Bildungssoziologie 27.10.08 Die Rolle von primären und sekundären Herkunftseffekten für Bildungschancen von Migranten im deutschen Schulsystem (Becker & Schubert, 2009 ) 1) Einleitung (und Definitionen) - Migrantenkinder haben in der Regel schlechtere Bildungschancen und weisen geringere Bildungserfolge als Einheimische auf - Boudon unterscheidet zwischen primären und sekundären Effekten: Primärer Effekt: bezieht sich auf Leistungsunterschiede, die aufgrund der sozialen Herkunft entstehen und damit auch gegebenenfalls den Besuch unterschiedlicher Schulformen zur Folge haben Sekundärer Effekt: beschreibt die über Leistungsunterschiede hinausgehenden Differenzen in den familiären Bildungsentscheiden (z.B: ungleiche Bildungsabschlüsse werden für Kinder aus unterschiedlichen sozialen Schichten im Verhältnis zur Schichtzugehörigkeit als gleichwertig angesehen) - Definition Bildungsaspiration: a) idealistische Aspiration: gewünschter, erhoffter Bildungsabschluss (ohne Berücksichtigung der begrenzten Bedingungen z.B. Schulnoten) b) realistische Aspiration: Bildungsabschluss, der unter den gegebenen Umständen als realisierbar erscheint - Untersucht wird im der Übergang von der Primarstufe auf die weiterführenden Schullaufbahnen in der Sek 1. 2) Theoretischer Hintergrund - Migranten verfügen oftmals über geringere bildungsrelevante Ressourcen - Kinder aus höheren Sozialschichten haben infolge Sozialisation, Erziehung und gezielter Förderung (günstigen ökonomischen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen) eher bessere Schulleistungen und Erfolgswahr-scheinlichkeiten - Arbeiterkinder und Migranten haben oftmals kognitive und sprachliche Nachteile - Den Eltern der Migrantenkindern fehlt oft auch bildungsrelevantes Wissen - Einheimische Kinder aus höheren Sozialschichten haben grössere Chancen, aufs Gymnasium zu wechseln (primärer Effekt sozialer Herkunft) - Verschärfte Nachteile der Migrantenkinder, wenn Sprache des Aufnahmelandes nicht beherrscht wird; Sprache = Schlüsselfunktion für die Sozialintegration, unabdingbar für eine erfolgreiche Schulkarriere, den Erwerb von Bildungszertifikaten und die Erbringung der nötigen Schulleistung; Bildung wird durch Kommunikation vermittelt! - Die Fähigkeit der Beherrschung der Sprache des Aufnahmelandes hat Einfluss auf die Leistungserwartung seitens der Lehrer, wirkt sich (neben Intelligenz) auf die Schulwahl und Bildungsentscheidungen der Eltern und auf die Fördermassnahmen der Schulen selbst aus - Spracherwerb hängt von Motivation ab, zentral dafür sind elterliche Bildungsapirationen. (Bildungsstreben) - Die primären Herkunftseffekte können durch das Bildungssystem verringert werden z.B: vorschulische Förderungseinrichtungen; Massnahmen betreffend Sprachprobleme - Die Bildungsentscheide hängen von den ökonomischen, kulturellen und sozialen Ressourcen der Eltern ab sowie von der sozialen Distanz zum System höherer Bildung - - - Migranten verfügen oft über geringere Möglichkeiten, in die Bildung ihrer Kinder zu investieren und den Schulerfolg langfristig abzusichern Demnach unterscheiden sich die Bildungsentscheide bei gleichen Leistungen (=sekundärer Effekt der sozialen Herkunft) Die Verbindung primärer und sekundärer Einflüsse zeigt sich auch in den Bewertungen und Zuschreibungen der Lehrer infolge von Zensuren und Bildungsempfehlungen. Bei der Notenvergabe befinden sich oft Kinder und Jugendliche aus den unteren sozialen Schichten und oft auch Migranten-kinder. Bei der Leistungsbewertung (Noten) haben nach einer Lehrerumfrage kognitive Leistung ein geringeres Gewicht als die individuelle Jahresleistung / Lernfortschritt. Bei Bildungsempfehlungen wird auch das Sozialverhalten berücksichtigt. Im Bestreben, (angeblich) ungeeignete Schulkinder nicht für eine höhere Laufbahn zu empfehlen, wird der Fehler, eigentlich geeignete Kinder ebenfalls nicht zu empfehlen, oft zum Nachteil für Migrantenkinder. 