Sprache: Vorschau - Universität Leipzig

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Übersicht
1. Sprache als Forschungsgegenstand
2. Linguistik in Leipzig
3. Der Bachelorstudiengang Linguistik
Sprache: Vorschau
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Sprache als Forschungsgegenstand
Allgemeines
Linguistische Grundlagen Dienstag, 17:15–18:45, Obere Mensa, Augustusplatz WiSe 2006/2007, Universität Leipzig Institut für Linguistik Gereon
Müller [email protected] http://www.uni-leipzig.de/∼muellerg
Lektüre: O’Grady et al. (1996), Jackendoff (1994), Grewendorf et al. (1987),
Lasnik (2000)
Tutorium: Stefan Keine. Zeit und Raum werden noch festgelegt.
Zusätzliches Wahlpflichtmodul: 04-032-1002 Interkulturelle Kommunikation 1: Russisch ohne Vorkenntnisse (5 SWS Russisch, 1 SWS prakt. Phonetik) Gruppe A: Mo 7:30–9:00, Mi 7:15–8:00, Do 17:15–18:45, Mi 8:15-9:00
Gruppe B: Mo 17:15–18:45, Fr 13:15–14:45, 15:15–16:00, Di 11:15–12:00
Forschungsgegenstand
• Sprache ist die zentrale Fähigkeit des Menschen, die ihn von allen
anderen Lebewesen unterscheidet.
• Sprache wird von Kindern in kurzer Zeit und ohne erkennbare Schwierigkeiten erworben.
• Einzelsprachen sind hochkomplexe Systeme, die Informationskodierende Symbole manipulieren und sie immer neu zusammensetzen.
• So entstehen fein strukturierte sprachliche Ausdrücke:
– Wörter
– Phrasen
– Sätze
• Grammatik: Regelapparat im Kopf (Sprache ist demgegenüber ein viel
weiterer und weniger gut operationalisierbares Konzept: Sprache =
Grammatik + X.)
• Lexikon: mentales Objekt
Exkurs: Der Begriff der Einzelsprache
Sprache ist kein genuin linguistischer Begriff: “Fragen der Sprache sind
letztlich Fragen der Macht.” (Noam Chomsky) Oder auch: “Eine Sprache
ist ein Dialekt zusammen mit einer Armee und einer Flotte.”
• “Chinesisch” = eine Sprache mit verschiedenen, stark unterschiedlichen Dialekten (Mandarin, Kantonesisch, ...)
• “Romanisch” = nicht eine Sprache mit verschiedenen Dialekten
(Französisch, Italienisch, Spanisch, ...)
Grewendorf et al. (1987, 24): “Den Problemen im Zusammenhang mit
Minderheitensprachen ist jeder schon einmal begegnet, und es ist bekannt,
dass sich sog. ‘exotische’ Sprachen primär in Räumen eines ImperialismusVakuums erhalten.”
Bereiche der Grammatik als Kern der Sprache
Sprachliche Ausdrücke sind auf verschiedenen Ebenen der Grammatik
repräsentiert; dies korreliert mit der Komplexität der Ausdrücke:
• Phonologie: Verknüpfung von Phonemen (abstrakten Lauten als kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten) zu größeren Einheiten:
Morpheme.
• Morphologie: Verknüpfung von Morphemen (kleinsten bedeutungstragenden Einheiten) zu größeren Einheiten: Wörter.
• Syntax: Verknüpfung von Wörtern zu Phrasen, von Phrasen zu Sätzen.
• Semantik: Interpretation so erzeugter sprachlicher Ausdrücke unter
Einbeziehung des Kontexts.
2
Grammatiken als kreative Systeme 1
Sprecher, die eine Sprache im natürlichen Erstspracherwerb erworben haben (sog. native speakers), haben damit ein kreatives System zur Verfügung,
das es erlaubt, immer wieder neue Morpheme, Wörter, Phrasen, Sätze zu
produzieren und zu verstehen.
(1) Nomina als Verben im Englischen:
a. keep the aeroplane on the ground – ground the aeroplane
b. stab the man with a knife – knife the man
c. I wristed the ball over the net.
d. She Houdini’d her way out of the locked closet.
(2) Beschränkungen:
a. Julia summered in Paris.
b. They honeymooned in Hawaii.
c. *Jerome midnighted in the streets.
d. *Andrea nooned at the restaurant.
