich erhebt auch die folgende Darstellung keinen
Anspruch auf Vollständigkeit.
1.3.1. der kooperative bildungspolitische Föderalismus der Bundesrepublik Deutschland
Das institutionelle Entscheidungssystem im Hochschulbereich der Bundesrepublik
Deutschland entspricht im Kern der Grundstruktur des kooperativen Staates, der durch ein
konsensorientiertes Zusammenwirken von Staat und zivilgesellschaftlichen
Interessenverbänden gekennzeichnet ist (vgl. Esser 1999). Allerdings weist der
bildungspolitische kooperative Föderalismus-frame (BKFF) gegenüber der üblichen Struktur
des kooperativen Staates durch die grundgesetzlich festgeschriebene Wissenschaftsfreiheit
und die ebenfalls grundgesetzlich festgeschriebene Kulturhoheit der Länder einige
18
Besonderheiten auf, die sich bereits in der Zusammensetzung der kooperativen Akteure zeigt.
Neben den legislativen Organen von Bundesparlament, Länderparlamente und
Hochschulgremien und den zivilgesellschaftlichen Interessenverbänden treten bundesweite
Arbeits- und Koordinierungszusammenhänge. Zu den Gegenwärtig wichtigsten beiden dieser
bundesweiten Zusammenhänge zählen die Kultusministerkonferenz (KMK) und der
Akkreditierungsrat (AR). Diese Arbeitszusammenhänge dienen der bundesweiten
Koordinierung von Bildungs- und Wissenschaftsfragen und haben weder eine Lobbyfunktion
noch Gesetzgebungs- und Ausführungskompetenzen (vgl. Arbeitsgruppe Bildungsbericht
1997). Von daher ist der BKFF durch eine dreipolige Akteurkonstellation, die jeweils als
Subframe dargestellt werden kann, gekennzeichnet, die im folgenden in Umrissen
beschrieben werden soll.
1.3.1.1.Der Legislativ-Subframe („Hauen und Stechen“)
Zum Legislativpol zählen die Länderparlamente, der Bundestag und die Hochschulen. Auf der
Grundlage des Art. 30 Grundgesetz haben grundsätzlich die Länder im Kulturbereich, zu dem
auch die Hochschulen gehören, die gesetzgebenden und administrativen Kompetenzen (vgl.
Arbeitgruppe Bildungsbericht 1997). Die Länder entscheiden autonom über die Errichtung
und Schließung von Hochschulen. Über die Landeshochschulgesetze und die Finanzierung
bestimmen sie darüber hinaus über die Struktur der Hochschulen. Die
Steuerungsmöglichkeiten der Länder finden erst an der durch das Grundgesetz garantierten
Wissenschaftsfreiheit, an den Gesetzgebungskompetenzen des Bundes und an den eigenen
fiskalischen Möglichkeiten ihre Grenze. Der Bund hat vor allem durch das
Hochschulrahmengesetz, das Bundesausbildungsfördergesetz, die Nachwuchsförderung, die
Forschungsförderung, das Dienstrecht und das Hochschulbaufördergesetz Kompetenzen im
Hochschulbereich. Das Hochschulrahmengesetz legt allgemeine Normen und Grundsätze für
den Hochschulbereich fest und über das Dienstrecht werden bundesweit einheitliche
Laubahnen im öffentlichen Dienst festgeschrieben. Über die Forschungsförderung, die
Ausbildungsförderung, die Nachwuchsförderung und den Hochschulbau hat der Bund vor
allem Einfluss über seine Voll- bzw. Anteilfinanzierung. Darüber hinaus ist der Bund in der
Lage, über Hochschulsonderprogramme den Hochschulen eine über das übliche bundesweite
Budget hinausgehende Zusatzfinanzierung zukommen zu lassen. In der Regel „erkauft“ sich
der Bund dadurch auch Einfluss auf die strukturelle Entwicklung im Hochschulbereich, weil
die Länder seit der Gründung der Bundesrepublik auf die Zusatzfinanzierung des Bundes
19
angewiesen sind, um von ihren formalen Zuständigkeiten im Rahmen des Art. 30
Grundgesetz Gebrauch machen zu können. Die Kompetenzen des Bundes im
Hochschulbereich finden in der Regel in der Kulturhoheit der Länder und der
Wissenschaftsfreiheit ihre Grenzen, die oftmals erst vom Bundesverfassungsgericht gezogen
werden. Die Hochschulen haben durch Art. 5 III. Grundgesetz das Recht auf Selbstverwaltung
(vgl. Bauer 1999). Dazu zählen neben der Forschungsfreiheit das Recht, die Art und Weise
festzulegen, wie der wissenschaftlichen Nachwuchs herangezogen wird und dies auch
durchzuführen. Die Hochschulen entscheiden über die Lehrinhalte, die Vergabe
wissenschaftlicher Titel und die Reproduktionswege der wissenschaftlichen Gemeinschaft.
Schließlich finden die Kompetenzen der Hochschulen ihre Grenzen an den
Länderkompetenzen, die Bundeskompetenzen und an der Finanzierung. Gerade durch die
Finanzhoheit und Entscheidungskompetenzen über die Struktur der Hochschullandschaft der
Länder ist dem offiziellen, durch das Grundgesetz gesetzten Autonomierahmen der
Hochschulen immer auch ein „inoffizieller“, durch eben jene Länderhoheit begründeter
Handlungsrahmen an die Seite gestellt.
Aus diesem System der Kompetenzverteilung ergibt sich schließlich, dass keiner der drei
Akteure wirkliche Autonomie hat, weil sich die Kompetenzen dieser drei Akteure in den
meisten Fällen überschneiden. Die jeweilige Überschneidungsform kann nur für jeden
einzelnen Fall beschrieben werden. Neben der oben kurz umrissenen rechtlichen
Kompetenzverteilung ergeben sich aus eben dieser Kompetenzverteilung zwei weitere
Konfliktmechanismen, die wiederum auf die institutionellen Kompetenzen zurückstrahlen.
Diese Konfliktform könnte man als „Hauen und Stechen“ beschreiben. Die obere Ebene
(Bund – Land und Land – Hochschule) ist auf die untere Ebene immer angewiesen, wenn es
darum geht Gesetze umzusetzen. Dadurch wird der unteren Ebene immer ein gewisser Raum
für Boykot und interessengeleiteter Rechtsauslegung eröffnet („Stechen“). Ein Beispiel
hierfür ist die teilweise Nichtumsetzung von Rahmenvorschriften des Bundes aus dem
Hochschulrahmengesetz in die Landeshochschulgesetze der Länder und die gegenwärtige
Umsetzungspraxis der Hochschulen im „Bologna-Prozess“. Umgekehrt ist die untere Ebene
auf die obere Ebene durch die begrenzten Finanzierungsmöglichkeiten angewiesen, um ihre
rechtlich festgeschriebenen Kompetenzen wahrnehmen zu können. Dadurch eröffnete sich der
oberen Ebene immer ein gewisses Verhandlungs- bzw. Erpressungspotenzial („Hauen“).
Hierfür wiederum ist die Ausweitung der Bundeskompetenzen im Hochschulbereich
(Hochschulrahmengesetz und Hochschulbaufördergesetz) gegen Ende der 1960er/Anfang der
20
1970er Jahre sowie die Durchsetzung des „Bologna-Prozesses“ an den Hochschulen seitens
der Länder ein Beispiel.
