Die zunehmende Entmenschlichung der Bildung

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Die zunehmende Entmenschlichung der „Bildung“
oder die humanistischen Defizite „moderner“ Bildungsdefinition
„Bildung“ ist immer noch eine der häufigsten Vokabeln, wenn über Schule geschrieben oder
gesprochen wird, insbesondere wenn Weichen für diese „Bildung“ gestellt werden müssen,
dazu Beschlüsse gefasst oder Gesetze beschlossen werden. Dass es trotz häufigen Gebrauchs
dabei zu einer schleichend zunehmenden Entmenschlichung des Begiffes „Bildung“
gekommen ist, wird zwar kaum bemerkt, aber die Tatsache ist deshalb nicht weniger
bedrückend, der Verlust für Mensch und Gesellschaft ganz grundsätzlich, für Schule und
Schüler/innen im besonderen nicht weniger groß.
Man verwendet das Wort „Bildung“ zwar so, als wäre es immer noch in einem humanistisch
umfassenden Bildungsverständnis gemeint, tatsächlich aber wird mit Bildung zunehmend
bloß Ausbildung verstanden. Bildung meint immer weniger den ganzen Menschen, sondern
beschränkt sich immer mehr auf bloße Vermittlung bzw. Aneignung von Fähigkeiten oder
sagen wir besser Fertigkeiten, zum Beispiel: möglichst schnell und richtig lesen, rechnen und
schreiben können… Dass der Erwerb bzw. die sichere Beherrschung der Kulturtechniken eine
wichtige Voraussetzung für Bildung ist, steht außer Zweifel. Aber da fehlt doch noch etwas,
was Lesen, Rechnen und Schreiben erst in einen tatsächlichen Bildungshorizont stellt: die
Fragen, was wir lesen, wie wir das Gelesene verarbeiten, was das Gelesene bewirkt oder
bewirken soll, was mit all dem Berechneten und Errechneten geschehen soll, worüber und für
wen und wozu wir schreiben, was mit dem Menschen, im Menschen passiert, der sich diese
Fertigkeiten mehr oder weniger gut angeeignet hat. Die Person, die da liest, rechnet oder
schreibt, wird nicht mehr in ihrer Eigenständigkeit oder Ganzheit gesehen bzw. nur insofern,
als sie nutzbar gemacht werden soll, zur „Wertschöpfung“ beizutragen und das Bruttonationalprodukt zu erhöhen. Eigentlich doch ein unmenschlicher Gedanke, wenn der/die
Einzelne fast nur mehr in seiner/ihrer wirtschaftlichen Verwertbarkeit aufgrund seiner/ihrer
Kenntnisse und Fertigkeiten gesehen wird. Er/sie selber, als Individuum, ist fast
nebensächlich. Fertigkeiten werden isoliert in den Vordergrund der Bildungsbemühungen der
Industrieländer gestellt, sodass der Mensch als Person aus dieser Bildungsperspektive kaum
mehr Bedeutung hat und seine persönliche Befindlichkeit und seine großen Fragen,
Hoffnungen und Sehnsüchte, aber auch Nöte und Ängste fast belanglos, zumindest zur
Nebensache werden.
Der „alte Brockhaus“ versteht unter Bildung den „Vorgang geistiger Formung, die innere
Gestalt, zu der der Mensch gelangen kann, wenn er seine Anlagen an den geistigen Gehalten
der Lebenswelt entwickelt.“ Weiters definiert er, dass nicht gebildet ist, „wer nur Kenntnisse
und Praktiken beherrscht, sondern wer durch sein Können und Wissen teilhat am geistigen
Leben, wer das Wertvolle erfasst, Sinn für Würde…, Ehrfurcht… und Urteil erworben hat.“
Würde man Bildung wirklich so gesamtmenschlich und persönlich verstehen, dann wäre klar,
dass schneller lesen, rechnen und schreiben ebenso wenig isoliert bewertet werden darf wie
die Tatsache, dass der Zug, in dem man sitzt, bloß schneller fährt. Die Frage, wohin der Zug
fährt, wohin unser „Bildungssystem“ führt, scheint aber tatsächlich weniger wichtig zu sein
als die Geschwindigkeit, ganz nach dem Motto „Hauptsache, man ist schneller dort“, schließlich sieht man sich im Wettstreit, wird verglichen, scheint man in einem Ranking auf. Diese
Rankings haben ja zu empfindlichen bildungspolitischen Fehlzündungen und Panikreaktionen
geführt. Wohin die Reise = Bildung führt, ist zur Nebensache geworden, Hauptsache ist, im
Ranking evaluierender Studien vor den Konkurrenten zu sein. Seit Jahren verspüren wir in
Sachen Schulbildung einen massiven EU-Druck. Wir liegen im EU-Ranking zu weit hinten,
dem muss Abhilfe geschaffen werden, koste es, was es wolle, ausgenommen Geld.
