Die Zukunft hat viele Namen. Für die Schwachen

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„Die Zukunft hat viele Namen.
Für die Schwachen ist sie das Unerreichbare.
Für die Furchtsamen ist sie das Unbekannte.
Für die Mutigen ist sie die Chance.“
Victor Hugo
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Rüdiger Syring
Rock 'n' Roll
der Psyche
Wenn die Seele Kapriolen schlägt
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www.windsor-verlag.com
© 2015 Rüdiger Syring
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved.
Verlag: Windsor Verlag
ISBN: 978-1-627844-44-4
Umschlaggestaltung: Julia Evseeva
Titelbild: © razoomanetu - Fotolia.com
Layout: Julia Evseeva
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Inhaltsverzeichnis
Einführung .................................................................................. 7
01. Psyche in der grieschischen Mythologie .............................. 11
02. Tabuthema „Psyche“ ............................................................... 16
03. Vom Stigma der Psychiatrie ................................................... 20
04. Schmerz und Psyche ................................................................ 28
05. Unterbewusstsein & EGO – was ist das? .............................. 30
06. Erlernte Hilflosigkeit ............................................................... 39
07. Das Innere Kind ....................................................................... 43
08. Der Wert des kindlichen ICH’s .............................................. 50
09. Resilienz – was Menschen stark macht ................................. 57
10. Positives Denken – eine Kritik ............................................... 66
11. Von der Kunst des Wünschens .............................................. 72
12. Kranke Seele, krankes Hirn? .................................................. 80
13. Bin ich einzig oder viele? ........................................................ 89
14. Die Opferrolle als Falle ............................................................ 95
15. Projektion & Leidgedanken .................................................. 106
16. Symptomatik - die Seele schlägt Alarm .............................. 115
17. Schuldgefühle und Abhängigkeit ........................................ 130
18. Strategien emotionaler Erpressung ..................................... 140
19. Schuld und Scham ................................................................. 145
20. Neid und Missgunst .............................................................. 147
21. Ist Geiz wirklich geil? ............................................................ 153
22. Wie man mit starken Emotionen umgeht ........................... 158
23. Was ist ADHS? ........................................................................ 166
24. Phobien & Neurosen ............................................................. 176
25. Was ist eine Zwangsstörung? ............................................... 179
26. Narzissmus und Macht – ein Teufelskreis ......................... 201
27. Psychogramm der Macht ...................................................... 212
28. Eifersucht – die dunkle Seite der Liebe ............................... 220
29. Stalking .................................................................................... 226
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30. Bipolare Störungen – eine Erkrankung mit
zwei Gesichtern ......................................................................
31. Cybermobbing – Terror im Netz ..........................................
32. Mobbing am Arbeitsplatz .....................................................
33. Burn-out – oder wenn Arbeit krank macht ........................
34. Trauma und Neurobiologie ..................................................
35. Borderline-Persönlichkeitsstörung ......................................
36. Workoholic – süchtig nach Arbeit .......................................
37. Volkskrankheit Depression ..................................................
38. Katastrophengedanken .........................................................
39. Von leisen und lauten Menschen .........................................
40. „Verlernen“ als therapeutisches Konzept ...........................
41. Psychoanalyse & Tiefenpsychologie ...................................
42. Die psychologischen Ursachen von
Fremdenfeindlichkeit und Rassismus ................................
Zum Autor ...............................................................................
Literaturverzeichnis ...............................................................
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Einleitung
Wer Zahnschmerzen hat, geht zum Zahnarzt, wer unter Bluthochdruck leidet, schluckt Betablocker – doch wenn die Seele
leidet, sind viele Menschen hilflos und wie gelähmt. Die Angst
vor Stigmatisierung, Scham und Unwissenheit versperren oftmals den Gang zum Spezialisten. „Ich bin doch nicht verrückt“,
wehren sich viele Betroffene, „Reiß dich doch einfach mal zusammen“, raten Freunde. Das sind wenig hilfreiche Vorschläge,
unnötige Barrieren auf dem Weg zu seelischer Gesundheit und
Wohlbefinden. Zwar lösen sich manche Krisen von alleine auf,
und einige psychische Probleme lassen sich mit der Unterstützung von Freunden und Familie durchaus in den Griff bekommen. Aber wenn das nicht klappt, wird der Alltag zur Qual. Spätestens dann ist es nötig, sich professionelle Hilfe zu suchen.
Während die Psychiatrie davon ausgeht, dass psychische Störungen vorrangig medizinisch behandelbare Erkrankungen des
Gehirns sind und die psychoanalytisch fundierten Psychotherapien aktuelle Probleme insbesondere als Ausdruck von frühkindlichen Traumata und unbewussten Konflikten oder Wünschen ansehen, hat die Verhaltenstherapie (VT) die Sichtweise,
dass das gestörte Verhalten selbst das zu behandelnde Problem
darstellt. Gestörtes Verhalten wird dabei verstanden als ein Verhaltensmuster, das in Reaktion auf bestimmte Umstände erlernt
wurde und das es zu verändern gilt. Dabei ist mit Verhalten sowohl Handeln als auch Denken, Bewerten und Fühlen gemeint.
Da keine Darstellung der Komplexität der Psyche vollkommen
gerecht wird, sollte es nicht verwundern, wenn die psychologischen Wissenschaftssysteme verschiedene Auffassungen von ihren strukturellen Aufbau vertreten.
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Alle sind wahr: es hängt nur davon ab, von welchem Standpunkt aus der Mensch betrachtet wird.
Einer aktuellen Studie zufolge erkranken jedes Jahr 27 Prozent
der EU-Bevölkerung an mindestens einer psychischen Störung.
Die Wahrscheinlichkeit, irgendwann einmal im Leben eine psychische Störung zu bekommen, liegt mit über 50 Prozent sogar
noch wesentlich darüber. Pro Jahr bleiben jedoch zwei Drittel
aller psychischen Störungen unbehandelt. Nur 26 Prozent der
Betroffenen erhalten zumindest eine minimale Intervention, beispielsweise in Form eines kurzen Gesprächs mit dem Hausarzt.