1.3.1.2.der Gremien-Subframe („Politikverflechtung“)
Der zweite Pol im BKFF wird von bundesweiten Gremien und Arbeitsgruppe gebildet, die
aus Vertretern von Bund, den Ländern und, in einigen Fällen, Hochschulen und der
zivilgesellschaftlichen Interessensvertretungen zusammengesetzt sind. Zu diesen
Arbeitgruppen zählen bzw. zählten die „Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und
Forschungsförderung“ (BLK) (1970 bis heute), der „Wissenschaftsrat“ (WR) (1957 bis
heute), die „Ständige Konferenz der Kultusminister in der Bundesrepublik Deutschland“,
kurz: „Kultusministerkonferenz“ (KMK) (1949 bis heute), der „Deutsche Ausschuss für das
Erziehungs- und Bildungswesen“ (1953 bis 1965), der „Deutsche Bildungsrat“ (1965 bis
1975) und weitere, zu Einzelfragen sporadisch gebildeten Bund-Länder-Arbeitsgruppen (vgl.
Arbeitsgruppe Bildungsbericht 1997). Neuerdings muss auch der Akkreditierungsrat (AR),
der als Stiftung 1999 eingerichtet wurde, dazugezählt werden.
Der rechtliche Hintergrund für die Bildung zahlreicher bundesweiter Arbeitsgruppen ist
die durch Art. 30 Grundgesetz festgeschriebene Kulturhoheit der Länder, die
Kompetenzverteilung im Bildungsbereich sowie das Interesse aller Akteure, trotz Art. 30
Grundgesetz bundeseinheitliche Reglungen im Bildungsbereich herzustellen (vgl. Bauer
1999). Durch diese Konstellation entsteht ein Entscheidungssystem, das Scharpf als
„Politikverflechtung“ beschrieben hat und das insgesamt als ein typisches Merkmal der
föderalistischen Bundesrepublik gilt (vgl. Scharpf 1978). Politikverflechtung bedeutet, dass
Gesetzgebungs- und Durchführungskompetenzen auf unterschiedlichen administrativen und
legislativen Ebenen verteilt sind, wobei sich die Interessen der entsprechenden Akteure in der
Regel widersprechen. Da aber kein Akteur autonom handeln kann und somit auf die
Kooperation der anderen Akteure angewiesen ist, entsteht ein Koordinierungs- und
Konsenszwang. So ist es auch nicht verwunderlich, dass in allen oben aufgezählten Gremien
bei allen wichtigen Fragen das Einstimmigkeitsprinzip und eine paritätische
Zusammensetzung der beteiligten Akteursgruppen herrscht. Politikverflechtung führt in der
Regel zu einem Entscheidungssystem, das entweder keine, keine weitreichenden oder
Entscheidungen zustande bringt, mit der allen Beteiligten unzufrieden sind. Insofern erzeugt
Politikverflechtung bei den Beteiligten und Betroffenen nach Scharpf enormen
Entscheidungsstress und Frust. Allerdings gibt es nicht nur einen Mechanismus der
21
Politikverflechtung, sondern unterschiedliche Typen und Aspekte dieses Mechanismus. Die
von Scharpf herausgearbeiteten Merkmale der Politikverflechtung gelten im Falle des
Bildungsbereichs vor allem für Fragen der Finanzierung und Bildungsplanung (vgl. Raschert
1980)2. Welche konkrete Ausprägungsform der Politikverflechtung wir jeweils beobachten
können, hängt immer von den beteiligten Akteuren und der Brisanz der Problematik ab. Für
unseren Fall des „Bologna-Prozesses“ wollen wir uns auf die Beschreibung der
Politikverflechtung in der KMK und im AK und die damit verbundene Problematik
beschränken.
Die KMK ist ein freiwilliger Zusammenschluss der für Kulturfragen zuständigen
Minister/-innen und Senator/-innen der Bundesländer. In der KMK hat jedes Land eine
Stimme und es herrscht in den meisten Fragen das Einstimmigkeitsprinzip. Die KMK fasst
Beschlüsse und Empfehlungen und erarbeitet durch das Sekretariat und die Ausschüsse
Berichte und Analysen. Die Beschlüsse der KMK sind nicht rechtskräftig, sondern müssen
durch die Länderparlamente in Landesgesetze umgewandelt werden. Diese Praxis erzeugt bei
den Landesparlamenten regelmäßig Unmut, weil so diese Beschlüsse einerseits den üblichen
demokratischen Prozessen enthoben sind aber andererseits nicht nicht umgesetzt werden
können, will ein Bundesland sich bundesweit nicht isolieren (vgl. Raschert 1980). Dies glit
gerade für weitreichende Beschlüsse. Die Beschlüsse der KMK haben also von Fall zu Fall
unterschiedliche informelle Verbindlichkeit. Im Falle des „Bologna-Prozesses“ spielte die
KMK durch zahlreiche Beschlüsse zur Einführung von Bachelor und Master eine bedeutende
Rolle. Zu nennen ist hier vor allem der Beschluss „Ländergemeinsame Strukturvorgaben
gemäß § 9 Abs. 2 HRG für die Akkreditierung von Bachelor- und Masterstudiengängen“, die
bereits 1999 verabschiedet wurde, sowie zahlreiche andere Dokumente zu dieser Problematik.
Die „Strukturvorgaben“ wurden unmittelbar nach der Novellierung des HRG beschlossen, wo
die Erprobung von Bachelor- und Masterstudiengängen vorgesehen war. Wie Witte betont,
konnte dieses und andere Papiere zu den „Bologna-Reformen“ zu dieser Zeit relativ
geräuschlos und unkontrovers die KMK passieren, weil die mit Bachelor und Master
verbundenen Reformen zu dieser Zeit als relativ unverbindliche Vorschläge eingeschätzt
wurden, denen man lediglich einen Nischenstatus für ausländische Studierende einräumte
(vgl. Witte 2006b). Diesem und anderen Papieren wurde also eine gewisse Unverbindlichkeit
zugesprochen. Vor diesem Hintergrund wurden dann zahlreiche andere Papiere beschlossen,
die inhaltliche Ausgestaltungsräume für die erst ab ca. 2003 als solche in die politische
Diskussion eingetretenen „Bologna-Reformen“ vorschreiben. Vor dem Hintergrund dieser
2
Aus diesem Grunde gilt die BLK ab ca. 1980 als „tot“.
22
spezifischen Form der Politikverflechtung bedeutet dies zweierlei. Erstens war die Frage nach
Bachelor und Master, Akkreditierung und Modularisierung etc. zum Entscheidungszeitpunkt
kein wirkliches Politikum, das in Politysystemen der Politikverflechtung zu Frust und
Entscheidungsunfähigkeit führt (vgl. Raschert 1980). Die Entscheidung wurde getroffen noch
bevor es etwas zu entscheiden gab, das heißt noch bevor sich andeutete, dass mit der
„Bologna-Reform“ ein großflächiger Umwälzungsprozess in Gang gekommen ist. Zweitens
war mit den zahlreichen Beschlüssen, Arbeitspapieren und Berichten ein umfassendes policyProgramm „dezentral“ erarbeitet, auf das in der Umsetzung der „Bologna-Reformen“
zurückgegriffen werden konnte. Den Ländern dienen diese Beschlüsse als Verweise für die
über Zielvereinbarungen, Landeshochschulgesetze und im Rahmen von Finanz- und
Strukturverhandlungen umzusetzenden „Bologna-Reformen“. Den Hochschulen wiederum
dienen diese Papiere als willkommene Handlungsanweisungen für eine Reform, deren
Gegenstand Teil ihrer durch Art. 5 III. Grundgesetz garantierten Wissenschaftsfreiheit ist.