3) Datenbasis, Variablen und statistische Verfahren. a) Datenbasis 3 Datensätze für die empirischen Analysen: 1. Daten des Sozioökologischen Panels (SOEP): Bildungsbeteiligung von Migrantenkinder vgl einheimische Kinder im Alter von 14 J; auch Infos über Migranten verschiedener Nationalitäten sind darin enthalten; die Datenstruktur ermöglicht es, Angaben der Sozialstruktur privater Haushalte mit Individualmerkmalen von Eltern und Kindern zu verknüpfen, was differenzierte Analysen des Einflusses der sozialen / nationalen Herkunft auf Bildungschancen ermöglicht. 2. Daten der deutschen Zusatzstudie der Internationalen-Gundschul-LeseUntersuchung (IGLU); Untersucht wurden v.a. Leistungen in der Lesekompetenz (literacy); dazu wurden auch Bildungsempfehlungen, Schulnoten etc. untersucht, mittels dieser Daten sind differenzierte Analysen der primären und sekundären Herkunftseffekten von Einheimischen und Migranten möglich,. 3. Datenbasis der PISA-E-Studie (2000); nationale und internationale Tests von Schulkindern mit Migrationshintergrund, einheimischen und ausländischen Schulkinder wurden verglichen; (15 jährige / 9.Kl), diese Daten werden mit den IGLUDaten kombiniert, um Einflüsse primärer und sekundärere Herkunftseffekte für spätere Bildungserfolge abschätzen zu können b) Definition von Variablen und Operationalisierung In den empirischen Analysen gibt es 4 AVs: - Übergangsempfehlung am Ende der Grundschulzeit - Tatsächlich besuchter Schultyp (Hauptschule, Realschule, Gymnasium) - Bildungsaspiration der Eltern - Elterliche Bildungsentscheidung Als Bestimmungsfaktoren sozialer / nationaler Herkunft werden folgende UVs bestimmt: - soziale Herkunft (Klassenlage des Elternhauses) - nationale Herkunft (Migrationsstatus; Herkunftslandbestimmung nicht immer möglich, jedoch Unterteilung in Migranten der ersten oder zweiten Generation) - schulische Leistung: Noten, v.a. Deutschnote, dazu Mathe und Sachkunde - Lesekompetenzen: am Ende der Grundschulzeit „reading literacy“; Unterteilung in 5 Lesekompetenzstufen c) Konstruktion eines Längsschnittdatensatzes mittels Bildung von „Zwillingpaaren“ Aus den Datensätzen von PISA-E und IGLU-E wurde ein Längsschnittdatensatz erstellt, gemessen wurde 2x: Ende der Grundschulzeit / tatsächliche eingeschlagene Schullaufbahn am Ende der Vollzeitschulpflicht (15 j). - Aus den Datensätzen wurden „synthetische (statistische) Zwillinge gebildet, man hat konstante Merkmale wie Geschlecht, Migrationsstatus, Geschwisterzahl etc. aus beiden Studien einander zugeordnet, um einen besseren Zusammenhang mit der Schulleistungsentwicklung und den Übertrittsmechanismen darzustellen und die Reabilität der Ergebnisse zu steigern. d) Statistisches Verfahren - angewandt wurde das Verfahren der „multinominalen logistischen Regression“) , Bildungsübergänge können neben der institutionellen Selektion auch zusätzlich anhand des handlungstheoretischen Ansatzes der subjektiven Werterwartung, der Kosten- Nutzen-Abwägung zwischen Alternativen und der subjektiven Optimierung von Handlungszielen rekonstruiert werden. 4) Empirische Analysen und Befunde - 3 Schritte: 1. Beschreibung der wichtigsten Dimensionen der Nachteile von Migranten im Bezug auf Bildungschancen 2. Vergleich von primären und sekundären Herkunftseffekten von Schulkindern aus unterschiedlichen Sozialschichten (Einheimische und Migranten) 3. Betrachtung der Sortier- und Selektionsleistungen des dt. Schulsystems a) Bildungsungleichheiten in der Sekundarstufe 1 - Ausländische Schulkinder / Schulkinder mit Migrationshintergrund sind in der (wenig prestigeträchtigen) Hauptschule überpräsentiert (72 % aller 14 jährigen / bei den Einheimischen nur 43%) - Daran konnte die Bildungsexpansion wenig ändern. - Bezüglich der anvisierten Bildungsabschlüsse gibt es keinen signifikanten Unterschied zwischen Zugewanderten und Deutschen (wie es der kulturalistische Erklärungsansatz nahe legen würde) - Ähnlich gilt dies auch für das