Hier und im Folgenden steht ein Stern * vor einer sprachlichen Einheit (Satz,
Phrase, Wort) für Ungrammatikalität (bzw. Inakzeptabilität). (In der historischen Linguistik steht der Stern * auch für erschlossene, nicht belegte
Formen.)
Grammatiken als kreative Systeme 2
(3) Mögliche und unmögliche Wörter im Englischen:
a. prasp
b. flib
c. traf
d. *psapr
e. *bfli
f. *ftra
(4) Ein neues Wort: soleme
a. Morphologie:
(i) soleme: ein neu entdecktes Atomteilchen
(ii) solemic: wenn etwas die Eigenschaften eines soleme hat
(iii) solemicize: etwas solemic machen
(iv) solemicization: Der Vorgang des solemic-Machens
b. Phonologie:
(i) c wird in solemicize als s ausgesprochen, in solemic aber als k.
(ii) Betonung: soLEmicize, nicht SOlemicize oder solemiSIZE
3
Grammatik und sprachliche Kompetenz
• Wenn ein native speaker die Grammatik einer Einzelsprache L erworben hat, verfügt er über sprachliche Kompetenz oder sprachliches Wissen, also ein Regelwerk, das alle (und nur die) grammatischen, wohlgeformten sprachlichen Einheiten L abzuleiten gestattet.
• Von der sprachlichen Kompetenz zu unterscheiden ist die sprachliche Performanz: Begrenzungen des Arbeitsgedächtnisses machen sehr
lange Sätze in der Praxis schwierig; aus unterschiedlichsten Gründen
gibt es in der tatsächlichen Sprachverwendung jede Menge Fehler und
Geräusche.
• Aus dieser Festlegung des Begriffs Grammatik ergeben sich automatisch einige weitreichende Konsequenzen.
Allgemeinheit: Alle Sprachen haben eine Grammatik 1
Ein Fehler: “Sprache X hat keine Grammatik” (Chinesisch, Swahili, deutsche Dialekte; in Amerika Acadisches Französisch, Cree, etc.). Ursache: Die
betreffende Sprache hat eine andere Grammatik.
(5) Walbiri (Australien, Ken Hale (1983)):
a. Ngarrka-ngku ka
wawirri panti-rni
Mann-Erg
PräsImpf Känguru jagen-Nprät
b. Wawirri ka
panti-rni
ngarrka-ngku
Känguru PräsImpf jagen-Nprät Mann-Erg
c. Panti-rni
ka
ngarrka-ngku wawirri
jagen-Nprät PräsImpf Mann-Erg
Känguru
d. Ngarrka-ngku ka
panti-rni
wawirri
Mann-Erg
PräsImpf jagen-Nprät Känguru
e. Panti-rni
ka
wawirri ngarrka-ngku
jagen-Nprät PräsImpf Känguru Mann-Erg
f. Wawirri ka
ngarrka-ngku panti-rni
Känguru PräsImpf Mann-Erg
jagen-Nprät
Allgemeinheit: Alle Sprachen haben eine Grammatik 2
Beobachtung: Walbiri hat gegenüber dem Englischen eine sehr (aber
nicht ganz, vgl. das Element in der zweiten Position) freie Wortstellung;
aber dafür verfügt es über spezielle Marker wie ngku, die die grammatische
Funktion eines Nomens festlegen (Subjekt oder Objekt).
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Dasselbe gilt auch für Varietäten einer Sprache, die von der Standardsprache abweichen (Dialekte, Soziolekte, Idiolekte). Auch hier gibt es eine
Grammatik; sie sieht nur etwas anders aus.
Gleichheit: Alle Grammatiken sind gleich gut
• Die Grammatik des Englischen ist weder besser noch schlechter als die
des Thai, oder die des African American English Vernacular (AAVE).
• Die Grammatik des Standarddeutschen ist weder besser noch schlechter als die der sächsischen oder pfälzischen Umgangssprache.
(6) a. Wir haben nächste Woche pädagogischer Planungstag.
b. Hol mir mal der Eimer.
c. Ich wünsch Ihnen noch ein guter Tag.
Die moderne Linguistik ist deskriptiv, nicht präskriptiv. Eine präskriptive
Linguistik ist keine Wissenschaft.
Universalität: Grammatiken gleichen sich in elementaren Eigenschaften
(7) Stellung der Negation in den Sprachen der Welt:
a. Not Pat is here. (selten)
b. Pat not is here.
c. Pat is not here.
d. Pat is here not. (selten – Ist Deutsch eine Ausnahme? Nein.)
