Keine Angst

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Quelle: Mautitius / Enzinger
Keine Angst
vor nassen Nächten
Schon einfache Mittel helfen gegen Enuresis nocturna
Eine Klassenfahrt ist nicht für alle Schüler
ein reines Vergnügen, theoretisch kann sie für
5 % aller bis zu zehn Jahre alten Kinder sogar
zum Horrortrip werden. So viele leiden nämlich an Enuresis nocturna, dem nächtlichen
Bettnässen, das die Betroffenen unter starken
psychischen Druck setzen kann. Obwohl das
Einnässen zu den häufigsten Störungen im
Kindesalter gehört, ist die Enuresis auch heute
noch ein Tabuthema. Viele Familien fühlen sich
alleingelassen und erhalten keine professionelle
Hilfe, weil auch manche Ärzte nicht ausreichend über das Einnässen informiert sind.
Allgemein anerkannte Leitlinien zu Diagnose
und Therapie der Enuresis nocturna gibt es in
Deutschland erst seit zwei Jahren.
Enuresis nocturna ist definiert als das unkontrollierte Urinieren im Bett in mindestens
zwei Nächten pro Monat bei Kindern ab dem
fünften Lebensjahr und ohne Miktionsauffälligkeiten am Tage. Betroffen sind in Deutschland 15 bis 20 % der über Fünfjährigen, 5 % der
bis zu Zehnjährigen und 2 bis 3 % der Adoleszenten. 1 % der Bevölkerung muss nachts auch
noch im Erwachsenenalter Windeln tragen. Im
Durchschnitt sind 2,5 mal mehr Jungen als
Mädchen von der Enuresis betroffen. Die spontane Remissionsrate beträgt 15 % pro Jahr.
Diese Zahlen beruhen auf epidemiologischen
Untersuchungen; Erhebungen aus anderen
Ländern bringen ähnliche Ergebnisse.
Es werden zwei Formen von Enuresis nocturna unterschieden: Bei der sogenannten primären nächtlichen Enuresis waren die Betroffenen noch nie trocken, bei der sekundären
Enuresis hatten die Bettnässer eine durchgehende trockene Periode von über sechs Monaten. Zudem sprechen Mediziner von der monosymptomatischen (isolierten) im Gegensatz zur
polysymptomatischen Enuresis, wenn kein
Harnverlust am Tage (Enuresis diurna, Harninkontinenz) und auch keine organischen oder
psychischen Erkrankungen sowie Fehlbildungen vorliegen. Die monosymptomatische Form
ist die weitaus häufigere.
von
Gerda Kneifel
Ursachen des Bettnässens
Forscher gehen von einer multifaktoriellen
Ätiologie aus. Psychische und familiäre Faktoren wie soziale Stellung oder wechselnde familiäre Konstellationen, die lange als Ursachen
diskutiert wurden, werden heute jedoch ausgeschlossen [1]. „Nicht seelische Belastungen führen zum Einnässen, sondern das Einnässen
führt zu seelischen Belastungen“, erklärt Bernhard Lettgen, Vorsitzender und Mitbegründer
von EINZ, dem Enuresis Informations-Zentrum
im hessischen Bad Homburg. Bei der sekundären Enuresis nocturna sind allerdings nicht selten belastende Lebensereignisse der Grund für
einen Rückfall.
Die nocturnale Enuresis hat eine starke
genetische Komponente. Kinder, deren Eltern
nicht enuretisch waren, werden mit einer
Wahrscheinlichkeit von 15 % zu Bettnässern.
Das Risiko steigt auf 43 %, wenn ein Elternteil
betroffen, und auf 77 %, wenn beide Elternteile
betroffen waren [2]. Forscher gehen davon aus,
dass Gene auf mehr als zehn Chromosomen in
die Vererbung der nächtlichen Enuresis invol-
Auch noch 1 %
der Erwachsenen
ist von Enuresis
betroffen
Enuresis
8
Behandlungsschema der
DesmopressinTherapie:
Das synthetische
Vasopressin-Analogon vermittelt
die Wasserrückresorption im
Sammelrohr der
Nephronen der
Niere durch
Bindung an den
V2-Rezeptor.
viert sind [3]. Lettgen sieht die genetischen
Faktoren im Rahmen einer natürlichen Reifungsverzögerung: „In den Genen ist das Programm zur späteren Reifung festgelegt. Für
Fünf- und Sechsjährige ist die Verzögerung
aber immer noch im Rahmen der statistischen
Normalverteilung zu sehen. Von einem pathologischen Befund lässt sich erst bei Adoleszenten sprechen.“
Bei durchschnittlich zwei Dritteln der
Kinder mit primärer Enuresis ist eine geringere
nächtliche Ausschüttung des antidiuretischen
Hormons Vasopressin nachgewiesen worden.