Professionelle Psychotherapie wird dabei nur selten angewendet. So vergehen im Durchschnitt sieben Jahre, bevor eine erste
fachgerechte Diagnose erstellt wird. Unbehandelt verlaufen ca.
40 Prozent der Störungen chronisch und bringen zunehmend
Komplikationen mit sich, wie körperliche Folgeschäden, massive Leistungseinschränkungen und eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, an weiteren psychischen Störungen zu erkranken.
Neben dem beträchtlichen Leid der Betroffenen sind auch die
Folgekosten erheblich. So sind von allen Arbeitsunfähigkeitstagen pro Jahr in der EU die Mehrzahl direkt oder indirekt auf
psychische Störungen zurückzuführen.
Insgesamt belaufen sich die Kosten europaweit auf etwa 300
Milliarden Euro – direkt verursacht durch Arbeitsunfähigkeitstage, die Versetzung in den Vorruhestand und verringerte Produktivität sowie indirekt durch Hospitalisierung und Behandlungskosten.
Dem massiven Auftreten psychischer Störungen steht eine defizitäre Versorgungslage gegenüber. Sie drückt sich darin aus,
dass die psychotherapeutischen Behandlungskosten nur einen
verschwindend geringen Anteil von 1 Prozent der Gesamtkosten ausmachen.
Wer sich endlich dazu durchgerungen hat, Hilfe tatsächlich in
Anspruch zu nehmen, der ist noch lange nicht am Ziel. Die Versorgungslage im Fall einer psychischen Erkrankung ist nämlich
heikel. Bis zu 100 Tage müssen seelisch Angeschlagene einer aktuellen Umfrage der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung
zufolge hierzulande auf ein Erstgespräch warten. Fatal genug.
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Welche seelischen Nöte können so lange in die Warteschleife?
Suchen wir nach Alternativen. Wer etwas über sich selbst und
sein Innenleben erfahren möchte, für den wurde dieses Buch
geschrieben. Darin finden sich keine Kunstgeflechte aus lebensfremden Hypothesen oder allzu akademisch anmutende Ableitungen von psychischen Erkrankungen. Vielmehr kommen wir
zu der Feststellung: Jeder von uns ist ein klein bisschen verrückt.
Doch wir sind in guter Gesellschaft: Obelix kann ohne Asterix
sein Leben nicht organisieren und Woody Allen scheint die
Neurose in Person zu sein. Wer hat sich nicht schon gewünscht,
wenigstens einen nervigen Charakterzug bei sich oder seinem
Gegenüber verstehen zu können, wenn er denn schon nicht zu
ändern ist.
Wie funktioniert menschliches Wahrnehmen, Denken, Erinnern, Urteilen, Problemlösen und Handeln? Wie werden Traumata verarbeitet? In welcher Weise wird unsere soziale Identität
durch unser EGO bestimmt, wie hängen Schmerz und Psyche
zusammen. Warum tappen wir immer wieder in die Projektionsfalle, leiden unter Schuldgefühlen und Leidgedanken.
Dieses Buch gehört nicht zur Ratgeber-Literatur, auch wenn es
viele praktische Empfehlungen enthält. Passend eingeordnet ist
es eher ein Beitrag zur Allgemeinbildung.
„Persönlichkeitsstörung“, „Borderline“ oder „strukturelle Störung“ - diagnostische Schlagwörter wie diese gehören mittlerweile (fast) zur Populärpsychologie, Anfang des 20. Jahrhunderts
waren die darunter gefassten Probleme allerdings noch kaum
verstanden. Heute weiß man, dass Bindungsstörungen, Süchte,
Selbstverletzungen und Depressionen häufig auf frühkindliche
Traumata zurückgehen; auf Erfahrungen von Missbrauch, Gewalt und Vernachlässigung. Was die Seele überwältigt, ist nicht
die plötzlich und von ‚außen‘ kommende Katastrophe, sondern
das, was in (lebens-)wichtigen Beziehungen und häufig über Jahre hinweg passiert.
Der englische Philosoph Francis Bacon schrieb 1620 in seinem
Hauptwerk „Novum Organum“ ‚Knwoledge is Power‘, also
‚Wissen ist Macht‘. Man könnte folglich meinen, dass Wissen allein ausreicht, um anderen gegenüber im Vorteil zu sein.
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Denn wer Macht hat, hat Einfluss. Aber „Wissen“ ist nicht „einfach da“, genauso wie „Denken“ nicht einfach da ist. Es muß
angeeignet werden. Und das bedeutet: es kann in einem bestimmten Maße beeinflusst, kann erlernt und auch nachträglich
verändert werden. Das aber erfordert unser Tun. Große Werke
werden nicht durch Gewalt, sondern durch Ausdauer vollbracht.
Oder, wie ein französisches Sprichtwort sagt: „Hab Geduld, alle
Dinge sind schwierig, bevor sie einfach werden.“
Phobien und Neurosen, Partnerschaftskonflikte, Stalking,
Ängste und Depressionen, Mobbing am Arbeitsplatz oder Cybermobbing, psychische Ursachen von Rückenbeschwerden und
natürlich auch Wege zum Glücklichsein – solchen Themen begegnet man nicht nur in Psychologiebüchern, sondern täglich in
Tageszeitungen, Internet, im Radio und im Fernsehen. Nimmt
man Wissen und Kompetenzen für die Anforderungen des Lebens als ein Kriterium von Allgemeinbildung, dann gehören
psychologische Kenntnisse ganz offenkundig dazu.
Kurzum: In dieser Schrift finden Sie eine dringend nötige, aber
verdaubare Klarstellung im Zeitalter des allgemeinen Psychologisierens, in dem sich „der moderne Mensch“ in Massen tastend
auf den Weg ins „dunkle Innere“ macht.
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01.