(8) Stellung von Verb, Subjekt und Objekt in den Sprachen der Welt:
a. Australians like cricket.
(Englisch, Französisch)
b. Australians cricket like.
(Türkisch, Koreanisch)
c. Like Australians cricket.
(Walisisch, Irisch, Chamorro)
d. Like cricket Australians.
(selten; Malagasy)
e. Cricket like Australians.
(selten; Hixkaryana)
f. Cricket Australians like. (selten; Warao, Apurinã)[-4mm]
(Wo
steht das Deutsche?)
Unzugänglichkeit: Das grammatische Wissen ist unbewusst 1
Grammatisches Wissen unterscheidet sich fundamental von bewusst
erworbenem Wissen (Rechnen, Straßenverkehrsordnung, Texteditor, Excel/Access, Geographiekenntnisse, usw.): Es wird ohne Unterrichtung erworben und bleibt im Großen und Ganzen das ganze Leben über unbewusst.
5
Tatsächlich ist es uns unmöglich, die grammatischen Regularitäten explizit
zu machen, die unserer Muttersprache zugrunde liegen. (Wäre dies möglich,
wäre es das Ende der Forschung in großen Teilen der Linguistik.) Drei Beispiele:
(9) Präteritalbildungen im Englischen:
a. hunted
b. slipped
c. buzzed
id
t
d
Unzugänglichkeit: Das grammatische Wissen ist unbewusst 2
(10) Konsonantencluster im Englischen:
a. pint
b. fiend
c. locked
d. wronged
e. next
f. glimpse
*paynk
*fiemp
*lockf
*wrongv
*nextk
*glimpk
Regel: Wenn ein Vokal lang ist und zwei Konsonanten vorangeht, oder wenn
ein Vokal kurz ist und drei Konsonanten vorangeht (also wen die Silbe eine bestimmte Schwere hat), dann muss der letzte Konsonant immer mit
angehobener Zungenspitze gebildet werden.
Unzugänglichkeit: Das grammatische Wissen ist unbewusst 3
(11) a. Each boy who(m) the woman interviewed thinks that he is a genius.
(Beide Lesarten sind möglich: Ambiguität)
b. The woman who intervied each boy thinks that he is a genius. (Nur
die eine Lesart ist möglich.)
(12) a. Ein Mann liebt jede Frau. (Beide Lesarten sind möglich.)
b. Eines der Bücher hat jeder von uns gelesen. (Beide Lesarten sind
möglich.)
c. Jeder von uns hat eines der Bücher gelesen. (Nur die eine Lesart
ist möglich.)
(13) Maria glaubt, dass sie schwanger ist. (Beide Lesarten sind möglich)
(13) Sie glaubt, dass Maria schwanger ist. (Nur eine Lesart ist möglich.)
Sprachschutz
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Weil die Sprachwissenschaft nicht präskriptiv ist, gibt es für Sprachschutz keinen Platz.
(14) a. Du brauchst das nicht (zu) machen.
b. Er hat ja dieselbe/die gleiche Krawatte wie ich.
c. Sie hat zwei Kinder, Fritz und Karl. Dieser ist arbeitslos, jener
studiert noch.
d. ein lila(nes) Kleid, eine zu(e)(n)e Tür, ein okaye(ne)r Vorschlag
e. der Bruder Fritzens, Fritzens Bruder, der Bruder von Fritz, dem
Fritz sein Bruder
f. Ihr habt zu der Zeit in Hamburg gearbeitet./Ihr arbeitetet zu der
Zeit in Hamburg.
g. Wir sollten mal wieder brainstormen. Die sind total abgespaced.
h. Das macht/ergibt schon Sinn!
Eine Fallstudie: Unsinn im ‘Spiegel’-Titel vom 2.10.2006 1
• “Die deutsche Sprache wird so schlampig gesprochen und geschrieben
wie wohl nie zuvor;” es gibt eine “dramatische Verlotterung”.
• “Bis zu 80 Prozent der Sprachen dieser Welt seien [...] vom Aussterben
bedroht. Auch die deutsche?”
• “Die Furcht wird genährt durch “die seltsamste Leidenschaft, die ein
Volk nur befallen kann: die fast paranoide Lust der Deutschen [sic!] an
der Vernachlässigung und Vergröberung des eigenen Idioms.”
• “Lange, architektonisch
allmählich aus.”
raffinierte gebaute Sätze [...] sterben
• “Können Sprachhelden [...] wirklich verhindern, dass zum Beispiel mit
grammatischen Regeln immer schludriger umgegangen wird?”
