Allgemeine didaktische Hinweise Didaktische Legitimierung des Lernbereichs Europa Die herausgehobene Bedeutung Europas als politischer Bezugspunkt für Deutschland ist im Grundgesetz verankert und wird mit der Bekundung, „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt“ zu dienen, bereits in der Präambel betont. Die Neufassung von Art. 23 Abs. 1 (Dezember 1992) trägt mit der Staatszielbestimmung eines vereinten Europas der realpolitischen Entwicklung des europäischen Integrationsprozesses zur Europäischen Union (Vertrag von Maastricht 1992) Rechnung. Während mithin einerseits die Bedeutung des europäischen Integrationsprozesses und damit auch die Verlagerung von Kompetenzen von der nationalstaatlichen Ebene auf die Europäische Union stetig zunimmt, zeigen demoskopische Untersuchungen andererseits, dass das Interesse der deutschen Bevölkerung an Europapolitik allgemein stetig abnimmt respektive „erodiert“ sei – für die Europapolitik interessiere sich derzeit nur eine kleine Minderheit (Piel 1998: 37). Bei der deutschen Bevölkerung sei eine „Provinzialisierung der Perspektive“, ein „Rückzug auf den Nahbereich“ zu konstatieren (Köcher 1997: 5). Wenn diese „Binnengerichtetheit“ in der politischen Bildung nicht zu einer „unverantwortlichen Provinzialität“ führen soll (Lauth/Mols/Wagner 1996: 345), mit der Folge einer unzureichenden Mündigkeit wie politischen Urteilskraft der Bürgerinnen und Bürger, so muss Europa eine hervorgehobene Position nicht nur im thematischen Kanon des politischen Unterrichts, sondern auch in der Erwachsenenbildung eingeräumt werden. Die Thematik Europa weist sich sowohl durch einen existentiellen Bezug als auch durch ihren zukunftsorientierten Charakter aus. Aufgrund der stetig zunehmenden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interdependenz innerhalb der Staaten Europas sollte die didaktische Bearbeitung der Thematik Europa auf die Befähigung der Bürgerinnen und Bürger zielen, die existentiellen Aufgaben im Beruf, Alltag und als Bürgerinnen und Bürger Europas zu bewältigen, die mit dieser gegenseitigen Abhängigkeit einhergehen. Der letztgenannte Aspekt ist mit dem zukunftsorientierten Bezug der Thematik verknüpft. Derzeit ist noch vom Fehlen einer gemeinsamen europäischen Identität in Europa und damit eines europäischen Demos auszugehen. Eine europäische „Wir-Identität“ (Scharpf 1998: 154) bzw. ein „Wir-Bewusstsein“ (Böckenförde 1999: 110) bildet allerdings eine unabdingbare Voraussetzung der demokratischen Legitimität der Europäischen Union, denn das demokratische Prinzip der Volkssouveränität mit dem ihr inhärenten Postulat der Identität von Gesetzgebern und Gesetzesunterworfenen setzt eine weitgehende Homogenität des Demos voraus. Allein durch diese Homogenität erhält der in 2 der Demokratie übliche Entscheidungsmodus der Mehrheitsregel Legitimität. Eine europäische „Wir-Identität“ stellt die notwendige Voraussetzung der demokratischen Legitimität dar, weil erst diese der „unterlegenen Minderheit ermöglicht, das Mehrheitsvotum nicht als Fremdherrschaft, sondern als kollektive Selbstbestimmung zu verstehen“ (Scharpf 1998: 154 f.). In ihrem Beschluss zum Thema Europa im Unterricht hatte die Konferenz der Kultusminister der Länder bereits im Jahre 1990 die Entwicklung eines „Bewusstseins der europäischen Identität“ bei der nachwachsenden Schülergeneration gefordert. Dabei handelt es sich um ein normatives Ziel, das selbstredend nicht in dieser oder jener Unterrichtseinheit in der Schule oder der Erwachsenenbildung zum Thema Europa verwirklicht werden kann, sondern als übergeordnete Zielvorgabe für die Auseinandersetzung mit europäischen Themen unterlegt sein sollte. Die Bearbeitung des Themas Europa kann allerdings insbesondere durch die Behandlung der gemeinsamen