Muster der Schichtzugehörigkeit (keine Anzeichen, dass es sich bei Migranten in Bezug auf Bildungsvorstellungen um kulturelle Defizite handelt) Bei Migrantengruppen mangelt es also nicht an Bildungs – und Berufsaspirationen! b) Bildungsübergänge nach nationaler Herkunft und Schulleistungen = Ergebnisse von Analysen auf die höchste Schullaufbahn in der Sekundarstufe 1: - dt. Schulkinder haben eine rund 2.5 mal höhere Chance, das Gymnasium zu besuchen als Kinder mit Migrationshintergrund - Der Bildungsübergang in die Sek 1 ergibt sich aus dem Zuammenspiel von primären und sekundären Herkunftseffekten; deshalb wurde die individuelle Leistung (Deutschnote am Ende der Grundschulzeit) als intervenierende Variable zwischen Herkunft und Zugang zu den Schullaufbahnen berücksichtigt: - 60 % der Einheimischen und 30% der Migrantenkinder haben gute bis sehr gute Deutschnoten ; neben ungünstigen Sozialbedingungen tragen auch Sprachschwierigkeiten zur Verteilung dieses Leistunspotentials bei (deutliche primäre Effekte) - 58% der leistungsstarken dt. Schulkinder wechseln aufs Gymnasium, nur 38% der leistungsstarken Schulkinder mit Migrationshintergrund; ähnliche Aufteilung bei den mittelmässigen Schulleistungen, bei den leistungsschwächeren Kinder wechseln 45% der Deutschen aufs Gymnasium, nur 25% der Migrantenkinder (sekundärer Herkunftseffekt und Einfluss der Schichtzugehörigkeit unter den Migrantenkinder) c) Neutralisierung der Herkunftseffekte und ihre Folgen für die Bildungschancen - Mittels Simulationen wird untersucht, ob Massnahmen, die Herkunftseffekte reduzieren sollen, auch tatsächlich geeignet sind - „Neutralisierung“ des primären Effekts sozialer Herkunft: Für Migrantenkinder werden die gleichen Leistunspotentiale angenommen wie für die dt. Schulkinder; die Verteilung der Leistungspotentiale wird in Beziehung zu den Übergangswahrscheinlichkeiten für die einheimischen Schulkinder gesetzt. RESULTAT: für die Migrantenkinder ergäbe sich 3% mehr Übergangsrate aufs Gymnasium (nur unwesentliche Steigerung…) - „Neutralisierung“ des sekundären Effekts: ergäbe eine Steigerung der Übergänge aufs Gymnasium von den Migrantenkindern um 19% - d.h. 60% der Migrantenkinder würde nun das Gymnasium besuchen; d.h. qualitativ wären Massnahmen, die auf die Neutralisierung sekundärer Herkunftseffekte abzielen, weitaus wirksamer - Bei Kontrolle des Migrationsstatus, des Geschlechts und der durchschnitt-lichen Noten für Deutsch, Mathe und Sachkunde liegen für die Wahrscheinlichkeit, ins Gymnasium überzuwechseln, signifikante Herkunftseffekte vor: Sowohl für dt. Kinder als auch für Migrantenkinder erhöht sich die Chance, aufs Gymnasium zu wechseln, wenn die Eltern über einen Hochschulabschluss verfügen oder zur Oberschicht gehören. - Datenbedingt sind keine herkunftsländerspezifischen Analysen möglich; Migranten können jedoch nicht als homogene Gruppe betrachtet werden; deshalb kann man nicht verallgemeinernde Aussagen für alle Gruppen gleichzeitig machen (z.B: Griechische Migrantenkinder sind überproportional erfolgreich im dt.Bildungssystem, türkischstämmige Migranten überproportional im Nachteil) d) Die Rolle der Übergangsempfehlungen - Bildungsübergänge in die Sek 1 unterliegen in manchen Bundesländern nicht gänzlich der Elternkontrolle, d.h. Bildungsempfehlung der abgebenden Grundschule sind weitgehend bindend / in andern Bundesländern entscheiden die Eltern als letzte Instanz über die Bildungsempfehlungen; diese können bei Migranten in ungleichen Bildungschancen resultieren, wenn gleiche Normen und Regeln wie für die Einheimischen angewendet werden (ohne Berücksichtigung der Sprachvoraussetzungen) - Diese „institutionelle Diskriminierung“ wiegt schwer, wenn die Bildungsempfehlung nicht mit dem tatsächlichen Leistungspotential korrespondiert - Rolle der Bildungsempfehlungen: Einheimische haben eine 2mal grössere Chance für eine Gymnasialempfehlung, Migranten haben ein 2.6mal grösseres