Eine ähnliche Struktur weist der AR auf. Der AR ist besetzt von Vertreter/-innen aus
Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und den Studierenden und arbeitet auf Grundlage eines
Vertrages zwischen den Ländern. Dieser Vertrag sieht vor, dass der Akkreditierungsrat
allgemeine Qualitätsstandards für die Errichtung und Ausgestaltung neuer Studiengänge
entwirft, Akkreditierungsagenturen akkreditiert, die das Recht haben, das Sigel des AR zu
vergeben und diese Akkreditierungsagenturen überwacht. Zudem sieht der Vertrag vor, dass
die Länder in der Zulassung neuer Studiengänge dieses Akkreditierungssystem akzeptieren
und zur Grundlage ihrer Zulassungsentscheidung machen. Der Vertrag sieht darüber hinaus
vor, dass jedes Land diesen Vertrag flexibel handhaben kann. Das heißt, dass sich die Länder
hier keinesfalls endgültig darauf festgelegt haben, dieses Akkreditierungssystem als
Grundlage ihrer Entscheidung zu akzeptieren. Das letzte Wort über die Übernahme der
Verantwortung haben also immer noch die Länder.
Das typische Merkmal dieses Systems der Politikverflechtung besteht darin, dass in
diesem System der Ort der Entscheidung „verloren gegangen“ ist (KMK) und immer wieder
in dieses System hin und her geschoben werden kann (AK). Dadurch wird der
Entscheidungsstress aber keinesfalls vermieden sondern ebenfalls nur verschoben, und zwar
auf die Hochschulen.
1.3.2. EU-Bologna-polity-frame
23
Seit der Regelung im Vertrag von Maastricht (EGV §§ 149/150) haben die Mitgliedstaaten im
Hochschulbereich die alleinige Zuständigkeit. Die Europäische Union hat nur subsidiäre
Kompetenzen. Das heißt, dass die Kommission nur dann tätig werden kann, wenn Aufgaben
im Interesse der Union und ihrer Mitglieder durch die einzelnen Staaten allein nicht bewältigt
werden können. Dabei kann dieses Subsidiaritätsprinzip stets nur von Fall zu Fall ausgelegt
werden. Was genau ein Eingriff ist und was eine subsidiäre Maßnahme, ist daher selbst
Gegenstand von politischen und juristischen Auseinandersetzungen (vgl. Hrbek 1994). Im
Hochschulbereich erstrecken sich die Maßnahmen der Europäischen Union im wesentlichen
auf die Koordination von Mobilitätsförderung, die Bereitstellung von Informationen zu
europäischen Bildungsfragen und die Entwicklung von Instrumenten zur europäischen
Vergleichbarkeit wie ECTS, Diploma Supplement, Qualitätssicherung etc. (vgl. Eckhardt
2005). Die Umsetzung der Entscheidungen der Europäischen Union ist grundsätzlich von der
freiwilligen Kooperation der Mitgliedsstaaten abhängig. Im Kern erarbeitet die Kommission
ein ganzes Set an Informationen, Strukturprogrammen und Mobilitätsprogrammen, die sie den
Mitgliedstaaten als Servicedienstleistung zur Verfügung stellt.
Das polity-System des „Bologna-Prozesses“ entfaltete sich in ebendiesem Kontext. Seit
etwa Mitte der 1990er Jahre entstanden regelmäßige Treffen von Generaldirektoren des
Bildungsbereichs aus unterschiedlichen europäischen Mitgliedstaaten. Vor dem Hintergrund
der EGV-Regelung dienten diese Treffen zunächst nur einem lockeren Austausch auf höherer
Beamtenebene (vgl. Friedrich 2001c). Im Mai 1998 unterzeichneten Frankreich, Deutschland,
Großbritannien und Italien die sogenannte Sorbonne-Erklärung, worin diese vier Länder
erklärten, gemeinsame Standards im jeweiligen nationalen Hochschulwesen einführen zu
wollen. Die Sorbonne-Erklärung löste bei den anderen EU-Mitgliedsstaaten einerseits
Empörung und andererseits Begehrlichkeiten aus, so dass man sich wenig später wiederum
auf Beamtenebene darauf einigte, eine gemeinsame neue Erklärung zu verfassen und zu
verabschieden. Dies geschah im Juni 1999 in Bologna, wo 29 Staaten die Bologna-Erklärung
unterzeichneten. Sowohl die Sorbonne-Erklärung als auch die Bologna-Erklärung haben
keinen rechtsverbindlichen Charakter. Sie sind lediglich Absichtserklärungen, die von den
jeweiligen Unterzeichnern nach Gutdünken gehandhabt werden können. Darüber hinaus sind
beide Dokumente sehr allgemein gehalten. Sie enthalten weder konkrete Maßnahmen, noch
konkrete Umsetzungsschritte dieser Maßnahmen, noch irgendwelche anderen Festlegungen,
die sich nicht in ganz unterschiedliche Richtungen interpretieren ließen (siehe nächstes
Kapitel).
24
Ab der Bologna-Konferenz hat sich ein follow-up-Mechanismus entwickelt, der nach
und nach vertieft wurde und als institutionelle Entscheidungsstruktur des EU-Bologna-polityframe (EBPF) beschrieben werden kann. Den offiziellen Kern des EBPF bilden die
Ministerkonferenzen im Zwei-Jahres-Rhythmus. Auf den Ministerkonferenzen wird ein von
einer Arbeitsgruppe, der Bologna-Follow-Up-Group (BFUG), auf Beamtenebene im Vorfeld
ausgehandeltes Kommuniqué verabschiedet. Im Zuge dieser Nachfolgekonferenzen ist die
Mitgliedzahl der Staaten, die die Bologna-Erklärung unterzeichnet haben, auf 45 Staaten bis
2005 angewachsen. Die BFUG besteht aus Vertretern aller Mitgliedesländer, der
Europäischen Kommission, die ebenfalls Vollmitglied im „Bologna-Prozess“ ist, und acht (8)
nicht stimmberechtigten Beobachtern. Dieser Beobachterstatus wurde den europäischen
Stakeholdern eingeräumt. Dazu zählen die Studierenden (National Unions of Students in
Europe, ESIB), die Hochschulen (European University Association, EUA), der Europarat,
eine Vereinigung für weiterer Bildungseinrichtungen (European Association of Higher
Education, EURASHE), die europäische Unteragentur der Bildungsabteilung der UNESCO
(European Centre for Higher Education, CEPES), das europäischen
Qualitätssicherungsnetzwerk (European Association for Quality Assurance in Higher
Education, ENQA), die Gewerkschaften (European Trade Union Committee for Education,
ETUCE) und die Arbeitgeber (Union for Industrial and Employer’s Confederations of Europe
(UNICE). Die BFUG trifft sich alle acht (8) Wochen und trifft zwischen den Konferenzen alle
wichtigen Entscheidungen. Aus der BFUG geht dann ein Board hervor, der die Arbeit der
BFUG organisiert und die Implementierung der getroffenen Entscheidungen überwacht. Der
Board besteht aus dem Land, das zum gegenwärtigen Zeitpunkt die EU-Ratspräsidentschaft
inne hat, das Land, das sie davor innehatte und das Land, das sie demnächst inne haben wird,
der Kommission, dem Gastland und drei von der BFUG gewählten Ländern. Neben dem
Board gibt es ein Sekretariat, das organisatorische Aufgaben übernimmt und vom jeweiligen
Gastland gestellt wird. Schließlich finden regelmäßig Seminare zu den Einzelthemen des
„Bologna-Prozesses“ statt. Diese Seminare bereiten policy-Programme vor und diskutieren
diese in einem Kreis aus Experten der Regierungen und Stakeholder. Dann besteht jedes Land
aus nationalen Bologna-Gruppen. Im Falle Deutschlands ist diese Bologna-Gruppe aus KMK,
BMBF, fzs, GEW, BDA, HRK und dem DAAD zusammengesetzt. Diese Gruppe oder
Delegation vertritt Deutschland im weitesten Sinne auf den Ministerkonferenzen, wobei jedes
Land nur eine Stimme hat. Schließlich verfasst jedes Land einen Bericht über den Stand der
Umsetzung der „Bologna-Reformen“. Drüber hinaus gibt die EUA regelmäßig zu den
Ministertreffen einen Trendsbericht in Auftrag, der eine Evaluation und Einschätzung erstellt,
25
inwieweit der Europäische Hochschulraum als Ganzer verwirklicht ist. Dies alles wird
überwiegend von der Europäischen Kommission bezahlt.
