Schweizerische Zeitschrift für Ganzheitsmedizin Swiss Journal of Integrative Medicine Im Fokus: Rheumatologie Schweiz Z Ganzheitsmed 2011;23:317–319 DOI: 10.1159/000334351 Published online: November 14, 2011 Expertengespräch: Rheumatologie – Teil 1 Spritze, Nadel, Lokalanästhetika: Die Neuraltherapie ist eine «wunderbare Ergänzung», um Schmerzen bei Rheuma zu behandeln, sagt der Rheumatologe Dr. med. Matthias Knellwolf. Gestörte Regelkreise werden auf einfache Weise in ein stabiles Gleichgewicht gebracht. Knellwolf: Nicht unbedingt. Rheuma ist ein Überbegriff für Krankheiten und Funktionsstörungen, die unseren Bewegungsapparat betreffen: Mus­ keln, Gelenke, Sehnen, Bänder, Bin­ dege­webe, Knochen. Das Leitsymp­ tom ist Schmerz. Im engeren Sinn wird unter Rheuma oft eine entzünd­ liche Form von Krankheiten des Be­ wegungs­apparates verstanden, etwa die rheumatoide Arthritis oder Poly­ arthritis. Aber auch alle degenerativen Er­k rankungen des Bewegungsappa­ rates zählen zu Rheuma, z.B. Arthro­ se und besonders auch Erkrankungen der Wirbelsäule. Eine Erweiterung aus neuraltherapeutischer Sicht gibt es bei dieser Definition nicht. Wie untersuchen Sie eine Person, die mit rheumatischen Beschwerden Ihre Praxis aufsucht? Den Anfang bildet die Anamnese. Darauf folgen eine ganzkörperliche Untersuchung und eine problembe­ zogene Untersuchung in der Haupt­ beschwerderegion, um Haltungs­ störungen, Funktionsstörungen und Strukturveränderungen am Bewe­ gungsapparat – Gelenke, Wirbelsäule, Weichteile – zu erfassen. Ich untersu­ che meistens alle Gelenkregionen und die Wirbelsäule. Spezifische Probleme © 2011 S. Karger GmbH, Freiburg Fax +49 761 452 07 14 [email protected] www.karger.com Accessible online at: www.karger.com/szg z.B. an Schulter oder Wirbelsäule werden mit genaueren Funktions­ prüfungen und ergänzenden medi­ zinischen Untersuchungen, z.B. auch bildgebenden Verfahren, beurteilt. Manchmal sind rheumatische Be­ schwerden Begleitsymptome einer Organerkrankung; deswegen ist eine Ganzkörperuntersuchung wichtig. Das ist schulmedizinischer Standard. Jeder Facharzt für Rheumatologie geht ungefähr so vor. Und wo kommt bei der Untersuchung die Neuraltherapie ins Spiel? Die Neuraltherapie hat als solche keine eigene Untersuchungstechnik. Aber: Von Bedeutung für die Neu­ raltherapie sind Hinweise auf soge­ nannte Störfelder. Das geht über das schulmedizinische Verständnis hin­ aus. Störfelder sind gestörte Bereiche des Körpers, die eine Regulations­ störung verursachen und in einer an­ deren Körperregion zu Beschwerden und zu einer Krankheit führen oder als Teilfaktor dazu beitragen können. Ein Störfeld kann beispielsweise eine alte Operationsnarbe sein. Solche Hinweise beachten wir; wir fragen nach Narben und palpieren diese. Wenn der Patient z.B. sagt, seit seiner Knieoperation «spuke» der Blutdruck, trägt möglicherweise die Operations­ narbe am Knie dazu bei. Dann spritzt man diese Narbe, und wenn sich nachher der Blutdruck gut einstellen lässt, haben wir den Beweis, dass hier ein Zusammenhang besteht. Auch versteckte Entzündungen im Bereich der Zähne und der Kieferknochen sind häufige Störfelder. Sie untersuchen auch den Mund? Ja, den Mund und das Zahnfleisch. Zudem fertigen wir eine PanoramaRöntgenaufnahme des Ober- und Unterkiefers an, um entzündliche Veränderungen einer Zahnwurzel oder verlagerte Weisheitszähne zu entdecken. Wir wissen aus Erfahrung, dass die meisten Störfelder, die Krank­ heiten beeinflussen, im Kopfbereich liegen. Müssten solche Patienten nicht erst einmal zum Zahnarzt? Die Patienten, die