Eine Fallstudie: Unsinn im ‘Spiegel’-Titel vom 2.10.2006 2
• “Zur Entdifferenzierung des Sprachbilds [...] gehören auch Erscheinungen wie das allmähliche Verschwinden des Konjunktivs, der wichtige
Nuancierungen ermöglicht – in der indirekten Rede “Müller meinte,
Meier sei ein Schuft” steckt die kritische Frage, ob Meier auch wirklich so “ist”; ferner die schleichende Schwächung der starken Verbformen (‘backte’ statt ‘buk’), eindeutig eine klangliche Verarmung; dann
das immer beliebtere Ersetzen des Präteritums durch das vermeintlich
7
leichtere Perfekt (statt ‘rief’ ‘hat gerufen’), ein sprachlicher Denkverlust; schließlich die ständige Verwechslung von Adjektiv und Adverb
(‘teilweiser Verlust’ geht nicht, nur ‘teilweise verloren’) sowie die wachsende Unsicherheit im Umgang mit Deklination, Konjugation, Präposition, Konjunktion.”
• “Es kann nicht mehr lange dauern, und ‘Er bedarf dem Trost’ oder
‘Rette dem Deutsch’ stören niemanden mehr.”
• “Wer die Sprache nicht ernst nimmt, geht mit dem eigenen Sein leichtsinnig um.”
• “Die Nazi-Propaganda war auch ein einziges Sprachdelikt, das uns
Deutsche zusätzlich verpflichtet, auf jedes Wort, jeden Satz zu achten.”
Biologische Spezialisierung
Die sog. Sprachorgane des Menschen waren und sind unabhängig notwendig für primäre Überlebensfunktionen des Organismus insgesamt; sie
sind aber sehr gut an die Bedürfnisse der Sprachproduktion angepasst.
Organ
Lungen
Stimmbänder
Überlebensfunktion
führen CO2 -Austausch durch
erzeugen Verschluss des Lungenzugangs
Zunge
Zähne
bewegt Nahrung zum Hals
zerkleinern Nahrung
Lippen
Nasenhöhlen
versiegeln die Mundhöhle
sind beteiligt an der Atmung
Sprachfunktion
sichern Luftversorgung für Sprache
produzieren Stimmhaftigkeit für
Sprachlaute
artikuliert Vokale und Konsonanten
stellen Artikulationsorte für
Konsonanten zur Verfügung
artikulieren Vokale und Konsonanten
ermöglichen nasale Resonanz
Ein neues Forschungsergebnis: Identifikation des FoxP2-Gens als relevant für Muskelbewegungen im Mundraum, die wesentlich der Sprachproduktion dienen (‘Sprachgen’);
vgl. Enard et al. (2002).
Abgesehen hiervon muss die Sprachfähigkeit aber speziell im menschlichen Gehirn
verankert sein (‘Sprachzentrum’, ‘Universalgrammatik’).
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Konsequenzen der Sprachfähigkeit
Verfügbarkeit eines solchen symbolischen Systems ist notwendig für
• Ausdruck des Denkens
• Effiziente Kommunikation
Darüber hinaus u.U. für:
• Argumentieren
• Problemlösen
• Entscheidungen treffen
• Mathematische Kompetenz
• ...
Bedeutung des Forschungsgegenstands
• Sprache ist unerlässlich für die Entwicklung sämtlicher kultureller Errungenschaften des Menschen.
• Der Versuch, das Phänomen Sprache zu verstehen, bleibt eine der wesentlichen Aufgaben der Grundlagenforschung im Bereich dessen, was
uns zum Menschen macht.
Interdisziplinäre Herangehensweise
Beobachtung: Das Phänomen der Sprache ist direkter Beobachtung nicht
zugänglich.
Der direkten Beobachtung zugänglich sind:
• Produkte einer Einzelsprache: Äußerungen, Texte, Grammatikalitätsurteile
• Effekte der Manifestation im Gehirn: neurokognitive Korrelate
• Konsequenzen der selektiven Störung: Aphasien
Konsequenz: (i) Diese Produkte der Sprachfähigkeit bilden die Basis der
Theoriebildung. (ii) Keiner der Evidenztypen ist gegenüber den anderen
primär. (iii) Das Phänomen Sprache muss interdisziplinär erforscht werden,
mit dem Fernziel einer der Konvergenz auf einer einzigen Interpretation.