Die Psyche
in der griechischen Mythologie
Der griechische Mythos um die Figur der Psyche erzählt von
drei außergewöhnlich schönen Prinzessinnen. Die allerschönste von ihnen war Psyche. Sie soll so überirdisch schön gewesen
sein, dass selbst Aphrodite, die Göttin der Schönheit und der Liebe gegen sie verblasste. Und als diese davon hörte, schien sie zu
befürchten, dass die Menschen beginnen würden, die sterbliche
Psyche mehr zu verehren als sie selbst. Also schmiedete Aphrodite einen Plan. Sie beauftragte ihren Sohn Eros, einen Zauberbann
über Psyche zu werfen: Immer, wenn es zu einer Hochzeit zwischen ihr und einem Mann kommen sollte, würde dieser sie noch
in der Hochzeitsnacht verlassen und sogleich das Weite suchen.
Doch Eros, der Liebesgott, verliebt sich selbst in Psyche und gehorcht seiner Mutter nicht. Statt dessen lässt er seine erwählte Geliebte in sein eigenes Schloss entführen und verbringt fortan jede
Nacht mit ihr. Die Königstochter liebt ihren geheimnisvollen Gemahl und wird schwanger. Niemals aber bekommt sie den Liebesgott zu Gesicht, denn Eros, der Gott der Liebe nimmt der geliebten
Psyche das Versprechen ab, niemals herausfinden, wer er sei.
Psyche genießt die Nächte mit ihrem Gemahl, der ihre tiefsten
Wünsche und Sehnsüchte zu erfüllen vermag. Tagsüber wird sie
aber zunehmend einsam in ihrem Schloss. Daher lädt sie ihre
beiden Schwestern ein. Eros warnt sie, dass sie sich nicht von
ihnen verleiten lassen dürfe, herauszufinden, wer er sei.
Die Schwestern sind zuerst froh, Psyche wohlbehalten vorzufinden. Sehr schnell aber werden sie neidisch über ihren Wohlstand.
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Bei einem weiteren Besuch gelingt es ihnen, Psyche davon zu
überzeugen, dass sie ein schreckliches Monster geheiratet haben
muss, das ihr offenbar wegen seiner furchtbaren Gestalt nie bei
Tageslicht gegenübertrete. Darüber hinaus solle es Schwangere
verschlingen. Aus Angst um ihr ungeborenes Kind, befolgt sie
einen Rat ihrer Schwestern. Sie wartet in der kommenden Nacht
auf ihren Mann mit einer Öllampe und einem Messer, um gegebenenfalls das Ungeheuer zu töten. Natürlich erblickt sie keinen
Dämon, als sie ihren Geliebten ins Gesicht leuchtet, sondern die
wunderbare Gestalt des geflügelten Eros. Psyche ist vor Entzücken über die Schönheit des göttlichen Geliebten so überwältigt,
dass sie taumelt und das Gleichgewicht verliert. Dabei verletzt
sie sich an einem seiner Pfeile. Waren es für sie bislang seine
Worte und Berührungen, das Gefühl von ihm geliebt zu werden,
welches Psyche so fasziniert hatte, so verliebt sich Psyche in Eros
aktiv und unsterblich.
Dieser allerdings fühlt sich entdeckt und in die Enge getrieben,
weil er sich als Gott der Liebe niemals einem Sterblichen zeigen
darf. Er läuft zum Fenster und fliegt davon. Psyche springt ihm
nach, fällt aus dem Fenster und bleibt besinnungslos liegen. Als
sie erwacht, findet sie sich einsam und verlassen in einer schrecklichen Einöde wieder. Zunächst will sie sich das Leben nehmen,
doch dann durchwandert sie auf der Suche nach ihrem verlorenen Geliebten die ganze Welt.
Dabei kommt sie zum Tempel der Aphrodite, der Mutter von
Eros, um deren Hilfe sie bittet. Sie erhält von Aphrodite eine
Reihe an lebensgefährlichen Aufgaben, von der die Göttin überzeugt ist, dass Psyche sie nicht wird bewältigen können.
Als erste Aufgabe muss sie einen Berg aus Getreidekörnern in
kleine Häufchen nach den verschiedensten Arten sortieren. Als
Psyche den Getreideberg sieht, ist sie total verzweifelt. Eros, der
immer noch ein wachendes Auge über sie hat, beauftragt Ameisen, die diese Aufgabe erledigen.
Die nächste Aufgabe ist, Aphrodite von jedem Tier der göttlichen Schafherde, die an einem Fluss weidet, eine Locke des goldenen Fells zu bringen. Hier kommt ihr der Flussgott zur Hilfe,
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der Psyche rät, darauf zu warten, bis die Schafe in der Mittagssonne schlafen, dann würden sie still und freidlich sein.
Damit bewältigt sie auch diese Aufgabe. Dann musste Psyche
Wasser aus dem Fluss Styx schöpfen und zwar genau von jener
Stelle, wo er als Wasserfall aus großer Höher herab stürzt. Hier ist
es ein Adler der hilft, indem er hoch hinauf fliegt und für sie den
Becher füllt, den sie dann zur Aphrodite bringt. Schließlich muss
sie einen beschwerlichen Weg in die Unterwelt zu Persephone
gehen und diese um einen Tiegel magischer Schönheitssalbe
bitten. Der Zugang zur Unterwelt ist allerdings allen Lebenden
verwehrt. Fast schon traumatisiert von der Unlösbarkeit der Aufgabe, plant Psyche dem ganzen ein Ende zu setzen und sich von
einem Felsen in die Tiefe zu stürzen. Doch eine Stimme befiehlt
ihr, dies nicht zu tun, sie solle vielmehr den Anweisungen dieser
Stimme folgen, dann käme sie heil durch die Unterwelt und aus
dieser wieder heraus. Auf keinen Fall dürfe sie in den magischen
Tiegel hineinschauen. Psyche kann der Versuchung allerdings
nicht widerstehen und öffnet den Tiegel. Sie findet darin nichts
als eine große schwarze Leere. Diese versetzt sie sofort in tiefen,
todesähnlichen Schlaf. Eros, der das Treiben die ganze Zeit beobachtet hat, eilt auch diesmal zur Hilfe und holt sie in das Leben
zurück. Während Psyche das Kästchen bei Aphrodite abliefert,
fliegt Eros zu Zeus und erlangt die Erlaubnis, Psyche zu heiraten. Der oberste Gott - gerührt von der großen Liebe - läßt Psyche
einen Schluck Ambrosia trinken, die sie unsterblich und damit
zur Göttin macht. Sie bekommen eine wunderschöne Tochter,
welche den Namen Hedone erhält. Diese ist bis heute die Göttin
der Freude, des Vergnügens, der Glückseligkeit und der Lust.
