9. Philosophicum Lech Der Wert des Menschen – An den Grenzen des Humanen. 15. bis 18. September 2005 Lech am Arlberg Siemens-Impulsreferat Vorstandsdirektor Ing. Franz Geiger Meine Damen und Herren! Wenn sich im Gespräch eine Debatte um den Wert des Menschen ergibt, ist man sich schnell einig – meistens zumindest: Menschen viel. Menschen sind das höchste Gut. Jeder Mensch ist einzigartig und einmalig. Menschen sind durch nichts zu ersetzen. haben den allerhöchsten Wert. Sozusagen unendlich Die Absicht ist gut und löblich, aber die Praxis zeigt ein anderes Bild. In Wahrheit bewertet unsere Gesellschaft jeden Tag den Wert eines Menschenlebens ……... beinhart! Der Deutsche Thomas Wenzel verlor in Ramstein während einer Flugshow beim Absturz der italienischen Fliegerstaffel "Frecce Tricolori" (Fretsche Tricolori) seine Jugendliebe Katrin. Er selbst wurde schwer verletzt. Dem deutschen Amt für Verteidigungslasten war das 2.000 Mark wert. Sein Anwalt erstritt 5.381 Mark Schmerzensgeld. Der Grabschmuck war 490 Mark wert. Als 1988 ein US-Kampfjet in eine Seilbahn im italienischen Cavalese flog, erhielten die Familien der sieben deutschen Skifahrer jeweils 3,8 Mio. Mark Schmerzensgeld. Pilot war ein Amerikaner. Das österreichische Eisenbahnund Kraftfahrzeughaftpflichtgesetz (EKHG) beschränkt die Haftung für Unfälle. Bei Tötung und Verletzung liegt die Grenze für Schadenersatz bei 800.000 EUR oder einer jährlichen Rente von maximal 48.000 EUR. Manchmal entscheidet sich die Gesellschaft eben, für den technischen Fortschritt ein gewisses Risiko in Kauf zu nehmen, selbst wenn das zu Lasten von Menschenleben geht. Das ist der Punkt, wo die allgemeine Diskussion auf den konkreten Fall und auf die Klärung einer Schuldfrage und der Verantwortung trifft. Hier wird der Wert des Menschen schnell auf einen bestimmten Wert festgelegt, und das ist dann in den meisten Fällen endlich. 1 / 13 Ist der Wert des Menschen eine Frage des freien Marktes, oder soll die Gesellschaft hier lenkend eingreifen? Je nach Rechtssystem wird der Wert des Menschen unterschiedlich beurteilt: Das österreichische Recht macht einen Unterschied zwischen Männern einerseits und verheirateten und unverheirateten Frauen andererseits. Unverheiratete Frauen konnten bei Verunstaltungen mit höheren Schmerzensgeldforderungen rechnen, weil ihre Heiratsaussichten gemindert sind. Auf Männer und Geschiedene nimmt unser Rechtssystem weniger bedacht. Brauchen Männer nicht schön zu sein, und haben Geschiedene kein Anrecht auf ein zweites Glück? In der österreichischen Rechtsprechung wurden 1.000 EUR für Kopf- und Kieferschmerzen infolge eine Ohrfeige zugesprochen. Eine leichte Gehirnerschütterung war 10.000 EUR wert, der Verlust der Milz wurde mit 102.000 (!) EUR entschädigt. 160.000 EUR waren Ausgleich für eine Erblindung, 600.000 EUR für ein Bein, und 1 Mio. EUR für massive Gehirnschädigung. Die Höhe der Schmerzensgelder ist von Land zu Land unterschiedlich. In Amerika sind Punitive Damages im Zivilrecht vorgesehen. Das sind Strafzahlungen, die den Schaden übersteigen und abschreckend und bestrafend wirken sollen. Einige Anwälte, die sich auf Schadenersatzansprüche nach US-Recht spezialisiert haben, sind zu Vermögen und zweifelhaftem Ruhm gekommen – wir kennen das aus den Medien, die diesen Wettbewerb, bei oftmals fragwürdigen Themen, Stichwort: „Gesundheitsschädigung durch Rauchen und Fast Food“ zusätzlich anheizen. Sind amerikanische Opfer mehr wert als europäische? Die Ärzte in unseren Spitälern urteilen täglich über den Wert eines Menschenlebens. Sie ermöglichen ihren Patienten jene Therapien, die bezahlbar und ökonomisch vertretbar sind. Machen wir uns nichts vor, ein 20jähriger mit grundsätzlich hoher Lebenserwartung wird eher eine bestimmte aufwendige Therapie erhalten als ein 80jähriger mit statistisch viel geringerer Lebenserwartung. Unsere Beiträge zur Sozialversicherung und unsere Pensionsbeiträge haben ganz bestimmte Grenzen. Sie