Aus dieser Struktur können wir drei zentrale Merkmale des EBPF festhalten. Die
Papieren oder Beschlüsse sind weitesgehend so formuliert, dass fast keine mögliche
Interpretationsvariante des Beschlossenen ausgeschlossen wird. Zweitens wird so gut wie
jeder, der sich als Stakeholder profilieren konnte, integriert. Da die Beschlüsse nicht
rechtskräftig sind und der ganze Prozess auf die Freiwilligkeit der Beteiligten angewiesen ist,
spielen drittens policy-Programme eine zentrale Rolle. Diese policy-Programme sind
Initiativen, Interpretationsangebote und Reformvorschläge, die darauf angewiesen sind, dass
ihnen auf nationaler Ebene eine gewisse Relevanz zugesprochen wird. Sie müssen, kurz
gesagt, als prestigeträchtig anerkannt und von den nationalen Akteuren gelesen, interpretiert
und für die politischen Auseinandersetzungen, Gesetzgebungsverfahren und
Umsetzungsprozesse verwendet werden. Dabei sind die Akteure vor Ort „doppelt frei“.
Einerseits enthalten diese europäischen Beschlüsse und Arbeitspapiere keine oder nur selten
zwingenden Formulierungen, und zweitens müssen sie aufgrund ihrer
Rechtsunverbindlichkeit nicht umgesetzt werden. Da aber der „Bologna-Prozess“ aufgrund
seiner massiven Konsenstendenz von allen Stakeholdern und Legislativorganen eine
öffentliche Bekenntnis verlangt, die über Positionspapiere abgeben wird, und drüber hinaus
dahin tendiert, möglichst jeden auch institutionell einzubinden, wird jede Opposition
tendenziell im Keim erstickt. Denn einerseits kann (und muss) die offiziellen Bologna-Papiere
jeder und jede so interpretieren, wie er/sie das will; und andererseits ist es schwierig, sich
gegen eine policy-Programmatik auflehnen, in dessen institutioneller und symbolischer
Erarbeitung er/sie selbst integriert war und zu dessen Umsetzung er/sie sich bekannt hat.
3) Methode
2.1.5. Analyseinstrumente und Analyseziele.
Die im deutschsprachigen Raum v.a. von Angermüller vertretene äußerungstheoretische
Diskursanalyse trägt in der methodischen Umsetzung nicht nur der Offenheit und
Unabschließbarkeit des oben vorgestellten Begriffs des Sozialen bzw. des Äußerungsfeldes
Rechnung. Darüber hinaus erlaubt es dieser diskursanalytische Ansatz, die Heterogenität des
Diskurses herauszuarbeiten. Während die Bedeutungsanalyse zwar der Kontingenz
diskursiver Prozesse gerecht wird, lässt sie jedoch kaum Raum für den heterogenen Charakter
26
des Diskurses. Damit steht die Wissenssoziologische Diskursanalyse der Hegemonietheorie
vielleicht insofern näher als Foucaults Äußerung/Aussage-Theorie, als es doch auch Laclau
um die Frage nach Bedeutung und den Zusammenbruch von Bedeutung geht. Gerade letzteres
müsste methodisch gezeigt werden können, um die Heterogenität von Bedeutungen zu
analysieren. Darauf gibt uns aber weder die Hegemonieanalyse (vgl. Nonhoff 2006) noch die
Wissenssoziologische Diskursanalyse bisher eine überzeugende Antwort.
Die Pragmalinguistik fokussiert ebenso wie die Äußerungstheorie die illokutionäre
Ebene von Sprache. Allerdings analysiert die Äußerungstheorie diese Ebene nicht als
kompakte, voll realisierte Handlungsebene. Im Gegensatz zur Pragmalinguistik interessiert
sich die äußerungstheoretische Diskursanalyse für das spannungsgeladene, heterogene
Verhältnis zwischen der illokutionären und der propositionalen Ebene. Berücksichtigen wir
den heterogenen Charakter des Diskurses, so müsste aus pragmalinguistischer Sicht gezeigt
werden, wie sich Handlungsverläufe und –muster eben nicht voll entfalten können.
Mit der Institutionenanalyse schließlich können wir den umfassenden Kontext
analysieren und erklären, wie bestimmte Phänomene durch Interessenkonstellationen und
kontextuelle Zwänge zustande kamen, die nicht von der Aussage reflektiert werden. Wenn
wir jedoch davon ausgehen, dass Diskurse immer eine spezifische Verbindung von Text und
Kontext realisieren, wobei weder der Text noch der Kontext in dieser Verbindung voll
aufgefüllt sind, dann ist das kompakte institutionelle Feld, von dem Scharpf ausgeht,
problematisch.
In der folgenden Analyse wollen wir deshalb im Sinne der äußerungstheoretischen
Formanalyse danach fragen, mit welchen diskursiven Mechanismen der Bologna-Diskurs
operiert. Wir fragen also weder nach der Bedeutung noch nach den Handlungsmustern oder
den institutionellen Konstellationen, die das Handeln der Akteure einbetten, sondern suchen
das empirische Material nach unterschiedlichen sprachlichen Formen ab. Hierfür wollen wir
im Folgenden eine Reihe von Analyseinstrumenten dafür vorstellen. Zwar sind Texte stets mit
Kontexte verbunden. Jedoch lassen sich äußerungstheoretisch gesehen nur einige Aspekte der
Äußerungssituation, das heißt des Kontextes, anhand der Äußerungsspuren in der Aussage
analysieren. Um den weiteren Kontext analytisch in den Griff zu bekommen, wollen wir
Minskys Rahmenbegriff für die Analyse fruchtbar machen. Während die Äußerungsspuren
unmittelbar am Textdokument aufgezeigt werden können, sind wir im Falle der Rahmen auf
Informationen angewiesen, die über das einzelne Textdokument des Bologna-Diskurses
hinausgehen. Dies macht eine Zweiteilung der Analyse notwendig. Während es in der
Äußerungsanalyse darum geht, die diskursiven Operationsmechanismen aufzuzeigen, wollen
27
wir in der Rahmenanalyse zeigen, wie Diskurse unterschiedliche Rahmen mobilisieren und
sich so in ein weiteres Äußerungsfeld einschreiben. Wie im Falle der Diskursanalyse wird
also auch in der Rahmenanalyse die Heterogenität des Äußerungsfeldes in den Blick
genommen.