Das Hormon, das die Wasserrückresorption aus
der Niere fördert, wird bei symptomfreien Kindern nachts vermehrt ausgeschüttet und damit
die nächtliche Urinproduktion vermindert. Die
verzögerte Anpassung an den circadianen
Rhythmus der Vasopressin-Ausschüttung bei
Enuretikern führt zu nächtlicher Polyurie [4].
Doch nicht alle Betroffenen mit verminderter
Vasopressin-Ausschüttung entwickeln auch
eine Enuresis. Offensichtlich kommen bei
Enuretikern Aufwachstörungen hinzu, so dass
sie nicht bemerken, wenn ihre Blase gefüllt ist.
Carolyn Thiedke weist zwar in ihrer Arbeit
„Nocturnal Enuresis“ darauf hin, dass enuretische Kinder im Schlaf in Elektroencephalogrammen keine signifikanten Abweichungen
von Nicht-Bettnässern aufweisen. Eltern betroffener Kinder berichten aber immer wieder von
Tiefschlaf und deutlichen Aufwachstörungen.
Daran wiederum könnten ursächlich Entwikklungsverzögerungen des zentralen Nervensystems beteiligt sein [5].
Diskutiert wird zudem die nächtliche
Hyperaktivität eines Muskels der Blasenwand
(Musculus detrusor vesicae) als Ursache der
monosymptomatischen primären Enuresis nocturna. Tryggve Nevéus beispielsweise differen-
Diagnose und Therapie
Bis zum fünften Lebensjahr ist keinerlei
Behandlung notwendig. Auch mit sechs Jahren
kann es durchaus normal sein, wenn Kinder
nachts noch auf Windeln angewiesen sind. Mit
zunehmendem Alter wird jedoch das Bettnässen von der Gesellschaft immer weniger toleriert, wodurch auch die Kinder selbst das Einnässen vermehrt als psychische Belastung erleben, die laut Lettgen „bis hin zu tiefen Depressionen und Suizidgefahr“ führen kann. Sobald
bei dem Kind ein Leidensdruck besteht, wird
eine Therapie sinnvoll und notwendig. Zur
Diagnose von monosymptomatischer nächtlicher Enuresis erstellten Experten einen Anamnese-Fragebogen, den Ärzte bei EINZ bestellen
können. Er hilft, die Form des Einnässens zu
definieren und geeignete Therapieschritte in
die Wege zu leiten (siehe Abbildung zum
Behandlungsschema der Desmopressin-Therapie). Gleichzeitig müssen organische Erkrankungen wie zum Beispiel Harnwegsinfektionen
als Ursache des Einnässens ausgeschlossen
werden. Dazu sollten die unteren Extremitäten
neurologisch untersucht und eine Inspektion
des Genitales und der Lumbosakralregion
sowie eine Harnuntersuchung vorgenommen
werden. Zusätzlich sollten Blase und Niere per
Ultraschall untersucht werden. Ein Miktionsprotokoll kann ebenfalls Aufschlüsse geben.
Differentialdiagnostisch müssen organische
Erkrankungen wie Diabetes, Uropathien,
beginnende chronische Niereninsuffizienz
sowie neurologische Störungen in Betracht
gezogen werden.
Die bekanntesten Therapien bei monosymptomatischer nächtlicher Enuresis sind die
apparative Verhaltenstherapie (Klingelhose
oder Klingelmatte) sowie die medikamentöse
Behandlung mit Desmopressin (DDAVP,
Minirin®) in Form von Tabletten oder Nasenspray. Sie sollten jedoch nicht die Therapien
erster Wahl sein: „Grundsätzlich beginnt die
Behandlung mit allgemeiner Beratung,
Beruhigung und Motivationsaufbau“, resümiert Lettgen. Von großer Bedeutung ist, dass
der Arzt den Eltern klarmacht, dass das Kind
keine Schuld trägt. Schon ein Gespräch mit
dem Arzt, der die verunsicherten Eltern ernst
nimmt und sie über die Symptome aufklärt,
kann das Trockenwerden beschleunigen. In
Fällen, in denen Fünf- oder Sechsjährige in die
Praxis gebracht werden und offensichtlich nicht
das Kind, sondern die Eltern leiden, sollte der
Arzt zur Ruhe und zum Abwarten raten. „Als
Überbrückung können Kalendermethoden
angeboten werden“, rät Lettgen. Für jede trockene Nacht wird ein Zeichen in den Kalender
eingetragen, für eine bestimmte Anzahl dieser
Zeichen gibt es eine Belohnung. Auch diese
Bewusstmachung des Einnässens kann helfen.