Interessen und Interdependenzen der europäischen Staaten einen Beitrag zur Förderung des Bewusstseins der europäischen Identität und damit letztlich zur demokratischen Legitimation der Union leisten. Darüber hinaus bedarf das europäische Staatengebilde als ein demokratisches System sui generis zur Kontrolle seiner politischen Eliten einer europäischen politischen Öffentlichkeit (Gerhards 2002). Entsprechend müssen Konzepte über „Bürgerkompetenzen“ (Massing 1999: 44 ff.), den „demokratiekompetenten Bürger“ als adäquates Leitbild für die politische Bildung (Detjen 1999) und der „Demokratie-Bildung“ (Himmelmann 2001: 25 f.) um eine spezifische Europa-Kompetenz der Bürgerinnen und Bürger erweitert werden. Die Bearbeitung des Themas Europa in der Erwachsenenbildung vermag hierzu gleichfalls einen Beitrag zu leisten, indem die politische Urteilsbildung der Bürgerinnen und Bürger hinsichtlich der Politik auf europäischer Ebene gefördert wird. Didaktische Erfordernisse der Erwachsenenbildung Die Vermittlung des Themenbereichs „Europäische Union“ an Erwachsene hat Gegebenheiten zu berücksichtigen, die sich teilweise von denjenigen an allgemeinbildenden Schulen unterscheiden. Jugendliche im schulpflichtigen Alter haben in ihrem täglichen Leben überwiegend positive Erfahrungen mit „Europa“ gemacht: Reisefreiheit im Urlaub, Vielfalt im Warenangebot, sinkende Handykosten, einheitliche Währung Euro, Unionsbürgerschaft, für ihre Zukunft Studienmöglichkeiten im Ausland, Studiengänge Bachelor und Master. Erwachsene dagegen haben möglicherweise noch Grenzkontrollen bei Reisen nach Frankreich oder Italien erlebt, haben die Kritik am Entstehen der Währungsunion in Erinnerung, sind in den Phasen der europäischen Integration aufgewachsen, als „Europa“ eine Hoffnung 3 war, die sich in ihrem weiteren Werdegang teilweise von den Idealvorstellungen der Menschen entfernte. Die Einstellung zu „Europa“ ist bei Jugendlichen mehr von selbstverständlicher Normalität und von positiven Erwartungen geprägt, bei Erwachsenen spielen kritische Distanz und Enttäuschungen eine größere Rolle. Beide Altersgruppen, Jugendliche wie Erwachsene, werden in ihrer Meinungsbildung zu „Europa“ gleichermaßen von negativ bewerteten Entwicklungen der letzten zehn, fünfzehn Jahre beeinflusst: Arbeitslosigkeit, Globalisierung, Finanzkrise. Die Vermittlung des Themas „Europäische Union“ an Erwachsene erfordert folglich ein anderes didaktisches und methodisches Herangehen, als es in Richtlinien und Lehrplänen für Schulen empfohlen wird. 1. Didaktische Zugangsmöglichkeiten Es empfiehlt sich, vor dem Einstieg in die Lektionen das Bildungsziel möglichst genau zu definieren. Dieses Ziel kann je nach Alter, Erfahrung und Einstellung der Teilnehmenden verschieden sein. Am Anfang der ersten Stunde sollten deshalb einige Fragen geklärt werden (ohne die Privatsphäre zu verletzen): a) Liegt das Alter der Teilnehmenden überwiegend im unteren (bis 35 Jahre), im mittleren (35 bis 60 Jahre) oder im oberen Bereich (über 60 Jahre) oder sind alle Altersgruppen vertreten? b) Sind die Teilnehmenden eher kritisch und misstrauisch gegenüber Europa, oder befürworten sie überwiegend die Integration? c) Wie sind die Teilnehmenden vorgebildet: Studium, Abitur, Mittlere Reife, Hauptschule, kein Abschluss? Kommen sie im Berufsleben mit „Europa“ (Richtlinien, Verordnungen) in Kontakt? Wenn ja: positiv oder negativ? Welche Urlaubsziele haben sie? Welche Zeitungen lesen sie, sehen sie politische Sendungen im Fernsehen? d) Bewerten die Teilnehmenden ihre privaten und beruflichen Erfahrungen im vereinten Europa eher positiv oder negativ? 1.1 Methodische Hinweise zu 1. a) Das Alter der Teilnehmenden und die Altersgruppierung können ohne Befragung durch Augenschein annäherungsweise ermittelt werden. b) Kritisch oder befürwortend? Die grobe Richtung der Einstellung lässt sich mit Hilfe einer assoziativen Satzergänzung erkennen. Der Satz „Die EU ist für mich...