KULTUR Warum Saviano jetzt vor der Camorra

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Tages-Anzeiger · Mittwoch, 22. Oktober 2008
KULTUR
Kultur in Kürze: The Bad Plus in
Zürich, Fotos von Luciano Rigolini
Weltmusik: Ry Cooder und Taj
Mahal bringen die Musik aus aller
und ein Krimi von Tana French.
Welt in den Pop und den Rock.
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Leben: Wer im reifen Alter
noch Vater wird, sieht die
Welt plötzlich ganz neu. 54
Warum Saviano jetzt vor der Camorra fliehen muss
Roberto Saviano schrieb mit
seinem Buch über die Camorra
einen Weltbestseller. Seither lebt
der 29-Jährige im Untergrund.
Jetzt will er Italien verlassen.
Begegnung mit einem Gejagten.
Von Kordula Doerfler, Rom
In den Bunker dringt kaum ein Lichtstrahl.
Im Dämmerlicht steht ein magerer Junge.
Um seinen Körper schlottert eine kugelsichere Weste. Ein Schuss knallt, wirft Totò
fast um. Später bewundert er den Bluterguss, den die Kugel des Capo hinterlassen
hat, vor dem Spiegel. Noch später gerät er
zwischen die Fronten eines blutigen Bandenkrieges, wird er sogar seine Tante verraten. Aber er gehört jetzt dazu, hat es geschafft. Jetzt ist der 13-Jährige jemand in
Scampìa, einer trostlosen Vorstadt von
Neapel. Sie könnte in Rio liegen oder in Johannesburg. Im Film «Gomorra» gleicht
sie einem Vorhof zur Hölle.
Szenenwechsel. Es ist einer jener strahlenden Herbsttage, an denen Rom von innen heraus zu leuchten scheint. Rund um
die Via Veneto tost der Verkehr. Auf den
breiten Bürgersteigen der Prachtstrasse geniessen die ersten Touristen in der milden
Sonne einen Kaffee. Die Hölle von Neapel
scheint auf einem anderen Stern zu liegen.
Um die Ecke, vor einem hellbraunen Palazzo, liegt Nervosität in der Luft. Ein
Streifenwagen der Carabinieri steht vor
dem Römer Sitz des Verlages Mondadori.
Hinein kommt nur, wer sich ausweisen
kann. Er ist da, kein Zweifel. Drinnen
herrscht aristokratische Eleganz in hohen
Räumen. Auf die Minute pünktlich schiebt
sich ein junger Mann mit schwarzer Lederjacke, Jeans und modischen Turnschuhen durch die Flügeltür. Er taxiert rasch
den Raum mit den bukolischen Fresken an
den Wänden, ehe er sich auf das rote Ledersofa fallen lässt. Alles in Ordnung, sagt
sein Blick. Und: Machen wir schnell, wenn
es geht.
international bekannt. In 42 Sprachen
wurde sein Buch über die skrupellosen
Machenschaften der neapolitanischen Mafia übersetzt, mehr als eine Million Mal allein in Italien verkauft.
Es ist, so scheint es, eine überwältigende
Erfolgsgeschichte, gekrönt von der kaum
minder aufsehenerregenden Verfilmung
des Buches durch Matteo Garrone. Und
doch ist es die Geschichte eines Erfolges,
der einen sehr hohen, viel zu hohen Preis
hat. Und ein Lehrstück über die Macht der
Mafia und die Ohnmacht des italienischen
Staates. Denn Saviano lebt seit zwei Jahren
im Untergrund, an wechselnden Orten,
meist in Polizeikasernen. Wegen ständiger
Morddrohungen tritt er kaum noch in der
Öffentlichkeit auf, und wenn doch, dann
mit Polizeischutz.
Die fünf Carabinieri, die Tag und Nacht
über sein Leben wachen, nennt er heute
seine Familie. Vor ein paar Monaten hat er
darüber noch gelacht. Am Anfang fand er
das alles gar nicht so schlimm. Konnte sich
nicht vorstellen, dass das der Normalzustand werden würde. Dass er seine echte
Familie, seine Freunde, seine Kollegen
nicht mehr treffen kann. Dass er nicht
mehr arbeiten, nicht mehr recherchieren
kann. Und deshalb auch kaum noch schreiben. Ausser über sich selbst. Und das will
er nicht mehr. In der vergangenen Woche
brachte der berühmte Tropfen das Fass
zum Überlaufen. Nachdem ein Kronzeuge
vom Clan der Casalesi der Polimehr», sagt Saviano, und wiezei gesteckt hatte, dass die Cader irrt der Blick durch den
morra bis Weihnachten einen
Raum. «Ja, ich werde emigrieSprengstoffanschlag auf den
ren», und das klingt dann noch
Autor geplant habe, ging Saendgültiger. Von der Frankfurviano in die Knie. Er kündigte
ter Buchmesse, wo ihm ein weian, Italien verlassen zu wollen.
terer Preis verliehen wurde, ist
«Ich will ein ganz normales
er noch einmal zurückgekomLeben führen, in der Sonne sitmen. Aber er wird gehen. Vielzen und ein Bier mit meinen
leicht für immer. Vielleicht in
Freunden trinken können», ofdie USA oder nach Schweden.
fenbarte er der Tageszeitung Roberto Saviano. Beide Länder haben ihm ihre
«La Repubblica». Auch eine
Gastfreundschaft angeboten.