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Status der Linguistik
Aufgrund der Natur ihres Forschungsgegenstands vereint die Linguistik
Eigenschaften verschiedener Wissenschaftstypen in sich:
1. Geisteswissenschaft
2. Humanwissenschaft
3. Naturwissenschaft
Zwei wichtige Forscher
Die Linguistik (= moderne Sprachwissenschaft) geht in ihrer gegenwärtigen Form wesentlich zurück auf zwei Forscher:
1. Ferdinand de Saussure (Sprache als symbolisches System)
2. Noam Chomsky (Sprache als kognitives System)
Noam Chomsky ist Professor am Massachusetts Institute of Technology
(MIT) und als politischer Aktivist und Publizist fast noch berühmter als
als Sprachwissenschaftler. Er ist der am meisten zitierte lebende Autor; die
Bezeichnung als “greatest living intellectual” wird weithin akzeptiert.
Zentrale Eigenschaften von Grammatiken nat ürlicher Sprachen
• Rekursion Hierarchische Strukturierung komplexer sprachlicher Ausdrücke mit der Möglichkeit wiederkehrender Muster innerhalb der
Struktur.
• Doppelte Artikulation Separierung sprachlicher Ausdrücke in (a) minimale Einheiten, die Bedeutung tragen (Morpheme), und (b) minimale
Einheiten, die Bedeutung unterscheiden (Phoneme).
• Kompositionalität Die Bedeutung eines komplexen sprachlichen Ausdrucks ergibt sich allein aus der systematischen Kombination der Bedeutungen seiner Teile.
• Andere Symbol-manipulierende Systeme haben diese Eigenschaften
nicht (natürliche Systeme, z.B. Bienentanz) oder nur zum Teil (künstliche Systeme, z.B. Programmiersprachen).
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Rekursion
• Rekursion Hierarchische Strukturierung komplexer sprachlicher Ausdrücke mit der
Möglichkeit wiederkehrender Muster innerhalb der Struktur.
(15) a.
[[Die [Freundin [meiner [kleinen Tochter]]]] [glaubt, [dass [die Sonne] [scheinen
wird]]]].
b. Das ist ein Buch mit einer alten Geschichte über einen Bruder eines Kalifen eines
fernen Landes.
c. Man sagt, sie habe geglaubt, dass man dort der Meinung sei, dass die Geschichte,
die man dem Kalifen erzählt hatte, nicht stimme.
(16) die Freundin meiner kleinen Tochter
a.
b.
c.
d.
N + A = [ N A N]
(kleinen Tochter)
D + [ N A N] = [ D D [ N A N]]
(meiner kleinen Tochter)
N + [ D [ N A N]] = [ N N [ D D [ N A N]]]
(Freundin meiner kleinen Tochter)
D + [ N N [ D [ N A N]]] = [ D D [ N N [ D D [ N A N]]]] [-3mm]
(die Freundin
meiner kleinen Tochter)
Rekursion erlaubt es, mit begrenzten Mitteln beliebig viele sprachliche Ausdrücke zu erzeugen: “Sprache ist Ausdruck der kreativen Möglichkeit, “unendlichen Gebrauch von
endlichen Mitteln” machen zu können (“infinite use of finite means”), Wilhelm von Humboldt über Noam Chomsky in dessen Cartesian Linguistics von 1966.
Doppelte Artikulation
• Doppelte Artikulation Separierung sprachlicher Ausdrücke in (a) minimale bedeutungstragende Einheiten (Morpheme), und (b) minimale bedeutungsunterscheidende Einheiten (Phoneme).
(17) Du verdanktest diesen Büchern viel.
a.
/d/-/u/ /f/-/ /-/ /-/d/-/a/-/ /-/k/-/t/-/ /-/s/-/t/ /d/-/i/-/z/-/ /-/n/ /b//y/-/ç/-/ /-/ /-/n/ /f/-/i/-/l/
b. Du ver-dank-te-st dies-en Büch-er-n viel
Doppelte Artikulation erlaubt es, mit einem kleinen Inventar von einfachen Zeichen (Phonemen, z.B. im Deutschen 35-37) eine potentiell unendlich große Zahl von
Informations-kodierenden Symbolen zu erzeugen.
Alternative zur doppelten Artikulation:
• Die minimalen bedeutungstragenden Einheiten sind nicht zusammengesetzt, sondern Primitive.