“ kann mündlich oder schriftlich ergänzt werden. Eine andere Möglichkeit ist das ABC-Quiz: Auf dem Chart oder 4 der Tafel stehen die Buchstaben des Alphabets untereinander. Die Teilnehmer sollen nun zu jedem Buchstaben, bei A beginnend, einen Begriff sagen, der ihnen spontan einfällt und der einen Bezug zur EU hat. Aus den Nennungen lässt sich die Einstellung erkennen. c) Vorbildung und Interessen der Teilnehmenden können erkannt werden, wenn sie gebeten werden, Erinnerungen wachzurufen. Das kann mit Hilfe einer Frage geschehen: „Woran erinnern Sie sich, wenn Sie an besondere Stationen der europäischen Einigung denken?“ Die (schriftlichen oder mündlichen) Antworten ergeben ein grob gerastertes Bild, das durch Nachfragen geschärft werden kann. Beispiel: Jemand antwortet mit „Mir fällt vor allem die Umstellung auf Euro ein“, kann eine Nachfrage lauten: „Und, haben Sie sich an den Euro gewöhnt?“ Aus Antworten wie: „Nein, ich rechne immer noch alles im Mark um“ oder „Der Euro ist doch ein Teuro“ oder „Im Urlaub ist mit dem Euro alles einfacher“ lassen sich Einstellungen ableiten. Andere Möglichkeiten bieten der Test „Grundkenntnisse“, das „Quiz für Einsteiger“ oder ein Europa-Kreuzworträtsel. d) Bewertung eigener Erfahrungen: Den Teilnehmenden werden vorbereitete Fragezettel zum Ankreuzen ausgehändigt. Beispiel: Wie sind Ihre Erfahrungen im Zusammenhang mit der europäischen Einigung: nur positiv meistens positiv mal so mal so eher negativ nur negativ im Urlaub beim Einkauf im Beruf Spezielle Erwachsenenbildung Völlig anders ist die Ausgangslage natürlich, wenn die Teilnehmenden gezielte, zum Beispiel berufsbezogene Kenntnisse über Europa erwerben möchten. Solche Gruppen sind in der Regel relativ homogen in Vorbildung und Vorkenntnissen sowie der Zweckbestimmung ihrer Teilnahme. Spezielle Lernziele sind z. B. gefordert, wenn Berufsgruppen Kenntnisse über Europabezüge ihres Fachs erwerben wollen. Sie ergeben sich aus dem jeweiligen Fachbezug (z. B. Steuerberatung) und sind in der Regel vorgegeben. Hier ergeben sich Einstieg und Lernziele aus dem Fachbezug. Einige Elemente aus der allgemeinen Erwachsenenbildung lassen sich aber zur Auflockerung des Unterrichts verwenden. 5 2. Lernziele Je nach Ergebnis der Befragung (die auch anonym mit vorgefertigten Fragebögen erfolgen kann) kommen als Lernziel in Frage: 2.1 Bei geringen Vorkenntnissen: Erwerb der Grundkenntnisse der europäischen Einigung, Ausräumen von Vorurteilen über „Brüssel“ sowie Befähigung, Informationen über „Europa“ sachlich zu bewerten. Unterscheidung der europäischen Staaten und der deutschen Parteien nach ihrer Einstellung zu Europa. 2.2 Bei mittleren Vorkenntnissen: Erweiterung vorhandener Kenntnisse über die europäische Integration sowie Befähigung, Informationen über „Europa“ (Nachrichten, Lektüre) zu bewerten (europafreundliche Presse, europafeindliche Presse) und in Kategorien (wie: Kompromiss im Sinne der Integration, Vorrang nationaler Interessen, Einfluss historischer Bedingungen usw.) einzuordnen. 2.3 Bei mittleren bis guten Vorkenntnissen: Spezialisierung der Kenntnisse nach ihrer Bedeutung für das private, das berufliche Leben und Befähigung, die (positiven, negativen) Auswirkungen europäischer Entscheidungen auf den privaten und beruflichen Bereich zu erkennen. Nachdenken über gegenwärtige Aufgaben und drängende Probleme in Europa, Nachdenken über die Zukunft Europas, 3. Schwerpunkte der Lernziele Wissen über die EU bedeutet nicht, bestimmte Daten wie Anzahl der EP-Mitglieder im Gedächtnis zu behalten, die offiziellen Bezeichnungen von Institutionen im Gespräch verwenden zu können, die