Zudem bieten sich vielerlei Therapien an,
die zumindest die Anzahl der nassen Nächte
zu reduzieren helfen. Auch Verhaltenstherapien
wie das Verantwortlichkeits-Training gehören
dazu. Bei dieser Methode übernehmen die Bettnässer altersgerechte Verantwortung für die
Konsequenzen des Einnässens, wie zum Beispiel das Wechseln der Bettwäsche. Auf keinen
Fall aber darf dieses Training den Charakter
einer Bestrafung annehmen.
Dass Aufklärung und Verhaltenstherapien
Wirkung zeigen, bestätigen viele Studien. Bei
einer Untersuchung wurden Bettnässer in drei
Vergleichsgruppen einmal mit Desmopressin in
Verbindung mit einer Verhaltenstherapie (A),
eine zweite Gruppe mit Verhaltenstherapie plus
Placebos (B) und eine dritte Gruppe nur mit
DDAVP (C) therapiert. Bei allen drei Gruppen
kam es zu signifikanten Reduktionen der nassen Nächte pro Woche [7,8]. Auch Akupunktur
kann die Häufigkeit des Einnässens verringern
oder gar ganz verschwinden lassen [9], ebenso
wie Shiatsu, Blasentraining und viele andere
Behandlungsmöglichkeiten. Neuerdings wird
auch der Laser-Akupunktur eine signifikante
Wirkung zugeschrieben [10]. Die Wahl einer
speziellen Therapie ist letztendlich abhängig
von den Erfahrungen und dem Kooperationswillen der betroffenen Familien.
Für Kinder ab sechs Jahren mit hohem
Leidensdruck hat sich die Klingelhose durchaus bewährt. Die Behandlung kann sich allerdings über 12 bis 15 Wochen erstrecken und
verlangt auch von den Eltern ein hohes Maß an
Belastbarkeit. Die Klingelhose ist ein mit der
Windel oder Unterhose verbundener Weckapparat („Piesel-Piepser“), der ein akustisches
Signal von sich gibt, sobald der erste Tropfen
Urin abgesondert wird. Die Klingelmatte ist
eine Sensormatte in Verbindung mit einem
Weckapparat. „Da Enuretiker meist im Tiefschlaf
sind, hören sie den Ton nicht“, weiß Lettgen.
„Die Eltern müssen also helfen und sie wecken.“ Dabei müssen sie darauf achten, dass
ihre Kinder nicht quasi traumwandlerisch auf
die Toilette gehen, sondern eine „Schaltung ins
Bewusstsein“ gelingt. „80 % der Kinder werden
Enuresis
ziert zwischen dieser Detrusor-abhängigen und
der sogenannten Diuresis-abhängigen Enuresis,
bei der vermehrte nächtliche Harnproduktion
in Verbindung mit Aufwachstörungen auftritt.
Die erste Gruppe spricht auf eine Desmopressin-Therapie (s.u.) an, die zweite nicht [6]. Für
Lettgen ist das krampfartige Zusammenziehen
des Detrusor-Muskels jedoch eine krankhafte
Störung der Blasenfunktion und somit nicht im
Zusammenhang mit nächtlicher Enuresis zu
sehen.
9
Enuresis
10
geringe
Rückfallquote bei
Langzeit-Therapie
mit Desmopressin
auf diese Weise dauerhaft trocken“, so Lettgen.
Die Rückfallquote liegt bei 5 bis 30 % [6].
Die medikamentöse Behandlung mit
Desmopressin, einem synthetischen Analogon
zu dem Stresshormon Vasopressin (ADH), welches die Wasserrückresorption durch Bindung
an den V2-Rezeptor im Bereich des Sammelrohrs der Nierennephrone vermittelt, ist vergleichsweise einfach (siehe Abbildung zum
Behandlungsschema der Desmopressin-Therapie). Zudem stellt sich die Wirkung bereits
nach sehr kurzer Zeit ein. Ein Nachteil ist das
eventuelle Auftreten leichter Nebenwirkungen
(Nasenbluten, Kopf- und Bauchschmerzen)
sowie die hohe Rückfallquote von 80 bis 100 %
bei Abbruch der Therapie [4]. Die Rückfallquote sinkt bei Langzeit-Therapien über mehr
als sechs Monate deutlich, Nebenwirkungen
treten dabei nicht häufiger auf und beeinflussen auch nicht die endogene ADH-Sekretion
[11]. Auch das stufenweise Reduzieren der
Dosis in der sogenannten Ausschleichphase
erhöht die Erfolgsquote. Nach durchschnittlich
sieben Monaten sind 70 bis 80 % der Kinder
trocken – sofern sie zu den Respondern gehören [12].