Risiko für eine Hautschulempfehlung - Diese ungleichen Empfehlungen müssten gerechtfertigt sein, würden sie leistungsbezogenen (meritokratischen) Richtlinien folgen - Vor allem für die Deutschnote gibt es erhebliche Leistungsunterschiede zwischen Einheimischen und Migranten - Migrantenkinder aus den unteren Sozialschichten erhalten überproportional häufiger eine Hauptschulempfehlung als diejenigen aus den höheren Sozialschichten (2.7 mal höheres Risiko) - Vergleicht man einheimische Arbeiterkinder und Arbeiterkinder mit Migrationshintergrund, ergibt sich für die Migranten ein 1.9 mal höheres Risiko - Dass dies aber kein Unterschichtsphänomen ist, beweist die Tatsache, dass Migrantenkinder der Mittel – und Oberschicht ein rund 2.5 mal höheres Risiko haben, - - - - eine Hauptschulempfehlung zu erhalten als dt. Schulkinder aus höheren Sozialschichten MESSUNG BEI DEN 15. JÄHRIGEN: Auf die am Leistungspotential orientierte Gymnasialempfehlung gibt es kaum Unterschiede zwischen Migranten und Einheimischen, es scheint, dass der Übergang zu den weiterführenden Schulen vielmehr strikt meritokratischen Gesichtspunkten folgt; d.h. schlechte Noten – weniger Empfehlungen für den weiterführenden Schulbesuch (Meritokratie = Vorherrschen des Leistungsprinzips) Deshalb können die Bildungschancen der Migrantenkinder deutlich verbessert werden, wenn die primären Herkunftseffekte neutralisiert werden; dann würde sich eine Steigerung der Gymnasialempfehlung um 16% für die Migrantenkinder ergeben Jedoch ist nicht ausgeschlossen, dass die Notenvergabe und die darauf basierende Empfehlung nicht den meritokratischen Prinzipien entsprechen; bei der Untersuchung der Daten über die Lesekompetenz (IGLU) zeigt sich, dass Migranten auch dann, wenn sie über gute bis sehr gute Leseleistungen verfügen, weitaus seltener eine Gymnasialempfehlung erhalten als dt. Schulkinder in der gleichen Leistungskategorie (bei den mittleren und schlechteren Leistungspotentiale gibt es kaum Unterschiede zwischen Einheimischen und Migranten) Würde man die primären Effekte für die Leseleistung neutralisieren, ergäbe sich für die Gymnasialempfehlung für Migrantenkinder eine Steigerung von 12 %. ; dieser Neutralisierungseffekt ist geringer als für die Deutschnote – somit zeigt sich, dass in die Bildungsempfehlung für Migrantenkinder auch leistungsfremde Kriterien eingehen 5) Zusammenfassung und Schlussfolgerung - Migranten haben in Deutschland ein höhere Risiko auf einer Hauptschule die Sekundarstufe zu absolvieren als Einheimische - Dies hat sich durch die Bildungsexpansion nicht grundlegend geändert - Handlungstheoretische Ansätze des strategischen Bildungsverhaltens von sozialen Gruppen sind hilfreich, weil sie sowohl die Struktur des Bildungssystems als auch die bildungsrelevanten Ressourcen der Migranten in den Vordergrund stellen. - Migrantenkinder treten erst mit deutlich höheren Leistungen ins Gymnasium ein als Einheimische, was auf institutionelle Selektion und sekundäre Herkunftseffekte schliessen lässt. - Nachteilige Gildungschancen der Migranten sind kein reines „Unterschichtsphänomen“ - Die Leistungsbeurteilung ist nicht absolut meritokratisch, auch leistungsfremde Kriterien fliessen in die Lehrerurteile ein, von „institutioneller Diskriminierung“ darf jedoch (aufgrund der Daten) nicht gesprochen werden - Massnahmen, die auf die Entscheidung der Eltern beim Schulübertritt am Ende der Grundschule wirken, leisten einen erheblichen direkten Beitrag zur Verringerung der Nachteile von Migranten beim Navigieren durchs dt. Schulsystem / primäre Herkunftseffekte haben einen starken Einfluss auf die Übergangsempfehlung Reformen müssen also beide Teilaspekte berücksichtigen! (primäre Effekte: z.B: Sprachförderungsangebote) FAZIT: Bildungspolitik muss für die Entwicklung von Sozialtechnologien die Ursachen sowohl primärer als auch sekundärer Herkunftseffekte berücksichtigen. ZS : Katja Margelisch, 10.11.08