könnten höher sein. Sie könnten niedriger sein. Unsere Gesellschaft hat sich für die derzeit geltenden Sätze entschieden. Soviel sind uns Menschen wert. Entscheidend ist, dass wir Menschenleben bewerten. Wir tun es. Täglich. Wir wissen, dass mehr Zebrastreifen, Ampeln und mit Schranken gesicherte Bahnübergänge Unfälle verhindert könnten. Ihre 2 / 13 Einrichtung kostet Geld. Unsere Gesellschaft hat sich zu jener Verkehrssicherung entschlossen, die derzeit gilt. Ob das ausreichend ist oder nicht, ist eine andere Frage. Was zählt ist, dass wir sehr wohl Menschenleben laufend bewerten. Offensichtlich ist ein Menschenleben nicht unendlich viel Wert. Die Einschränkungen für diese Bewertung sind nicht einmal in erster Linie Ressourcenengpässe. Wie schnell werden nach einem Zusammenstoß in einem Tunnel unzählige Forderungen nach doppelröhrigem Ausbau laut – ohne die Gegenfrage zu stellen, ob mit gezielten, wenn auch medial schlechter verkaufbaren Maßnahmen nicht viel mehr Menschenleben im Straßenverkehr zu retten wären. Wo endet also der Wert eines Menschenlebens? Betrachten wir es einmal wissenschaftlich! Wissenschafter betrachten, meist nüchtern, den Wert des Menschen aus einem anderen Blickwinkel: Heinz Lampert und Georg Ewerhart haben vor vielen Jahren für Deutschland die Kosten für das Großziehen von Menschen ermittelt. Sie errechneten 1991 familiäre Kosten von rund € 150.000. Das bestätigt den Volksmund: Ein Kind …… ein Ferrari ……., wieder eine Wertung. Dazu kommen die Ausgaben, die der Staat für Ausbildung und anderes aufwendet. Für die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter kommen sie in ihrem Modell auf eine Summe von € 10,5 Billionen. Wenn Menschen wirklich soviel wert sind, warum haben wir dann einen Geburtenrückgang? Sechs Mio. Kinder sterben jährlich in der Welt. 90 Prozent davon in den 42 ärmsten Ländern der Welt. Robert Black von der Johns Hopkins University in Baltimore hat vorgerechnet, dass diese Kinder für Centbeträge gerettet werden könnten. Jeder Einwohner in einem Industrieland müsste nur 23 Cent spenden. Damit könnten die allernotwendigsten Medikamente, Therapien und Vitamintabletten gekauft werden. Sind diese Kinder weniger Wert als andere? Führen wir diesen Gedanken noch weiter aus: Diese 23 Cent zu kommunizieren und einzutreiben wäre in der heutigen Zeit ein leichtes. Aber auch hier sind wir in der Wertung. 3 / 13 Die Dürrekatastrophe im Sudan ist den Medien einen Einzeiler wert, über die Tsunami und die Schäden wurde wochenlang in Bild und Ton berichtet. 4 / 13 5 / 13 6 / 13 7 / 13 8 / 13 9 / 13 10 / 13 Meine Damen und Herren! Immer wieder wurde eingebracht, dass die Bilanzen der Konzerne von Anlage- und Umlaufvermögen sprechen, aber die Mitarbeiter als der eigentliche Wert eines Unternehmens zuwenig Berücksichtigung finden. In der Volkswirtschaftslehre wurde schon früh vom "Faktor Arbeit" als einem der Produktionsfaktoren gesprochen. In der Betriebswirtschaftslehre hat sich der Begriff des Humankapitals etabliert. Ökonomen sehen darin einen der wesentlichen Erfolgsfaktoren. Die "Gesellschaft für deutsche Sprache" ist anderer Meinung. Im Vorjahr hat sie den Begriff "Humankapital" zum Unwort des Jahres gewählt. Das Wort würde Menschen "zu nur noch ökonomisch interessanten Größen" degradieren. Da liegt wohl ein Missverständnis vor... Andere sprechen von Humanvermögen. Aus Sicht der Bilanzierung ist der Begriff vielleicht treffender. In Wahrheit verbirgt sich hinter dem Streit um Begriffe wohl ein Streit um Werte und Weltanschauungen. Aber wie können wir die kreative Kraft der Mitarbeiter bewerten und in die Bilanzen einfließen lassen? Wenn wir 1.000 Mitarbeitern kündigen, müssten die Börsenkurse fallen, weil wir uns von wertvollem Humanvermögen trennen. Tatsächlich steigen die Kurse, je mehr die Konzerne ihre Belegschaft reduzieren. Sie alle kennen die Diskussion. Noch leben wir in einer Welt, in der die Kostenseite im Vordergrund steht. Wie