Eine Behandlung mit Imipramin, einem trizyklischen Antidepressivum, ist nur in Ausnahmefällen und nur bei älteren Kindern mit
depressiven Störungen die Therapie der Wahl.
Literatur:
1. Fergusson, DM. et al.: Factors related to the
age of attainment of nocturnal bladder control: an 8-year longitudinal study. Pediatrics
78 (1986), S. 884-890.
2. Norgaard, JP. et al.: Experience and current
status of research into the pathophysiology of
nocturnal enuresis. Br. J. Urol. 79 (1997), S.
825-835.
3. Djurhuus, JC.: Definitions of subtypes of
enuresis. Scand. J. Urol. Nephrol. Suppl. 202
(1999), S. 5-7.
4. Thiedke, CC.: Nocturnal Enuresis. Am.
Fam. Physician 67 (7) (2003), S. 1499-1506.
5. Watanabe, H. et al.: A proposal for a classification system of enuresis based on overnight
simultanous monitoring of electroencephalography and cystometry. Sleep 122 (1989), S.
257-264.
6. Nevéus, T. et al.: Enuresis – Background
and Treatment. Scand. J. Urol. Nephrol.
Suppl. 206 (2000), S. 1-44.
7. Kahan, E. et al.: A controlled trial of desmopressin and behavioral therapy for nocturnal
enuresis. Medicine 77 (6) (1998), S. 384-388.
Enuresis in der Adoleszenz
Eine eigene Behandlungsstrategie benötigen Adoleszente. Jugendliche haben bereits
einen hohen Leidensdruck und sind sehr starken psychischen Belastungen ausgesetzt. In der
Regel bevorzugen sie die Therapie mit Medikamenten, zumal sie auf deren schnelle Wirkung
hoffen. Die Gabe von Desmopressin ist hier
sicherlich angemessen. Es kann beispielsweise
bei Schulausflügen zur Anwendung kommen,
um Bettnässern die Angst vor der gemeinsamen Übernachtung zu nehmen.
Eine neuere Studie hat jedoch gezeigt, dass
sich die Behandlung von Enuresis bei Adoleszenten schwieriger gestalten kann [13].
Untersucht wurden 107 enuretische Jugendliche, von denen 74 % unter primärer und 28 %
unter sekundärer Enuresis litten. 71 % wiesen
monosymptomatische Enuresis auf, 29 % hatten auch tagsüber Probleme mit dem Einnässen. Fast jeder Fünfte hatte noch nie einen Arzt
konsultiert, 40 % wurden zuvor noch nicht therapiert. 22 % der Adoleszenten sprachen auf
die Behandlung mit Desmopressin nicht an
und 23 % verweigerten die Therapie oder hielten sie nicht ein.
Diese Ergebnisse machen deutlich, dass das
nächtliche Bettnässen schon lange vor der Adoleszenz behandelt werden sollte.
8. Glazener, CM. et al.: Simple behavioural
and physical interventions for nocturnal enuresis in children. Cochrane Database Syst.
Rev. 2 (2002).
9. Honjo, H. et al.: Treatment of monosymptomatic nocturnal enuresis by acupuncture: A
preliminary study. Int. J. Urol. 9 (12) (2002),
S. 672-676.
10. Djurhuus, JC. et al.: Nocturnal enuresis.
Curr. Opin. Urol. 12 (4) (2002), S. 317-320.
11. van Kerrebroeck, PEV.: Experience with
the long-term use of desmopressin for nocturnal enuresis in children and adolescents. BJU
Int. 89 (4) (2002), S. 420-425.
12. Riccabona, J. et al.: Therapie der Enuresis.
Pädiat. Prax. 58 (2000), S. 243-252.
13. Nappo, S. et al.: Nocturnal enuresis in the
adolescent: a neglected problem. BJU Int. 90
(9) (2002), S. 912-917.
Weiterführende Informationen:
EINZ Enuresis Informations-Zentrum
www.einz.org
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