wir sehen, haben nicht primär ein Zahnproblem. Wir weisen aber auf solche Störfelder hin, und wenn wir einen gestörten Zahn vermuten, arbeiten wir mit dem Zahnarzt zusammen. Mit einer ge­ zielten Injektion an den Nerven des Zahns können wir aber das Störfeld vor­übergehend ausschalten. Wenn nach einem solchen Test ein Fern­ symptom verschwindet, haben wir einen Beweis, dass ein Zusammen­ hang besteht. Downloaded by: 88.99.70.242 - 11/3/2017 1:01:22 PM Herr Dr. Knellwolf, gibt es eine neuraltherapeutische Definition von «Rheuma»? «Wenn der Patient z.B. sagt, seit seiner Knie­operation ‹spuke› der Blutdruck, trägt möglicherweise die Operationsnarbe am Knie dazu bei. Dann spritzt man diese Narbe.» Wie lange dauert bei Ihnen die Erstuntersuchung? Etwa 45–60 min. Das ist Standard bei einem Facharzt. Wenn jemand Neuraltherapie praktiziert und nur neuraltherapeutisch tätig ist, wird er ebenfalls diese Zeit aufwenden. Es geht ja darum, die Vorgeschichte des Krankheitsgeschehens zu erfassen und die Einflüsse aufzunehmen. Nach welchen Kriterien erstellen Sie ein Behandlungskonzept? Wir erstellen eine Arbeitsdiagnose und besprechen mit dem Patienten die Behandlungsmöglichkeiten. In manchen Fällen braucht es keine Behandlung. Häufig sind Patienten schon beruhigt, wenn sie die Ursache ihrer Beschwerden kennen. Bei gros­ sem Leidensdruck versucht man zu helfen, bei einem Teil der Patienten 318 Warum eignet sich bei Rheuma die Neuraltherapie? Wie funktioniert sie? Ich finde, dass die Neuraltherapie eine wunderbare Ergänzung zur Be­ handlung bei Schmerzen und Rheu­ ma ist. Es gibt viele Patienten, die gewisse Medikamente nicht vertragen oder die erfolglos vieles ausprobiert haben. Hier ist die Neuraltherapie oft ein Weg, um mit einfachen Mitteln eine Linderung zu bewirken. Man braucht eine Spritze, eine Nadel und Lokalanästhetika: Procain oder Lidocain. Die Neuraltherapie funk­ tioniert wie ein Regulator einer ge­ störten Funktion. Durch die Injektion mit Lokalanästhetika wird am Ort des Einstichs eine schmerzauslösende Struktur – das Gelenk, eine Muskel­ verhärtung, ein Störfeld – für kurze Zeit anästhesiert, und so wird dort die Schmerzleitung unterbrochen. Dadurch werden vorher gestörte Re­ gelkreise insbesondere des vegetativen Nervensystems in ein stabileres Gleichgewicht gebracht. Dies ist auch eng verknüpft mit komplexen bio­ chemischen Vorgängen auf zellulärer und interzellulärer Ebene – im so­genannten Grundsystem nach Pischinger. Das Ganze führt dazu, dass ein stabiles Gleichgewicht er­ zeugt wird und Selbstheilungsmecha­ nismen deblockiert und aktiviert werden können. Ein zweiter Punkt: Lokalanästhetika haben per se lokale und systemische entzündungshem­ Schweiz Z Ganzheitsmed 2011;23:317–319 mende Eigenschaften. Neueste For­ schungsergebnisse bestätigen dies. Wie lange dauert ein Behandlungszyklus? Wenn ein Patient für die Neuralthera­ pie infrage kommt, macht man eine leichte Erstbehandlung, um die Ver­ träglichkeit von Spritzen und Lokal­ anästhetika zu testen. Darauf gibt es im Abstand von je einer Woche 3–4 Behandlungen. Man sieht dann rasch, ob die Neuraltherapie wirkt oder nicht. Wir gehen nicht schema­ tisch vor, weil die Vorgeschichte bei jedem Patienten anders ist; das indivi­ duelle und einmalige Krankheitsbild wird berücksichtigt. Im Durchschnitt braucht es 6 Behandlungen in etwa 3 Monaten bis zum Erreichen des therapeutischen Ziels. Wie gross ist Ihre Erfolgsquote? Nicht 100%; das wäre übertrieben. Aber es ist doch erstaunlich, wie gut Neuraltherapie auch in vertrackten Situationen noch helfen