© Josef GREDLER, Fachinspektor für Kath. Religionsunterricht an Volks- u. Hauptschulen der Diözese Innsbruck
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Wie haben wir hierzulande nach Pisa doch neidvoll nach Finnland geschielt, weil die
Schüler/innen dort in „Lesen, Rechnen, Schreiben besser“ waren oder sind. Dass eine andere
Studie nachgewiesen hat, dass finnische Schüler/innen im Vergleich mit ihren europäischen
Nachbarn unter jenen Ländern rangieren, die am unliebsten in die Schule gehen, hat vergleichsweise kaum interessiert, wurde nicht wahrgenommen. Dass Finnlands Familien instabiler sind als die Familien in den meisten anderen europäischen Ländern, was zählt das
schon? Dass das Alkoholproblem in Finnland (noch) größer ist als in den meisten
europäischen Ländern, wen kümmert das? Südkoreas Schulsystem zum Beispiel rangiert im
globalen Vergleich ganz vorne. Wir sollten trotzdem nicht vor Neid erblassen. Südkorea hat
sein „erfolgreiches“ Schulsystem, in dem Kinder allerdings nicht mehr Kinder sein dürfen,
aus Japan importiert und Japan hat - mit Verlaub – wirklich eine unmenschliche Schule, in der
Kinder mehr als Maschinen gesehen werden, die man auf Touren bringen muss, damit man
wirtschaftlich weiterhin die zweitgrößte Industrienation bleibt. Und eine Maschine muss
einfach optimal funktionieren, d.h. möglichst lang, möglichst schnell, möglichst Kosten
sparend sich drehen. Aber in keinem anderen Land ist die Suizidrate bei Schüler/innen höher
als in Japan. Soweit ein bedrückendes Beispiel zur Entmenschlichung der Bildung bzw.
dessen, was man dafür hält. Aber was zählt schon die Lebensfreude von Schüler/innen,
solange das Bruttonationalprodukt stimmt. Da ist doch diesen Schnelllesern, Schnellrechnern,
Rechtschreibern und Vielwissern ein fataler Fehler unterlaufen: Sie verwechseln Menschen
mit Maschinen. Eine Maschine läuft, bis sie kaputt ist, und dann wird sie repariert, wenn es
sich lohnt, oder sie wird gleich entsorgt und durch eine neue, wahrscheinlich noch „bessere“ =
leistungsfähigere ersetzt.
Nichts darf sich Bildung nennen, was Schüler/innen, die zu Bildenden also, nicht in ihrer
Ganzheit, als Person sieht, letztlich auch in ihrer Transzendenz versteht. Die großen Fragen,
bei denen wir immer mehr anstehen, sind nicht unter Missachtung der Transzendenz zu lösen.
Der Verlust der Transzendenz und die dadurch bedingte Verkürzung bzw. Verkümmerung des
Bildungsbegriffes führt dazu, dass uns die möglichen Lösungsansätze für die großen Fragen
und Probleme, vor denen wir stehen und die auf uns zukommen, fehlen. Dem 212 v. Chr. bei
der Eroberung von Syrakus durch die Römer ums Leben gekommenen Archimedes, einem der
größten Mathematiker des Altertums, wird der gewichtige Satz zugeschrieben: „Gebt mir
einen Punkt und ich hebe die Welt aus den Angeln.“ Das ist letztendlich weniger eine physikalische als eine philosophische Erkenntnis. Dieser notwendige Anhaltspunkt war für Archimedes nicht innerhalb der für ihn bekannten Welt zu finden. Um die Welt aus den Angeln zu
heben, um die ganz großen Probleme zu lösen, muss man bei einem Punkt ansetzen, der sich
außerhalb dieser Welt befindet. Womit wir ja wieder bei der Transzendenz wären.
Um zum oben erwähnten Bild zurückzukehren: Wir sitzen im Zug und fahren in die Zukunft,
die schon altersbedingt mehr die Zukunft der Schüler/innen als ihrer Lehrer/innen ist. Die
Geschwindigkeit des Zuges ist für diese Reise in die Zukunft weniger entscheidend als seine
Richtung. Die Frage der Richtung bzw. des Zieles muss die zentrale Frage jedweder Bildung,
auch der Schulbildung sein. Was wir heute gerne als Bildungsinhalte bezeichnen, um uns
dann in einer inhaltlichen Diskussion zu wähnen, sind oft nur verdeckte „Geschwindigkeitsdiskussionen“, materialistische Quantitätsdebatten, in die wir uns so sehr verrannt haben,
dass wir gar nicht merken, dass es nicht mehr wirklich um Frage geht „wohin soll’s denn
gehen mit uns auf dieser Welt?“
Josef Gredler
© Josef GREDLER, Fachinspektor für Kath. Religionsunterricht an Volks- u. Hauptschulen der Diözese Innsbruck
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