• Konsequenz: Kein Morphem steht in irgendeinem Form-Zusammenhang mit irgendeinem anderen Morphem; (17-b) wäre etwas wie (18).
N
c
(18) ♣ •--]-4
∞-¶ - -♠ ‡
Kompositionalität
• Kompositionalität Die Bedeutung eines komplexen sprachlichen Ausdrucks ergibt
sich allein aus der systematischen Kombination der Bedeutungen seiner Teile.
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(19) [[Kein [Mensch [in Leipzig]]] [kennt [Robert Förster]]].
a.
b.
c.
d.
e.
f.
g.
h.
i.
j.
k.
JRobert FörsterK = Robert Förster
JkenntK = {<x,y>: x kennt y}
Jkennt R.F.K = JkenntK+JR.F.K = {x: x kennt Robert Förster}
JLeipzigK = Leipzig
JinK = {<x,y>: x ist in y}
Jin LeipzigK = JinK+JLeipzigK = {x: x ist in Leipzig}
JMenschK = {x: x ist ein Mensch}
JMensch in LeipzigK = JMenschK+Jin LeipzigK = {x: x ist ein Mensch und x ist
in Leipzig}
JkeinK = {<P,Q>: P∩Q = Ø}
(P, Q: {x: ...x...})
Jkein Mensch in LeipzigK = JkeinK+JMensch in LeipzigK = {Q: kein Mensch in
Leipzig hat Q}
JKein Mensch in L. kennt R.F.K = Jkein Mensch in LeipzigK+Jkennt R.F.K = wahr
genau dann, wenn {x: x kennt Robert Förster} ∈ {Q: kein Mensch in Leipzig
hat Q}
Optimales Design
Kompositionalität erlaubt es, noch niemals vorher gehörte Sätze beliebiger Komplexität problemlos zu verstehen.[3mm]
Konklusion: Sprache hat in mancherlei Hinsicht Züge optimalen Designs.
2
Linguistik in Leipzig
Tradition
Spätes 19. Jhd./frühes 20. Jhd.: Leipzig als Weltzentrum für die Erforschung der Sprache
• Junggrammatische Forschung: Karl Brugmann, Wilhelm Streitberg,
August Leskien, Eduard Sievers, Wilhelm Braune
• Strukturalismus: Jan Baudouin de Courtenay, Nikolaj Trubetzkoy,
Leonard Bloomfield, Ferdinand de Saussure (hat in Leipzig promoviert!)
• Dependenzgrammatik: Lucien Tesnière
• Psychologie: Wilhelm Wundt, Ottmar Dittrich
Tradition 2
Zweite Hälfte des 20. Jhd: Leipzig als einziger Ort der DDR mit einem Studiengang Allgemeine Sprachwissenschaft und international sichtbarer universitärer Forschungstätigkeit. Einige Professoren:
12
• Rudolf Růžička, Gerhard Helbig, Wolfgang Fleischer, Theodor Frings,
Manfred Bierwisch
• Anita Steube (Gründung des Instituts für Linguistik in den Neunzigerjahren)
Sprachforschung in Leipzig
• >30 Professuren zur Sprachwissenschaft in 3 geisteswiss. Fakult.
• Sprache als zentrales Forschungsobjekt von >20 Professuren in Psychologie, Informatik, Biologie, Medizin, und Philosophie
• 2 der deutschlandweit 4-5 permanenten außeruniversitären Forschungsinstitute mit Sprache als Schwerpunkt:
– Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie
– Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften
• Forschergruppe der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG):
– Grammatik und Verarbeitung verbaler Argumente
• Graduiertenkolleg der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG):
– Universalität & Diversität: Sprachliche Strukturen und Prozesse
• Viele außeruniversitär finanzierte Drittmittelprojekte zu aktuellen Forschungsthemen (z.B. zum phonologischen Wort, zum Genus, nicht zuletzt zur Dokumentation zweier bedrohter Sprachen im Himalaya (Puma und Chintang)
Institut für Linguistik: Abteilungen
Drei Abteilungen:
1. Grammatiktheorie (theoretisch, formale Analysen sprachlicher Phänomene in den vier Kernbereichen (Phonologie, Morphologie, Syntax,
Semantik), Herausarbeitung einfacher grundlegender Prinzipien, Beschränkungen und Regeln)
2. Psycholinguistik (experimentell, Sprachverstehen & Sprachproduktion, Spracherwerb, Sprachstörungen)
3. Sprachtypologie (empirisch, Vielfalt menschlicher Sprachen, universelle Tendenzen, areale Verteilungen, typologische Variablen, Sprachdokumentation)
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Institut für Linguistik: Lehrpersonal
Lehrpersonal des Bachelor-Studiengangs (außer Wahlpflichtmodule):
1. Prof. Dr. Balthasar Bickel
2. PD Dr. Johannes Dölling
3. Dr. Fabian Heck
4. Prof. Dr. Gereon Müller
5. Dr. Sandra Pappert
6. Prof. Dr. Thomas Pechmann
7. Dr. Jochen Trommer
Dazu unterrichten regelmäßig viele weitere in Forschungsprojekten
beschäftigte wissenschaftliche Mitarbeiter, Privatdozenten und emeritierte
Professoren des Instituts sowie nicht zuletzt Mitglieder der beiden MaxPlanck-Institute (z.B. Prof. Bernard Comrie, Ph.D., Prof. Dr. Martin Haspelmath, Dr. Michael Cysouw).