2.2. Heterogenitäten und formale Spuren.
Im folgenden Abschnitt soll eine Reihe von Analyseinstrumenten vorgestellt werden, die es
uns ermöglichen, Diskurse als formale Operationen und heterogene Konstrukte zu
analysieren. Hierfür sollen Instrumente aus der Äußerungstheorie von Austin, Benveniste und
Foucault, der Polyphonietheorie von Bachtin und Ducrot, der angelsächsischen Pragmatik und
Theorien zum Vorkonstrukt und Nominationen von Pêcheux, Bühler und Benveniste
herangezogen werden. Schließlich soll gezeigt werden, wie wir Minskys Rahmentheorie für
die Analyse verwenden können. In der Darstellung der Analyseinstrumente wollen wir uns
entlang dreier Unterscheidungen bzw. dreier Heterogenitäten abarbeiten: der Heterogenität
zwischen Äußerung und Aussage, der Heterogenität innerhalb der Aussage und der
Heterogenität zwischen Rahmen. Diese strikte Unterscheidung bezeichnet jedoch keine klare
Trennlinie, gehen doch die unterschiedlichen Heterogenitäten immer ineinander über und
überlagern sich.
2.2.1. Äußerung und Aussage.
Neben Austins Theorie der Sprechakte bildet vor allem Emile Benvenistes Äußerungstheorie
einen der wichtigen theoretischen Ausgangspunkte von Foucaults Theorie diskursiver
Formationen. Als einer „der Epigonen von de Saussure“ (vgl. Angermüller 2003) interessiert
sich Benveniste insbesondere für den Sprachgebrauch, das heißt für das, was auf der Seite von
Saussures parole passiert. Ausgehend von Bühlers Origo (Bühler 1999[1934]), der
Koordinatenausgangspunkt des Sprechens „ich“-„hier“-„jetzt“, entwickelt Benveniste eine
Sprachtheorie, die insbesondere den Kontext des Sprachgebrauchs in den Blick nimmt.
Benveniste unterscheidet zunächst zwischen Selbstreferenz und Sachreferenz.
Selbstreferenz bezeichnet den Akt, wo mittels der deiktischen Pronomen „ich“ und „du“ der
Sprachvollzug in der Aussage reflektiert wird. Die Personalpronomen „ich“ und „du“ sagen
nicht nur etwas über einen Sachverhalt aus („ich bin hier, du bist dort“), sie zeigen (Deixis)
dabei gleichzeitig auf die Person, die spricht und die angesprochen wird („ich bin hier, du bist
28
dort“). Dies gilt jedoch nicht gleichermaßen für die dritte Person „er“, „sie“, „es“, die
Benveniste als „Nicht-Person“ bezeichnet und ebenso wenig für alle Demonstrativpronomen
und Artikel wie „dieser“, „jenes“„der“, „die“, „das“, die nach Benveniste sach- bzw.
fremdreferentiell sind.
Insbesondere der deiktische Partikel „ich“ hat grundsätzlich eine Doppelstruktur. „Es gibt
also bei diesem Prozess eine doppelte, gekoppelte Instanz: Instanz des ich als Referenz und
Diskursinstanz, die ich als Referiertes enthält“ (Benveniste 1977: 281, Herv. i.O.). Demnach
ist „ich“ als Objekt und Subjekt der Aussage analysierbar und reflektiert als deiktischer
Partikel den Kontext der Äußerung. Neben den Personalpronomen „ich“ und „du“ haben auch
die Adverbien „hier“ und „jetzt“ diese Funktion. „Die Anwendung“ dieser selbstreferentiellen
Partikel „hat also die Diskurs-Situation und keine andere zur Voraussetzung“ (Benveniste
1977: 283). Während fremdreferentielle Partikel der Situation der Äußerung grundsätzlich
enthoben sein können, ist dies im Falle der selbstreferentiellen Partikel nicht möglich. Mit den
selbstreferentiellen Partikeln können wir nicht nur die Spuren des Äußerungskontexts in der
Aussage analysieren, sondern finden hier im Gegensatz zu fremdreferentiellen deiktischen
Partikeln immer zwei Bedeutungsebenen in der Aussage vor.
Nach Benveniste markiert der deiktische Partikel „ich“ im Gegensatz zu den anderen
selbstreferentiellen Partikeln „du“, „hier“ und „jetzt“ die subjektive Rede, „weil jeder
Sprecher sich als Subjekt hinstellt, indem er sich in seiner Rede auf sich selbst als ich bezieht“
(Benveniste 1977: 289, Herv. i.O.) Damit gibt uns Benveniste ein Instrument an die Hand, um
diskursive Subjektivität zu analysieren (vgl. Kapitel 2.2.6). Subjektivität ist damit jenseits der
faktisch ausgeführten Äußerung nicht vorstellbar. Das Subjekt ist nach Benveniste weder vor
der Sprache noch ohne Sprache denkbar. Die Vorstellung, wir könnten Sprache als Ausdruck
von Subjektivität analysieren, bezeichnet Benveniste als „Fiktion“, unterstellt eine solche
methodische Vorgehensweise doch ein Subjekt, das bereits vor der Äußerung konstituiert
wäre. Das Subjekt ist nach Benveniste als kompakte Einheit überhaupt nicht denkbar.
Vielmehr konstituiert es sich in der Äußerung immer nur als Facette des Diskurses.
Neben dem deiktischen Partikel „ich“ können wir auch die Pluralform der ersten Person
„wir“, explizite persönliche Wertungen wie „schön“, Konnotationen in schriftlichen und v.a.
mündlicher Rede und konventionalisierte Wertungen wie „Bürokratieabbau“ als Spuren von
diskursiver Subjektivität lesen (vgl. Angermüller 2003). Ausgehend von Austins
Unterscheidung zwischen der illokutionären Kraft und der propositionalen Ebene, die jeden
Sprachgebrauch kennzeichnet, müssen wir grundsätzlich davon ausgehen, dass auch
Aussagen, die keine subjektiven bzw. auf den Kontext verweisende Spuren enthalten, mit
29
zwei Ebenen operieren. Insofern ist Benvenistes Unterscheidung zwischen dem
Äußerungsmodus Diskurs, der mit selbstreferentiellen (deiktischen) Partikeln operiert, und
Geschichte, der ohne solche Partikel auskommt und sich auf den Bericht von Tatsachen
bezieht, kein Hinweis darauf, dass der Geschichtsmodus kein Diskurs im von uns oben
definierten Sinne ist. Vielmehr bezeichnet dieser Modus nur eine spezifische Form von
Diskursivität, die dadurch charakterisiert ist, dass sie weitesgehend ohne Subjektivität
operiert. Während die meisten Diskursarten kaum ohne selbstreferentielle deiktische Partikel
auskommen, könnten Protokoll und andere Sachberichte ein Beispiel für diese Art von
Diskurs sein.
2.2.2. Äußerung und Aussage/Aussage.