Atemfluss und Seelenleben
Das griechische Wort „Psyche“ bedeutet sowohl Seele als auch
Schmetterling. Psyche wird daher oft als „Seelenvogel“ mit
Schmetterlingsflügeln bezeichnet. Ursprünglich bedeutet das
Wort Psyche „Atem“ oder „Atem-Hauch“ (von ψύχω ich atme,
hauche, blase, lebe).
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Damit ist die enge und untrennbare Verbindung zwischen
dem Atemfluss und dem Seelenleben bereits angedeutet. Nun
lässt dieser Psyche-Mythos eine Reihe von Interpretationen zu.
Psyche als Inbegriff der Seele, muss zahlreiche Prüfungen
durchleben, um letztendlich zur Unsterblichkeit zu gelangen.
Was ihr dabei immer Unterstützung gibt, ist die Liebe (Eros), die
im Hintergrund auf sie schaut und ihr unterstützende und hilfreiche Energien zur Verfügung stellt. Interessant ist auch, dass
die junge Frau von einer älteren, mächtigeren (in dem Fall Aphrodite) durch diese Prüfungen wie durch eine Initiation geführt
wird. Schließlich muss sich Psyche zu allerletzt auch noch dem
Tod (in Form ihres Ganges durch die Unterwelt) stellen. Wie so
oft findet dieser Mythos um zwei Göttinnen auch eine Entsprechung im Märchen. Es erinnert in vielen Zügen an Schneewittchen, die auch durch die ältere Königin geprüft wird, Helfer (in
dem Fall Zwerge) an ihrer Seite hat und schließlich auch durch
ein (Nah-) Tod-Erlebnis gehen muss. Die junge Frau reift durch
diesen Prozess heran, so wie auch die Psyche der Menschen gerade durch Schwierigkeiten im Leben reifer wird.
Sehen und Gesehenwerden
Von Anfang an von entscheidender Bedeutung für die Entstehung der Liebe zwischen Psyche und Eros ist „Sehen und Gesehenwerden“. Ihren wunderbaren, göttlichen, unsterblichen Liebhaber erlebt Psyche nur bei Nacht.
Die Nacht und das Nicht-Sehen und auch Nicht-Sehen-Dürfen
können als Ausdruck für das Unbewusste ausgelegt werden. Anders ausgedrückt: Die Seele ist sich ihres göttlichen Liebhabers
und Beschützers nicht bewusst. Sie akzeptiert ihren Liebhaber
vor allem, weil sie sich geliebt fühlt, aber sie selbst liebt ihn noch
nicht aktiv. Damit es dazu kommen kann, muss sie ihn bei Licht
gesehen haben. Liebe als göttliche Kraft wechselt vom Unbewussten ins Bewusstsein und wird dabei begleitet von Argwohn
und Zweifel. Dem denkenden Menschen reicht die glückliche
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Erfahrung nicht. Psyche will nicht „blind vertrauen“, nicht länger nur unbewusst genießen, und dafür setzt sie alles auf´s Spiel,
um Bewusstheit zu erlangen. Wie oft kommt es in einer sich anbahnenden Liebesbeziehung vor, dass ein Mann eine Frau begehrt, und wenn diese ihn dann „erhört“ und sich ihrerseits in
ihn verliebt, er aber aus Angst vor soviel Nähe und Emotionen
einfach „davon fliegt“ (was natürlich auch im umgekehrten Fall
so sein kann).
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02.
Tabuthema „Psyche“
Wir leben in einer Zeit, in der aus verschiedenen Gründen psychische Erkrankungen oder Beeinträchtigungen stetig zunehmen. Trotzdem ist für viele das Wort Psyche bzw. psychische Erkrankung mit einer Befremdlichkeit behaftet, das oft mehr Angst
macht als eine „körperliche“ Erkrankung.
„Ich gehe doch nicht zur Psychiaterin oder zum Psychiater –
ich bin doch nicht verrückt.“ Dieser Satz ist beispielgebend für
das Tabuthema „Psyche“. Über körperliche Leiden sprechen
wir offen. Doch bei der kranken Psyche – etwa bei Depression,
Ängsten, Schizophrenie …? Da flüstern wir beschämt, zögern
oder schweigen. Oft aus Angst, als schwach zu gelten oder gar
als Spinner abgestempelt zu werden.
Es ist absolut „normal“ bei Bluthochdruck, Rückenschmerzen
oder einem schweren grippalen Infekt den Hausarzt oder Orthopäden aufzusuchen. Bei seelischen Verletzungen oder Erkrankungen gibt es immer noch gewaltige Hemmschwellen.
Was bei einer Grippe normal ist, wird bei Depressionen oder
Burn out totgeschwiegen. Wortwörtlich. Das Tabu psychischer
Krankheiten lastet schwer – besonders in der Arbeitswelt. So leiden Betroffene oft doppelt: An der Krankheit selbst und dazu
noch am krampfhaften Versteckspiel. Zu gross sind Scham und
Angst vor dem «Psychostempel», einem Karriereknick oder Stellenverlust.
Das Schweigen hat fatale Folgen: Unbehandelt kosten psychische Leiden Millionen und enden nicht selten im Suizid. Prominente Fälle machen Schlagzeilen, doch von der Öffentlichkeit
unbemerkt nehmen sich in Deutschland täglich 5 Frauen und
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22 Männer das Leben. Darum ist die Prävention psychischer
Erkrankungen ebenso wichtig wie die Prävention von Unfällen
und körperlichen Krankheiten.
Psychische Überlastungsstörungen sind bereits der häufigste
Grund für Frühpensionierungen, Depression und Angststörungen werden binnen der nächsten 10 bis 15 Jahre alle anderen
Krankheiten an Häufigkeit übertreffen, so die Experten der Techniker Krankenkasse in Hamburg.