Woche später, beim Gespräch in Rom,
Angst? Nein, er hat keine Angst, so
steht sein Entschluss fest, und das, obwohl merkwürdig das klingen mag. Und dann
eine Welle der Solidarität durch Italien
und um die Welt ging. «Das ist kein Leben
Fortsetzung Seite 47
Die Leibwächter sind seine Familie
Der Blick bleibt unruhig. Es ist der Blick
von einem, der sich nur schwer konzentrieren kann, der von Strapazen gezeichnet ist, die man in seinem Alter doch gar
nicht kennen sollte. Roberto Saviano hat
etwas Jungenhaftes, und zugleich umgibt
ihn eine Düsternis, die nur schwer zu
durchdringen ist. Aller Furor scheint ihn
verlassen haben. Jene Wut, die ihn antrieb,
ein Buch zu schreiben, mit dem er seinerseits für Furore sorgte.
Als «Gomorrha – Reise in die Welt der
Camorra» erschien, war Roberto Saviano
ein unbekannter junger Journalist aus Casal di Principe im Hinterland von Neapel.
Jetzt, zwei Jahre später, ist der 29-Jährige
BILD PD
ZUM FILM
«Gomorra»
Zwei grossmäulige Buben spielen «Scarface» im Jacuzzi einer Bauruine. Später,
am Fluss, ballern sie in Unterhosen in der
Gegend herum, mit Maschinenpistolen,
die sie in einem Versteck der Camorra
geklaut haben. Schnitt. In einem Nähatelier hantiert Schneidermeister Pasquale
mit den edlen Stoffen, aus denen er die
Haute Couture für die teuersten Mailänder Modehäuser schneidert.
Schweres Geschütz und feinste Handarbeit: Das sind zwei der fünf Episoden,
die Regisseur Matteo Garrone für seinen
Spielfilm aus dem Buch von Roberto
Saviano herausgelöst und vertieft hat.
Mit seinem dokumentarischen Blick versucht Garrone gar nicht erst, dem Furor
des Buches nachzueifern. Sein in Cannes
preisgekrönter Film ist vielmehr ein ungeschöntes Fresko, das die Agglomeration um Neapel einfängt wie einen wüs-
ten, fremden Planeten. Garrone sucht
nicht den knalligen Plot, sondern lässt die
Geschichten wuchern wie die Camorra
selbst.
Die glamouröse Ikonografie der Mafia,
wie man sie vom Hollywood-Kino zwischen «The Godfather» und «Scarface»
kennt, ist hier nur in der Nachahmung
durch die halbwüchsigen Möchtegerns zu
sehen. Ansonsten konzentriert sich Garrone darauf, den sozialen Boden zu schildern, auf dem die Camorra als ökonomisches Subsystem in allen Lebensberei-
chen ihre Gewaltherrschaft durchsetzt.
Die grausigsten Szenen aus dem Buch
bleiben einem im Film erspart, aber in
kurzen Momenten ist das brutal genug –
und unerbittlich bis zum Abspann, für den
Massive Attack einen dunkel pochenden
Track beigesteuert haben. Florian Keller
Gomorra (Italien 2008). 137 Minuten. Regie: Matteo Garrone. Mit Salvatore Cantalupo, Marco Macor, Ciro Petrone u. a.
Ab Donnerstag in Zürich in den Kinos
Arthouse Movie und Riffraff.
«Die Menschen sind ganz im Räderwerk der Mafia gefangen»
Die Statisten in Neapel waren
sein erstes Testpublikum:
Regisseur Matteo Garrone
(40) über die Dreharbeiten zu
seinem Film «Gomorra».
Mit Matteo Garrone
sprach Gerhard Midding
Ihr Film zeigt präzise
den Unterschied
zwischen
amerikanischen und
italienischen
Mafia-Filmen: Das
italienische Kino
interessiert sich für
die Strukturen, aus
denen das
organisierte
Verbrechen entsteht, Hollywood für dessen
glamouröse Aspekte.
Ich bewundere Regisseure wie Scorsese
und De Palma sehr, aber diese glamouröse
Dimension wäre in unserem Film völlig
fehl am Platz gewesen. Obwohl sie natürlich den Träumen der Camorristi ent-
spricht. Darin besitzen die amerikanischen
Filme wiederum eine grosse Wahrhaftigkeit. Diese Leute träumen davon, luxuriöse Kleidung und teure Autos zu besitzen. Figuren wie De Palmas «Scarface»
sind Vorbilder für sie. Aber mit ihrer
Lebensrealität haben sie nichts zu tun.
In Ihren früheren Filmen analysieren Sie
persönliche Herrschaftsverhältnisse.
Waren es die Machtstrukturen, die Sie nun
für die Camorra interessiert haben?