Durch eine ebenso heterogene Struktur ist der polyphone Aufbau des Diskurses
gekennzeichnet. Michael Bachtin hat vor allem in seinen Analysen der Romane Dostoevskijs
(Bachtin 1971) eine Theorie der „Dialogizität des Wortes“ entwickelt. Bachtin wendet sich
damit gegen die Auffassung der „traditionellen Stilistik“ (Bachtin 1986: 96), wo Worte als
isolierte, sinnerfüllte Bedeutungseinheit analysiert werden. Nach Volosinov ist mit der
„traditionellen Stilistik“ vor allem der deutsche Idealismus angesprochen, der das Wort als
Ausdrucksmittel eines sinngebenden Subjekts betrachtet, dessen tieferer Sinn hermeneutisch
rekonstruiert werden muss. Bachtin (und Volosinov) grenzen sich mit der Dialogizitätstheorie
aber auch von der Saussure’sche Linguistik ab, wonach das Wort nur ein Element der langue
ist und dort seinen festen Platz hat (vgl. Volosinov 1975: 95-119).
Mit der Dialogizität des Wortes bezeichnet Bachtin (und Volosinov) die Verwobenheit
gesprochener Worte in andere Worte, Akzente, Ideologien, Genres etc. Ein einzelnes Wort ist
niemals autonom, sondern beinhaltet immer schon eine Widerrede, eine Antwort und ist stets
auf weitere, darauf folgende Worte ausgerichtet. Das Wort ist demnach weder als zeitlich
ursprünglich denkbar noch als abgeschlossene Sinneinheit. Nach Bachtin/Volosinov taucht
ein Wort immer inmitten anderer Worte auf und inkorporiert deren Akzente. Damit müssen
wir uns das Wort nach Bachtin als dezentrales, unvollständiges Element vorstellen.
Insbesondere am Beispiel der Parodie zeigt Bachtin, wie ein Wort aus unterschiedlichen,
sich überlagernden Stimmen besteht. Das parodistische Wort ist demnach immer ein
dezentriertes Wort, weil sich der andere Akzent im Wort befindet. So zeigt Bachtin wie in
Formulierungen wie „Dieses Arztsöhnchen war nicht nur unbefangen...“ sowohl die
Autorstimme als auch die Stimme des Romanhelden gleichzeitig präsent sind (Bachtin 1986).
30
Den formalen Merkmalen nach gehört diese Passage zur Situationsbeschreibung des Autors,
der, indem er für seine Beschreibung die Formulierung „Arztsöhnchen“ wählt, sich mit der
verachtenden Haltung des Romanhelden gegenüber der vom Autor beschriebenen Person
solidarisiert. In diesem Wort sind also zwei Stimmen präsent: einerseits die Stimme des
Romanautors, andererseits die des Helden.
Ducrot hat Bachtins Dialogizitätstheorie aufgegriffen und darauf aufbauend unter
Rückgriff auf die äußerungstheoretische Begrifflichkeit eine Polyphonietheorie formuliert
(vgl. Angermüller 2003)3. Eine ironische Formulierung wie „Dieses Arztsöhnchen“ besteht
nach Ducrot aus zwei unterschiedlichen Sprecherrollen, einem Lokutor und einem
Enunziator. Mit Ducrot könnten wir das obige Beispiel als einen Konflikt zwischen mehreren
Stimmen beschreiben. Der Lokutor lässt hier einen Enunziator sprechen, der den Sohn des
Arztes benennt („Der Arztsohn“), und einen zweiten Enunziator, der dem „Arztsohn“ Status,
Prestige und Anerkennung entzieht („Diese Pfeife“), wobei der Lokutor sich mit dem zweiten
Enunziator identifiziert, ohne den ersten völlig zurückzuweisen. Denn die Ironie basiert in
diesem Beispiel gerade darauf, dass die markierte Person („der Arztsohn“) in dieser Position
des prestigeträchtigen Arztes bleiben muss, um ihn der Lächerlichkeit Preis geben zu können.
Das spannungsgeladene Spiel sich widersprechender Stimmen ist ohne die
Berücksichtigung der Äußerungsebene nicht darstellbar. Der Lokutor bezeichnet hier die
Äußerungsinstanz, von der aus die multiplen Enunziatoren eingesetzt werden. Die Polyphonie
bezieht sich aber nicht nur auf die Heterogenität zwischen Äußerung und Aussage, sondern
rekrutiert aus dem interdiskursiven Raum unterschiedliche Aussagepartikel. Dies zeigt
Angermüllers Beispiel der Aussage Oswald Metzgers, wo ein größerer Textumfang (ein Satz)
nötig ist, um eine politische Forderung zu formulieren (vgl. Angermüller 2007a). Die diversen
Stimmen, die hier eine Aussage orchestrieren, sind wiederum auf andere Aussagen oder
Aussagenpartikel angewiesen, die weder einen kohärenten Raum bilden noch einem
„ursprünglichen“ Zusammenhang entstammen.
Diese Heterogenität zwischen den Aussagen in einer Aussage können wir auch am
obigen Beispiel nachvollziehen. Während sich die Aussage von Enunziator I („Der
Arztsohn“) auf eine Situation bezieht, wo der Sohn des Arztes als Sohn des Arztes eine Rolle
spielt (z.B. er betritt einen Raum), spielt die Aussage von Enunziator II („Diese Pfeife“) mit
persönlichen Eigenschaften dieser Person, indem sie ein gesellschaftliches Statussystem
mobilisiert. Diskurse als Aussagesysteme sind nicht unterschiedlichen gesellschaftlichen
3
Bezüglich Ducrot, dessen Schriften weder auf Englisch noch auf Deutsch vorliegen, greife ich im Folgenden
auf Angermüllers Darstellung der Polyphonietheorie zurück, ohne jedoch die Vielfältigkeit von Ducrots Arbeit,
die Angermüller ausführlich darstellt, zu berücksichtigen (siehe dazu Angermüller 2003).
31
Sphären wie Alltag, Politik, Klasse, Stand, Ökonomie, Redegenres usw., die nach
spezifischen Regeln funktionieren, isoliert zuortbar. Vielmehr vermischen Diskurse diese
unterschiedlichen sozialen, ökonomischen, juristischen, kulturellen usw. Sphären, indem sie
unvollständige Partikel zu heterogenen Gebilden anordnen.
2.2.3. Aussage und Intertextualität.
Aussagen, so haben wir oben festgehalten (Kapitel 3.1.2), sind das Produkt des
Äußerungsaktes. Damit sind Aussagen weder auf einzelne Signifikanten bzw. Worte
reduzierbar noch sind Aussagen kompakte, abgeschlossene Gebilde. Als Diskurs wurde die
Verknüpfung von Äußerung und Aussage definiert, was die spezifische, stets prekäre
Verbindung von Text und Kontext impliziert. Nach Saussure können wir uns Texte als
Signifikantennetze vorstellen, die durch Differenz ihre Signifikate erhalten. Ein solcher
Textbegriff scheint aber problematisch zu sein, wenn Texte durch die diskursive Praxis nie
völlig aufgefüllt werden, mithin ihren differentiellen Charakter nie wirklich zur Geltung
bringen können, sondern vielmehr von Lücken und Rissen durchzogen sind.
Laclau und Mouffe haben diese Problematik aufgegriffen. Hiernach können wir die
Hegemonietheorie als einen Versuch verstehen, den Saussure’schen Textbegriff poststrukturalistisch zu reformulieren. Allerdings entfalten sich genau bei diesem Versuch die
dekonstruierbaren Aporien der Hegemonietheorie, wie wir in Kapitel 2 gezeigt haben. Aus
diesem Grunde erschien die methodische Übertragung der Kategorien der Hegemonietheorie
als problematisch. Da nun Aussagen keine Texte sind, Diskurse aber ohne Texte nicht
auskommen, stellt sich die Frage, welcher Textbegriff für unser Unternehmen adäquat ist.