Aktuelle Daten unterstreichen auch die steigende Bedeutung
der Depression im Verhältnis zu anderen Erkrankungen: Bereits
2014 verursachte laut WHO die Depression in Deutschland einen höheren Schaden als koronare Herzkrankheiten.
In Europa begehen jährlich 120.000 Menschen Suizid, 80 % von
ihnen sind Männer. In ganz Deutschland sind es jährlich fast
10.000 Menschen, die durch Suizid sterben. Insgesamt 223 Menschen, darunter 69 Frauen und 154 Männer, haben sich 2014 in
Hamburg das Leben genommen.
Das sind mehr Todesfälle als durch Verkehrsunfälle, Drogen
und Gewalttaten zusammen.Für die Angehörigen ein traumatisches Erlebnis, das viele nie ganz verwinden können, denn Suizidtrauer ist komplexer und oft mit Schuldgefühlen der Angehörigen verbunden.
Ein europaweiter Überblick über psychische Erkrankungen belegt darüber hinaus die Bedeutung der Angststörung, gleichsam
eine Schwester der Depression. 50 bis 60 Prozent der Patienten
mit einer primären Angststörung entwickeln prospektiv gesehen
eine Depression. Bei der generalisierten Angststörung ist im Vergleich zur Normalbevölkerung das Risiko für eine Depression
deutlich erhöht, ebenso bei der Panikstörung. Umgekehrt treten
im Rahmen der Depression sehr häufig Angstsymptome auf.
Diese Zahlen verdeutlichen eindrucksvoll, dass es wesentlich
intensiverer Anstrengungen als bisher bedarf, will man den Herausforderungen, vor die die Depression uns stellt und noch
vermehrt stellen wird, wirkungsvoll begegnen. Das gilt insbesondere auch für die Versorgung der Betroffenen mit tauglichen
Behandlungskonzepten, die sich nicht in der Verordnung von
Psychopharmaka erschöpfen dürfen.
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„Nahezu täglich werden uns Kriminalfälle mit heimtückischen
psychotischen Tätern, schizophrenen Mörderinnen und teuflischen Serienkillern ins Wohnzimmer geliefert“, so Prof. Dr. Hans
Schanda, Facharzt für Psychiatrie. Kommt es dann tatsächlich zu
einem solchen extrem seltenen Verbrechen, vermitteln einschlägige Medien gelegentlich den Eindruck einer allgegenwärtigen
Gefährdung der Öffentlichkeit. Kein Zufall, denn aus Studien ist
bekannt, dass derartige Taten im Vergleich zu ihrer tatsächlichen
Häufigkeit in den Printmedien bis zum 200-fachen überrepräsentiert sind.
Damit entsteht der Eindruck, psychisch Kranke sind nicht nur
gefährlicher, sondern auch wesentlich gewaltbereiter als die
Normalbevölkerung. Was aber sagen die wissenschaftlichen
Fakten zum Thema „Psychose und Gewalt“? Zumeist das Gegenteil dessen, was uns gelegentlich vermittelt wird.
Beispielsweise, dass Menschen mit Schizophrenie wesentlich
häufiger Opfer als Täter sind: 5 bis 10-mal öfter als Gesunde werden sie Opfer von Gewalttaten oder von sexuellen Übergriffen.
Die Erkrankung führt in vielen Fällen auch zu einem sozialen
Abstieg: So gehen nur etwa sechs Prozent einer geregelten Arbeit
nach, über 12 Prozent der Obdachlosen leiden an einer Schizophrenie. Betroffene sterben auch im Schnitt 10 bis 15 Jahre früher
als Gesunde und begehen deutlich häufiger Selbstmord. Bei allen Fortschritten der modernen Psychiatrie handelt es sich also
um eine Erkrankung, die noch immer in vielen Fällen zu erheblichen Einschränkungen führen kann.
Sicherlich gibt es eine kleine Subgruppe schwer psychisch
Kranker, bei der ein erhöhtes Risiko für gewalttätiges Verhalten besteht. Bei Tötungsdelikten ist dieses Risiko etwa um den
Faktor 8 erhöht – bei Frauen deutlicher als bei Männern. Diese
Risikoerhöhung ist jedoch wesentlich geringer als jene bei Alkoholismus oder Persönlichkeitsstörungen. Hinzuzufügen ist,
dass diese allgemeinen kriminogenen Faktoren, allen voran eben
Alkohol- und Drogenmissbrauch, einen wesentlichen Beitrag
zu der erwähnten Risikoerhöhung leisten. Auch sollte bedacht
werden, dass bei seltenen Ereignissen – und dazu gehören eben
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schwere Gewaltdelikte psychotischer Patienten – zur Einschätzung der Gefährdung der Öffentlichkeit weniger eine etwaige
Risikoerhöhung um einen bestimmten Faktor von Bedeutung
ist, sondern vielmehr der dieser Gruppe Schwerkranker zu zuschreibende Anteil an der gesamten Kriminalität. Das bedeutet,
dass, gesetzt den Fall, Psychosen würden nicht existieren, die
Zahl der Gewaltdelikte nur um fünf Prozent sinken würde. Darüber hinaus sind die Opfer schwerer Gewaltkriminalität zum
überwiegenden Teil im nächsten Umfeld der Kranken zu finden.
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03.
Vom Stigma der Psychiatrie
Die ersten Zeugnisse über eine öffentliche „Irren-Fürsorge“ in
Hamburg sind aus dem Jahr 1376. In einem Turm der Stadtmauer („cista stolidorum“ oder „custodia fatuorum“) wurden die
Kranken „in Gewahrsam“ genommen und durch einen Hausverwalter „lebenshinreichend“ versorgt. Der Turm hatte vier
Stockwerke; der oberste Stock war den Geisteskranken vorbehalten. Dieser als „Tollkiste“ bezeichnete Bereich war mit Ketten
und Fußblöcken ausgestattet. Zwangssitzen und Zwangsstehen
gehörten damals zum üblichen Behandlungsprogramm.
1607 wurde ein neues Krankenhaus, der „Pesthof“, vor dem
Millerntor gelegen, eingeweiht. Dieses für 700 - 900 Insassen eingerichtete Hospital wurde von der Kirche getragen.