Anzahl von Agenturen oder das Datum der Beitritte von Mitgliedstaaten zu kennen. Viel wichtiger ist das Erkennen von Zusammenhängen, von Strukturen, von Intentionen. Ein Beispiel für Strukturen: Es ist nebensächlich zu wissen, dass das Europäische Parlament (nach Nizza) exakt 785 oder (nach Lissabon) höchstens 751 Abgeordnete hat. Wichtig ist zu wissen, dass jedes Land Abgeordnete schickt und größere Staaten mehr als kleine, dass es im EP nicht Regierungs- und Oppositionsparteien gibt, dass die Abgeordneten direkt gewählt werden, dass sie Fraktionen bilden, die nicht nach Nationen getrennt sind, dass sie entscheidend an der Gesetzgebung in der EU beteiligt sind. 6 Ein Beispiel für Intentionen: Nebensächlich ist das Wissen über jeden einzelnen Schritt der ordentlichen Gesetzgebung. Wichtig ist zu wissen, dass in der Regel nur die Kommission Gesetzentwürfe vorlegen darf (Intention: damit nicht einzelne nationale Interessen mitspielen) und dass Rat und Parlament gemeinsam und gleichberechtigt über den Entwurf entscheiden. Ein Beispiel für Zusammenhänge: Man muss nicht Namen und Zuständigkeit aller Mitglieder der Kommission oder die Anzahl der Generaldirektionen kennen, aber Bescheid wissen, dass die Kommission nicht von sich aus ihre Kompetenzen erweitern kann, sondern ihre Kompetenzen allein von den Verträgen, also den Mitgliedstaaten bestimmt werden (Zusammenhang). Die Arbeitsblätter zu den einzelnen Modulen berücksichtigen diese Schwerpunkte. Zu 2.2 und 2.3: Ein Ziel der Vermittlung sollte es sein, die Teilnehmer zu befähigen, komplexe Sachverhalte, wie sie im Themenbereich „Europäische Union“ häufig vorkommen, zu analysieren und Strukturen, Zusammenhänge und Intentionen zu erkennen. Dazu verhilft die Hinführung zu vernetzendem Denken, zum Denken in Systemen, das heißt: Die eigenen, subjektiven Kenntnisse, Meinungen, Vorstellungen sollen als Ausschnitte aus einem Gesamtbild erkannt und durch Aufdecken von Zusammenhängen (Funktionen, Beziehungen, Interessen) in eine Ordnung eingefügt werden. Hilfreich dabei ist ein gelegentlicher, bewusster Perspektivenwechsel (z. B. in Rollenspielen). Ein Beispiel: Die meisten Menschen wissen, dass es Probleme mit der Agrarpolitik der EU gegeben hat und noch gibt. Stichpunkte: Es wird zu viel produziert (Butter- und Getreideberge, Milchseen), Bauern protestieren (Milchpreis), Bauernhöfe „sterben“, Agrarpolitik kostet zu viel. Das „Netz“ von Zusammenhängen bildet sich u. a. aus: Jahrhundertelange Hungersnöte in Europa, Nachkriegszeit mit Lebensmittelkarten, enorme Produktivitätssteigerung pro Arbeitnehmer in der Landwirtschaft (ein Bauer ernährt jetzt 120 Menschen, 1950 nur zehn), Traktoren statt Pferde, Garantieabnahme von Getreide bei garantierten Preisen, Preiskampf der Supermarktketten, schrumpfender Anteil der Kosten für Nahrungsmittel am Einkommen, Kunstdünger und Pestizide, neues Saatgut, Weltmarktpreise gegen Inlandspreise, Überfluss in Europa und Hunger in der Welt, gegensätzliche Interessen zwischen Agrarländern und Industrieländern in der EU, Bauern als Landschaftspfleger, Massentierhaltung, idyllische Bauernromantik und hochtechnisierte Realität, Gentechnik, Bauernverbände und einiges mehr. 7 4. Lernzielebenen Der Weg zum Ziel führt (nach allgemeiner Auffassung der Didaktiker) über zwei Ebenen: • Die kognitive Ebene mit Analyse und Einordnen des vorhandenen oder erworbenen Wissens über die Europäische Union, ihre Entscheidungsprozesse, ihre Probleme, ihre Geschichte. Positive Nebeneffekte: Relativierung eigener Meinungen, Einsicht in die Notwendigkeit und Unumkehrbarkeit des Einigungsprozesses. • Die affektive Ebene mit „Europa erleben“, mit Erkennen von Vorteilen und Abbau von Vorurteilen, Anerkennung verschiedener Sichtweisen und Beurteilungen, Verständnis für andere Meinungen, Verständnis für die Schwierigkeiten Europas bei Problemlösungen. Beide Ebenen sollen auch zu erwünschtem Verhalten disponieren wie: Interesse für europäische Belange, Teilnahme an Wahlen, Weiterbildung aus eigener Initiative, Weitervermittlung von Wissen, Eintreten für Europa. 