Ausgehend von Benvenistes Unterscheidung zwischen (deiktischer) Selbstreferenz und
Fremd- bzw. Sachreferenz können wir die symbolische Ebene des Diskurses, den Text, auf
der Seite der Sachreferenz verorten. Während Benveniste die Personalpronomen der ersten
und zweiten Person als selbstreferentielle (deiktische) Partikel beschrieb, welche die
Äußerungssituation reflektieren, ordnete er die Personalpronomen der dritten Person (die
„Nicht-Person“, wie Benveniste sagt) dem Bereich der Fremdreferenz zu. Im Gegensatz zur
Selbstreferenz verweisen die Partikel der Fremdreferenz nicht auf die Äußerungssituation
sondern auf andere Partikel.
Karl Bühler beschrieb die Sprache als eine Operation zweier Felder: des Zeigefeldes und
des Symbolfeldes (Bühler 1999[1934]). Dem Zeigefeld gehören die deiktische Partikel der
Origo „ich“, „hier“, „jetzt“ an, wohingegen die Nomen („Pferd“, „Begriff“) dem Symbolfeld
32
angehören. Während die Partikel des Zeigefeldes räumlich, zeitlich und personal referieren,
verweisen die Symbole auf „Dinge“ und „Bedeutungen“. Eine Zwitterstellung zwischen dem
Zeigefeld (bzw. der Origo) und dem Symbolfeld (den Nomen) nimmt Bühler zufolge die
Anaphora ein. Die Besonderheit der Anaphora besteht darin, dass sie sich sowohl im
Zeigefeld als auch im Symbolfeld bewegt. „Man weist mit dieser und jener (...) auf soeben in
der Rede Behandeltes zurück, man weist der (...) und anderen Zeigwörtern auf sofort zu
behandelndes voraus“ (Bühler: 1999[1934]: 121, Herv. i.O.).
Während also die Elemente der Origo ohne Sach- und Bedeutungsreferenz operieren,
bleiben die anaphorischen Elemente als Zeigepartikel auf die Sach- und
Bedeutungsreferenzen des Symbolfeldes angewiesen. Dem ersten (deiktischen) Fall entspricht
also ein Satz wie „Ich ging nach Hause, als ich dort ankam...“, während dem zweiten
(anaphorischen) Fall ein Satz wie „Peter ging nach Hause. Als er dort ankam...“ entspricht.
Während „er“ auf „Peter“ anaphorisch zurückverwiest, operiert „er“ nach wie vor mit dem
sachreferentiellen Nomen „Peter“, wohingegen die beiden Personalpronomen der ersten
Person „ich“ im ersten Satz jeweils den bezeichnen, der spricht.
Mit der selbstreferentiellen („ich“/„du“, „hier“, „jetzt“ usw.) und der sachreferentiellen
Ebene („er“, „diese“ usw.) bezeichnen wir also zwei unterschiedliche Dimensionen des
Diskurses. Während selbstreferentielle (deiktische) Partikel auf den Kontext verweisen,
verweisen die sachreferentiellen (anaphorischen) Partikel intertextuell auf Nomen und
extratextuale Sachverhalte. Texte operieren hiernach ebenso wie diskursive Äußerungen mit
Referenzen (vgl. Brown/Yule 1989). Während im Saussure’schen Strukturalismus Texte aber
durch spezifische Operationen von Differenzen Bedeutung (Signifikant und Signifikat)
erzeugen, können wir ausgehend von Bühler einen Textbegriff einführen, der vor allem
anaphorisch, das heißt mit Referenzen operiert.
Während Bühler noch das Symbolfeld vom Zeigefeld unterscheidet, betont die
angelsächsische Pragmatik, dass auch Nomen mit Referenzen operieren (vgl. Yule 2003,
Brown/Yule 1989). Aussagen wie „Peter geht nach Haus“ werden nicht hinsichtlich ihrer
Bedeutung untersucht. Vielmehr wird danach gefragt, welche Präsuppositionen, Inferenzen,
Implikaturen und anaphorischen und deiktischen Referenzen diese Aussage organisieren. Für
unsere Analyse sind vor allem die Präsuppositionen und die Inferenzen von Interesse und
weniger die Implikaturen, die sich auf allgemeine Diskursregeln beziehen.
Präsuppositionen bezeichnen Sachverhalte, die von Hörer und Sprecher als notwendig
unterstellt werden müssen, z.B. dass „Peter“ ein Mensch ist, während Inferenzen nahe
liegende, aber nicht notwendige Sachverhalte bezeichnen. So könnte es sein, dass „Peter“
33
„obdachlos“ ist, nicht „geht“ sondern „fährt“ usw. Die Referenz auf Sachverhalte außerhalb
des Textes kann aber auch über die anaphorischen Referenzen verlaufen. Brown/Yule
unterteilen die anaphorische Referenz in zwei Grundfunktionen. Exophorische Partikel
verweisen auf etwas außerhalb des Textes („Schau’ dir das an“, einen Sonnenaufgang),
wohingegen endophorische Partikel auf Elemente im Text verweisen. Die endophorischen
Partikel können ihrerseits noch in anaphorische, die auf bereits Gesagtes zurückverweisen,
und cataphorische Partikel, die auf im Text Kommendes hinweisen.
Wir werden im Folgenden von anaphorischer Referenz sprechen, wenn wir uns
allgemein auf die Demonstrativpronomen, Artikel usw. der Anaphora beziehen, von
deiktischer Referenz, wenn wir die Selbstreferenz meinen und von Nomen, um die Elemente
des Symbolfeldes zu bezeichnen. Für unsere Interpretation wollen wir uns vor allem auf die
Rolle der Nomen und anaphorischen Referenzen in Verbindung mit der Frage nach
Präsupposition und Inferenz konzentrieren. Die Fremd- bzw. Sachreferenz bezeichnet also im
weitesten Sinne Text bzw. Intertextualität, wobei unser Textbegriff, Bühler und Brown/Yule
folgend, aus zwei formalen Elementen besteht: Nomen mit Gegenstandsreferenz und
anaphorischer Referenz.
Nach Bühler können wir zwei Formen von Nomen unterscheiden, die durch ihre
spezifische Beziehung zum Artikel charakterisiert sind (Bühler 1999[1934]: 303-315). Nomen
können entweder von einem bestimmten oder einem unbestimmten Artikel geführt werden.
Der bestimmte Artikel bringt das Nomen mit einen Gegenstand in Verbindung, wohingegen
der unbestimmte Artikel das Nomen mit einem Begriff versieht. Der Satz „Das Pferd“ kann
demnach zwei unterschiedliche Referenzen aufweisen. Einerseits das konkrete Pferd und
andererseits die Gattung oder den Begriff des Pferdes. Die Frage, welche Referenz gemeint
ist, hängt also von der Ziel- oder Zeigerichtung des anaphorischen Partikels „das“ ab. Als
bestimmter Artikel zeigt „das“ auf einen Gegenstand im Text oder außerhalb des Textes (exooder endophorisch), als unbestimmter Artikel zeigt „das“ dagegen auf das Nomen selbst.