Ab 1679 wurden hier auch die „würklich Tollen“ in einer Art
von verschlossener Koje untergebracht. Diese standen reihenweise in Sälen und hatten lediglich ein handgrosses Loch nach außen.
Die „Narren und Blödsinnigen“ hatten größere Freiheiten.
Der „Pesthof“ hatte einen so guten Ruf, dass auch von außerhalb (gut zahlende) Patienten kamen. Derentwegen wurden ab
1764 keine „bösse Tolle“ - nach heutiger Sicht psychisch kranke
Straftäter - mehr aufgenommen. Diese verblieben im Spinnhaus
- einem Gefängnis. Meist im Keller der Anstalten waren Tischlereien, Schmieden, Druckereien untergebracht. Einmal in der
Woche fanden Gottesdienste statt. 1933 trat dann der Maßregelparagraph in Kraft, der sich auf Gewohnheitsverbrecher, aber
auch auf Geistesgestörte und Homosexuelle erstreckte. Noch
immer umgibt viele Anstalten der Forensik eine beklemmende
Atmosphäre. Unentwegt rasseln die Schlüssel der Wärter. Wer
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es wagt, gegen die Pfleger zu wüten, wird mit Neuroleptika ruhiggestellt. Auf den geschlossenen Stationen sind die Tische und
Stühle am Boden festgeschraubt. Besuchern ist der Zutritt nicht
erlaubt.
1937 wurden die sogenannten Schockbehandlungen eingeführt
(Insulin, Cardiazol) - 80 Betten wurden ausschließlich für diese
Behandlungsform vorgehalten. Neben der Elektrokrampfbehandlung (ab 1938) wurde 1941 die Behandlung mit Pyramidon zur
Auslösung cerebraler Anfälle genutzt. Ob der prozentuale Anstieg
an Todesfällen im Vergleich zu den Aufnahmen damit zu tun hat,
blieb bis heute unklar. Sicher ist, dass die Sterberate mit 14 Prozent aller Aufnahmen ihren Höhepunkt 1941 erreichte und damit
doppelt so hoch lag wie in den Jahren vor Kriegsbeginn.
Viele Patienten gingen über Langenhorn direkt ins Vernichtungslager. Die Rolle der Klinik und ihres ärztlichen Leiters Bürger-Prinz bei „Euthanasie“ und Zwangssterilisation ist bis heute
ebenfalls nicht restlos geklärt. Seine eigenen Aussagen dazu nach
dem Krieg sind unpräzise und zweifelhaft. Die Mortalitätsrate
der Patienten war während des Krieges extrem hoch. Zur Zeit
werden die vorhandenen Unterlagen und Sterbeurkunden untersucht. Es besteht der Verdacht, dass die Tötungen innerhalb
der Klinik stattfanden.
Auf alten Bildern, die an die Historie der Nervenklinik Ochsenzoll erinnern, sieht man in einem der Säle Badewannen, die
zur sogenannten „Hydrotherapie“ verwendet wurden: Dabei saßen Patienten mit Angsterkrankungen in einem 36 Grad warmen
„Dauerbad“ – und zwar ganze Tage. Sie aßen selbst dort, nur
zum Schlafen ging es in ihre Betten im Schlafsaal nebenan. Heute
scheint diese Form der Therapie sehr seltsam, schon lange gibt es
keine großen Schlafsäle und „Dauerbäder“ mehr.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren sie aber ein Zeichen
dafür, wie modern die Nervenklinik geworden war: Die alten
Gebäude, in denen schlimme Zustände geherrscht hatten, wurden abgerissen und der Klinikbetrieb nach Eppendorf verlagert.
Doch trotz aller Reformen innerhalb der letzten 50 Jahre blieb
die Psychiatrie historisch belastet. Immer noch argwöhnen selbst
aufgeklärte Zeitgenossen, in der Psychiatrie würden Patienten
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nur »ruhiggestellt« und nicht behandelt. Selbst manche Ärzte
meiden die Nähe zur Psychiatrie. Als vor zwei Jahren an der
Leipziger Universitätsklinik die psychiatrische und die psychosomatische Abteilung ein gemeinsames Haus beziehen sollten,
verlangte der damalige Leiter der Psychosomatik einen separaten Eingang für seine Patienten. Diesen »leichter« Erkrankten
und ihren Angehörigen sollte nicht zugemutet werden, denselben Zugang wie die Psychiatriepatienten benutzen zu müssen.
„Die Ärzte schimpfen gern über die Stigmatisierung von psychisch Kranken“, sagt Matthias Angermeyer, der den Sondereingang für die Psychosomatik schließlich verhindert hat. „Aber die
sollten sich mal selber an die Nase fassen.“
Die Tür-Affäre ist ein Nachhall aus Zeiten, in denen psychiatrische Kliniken tatsächlich vielerorts finstere Verwahranstalten
waren, Orte unmenschlicher Behandlungsmethoden und nationalsozialistischer Verbrechen. Auch nach dem Krieg dauerte es
noch 30 Jahre, bis die Psychiatrie-Enquete das Fach 1975 im Sinne der Patienten zu retten versuchte und jene große Reform begann, die schließlich 1988 zur Auflösung der düsteren Großpsychiatrien führte. Es war der Beginn einer modernen Psychiatrie.
Psychiatrische Krankheiten sind komplexe Phänomene. So
weisen Patienten mit derselben Störung oft unterschiedliche
Symptome auf – sogar eineiige Zwillinge. Andererseits können
identischen klinischen Anzeichen unter Umständen verschiedene Krankheiten zu Grunde liegen. Um psychiatrische Störungen
in Zukunft zuverlässiger zu diagnostizieren, wollen Ärzte auf so
genannte Biomarker zurückgreifen – beispielsweise die Konzentration bestimmter Stoffe im Blut.