Nein, ich war zunächst einmal einfach
nur fasziniert und geschockt von Roberto
Savianos Buch. Es hat in Italien als wichtiges Korrektiv funktioniert, denn es hat
unsere Vorstellung von der Camorra von
Grund auf verändert. Es eröffnet eine
Innenansicht, fast einen subjektiven Blick
auf das organisierte Verbrechen. Mit meinem Film will ich das Gleiche erreichen,
auch wenn das Buch natürlich ausführlicher und komplexer ist. Allerdings finde
ich die thematische Verbindung, die Sie
knüpfen, interessant. Natürlich geht es um
Machtverhältnisse, aber bei der Verfilmung des Buches war mir von vornherein
klar, dass es nicht um die Bosse, sondern
um die unteren Ränge in der Hierarchie
gehen sollte.
Sie stammen aus Rom. Wie fremd war Ihnen
die Welt, in die Sie da eingedrungen sind?
Die Dreharbeiten waren in vieler Hinsicht eine äusserst verwirrende Erfahrung
für mich. Die Welt, die wir schildern, ist
mir sehr fremd. Es ist eine andere Kultur,
man spricht eine eigene, unverständliche
Sprache. Als wir das Drehbuch schrieben,
konnten wir uns die Realitäten, die wir in
Neapel vorfinden würden, noch nicht vorstellen. Es schien uns undenkbar, dass 200
Kilometer von Rom entfernt die Menschen in einem Kriegsgebiet leben. Sie
werden von einem System beherrscht, das
ihnen eine bestimmte Lebensweise aufzwingt und dessen Infamie ihnen gar nicht
bewusst ist. Dieses mangelnde Bewusstsein dafür, was um sie herum passiert, hat
mich ungeheuer schockiert. Zugleich habe
ich mich den Menschen in der Region aber
augenblicklich sehr nahe gefühlt.
Wie meinen Sie das?
Eigentlich hatte ich damit gerechnet,
dort auf eine grosse Verschlossenheit zu
stossen. Aber die Menschen haben unser
Team mit einer enormen Grosszügigkeit
und Offenheit empfangen. Nach jedem
Take wollten die Statisten aus der Gegend
mit uns diskutieren, ihre Erfahrungen
schildern. Sie waren praktisch unser erstes
Testpublikum, und ihre Kommentare wurden zu einer Garantie der Realitätsnähe.
Das mafiöse System erscheint in Ihrem Film
als eigene, hermetisch abgeschlossene Welt.
Dennoch gelingt es am Ende zwei Figuren,
ihr zu entkommen. Wie realistisch ist das?
Sie haben Recht, das ist sozusagen ein
abgeschlossenes Ökosystem. Aber die beiden Figuren dienen nicht dazu, am Ende
einen tröstlichen Hoffnungsschimmer zu
eröffnen. Sie repräsentieren eine Lösung
der Vernunft, der Zivilcourage. Das
grösste Problem ist die Blindheit, die ich
zuvor schon geschildert habe. Die Menschen sind ganz in ihren Mechanismen, in
ihrem Räderwerk gefangen, weil sie unfähig sind, den sozialen Kontext zu sehen.
Mir war deshalb wichtig zu zeigen, dass jeder Betroffene eine Verantwortung trägt.
Man kann die Probleme der Region nicht
von aussen lösen, indem man die Armee
oder stärkere Polizeikräfte dorthin
schickt. Man muss sie von innen heraus
verstehen, aus dem fatalen Zustand des
Bildungssystems und des Arbeitsmarktes.
Der Staat spielt dabei eine sehr zweifelhafte Rolle, seine Institutionen sind entweder abwesend oder zu schwach.
Statistiken zufolge zahlen 80 Prozent aller
Geschäfte in Neapel und Kampanien
Schutzgeld. Waren Sie auf die Camorra
angewiesen, um Drehgenehmigungen zu
bekommen?
Davon hört man gelegentlich, aber wir
haben diese Erfahrung nicht gemacht.
Mein Bild der Camorristi hat sich im Verlauf der Dreharbeiten auch etwas gewandelt. Die Strukturen sind so komplex, dass
man ihnen nicht gerecht wird, indem man
in einem Film einfach nur vorgefasste
Thesen illustriert. Die Grenze zwischen
den Leuten, die innerhalb und ausserhalb
des mafiösen Systems leben, ist schwer zu
ziehen. Es gibt Grauzonen, die Bösen sind
nicht einfach zu erkennen. In praktisch jeder Familie gibt es ein oder mehrere Mitglieder. Aber auch Leute, die einer ehrlichen Arbeit nachgehen, stehen unter dem
Einfluss der Camorra. Mir wurde klar, dass
ich die Verhältnisse nur schildern kann,
wenn ich die Gesichter und Gesten der
Menschen sprechen lasse. Ich will den
Zuschauer in eine bestimmte Atmosphäre
versetzen, damit er die Mechanismen
emotional verstehen kann. Der Film
formuliert keine fertige, unumstössliche
Moral, der Zuschauer soll vielmehr seine
eigenen Schlüsse ziehen.
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