Ausgewählte Fragestellungen in Forschungsvorhaben 1
Grammatiktheorie:
1. Was ist die Natur von Merkmalen in den vier grammatischen Bereichen
(also den kleinsten Einheiten, über die Regeln und Beschränkungen
dieser Komponenten reden können)?
2. Sind Synkretismen (identische Endungen mit unterschiedlicher syntaktischer Funktion) in der Morphologie einheitlich erfassbar?
3. Warum gibt es das Phänomen der Bewegung in der Syntax, und welchen Lokalitätsprinzipien unterliegt es?
4. Wodurch unterscheiden sich ergativische und akkusativische Kodierungsmuster?
5. Wieviel von der Bedeutung eines Verbs im Satz ist tatsächlich im mentalen Lexikon gespeichert, wieviel wird aus dem Kontext erschlossen?
6. Sind grammatische Regeln und Beschränkungen verletzbar?
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Ausgewählte Fragestellungen in Forschungsvorhaben 2
Psycholinguistik:
1. Wird bei der Produktion einzelner Wörter auch die Information über
die Wortart (z.B. Substantiv/Nomen) aktiviert?
2. Bereitet es mehrsprachigen Sprechern Schwierigkeiten, dass ein Wort
in der einen Sprache maskulin und in der anderen Sprache feminin ist?
3. Haben Hörer oder Leser des Deutschen einen Verstehensnachteil, wenn
das Verb erst am Satzende kommt?
Ausgewählte Fragestellungen in Forschungsvorhaben 3
Sprachtypologie:
1. Wievele und welche Variablen braucht man, um alle bekannten Spielarten von Grammatiken erfassen und unterscheiden zu koennen? (Z.B.
braucht man für Verbkongruenz eine Variable, die bestimmt, welche
Merkmale betroffen sind, etwa Genus oder Person, eine Variable dafür,
ob die Kongruenz nur von Subjekten im Nominativ oder auch von solchen in anderen Kasus ausgelöst werden kann, usw.)
2. Welche Faktoren bestimmen in welchem Maß die Verteilung der Werte solcher Variablen auf der Welt? Herkunft? Kontakt mit anderen
Sprachen? Soziale Traditionen? Kombinationen davon?
3. Haben Unterschiede in diesen Variablen eine Folge für die Art und Weise, wie wir Sprache verwenden (z.B. wie wir Geschichten erzählen), wie
wir denken (z.B. wie wir uns Dinge merken), wie wir Sprache verarbeiten oder wie wir sie als Kinder lernen? Korrelieren solche Unterschiede
mit Unterschieden in sozialen und kulturellen Traditionen?
Wie funktioniert linguistische Theoriebildung?
1. Auf der Basis empirischer Evidenz werden Generalisierungen vorgenommen (Daten werden idealisiert, Irrelevantes wird ausgeblendet).
2. Für die Generalisierungen werden unter Abstraktion auf der Basis von
primitiven Konzepten (= theoretisches Vokabular) Theorien erstellt,
die sie erfassen.
3. Von mehreren Theorien, die dieselben Daten erfassen, ist die einfachste
und eleganteste zu wählen.
15
4. Die Theorie wird mit neuer empirischer Evidenz konfrontiert; auf der
Basis neuer Generalisiserungen wird die Theorie entweder verändert
oder zugunsten einer neuen, besseren Theorie verworfen.
Bemerkung: Dies ist zweifellos mit dafür verantwortlich, dass für Laien
der Zugang zu den Ergebnissen linguistischer Forschung nicht einfach ist.