Neue Biomarker für psychiatrische Krankheiten werden zunehmend an Bedeutung gewinnen, nicht nur für die Diagnose
sowie die Auswahl der richtigen Therapie, sondern auch, um
Beginn und Verlauf der Störung, etwaige Verbesserungen sowie
Rückfälle präziser zu erfassen. Bislang sind jedoch meist hochkomplexe Technologien nötig, um molekulare Unterschiede
zwischen Kranken und Gesunden zu bestimmen. Bei großen Patientengruppen lassen sie sich nur schwer anwenden.
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Abhilfe kann hier nur der technische Fortschritt auf mehreren
Fachgebieten schaffen.
Gibt es in Zeiten von Gehirnscans und DNA-Analyse nicht
objektive Untersuchungsmethoden, mit denen man feststellen
kann, ob jemand eine psychiatrische Krankheit hat oder nicht?
Kann die forensische Psychiatrie die Gefährlichkeit von Straftätern sicher prognostizieren und so die Gesellschaft vor ihnen
schützen? Wie kann es sein, dass Homosexualität einst als Geisteskrankheit galt und jetzt nicht mehr?
1968 schickte David Rosenhan im Rahmen eines Experiments
gesunde Probanden in zwölf verschiedene psychiatrische Anstalten, um zu sehen, ob die Psychiater in der Lage wären, diese
von den „echten“ Kranken zu unterscheiden. Keine der Testpersonen wurde von den Psychiatern als gesund erkannt. Später
kündigte Rosenhan an, weitere Pseudopatienten in die Psychiatrien zu schicken. Dies tat er jedoch nicht. Trotzdem waren die
dort beschäftigten Psychiater der festen Überzeugung, sie hätten
einige von Rosenhans Pseudopatienten entlarvt.
Aber das ist fast 50 Jahre her. In den letzten Jahren wurde eine
Reihe von Genen identifiziert, die vermutlich an psychiatrischen
Krankheiten beteiligt sind. Jetzt gilt es herauszufinden, was eine
bestimmte Genvariante beziehungsweise das entsprechende
Protein im Gehirn bewirkt. Dazu müssen aber erst die Mechanismen bekannt sein, über welche die Umwelt und andere nichtgenetische Faktoren die Umsetzung von Genen in Proteine beeinflussen und wie diese unter veränderten Bedingungen variieren.
Besonders wichtig ist dabei die Frage, wie frühkindliche Erfahrungen die Anfälligkeit für psychische Störungen verändern.
Inzwischen sind moderne psychiatrische Behandlungsansätze
durch „multimodale“ Konzepte gekennzeichnet. Demnach sollen alle Lebensbereiche des Patienten in einer Behandlung berücksichtigt werden.
Die wichtigsten Leitsätze moderner psychiatrischer Behandlung lassen sich in folgenden Grundsätzen zusammenfassen:
• Die Grundlage einer psychiatrischen Untersuchung ist das
Gespräch mit dem Patienten, ggf. wird das soziale Netzwerk mit einbezogen.
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• Zur Diagnosestellung sind meistens auch weitere diagnostische Schritte erforderlich: Testpsychologische Untersuchungen sind in Deutschland daher standardisiert.
• Häufig wird die psychiatrische Behandlung noch mit einer
Pharmakotherapie und/oder einer Kurz- oder Langzeittherapie kombiniert. Dabei kann es sich um eine vorübergehende Psychopharmakologische Unterstützung handeln
oder um eine längere Dauerbehandlung zur Verhinderung
weiterer Erkrankungsepisoden.
Zusammengefasst besteht das Konzept aus:
• Diagnostik
• Aufklärung
• Beratung
• medikamentöser Behandlung
• ggf. unterstützenden Gesprächen in Form einer Psychotherapie
Wenn Patienten jedoch erstmal den Schritt gegangen sind und
sich psychiatrisch behandeln lassen, dann sind viele doch recht
positiv überrascht, dass eine Psychiatrie nichts mit all den Vorurteilen zu tun hat, die sie mitbringen. Wobei einzuräumen ist,
dass es auch in der Allgemeinpsychiatrie Patienten gibt, die dort
gesetzlich untergebracht und somit gegen ihren Willen dort sind.
Dies geschieht immer dann, wenn Patienten aufgrund einer akuten Erkrankung für sich oder aber für andere eine körperliche
Gefahr darstellen. Und hier bewegt sich noch vieles im tiefgrauen Bereich.
Insbesondere, wenn sich Verantwortliche im psychiatrischen
System mit den Strafgerichten verbünden, haben Patienten oft
wenig Chancen, ihre Rechte konsequent wahrzunehmen. In keinem Bereich zeigt sich das Problem so zugespitzt wie im Maßregelrecht. Denn in ihm wirken psychiatrischer Zwang und Strafrecht verstärkend zusammen.
Stellvertretend für viele dokumentiert das der Fall des Gustl
Mollath, der auf Betreiben seiner Frau in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wurde.
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Der jahrelange Umgang mit dem kürzlich frei gesprochenen
Gustl Mollath war nichts anderes als eine rechtlich bemäntelte
Variante von „Verschwinden-Lassen“ im bayrischen Maßregelvollzug. Haarsträubende Ermittlungsfehler, eine widersinnige
Rechtsprechung am Rande der Rechtsbeugung, die unkontrollierte Macht psychiatrischer Gutachter mit ihren Fern-, Blindund Falschdiagnosen waren die Bestandteile eines rechtswidrigen und grundrechtsverletzenden Machtgebarens. Angesichts
der schicksalhaften Entscheidungen zulasten Gustl Mollaths ist
das für einen Rechtsstaat ein nicht hinnehmbarer Befund.
„Parapsychiatrie“ heißt das jüngste Buch des Psychiaters und
emeritierten Chefarztes Jakob Bösch. Ein provozierender Titel,
weil die Assoziationen dazu eher weit weg weisen von dem, was
heutzutage in der Psychiatrie als fortschrittlich und modern gilt.
An Geister denkt man da, an Spukgeschichten, doch eher nicht
an aufgeklärtes Denken oder gar eine solche Medizin. Passend
aber in einer Zeit, da der höchste Krankenstand laut Krankenkassen nicht mehr ausgelöst ist durch Infektionskrankheiten der
Atemwege oder Rückenbeschwerden, sondern durch – Depressionen. An Depressionen und Angsterkrankungen leidet inzwischen jeder fünfte Erwachsene, Tendenz steigend.