kann. Es konsultieren uns viele austherapierte Patienten, und in ca. 70% dieser schweren Fälle kann man noch Lin­ derung schaffen. Bei chronisch Kran­ ken sind Wiederholungsbehandlun­ gen möglich und sinnvoll. Wie beurteilen Sie den Trend, dass immer mehr Menschen künstliche Hüft- und Kniegelenke bekommen? Es gibt grobmechanische Schäden in einem Knie- oder Hüftgelenk, die sich nicht anders beheben lassen. Bei Arthrose muss man unterscheiden zwischen dem Schaden an sich und den Reaktionen im Gewebe rund um das Gelenk – in der Kapsel, den Bän­ dern und den Muskeln. Dort ent­ stehen Entzündungen, die zu reakti­ ven Verspannungen führen und die ebenfalls verantwortlich sind für Im Fokus: Rheumatologie Downloaded by: 88.99.70.242 - 11/3/2017 1:01:22 PM Dr. med. Matthias Knellwolf ([email protected]) ist Facharzt FMH für Innere Medizin und Rheuma­ tologie. Er besitzt ausserdem Fähigkeits­ ausweise in Manueller Medizin und Neuraltherapie. Seit 1993 führt er eine eigene Facharztpraxis für Rheumatologie, Innere Medizin und Neuraltherapie in Köniz bei Bern (Rheuma- und Rückenzen­ trum, Praxisgemeinschaft Stapfenmärit). ausschliesslich schulmedizinisch, bei anderen mit Neuraltherapie, bei einer dritten Gruppe mit einer Kombina­ tion beider Methoden. In meiner Pra­ xis teilt sich dies ungefähr zu drei Dritteln auf. Das bedeutet: Gut zwei Drittel meiner Patienten werden mit Neuraltherapie behandelt, entweder allein oder kombiniert mit Schulme­ dizin. Natürlich empfiehlt man das, was man selbst als besten Weg sieht, doch man soll niemanden zu einer Methode überreden; der Patient sollte mitentscheiden können. Arbeiten Rheumatologen und Komplementärmediziner, die auch Rheuma behandeln, nach Ihrer Erfahrung gut zusammen? Das könnte wahrscheinlich besser sein. Es ist schwer zu sagen, da ich diejenigen Patienten, die für Neural­ therapie infrage kommen, auch selbst Im Fokus: Rheumatologie behandle. Rheumatologie und Neu­ raltherapie ist eine ideale Kombinati­ on, die es in der Schweiz aber nicht häufig gibt. Die Überweisungspraxis kenne ich nicht so gut. Ich denke aber, dass es eher die Patienten sind, die sich den Komplementärmediziner suchen, als dass Ärzte an Neuralthe­ rapeuten überweisen, da einfach die Möglichkeiten der Neuraltherapie den meisten zu wenig bekannt sind. Können nichtärztliche Therapeuten für Rheumapatienten dasselbe leisten wie komplementärmedizinisch tätige Ärzte? Hier bin ich skeptisch. Ergänzend können Therapeuten mit anderen Methoden sicher viel beitragen, doch es gibt entzündliche rheumatische Krankheiten, die eine schulmedizini­ sche Behandlung erfordern. Ich denke an die schweren Verläufe der rheuma­ toiden Arthritis, die zu schweren Gelenkzerstörungen führen kann. Mit den modernen Behandlungen, z.B. mit TNF-alpha-Blockern, erzielt man in einem schönen Prozentsatz respektable Erfolge und kann die Destruktionen zum Teil aufhalten. Ich denke, in solchen Fällen kommen Therapeuten nicht so weit und sollten unbedingt mit Fachärzten zu­ sammenarbeiten. Eine Liste von Ärz­ ten mit dem Fähigkeitsausweis für Neuraltherapie findet sich unter www.santh.ch. Interview: Irène Dietschi Schweiz Z Ganzheitsmed 2011;23:317–319 319 Downloaded by: 88.99.70.242 - 11/3/2017 1:01:22 PM Schmerzen. Hier kann die Neural­ therapie punktuell helfen. Den Knor­ pel kann sie nicht ersetzen; deswegen bleibt in vielen Fällen oft nur die Gelenkprothese. Manche Patienten wollen das aber nicht. Und erstaun­ licherweise kann die Neuraltherapie oft sogar Linderung verschaffen, wenn jemand bereits für die Operation vor­ gesehen war.