5. Didaktische Strukturierung Bei der Behandlung der Themen (Module) empfiehlt sich ein Vorgehen in drei Stufen: 1. Erscheinungsebene: Beschreibung der Gegebenheiten (Stand der Dinge) im jeweiligen Themenbereich mit Anknüpfung an Vorkenntnisse. 2. Ursachenebene: Erforschen der Gründe, die zur Entwicklung des jeweiligen Themenbereichs der Integration (wie Binnenmarkt, Gesetzgebung, Agrarpolitik) geführt haben; Erforschen der Gründe für Rückschritte, für die Unfähigkeit, erkannte Probleme sofort zu lösen. 3. Bewertungsebene: Stellungnahme zu Vor- und Nachteilen der Integration und des erreichten Standes im jeweiligen Themenbereich. Probleme beim Einstieg in das Thema „Europa“ Jeder Erwachsene, einerlei, wie spärlich oder umfangreich seine Kenntnisse über die Europäische Union sind, hat in seinem Leben Kritik über „Brüssel“ gehört oder gelesen, berechtigte wie unberechtigte. Dabei haben publikumswirksame Berichte über die Eurokratie, den Regulierungswahn usw. eine Rolle gespielt. Jeder kennt wohl die Geschichten über den Krümmungsgrad von Gurken oder den Neigungswinkel von Traktorsitzen. Es existieren ganze Sammlungen mit unglaublichen Auswirkungen Brüsseler Entscheidungen: Verbot von 8 Gamsbärten auf Hüten, Pflicht für Hochseefischer, Haarnetze zu tragen, Zusatz von Blutbestandteilen in Schokolade und dergleichen mehr. Diese „Vorkenntnisse“ beeinflussen die Beurteilung der europäischen Integration, auch wenn der Einzelne bestreitet, ihnen Glauben zu schenken. Hinzu kommt, dass sogar namhafte Politiker Auswüchse der Brüsseler Eurokratie geißeln und mit ihrer Kritik an Brüssel den Eindruck erwecken, dort werde von Technokraten eine unsinnige Politik betrieben, gegen die vernünftige Minister aus Mitgliedstaaten nichts mehr ausrichten könnten. Den Berichten über unsägliche Auswüchse der europäischen Bürokraten liegen zwar oft reale Verordnungen zu Grunde, sie werden aber erst durch unzulässige Überspitzung oder durch Verschweigen von Gründen zum „Skandal“. Es empfiehlt sich deshalb, möglichst schon beim Einstieg in die Thematik auf ein solches Beispiel („Krümmungsgrad der Gurken“ oder „Neigung von Traktorsitzen“) einzugehen und seine Hintergründe zu erklären, um zu zeigen, wie Vorurteile über Europa entstehen. Probleme bei der Behandlung des Themas „Europa“ Viele Fehleinschätzungen in der Beurteilung europäischer Prozesse und Ergebnisse entstehen durch Begriffe, die in der Fachsprache eine andere Bedeutung haben als in der Umgangssprache. Ein solcher Begriff ist beispielsweise „Souveränität“. In der Alltagssprache umschreibt er ein selbstbewusstes, überlegenes und über Kritik erhabenes Verhalten, im Bereich des Staatsrechts dagegen bedeutet Souveränität das konstitutive Element jeder staatlichen Hoheitsgewalt, also ein grundlegendes und nach historischer Rechtsauffassung unteilbares, unveräußerbares und unabdingbar notwendiges Recht jedes Staates auf uneingeschränkte Macht im Innern und nach außen. Nur bei Kenntnis dieser Bedeutung wird verständlich, warum bei der Übertragung von Souveränitätsrechten an eine supranationale Institution der Verzicht auf das Vetorecht, also das Akzeptieren von Mehrheitsentscheidungen für Regierungen eine so gravierende Rolle spielt. Die meisten Probleme, Verzögerungen und Krisen im Prozess der europäischen Einigung sind auf diesen Vorbehalt gegen Fremdeinfluss auf nationale Entscheidungen entstanden. (Beispiele: Politik des leeren Stuhls, Ringen um Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen bei Vertragsreformen, zögerliche Erweiterung der Befugnisse des Europäischen Parlaments, Opt-out von Großbritannien und Dänemark, schwierige Konsensfindung in den Bereichen Innenpolitik und Außenpolitik). 