Die Kritik an der klassischen Psychiatrie richtet sich hauptsächlich gegen Diagnosen bei der Schizophrenie, mit der ein Großteil
der Patienten in psychiatrischen Kliniken diagnostiziert werden.
Ein weiterer wichtiger Kritikpunkt ist mangelnde Aufarbeitung
der Psychiatriegeschichte, insbesondere die Verbrechen in totalitären Regimen wie dem Nationalsozialismus. Dies ist hauptsächlich in Deutschland ein wichtiges Thema, da die Tötung
psychisch Kranker und die Sterilisation nach dem Zweiten Weltkrieg nicht genügend aufgearbeitet worden sei.
Und dann ist da noch die tägliche Katastrophe. Gemeint ist der
Zusammenbruch der ambulanten Versorgung schwer psychisch
kranker Menschen. Vor 30 Jahren bekam ein schwer depressiver
Patient in drei Tagen einen ambulanten Termin. Heute dauert
das drei Monate. Hinter diesen nüchternen Zahlen verbergen
sich menschliche Tragödien. Denn wer wirklich problemlos drei
Monate auf eine Behandlung warten könnte, wäre nicht wirklich
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krank. So aber schleppen sich dringend behandlungsbedürftige
Menschen wochenlang dahin und betteln um einen Therapietermin. Das Ergebnis dieses unwürdigen Zustands sind verzweifelte Patienten, entmutigte Angehörige und Psychiater, die resigniert haben. Eine Lösung ist nicht in Sicht. Warum interessiert
das offenbar niemanden?
Die PsychologInnen und Psychiater sind gerade in ländlichen
Regionen bis auf 2 Jahre ausgebucht, Beratungsstellen können
zwar versuchen zu überbrücken, stossen jedoch oftmals an die
Grenze des Leistbaren. Überdies ist der Zustand der Schulpsychologie katastrophal. Die in den 70er Jahren geforderte Quote
von 5000 Schülerinnen pro Schulpsychologin ist bis heute nicht
erfüllt, in einigen Ländern liegt sie bei 16000 Schülerinnen pro
Psychologe/-In.
Nach der Psychiatrie-Enquete 1975 ging es psychisch Kranken in Deutschland besser. Begleitet von einer lebhaften gesellschaftlichen Diskussion, machten die Pioniere der Sozialpsychiatrie aus psychiatrischen Anstalten moderne Krankenhäuser,
lösten die Wachsäle auf, öffneten die Stationen, sorgten dafür,
dass psychisch Kranke in die Gemeinden zurückkehren konnten
und ihnen auch Psychotherapie zugute kam. Es wurde ein Netz
komplementärer Hilfe geknüpft aus betreutem Wohnen, Behindertenwerkstätten, Kontakt- und Beratungsstellen. Es gab mehr
ambulant tätige Psychiater, die gleichzeitig Psychotherapeuten
wurden und die ambulante Versorgung der Patienten übernahmen, die nun nicht mehr in Großinstitutionen verwahrt wurden.
Wie aber konnte es zur Krise in Deutschland kommen? Ein
Grund war die absurde, weil weltweit einmalige (ideologische)
Teilung der Behandlung von psychisch Kranken in zwei Bereiche. Diese begann harmlos. Erst gab es den ärztlichen Zusatztitel „Psychotherapie“, dann erfand man – neben dem Facharzt
für Psychiatrie und Psychotherapie – den Facharzt für psychotherapeutische Medizin, der sich weniger um schwer psychisch
Kranke kümmerte. Daraus zog man die Konsequenz, dass man
dafür dann auch entsprechende Ausbildungsstätten brauche.
So entstanden zuhauf „psychotherapeutische“ oder „psychosomatische“ Kliniken, die keine Pflichtversorgung übernahmen
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und sich daher die Patienten aussuchen konnten. Solche Kliniken werben inzwischen damit, bei ihnen gebe es keine psychiatrischen Belegungen. Woher dann aber die Patienten nehmen,
wenn die wirklich Kranken nicht erwünscht sind?
Da kommt der Trend gerade recht, für alle Tragödien des
Lebens Psychoexperten zu Rate zu ziehen. Gerade jetzt (in der
nachideologischen Zeit) suchen immer mehr Menschen Orientierung und Lebenshilfe, die sie sich von der Psychologie erhoffen. Diese Tendenz wird zusätzlich von medialen Psychowellen
angetrieben, deren wirksamste in den vergangenen Jahren die
„Burn-out“-Welle war. Das hat den Therapiebedarf in den vergangenen Jahren anschwellen lassen. Und psychotherapeutische
oder psychosomatische Kliniken und niedergelassene Psychotherapeuten (die Schwerkranke ausschließen dürfen!) öffnen die
Tür für die Behandlung von „Gesunden“.
Ist es also nur negativ bestellt mit den psychiatrischen Kliniken
hierzulande und der Versorgung der Betroffenen?
Eine nicht repräsentative Online-Umfrage der Stiftung Warentest aus dem Jahr 2011 mit knapp 4000 Teilnehmern hat untersucht, wie viele Menschen mit seelischen Problemen eine Psychotherapie beginnen – und welche Erfahrungen sie mit der
Therapie gemacht haben. Die Ergebnisse zeigen deutlich: Vielen
hat die Therapie gut oder sehr gut geholfen. Ihr seelisches Leiden hat erheblich abgenommen und ihre Schwierigkeiten im Alltag sind geringer geworden.
Zu Beginn der Therapie hatten etwas mehr als drei Viertel der
Befragten „große“ oder „sehr große“ seelische Probleme.
Nach Abschluss der Therapie gaben dagegen 57 Prozent an,
dass ihre seelischen Belastungen jetzt „gering“ bis „sehr gering“
seien. 29 Prozent berichteten noch über „mäßige“ seelische Belastungen.
Positiv auch, dass die meisten Patienten ihre Therapie erfolgreich zu Ende führten: 80 Prozent der Befragten blieben bis zum
Abschluss in der Therapie, nur 20 Prozent brachen die Behandlung vorzeitig ab.
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