Der Unterschied zwischen diesen beiden Referenzen liegt darin, dass das Nomen im
ersten Fall auf weitere Text- oder Extratextpartikel angewiesen ist. Hier ist der Referent des
Nomens Teil des Textes und seiner Umgebung. Im zweiten Fall dagegen trägt das Nomen
seinen eigenen Referenten „in sich“: Nomen und Referent gehen durch die spezifische
Operation des anaphorischen Partikels ineinander über. Benveniste bezeichnet diese Form von
Nomen als Nominationen. Nominationen sind vor allem deswegen für uns interessant, weil sie
eine unbestreitbare „Existenz“ einfordern. Nominationen sind weder „wahr“ noch „falsch“,
weder „hier“ noch „dort“, weder „gut“ noch „schlecht“. Sie sind einfach nur existent.
34
Während also der Satz „Dieses Pferd ist weggelaufen“ einen weiteren Partikel (ein Wort oder
Gegenstand) erfordert, muss die Existenz von „Pferd“ in „Das Pferd ist weggelaufen“ immer
schon akzeptiert werden.
Nominationen sind also Nomen die einen spezifischen Sachverhalt präsupponieren,
wohingegen andere Nomen mit Inferenzen operieren. Inferenzen sind für unsere Analyse vor
allem deshalb von Bedeutung, weil sie ganz unterschiedliche Anschlussmöglichkeiten, die
von einem Nomen oder einem ganzen Satz ausgehen, für weitere diskursive Oparationen
bereithalten. So kann von der Aussage „Peter ging zur Schule“ nicht fortgefahren werden mit
„als sie dort landete, flog ein Buch in sie hinein“, weil „Peter“ „männlich“ präsupponiert und
„ging zur Schule“ spezifische Anschlussoperationen erfordert, aber nicht beliebige.
Inferenzen bezeichnen dagegen die Sachverhalte, die von dieser Aussage ermöglicht werden,
aber keinen notwendigen Charakter haben. Um im obigen Beispiel zu bleiben, könnten Sätze
folgen wie „als er dort ankam“, „plötzlich fiel ihm ein, dass...“ oder „damals war es üblich...“
usw.
Inferenzen stehen also einerseits für die prinzipielle Offenheit des Diskurses für weitere
Anschlussoperationen, und ermöglichen gleichzeitig die Herstellung einer Beziehung
zwischen der nachfolgenden Sequenz und der vorangegangenen. Dabei ist für die Analyse
interessant, auf welche der inferierten Optionen von Aussage 1 durch Aussage 2
zurückgegriffen wird. [Heterogenität] Zudem können wir fragen, ob und wie eine bestimmte
Option von Aussage 1 durch Aussage 2 retrospektiv präsupponiert wird, wodurch sich im
Zuge weiterer diskursiver Akte Inferenzen zu Präsuppositionen verdichten und umgekehrt, ob
und wie Präsuppositionen wieder optional werden. Ausgehend von Bühlers Unterscheidung
zwischen der bestimmenden und der unbestimmten Rolle des Artikels sowie zwischen
Inferenz und Präsupposition wollen wir im Folgenden solche Symbole, die eine reine Existenz
einfordern, als Nominationen bezeichnen und optionale Symbole als Nomen.
2.2.4. Rahmen.
Einzelne diskursive Aussagen sind keine isolierten Entitäten sonder Teil eines umfassenden
Äußerungsfeldes. Für die Analyse bedeute dies, dass wir nicht nur den Äußerung/AussageKomplex und die Rolle der Nomen und Nominationen beschreiben, sondern darüber hinaus
den umfassenderen Kontext in den Blick nehmen. Zu diesem Kontext gehören sowohl
unterschiedliche institutionelle Arrangements (Ministerien, Kulturföderalismus, Rituale,
Normen etc.) als auch andere Aussagen und Diskurse (z.B. Debatten zur
35
„Wettbewerbsfähigkeit“ und „Qualität“ etc.), die nicht Teil des geäußerten
Aussagekomplexes sind (vgl. Kapitel 2.2.2). Da dieser Kontext, an den der Diskurse ebenso
gebunden ist wie der Kontext an den Diskurs, nicht in der Form materialisiert ist wie der
Äußerungskontext, können wir ihn auch nicht mit den Mitteln der Äußerungsanalyse (vgl.
Kapitel 2.2.1) beschreiben. Andererseits können wir uns diesen Kontext jedoch nicht als eine
präsente und kompakte Matrix vorstellen, die unabhängig von den Diskursen existiert (vgl.
Kapitel 2.1.3 und 2.1.4).
Für die Diskursanalyse hat dieser weitere Kontext, der ausgehend von einzelnen
Diskursfragmenten wie „Herzlichen Dank!“ ins Spiel gebracht wird, den Status von
Hintergrundinformationen (vgl. Brown/Yule 1989: 236-256). Nach Minsky werden
ausgehend von solchen Diskursfragmenten Rahmen mobilisiert, die aus unterschiedlichen
Terminals (oder slots) bestehen, die mit den durch die Situation zur Verfügung gestellten
Symbolen nicht besetzt oder gefüllt werden müssen. Ein Rahmen ist demnach eine die
Einzelsituation umfassende Struktur, die dem spontanen Ereignis durch die
Rahmeneinbettung Bedeutung verleiht. Eine reine Rahmenanalyse ist demnach eine
Bedeutungsanalyse. Sie fragt danach, welche Bedeutung(en) ein singulares Ereignis durch die
Verortung in einen (oder mehrere) Rahmen erhält.
In unserer Analyse wollen wir auf Minskys Rahmenbegriff zurückgreifen, um damit zu
zeigen, wie einzelne Diskursfragmente auf den weiteren Kontext zurückgreifen. Dabei
interessieren wir uns weniger für die Bedeutung der einzelnen Nomen, Sätze oder
Satzfragmente noch für die Beschreibung der Debatten und institutionellen Positionen,
sondern vielmehr für die Vielschichtigkeit unterschiedlicher kontextueller Arrangements, die
ausgehend von einzelnen Diskursfragmenten mobilisiert werden.
Wie wir oben bereits ausgeführt haben, liegt der Vorteil von Minskys Rahmen-Theorie
für die Darstellung solcher weiterer Kontextvariablen darin, dass wir erstens keinen
kompakten und fix strukturierten Kontext annehmen müssen, wo jedes Element seinen Platz
hat. Vielmehr kann eine Aussage bzw. ein Diskursfragment mehrere, teilweise ganz
unterschiedliche, sich mitunter wechselseitig ausschließende Rahmen mobilisieren. Zweitens
sind Rahmen zwar stereotype (und damit kohärente) Gebilde. Jedoch können die Terminals,
die einzelnen Positionen, die einen Rahmen konstituieren, unausgefüllt bleiben. Ein Terminal
kann drüber hinaus zu unterschiedlichen Rahmen gehören. Nicht zuletzt können durch den
diskursiven Verlauf über die Verkettung unterschiedlicher Aussagen immer wieder neue
Rahmen mobilisiert werden und andere zurücktreten
36
Der Rahmenbegriff ermöglicht es uns also nicht nur, das Äußerungsfeld in seiner
Heterogenität, Offenheit und Vielschichtigkeit zu analysieren, sondern ist durch seine
semantische Ausrichtung an die anderen sprachwissenschaftlichen Analyseinstrumente
anschließbar, ohne die soziologische Bedeutung des Wissens und der Institutionen nur
sprachwissenschaftlich zu paraphrasieren.
37
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