9 In diesen Zusammenhang gehört auch die (durchaus verständliche) Neigung von Regierungen und Parteien, nationalen Interessen Vorrang zu geben vor europäischen Zielen (Beispiele: Rückfall in Protektionismus bei Wirtschaftskrisen, Mangel an Solidarität zwischen reichen und armen Ländern, Bewertung von Kompromissen nach Siegern und Verlierern). Es ist deshalb hilfreich, an geeigneten Stellen im Verlauf des Unterrichts diese besondere Bedeutung bestimmter Begriffe zu erläutern. Das gilt auch für Kurse zur speziellen Erwachsenenbildung, wo Fachbegriffe aus dem jeweiligen Berufsfeld die Sicht auf die Tagesproblematik der Integration verdecken oder verzerren können. In den Zusatzinformationen zu betreffenden Modulen sind Exkurse über solche Begriffe eingefügt. Ergebniskontrolle Nicht in jedem Falle ist eine Ergebniskontrolle nötig oder erwünscht. In „Feierabendkursen“ oder „Seniorenkursen“ (die wichtig sind und hier nicht abwertend so benannt werden) spielt die Ergebniskontrolle keine zweckdienliche Rolle und kann, wenn überhaupt, eher spielerisch eingesetzt werden, z. B. mit Hilfe von Kreuzworträtseln. Die Kontrolle und Bewertung der Ergebnisse kann unterschiedlichen Zwecken dienen, beispielsweise: Kontrolle der Kenntnisse. Mögliche Methoden: Ausfüllen von vorbereiteten Fragebögen mit Ja-nein-Antworten, multiple-choice-Antworten, Ausfüllen von Leerstellen in Texten, Einfügen von gesuchten Begriffen in Fragelisten usw. Kontrolle der (veränderten, gewandelten) Einstellung. Mögliche Methoden: Eckenwahl (den vier Ecken oder Seiten des Raumes werden vier Stufen der Einstellung zu bestimmten Fragen zugewiesen, z. B. stimme voll und ganz zu, stimme mit Einschränkung zu, habe Vorbehalte, bin ganz und gar dagegen. Die Teilnehmer gruppieren sich nach ihrer Wahl). Farbenwahl (statt der Wahl zwischen vier Ecken die Wahl zwischen vier Farben auf Papierstreifen, die jeder Teilnehmer bekommen hat und die nun gezeigt werden). Literaturverzeichnis Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie. Frankfurt/M. 1999 Detjen, Joachim: „Der demokratiekompetente Bürger“ – Politikwissenschaftliche Anmerkungen zu einer normativen Leitvorstellung Politischer Bildung (=Eichstätter Antrittsvorlesungen Bd. 3). Wolznach 1999 Gerhards, Jürgen: Das Öffentlichkeitsdefizit der EU im Horizont normativer Öffentlichkeitstheorien, in: Hartmut Kaelble/Martin Kirsch/Alexander Schmidt-Gernig (Hrsg.): Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. 2002 10 Himmelmann, Gerhard: Demokratie Lernen als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform. Ein Lehr- und Studienbuch. Schwalbach/Ts. 2001 Köcher, Renate: In der deutschen Provinz. Das Interesse der Bevölkerung an Außenpolitik geht rasch zurück. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.7.1997, S. 5 Lauth, Joachim/Mols, Manfred/Wagner, Christian: Politische Bildung und Politikwissenschaft, in: Manfred Mols/Joachim Lauth/Christian Wagner (Hrsg.): Politikwissenschaft: Eine Einführung. Paderborn et al. 1996, S. 331-351 Massing, Peter: Theoretische und normative Grundlagen politischer Bildung, in: Will Cremer/Wolfgang Beer/Peter Massing (Hrsg.): Handbuch zur politischen Erwachsenenbildung. Schwalbach/Ts. 1999, S. 21-60 Piel, Edgar: Nur unter „ferner liefen“. Deutsche Außenpolitik im Spiegel der Demoskopie. In: Internationale Politik, 1998 Heft 12, S. 33-37 Scharpf, Fritz W.: Demokratie in der transnationalen Politik. In: Wolfgang Streeck (Hrsg.): Internationale Wirtschaft, nationale Demokratie. Herausforderungen für die Demokratietheorie. Frankfurt/M./New York 1998, S. 151-174