ermitteln wir den Wert von Mitarbeitern? Sollen wir sie für ihr Alter oder ihre Ausbildung bewerten? Ist ihr Ideenreichtum ausschlaggebend? Das Problem ist nur, dass wir über Qualität und Nutzen von Ideen geteilter Meinung sind. 11 / 13 Eine unbekannte Band aus Liverpool stand Anfang der 1960er Jahre beim deutschen Produzenten Bert Kaempfert unter Vertrag. Er erkannte ihr Talent, wusste aber nicht, was er mit ihnen anfangen sollte. Als sich ein Mann namens Brian Epstein bei ihm meldete und erkundigte unter welchen Bedingungen, er die Musiker freikaufen könnte, gab sich Kaempfert spendabel. Er könne sie haben. Umsonst. Wenig später eroberten die "Beatles" die ganze Welt. Eine arbeitslose, allein erziehende Mutter suchte Mitte der 90er Jahre einen Verleger für ihr Buch. Der dritte Agent, den sie beauftragt hat, konnte nach einem Jahr einen Verleger finden. Das war 1996. Das Buch heißt „Harry Potter“. Vier Verleger hatten vor dem Scholastic-Verlag die Chance. Meine Damen und Herren! Für einen Konzern wie Siemens sind Mitarbeiter die wichtigste Ressource. Sie haben Ideen, sie entwickeln neue Produkte und Geschäftsmodelle, sie akquirieren Kunden, verhandeln, erobern neue Märkte. Wenn man bedenkt, dass Siemens über drei Viertel des Umsatzes mit Produkten macht, die jünger als fünf Jahre sind, dann wird schnell klar, dass wir Jahr für Jahr eine Menge neuer Ideen brauchen. Wir haben noch keinen idealen Weg gefunden, um die schöpferische Kraft von Mitarbeitern zu bewerten. Noch arbeiten wir über Umwege. Ein Beispiel sind Verbesserungsvorschläge. Siemens Österreich erhält von seinen Mitarbeitern 2.700 Vorschläge pro Jahr. Im Schnitt kommt es jedes Jahr zu 400 Erfindungsmeldungen, von denen 30 Prozent tatsächlich als Patent angemeldet werden. Ein Mitarbeiter hat im Rahmen eines Ideenwettbewerbs vorgeschlagen, dass Parkscheine über das Handy bezahlt werden sollten. Daraus hat sich m-parking entwickelt, das in immer mehr Städten in Österreich und Deutschland läuft. Mitarbeiter sind auch ein gewaltiger Imageträger. Ein Fünftel der Österreicher kennt jemanden, der bei Siemens arbeitet. Zufriedene Mitarbeiter werden ihrer Familie und ihren Freunden positiv von ihrem Arbeitgeber berichten. Dort haben sie hohes Ansehen, und man wird ihnen glauben. Überlegen Sie, was es kostet, diese 20% der Österreicher mit konventionellen Werbeträgern zu erreichen. Nicht zuletzt gestaltet jeder Mitarbeiter in seinem Bereich unsere Unternehmenskultur mit. Mir geht es darum, eine Unternehmenskultur zu prägen und erlebbar zu machen, in der Wertschätzung und Förderung anstatt Gleichgültigkeit und Überforderung der „Ressource Mitarbeiter“ im Mittelpunkt stehen. Ich stelle mir aber auch oft selber die Frage: Kann ein Unternehmen den einzelnen Mitarbeiter richtig bewerten? 12 / 13 Meine sehr geehrten Damen und Herren! Abschließend möchte ich ein wichtiges, emotionales Thema einwerfen: Der Wert innerhalb der Familie und der eigene Wert! Wie viel ist es Ihnen wert, ihre Kinder oder ihre Eltern versorgt zu wissen? Wie viel Zeit ist es Ihnen wert, die alte Tante, die selbst nicht mehr aus dem Haus gehen kann zu besuchen? Auf wie viel Karriere würden Sie für mehr Zeit mit Ihrer Familie verzichten? Wie viel sind Sie bereit, in eine gute Beziehung zum Partner / zur Partnerin zu investieren? Wo ziehe ich die Grenze, was muss passieren, damit ich alles liegen und stehen lasse um zu Hilfe zu eilen? Wie viel ist Ihnen Ihre Gesundheit wert? Mit Ihrem Auto fahren Sie jedes Jahr zum Service um ein paar hundert Euro - aber wie schaut es mit der eigenen Vorsorgeuntersuchung aus? Ob Sie bis Sonntag zu diesen Fragen eine Antwort finden – oder viele? Letztlich ist es eine zutiefst persönliche und individuelle Entscheidung, was ich mir selbst wert bin und was andere mir wert sind! Und diese Entscheidung zielt nicht auf Anstrengung, Gewinn oder Verlust – sondern auf ein konkretes Gegenüber, einen unersetzbaren, einmaligen Menschen. 13 / 13