3
Der Bachelorstudiengang Linguistik
Der Bachelorstudiengang Linguistik 1
8 Pflichtmodule
1. Ling 1001: Einführung in die Linguistik (Pflicht) V Linguistische Grundlagen, V
Logik für Linguisten, T Logik für Linguistik
2. Ling 1002: Phonologie und Morphologie (Pflicht) V Phonologie, V Morphologie, T
Phonologie
3. Ling 1003: Syntax und Semantik (Pflicht) V Syntax, V Semantik, T Syntax
4. Ling 1004: Emprische Grundlagen (Pflicht) V Quantitative Methoden, V Phonetikanalyse, V Grammatikanalyse
5. Ling 1005: Sprachpraxis (Pflicht) Ü Sprachpraxis 1, Ü Sprachpraxis 2, Ü Sprachpraxis 3
6. Ling 1006: Grammatiktheorie (Pflicht) S Morphologie, S Syntax, S Semantik
7. Ling 1007: Psycholinguistik (Pflicht) S Kognitive Grundlagen der Sprachverarbeitung, S Einführung in die Psycholinguistik, Ü Psycholinguistisches Experimentalpraktikum
8. Ling 1008: Sprachtypologie (Pflicht) V Sprachtypologie 1, V Sprachtypologie 2, T
Sprachtypologie 3,
Der Bachelorstudiengang Linguistik 2
3 Wahlpflichtmodule aus der folgenden Liste:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
Sprachphilosophie (Philosophie)
Struktur des Hausa (Afrikanistik)
Afrikanische Sprachen in Raum und Zeit (Afrikanistik)
Sprachgeschichte und System der deutschen Sprache (Germanistik)
Algorithmen und Datenstrukturen (Informatik)
Modellierung und Programmierung (Informatik)
Interkulturelle Kommunikation 1: Russisch ohne Vorkenntnisse (neu)
Dazu: 1 BA-Arbeit (sowie 3 Wahlmodule, 3 Schlüsselqualifikationen, darunter die
neue SQ: Sprachkompetenz)[4mm]
Und was kommt danach?[4mm] Der Bachelorstudiengang Linguistik ist primär forschungsorientiert. Der weitere Weg:
• Masterstudiengang Linguistik (4 Semester)
• Strukturierter Promotionsstudiengang Linguistik (3 Jahre)
16
Die Module des Masterstudiengangs Linguistik
1. Morphologie: Flexion
2. Morphologie: Wortbildung
3. Phonologie: Segmentale Phonologie
4. Phonologie: Suprasegmentale Phonologie
5. Syntax: Lokale Prozesse
6. Syntax: Nicht-lokale Prozesse
7. Semantik: Wort- und Satzbedeutung
8. Semantik: Bedeutung und Diskurs
9. Sprachverstehen
10. Spracherwerb
11. Sprachproduktion
12. Neuropsychologie der Sprache
13. Allgemeine Sprachtypologie
14. Arealtypologie und historische Linguistik
15. Feldforschung und Ethnolinguistik
16. Typologisches Praktikum
Für wen ist dieses Studienfach geeignet?
Für alle, die die folgenden Interessen haben:
• Interesse an Sprachen (weit verbreiteten wie noch gar nicht erforschten)
• Interesse an formalen Verfahren (Mathematik, Logik, Informatik)
Fehlt eins der beiden, ist das im Laufe des Studiums auszugleichen. Was
nicht fehlen sollte:
• Interesse daran, mitzuwirken an der Erforschung der definierenden Eigenschaft des Menschen: der Sprache.
Berufsaussichten
• Das Bachelor-Studium qualifiziert die Absolventen aufgrund der Verschiedenartigkeit der Anforderungen hervorragend für die berufliche
Praxis in unterschiedlichen Bereichen.
• Gute Studierende sollten eine Forschungskarriere ins Auge fassen (Masterstudiengang, Promotionsstudiengang).
17
4
Literatur
Literatur:
Literatur
Enard, W., M. Przeworski, S. E. Fisher, C. S. L. Lai, V. Wiebe, T. Kitano,
A. P. Monaco & S. Pääbo (2002): Molecular Evolution of FOXP2, a Gene
Involved in Speech and Language, Nature 418, 869–872.
Grewendorf, Günther, Fritz Hamm & Wolfgang Sternefeld (1987): Sprachliches Wissen. Suhrkamp, Frankfurt.
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