(Artikel in Süddeutsche Zeitung, Mittwoch, 25.02.2009) Evolution ist überall Mit Darwin gegen den Determinismus von Oswald Schwemmer, Humboldt-Universität zu Berlin Die Diskussion um die menschliche Freiheit schlägt hohe Wellen. Auf der einen Seite finden wir die unverbrüchlich an die Freiheit Glaubenden, auf der anderen Seite die Deterministen. Auf der einen Seite hören wir den Hinweis auf unsere Erfahrung, auf der anderen Seite die Berufung auf die Gesetze der Wissenschaften. „Alles, was geschieht – sei es in unserem Gehirn oder in einem weit entfernten Spiralnebel – hat eine Ursache. Gleiche Ursachen – gleiche Wirkungen.“ So etwa könnte man die „wissenschaftliche“ Weltsicht des Determinismus charakterisieren. So argumentieren z. B. die Neurobiologen. Und Darwin? Darwin spricht mit großer Selbstverständlichkeit (in: „Die Abstammung des Menschen“) von „Tätigkeiten, welche mit Hilfe des freien Willens ausgeführt werden“ und von der „freien Intelligenz“. Und er würde noch einen Schritt weitergehen und den Determinismus schon für das Verhalten der Tiere ablehnen. Zur Begründung führt er die Beobachtungen an, die er selbst oder seine Zeugen angestellt haben. Und noch einen Schritt weiter: Wie kann es eine Evolution geben, wenn gleiche Ursachen immer gleiche Wirkungen haben? Wie kann Neues entstehen und insbesondere Neues von höherer Komplexität? Unsere Deterministen haben solche Fragen bisher nicht beeindruckt. Mit dem Hinweis auf das mangelnde Wissen, das – wie wir wiederum wissen – niemals überwunden werden kann, kann man, so scheint es, alle Gegenargumente abwehren: Wüssten wir alles über den jetzigen Weltzustand, könnten wir den nächsten voraussagen. Da wir dies aber nicht wissen, kann man – so scheint es – den Determinismus weder beweisen noch widerlegen. Was soll man dann also, so könnte man resigniert feststellen, überhaupt noch Oswald Schwemmer, Darwin und der Determinismus weiter diskutieren. Scheint doch jede Diskussion über den Determinismus in einem hoffnungslosen Patt zu enden. Tatsächlich kann man aber einen anderen Gedankenweg gehen, der die Pauschalfassungen deterministischer Argumente und Gegenargumente auf ihre Details hin untersucht. Mit dem Blick auf die Evolution – und zwar im weitesten Sinne einer kosmischen, terrestrischen, organischen, psychischen, sozialen und kulturellen Evolution – haben Philosophen wie Henri Bergson und Alfred North Whitehead die „schöpferische Entwicklung“ unserer Welt zu begreifen versucht. Ihr Ehrgeiz war es, nicht erst – wie Darwin – die Selektion, sondern schon die – für Darwin zufällige und nicht erklärungsbedürftige – Mutation als ein sich selbst strukturierendes Ereignis zu verstehen. Dabei ging es keinesfalls um eine innere Zweckgerichtetheit wie bei der „Entelechie“ von Hans Driesch. Es ging – um es der Sprache der Systemtheorie anzunähern – um das Verständnis einer Mutation als einen Systembildungsprozess, um eine immanente Strukturierung, in der sich ein neues System bildet. Ein Beispiel für diese Selbststrukturierung bietet das Auge. Finden wir doch Prinzipien und Funktionen des Auges in vielen und voneinander unabhängigen Zweigen der Evolution. So ist das Menschenauge keine evolutionäre Fortentwicklung des Insektenauges. Die im Auge realisierten Funktionszusammenhänge der visuellen Orientierung haben sich in der Entwicklung dieser Orientierung sozusagen ergeben – und zwar immer wieder ergeben. Was überhaupt sich ergibt, was also wie auch immer realisiert wird, sei es als Veränderung des bereits Bestehenden (Mutation), sei es als Verstetigung des Realisierten (Selektion), lässt sich als eine Systembildung beschreiben – und zwar näherhin, wie vor allem Ludwig von Bertalanffy gezeigt hat, als Bildung eines „offenen Systems“. Ein offenes System bildet seine immanenten Strukturen im Austausch mit seiner Umwelt aus. Alle Organismen – alles, was überhaupt lebt – sind offene Systeme, die im Austausch mit ihrer Umwelt stehen. Sie benötigen Nahrung, manchmal Wärme, manchmal Kälte, manchmal Licht, manchmal Dunkel usw. Leben in der Isolation auf sich selbst ist nicht möglich. Leben kann sich nicht in isolierten geschlossenen Systemen realisieren. 2 Oswald Schwemmer, Darwin und der Determinismus Eben dies aber – isolierte geschlossene Systeme – müsste der Determinist voraussetzen. Sein Paradebeispiel ist die klassische Mechanik und deren Gesetze, z. B. die historisch so wichtigen Fallgesetze Galileis. Ein Gesetz wäre dann erkennbar, wenn ein Ablauf sich immer wieder ereignete und damit jeweils als Fall dieses Gesetzes verstehen ließe. Tatsächlich lässt sich ein solcher Ablauf aber nur unter genau definierbaren Bedingungen reproduzieren. Wir müssen ihn gleichsam aus der Welt heraus isolieren, damit keine unerwarteten oder unkontrollierbaren Einflüsse – wie die Reibung zwischen den Kugeln und Fallrinnen bei Galilei – auf ihn einwirken können. Wir tun dies gewöhnlich durch den Bau von Laboren, von im wörtlichen Sinne abgedichteten Räumen, in denen die immer gleichen Bedingungen hergestellt werden können. Eben dies geschieht, wie Ernst Cassirer formuliert, im „physikalische[n] Experiment, das die eigentliche und einzig legitime Grundlage aller Gesetzesaussagen ist.“ Die Erfolgsgeschichte der klassischen Mechanik verdankt sich eben dieser Konstruktion und ihrer auch alltagstechnischen Realisierung. Von den Verbrennungsmotoren bis zu unseren Kühlaggregaten begegnen wir in unserem Alltag solchen „Laboren“, sozusagen alltäglichen Gebrauchslaboren nahezu überall. Und damit sehen wir: Alle Verlaufsgesetze, die wir kennen, gelten nur unter bestimmten Bedingungen: den bestimmten Umgebungseinflüssen bzw., wie man fachlich zu sagen pflegt, unter bestimmten Randbedingungen. Wenn die Temperatur, der Luftdruck usw. zu hoch oder zu niedrig sind, lassen sich bestimmte Abläufe nicht mehr herstellen. Und damit kehren wir zurück zu Darwin, zu Mutationen und Selektion. In organischen Systemen dagegen finden wir interne Veränderungen, die aus sich heraus bzw. in sich selbst, also in ihrer inneren Gliederung Neues und vielfach Unerwartetes oder Unkontrollierbares hervorbringen. All dies geschieht im ständigen und vielfältigen Austausch mit der Umwelt. Ob Mutation, ob Selektion – die Innenwelten des Lebendigen bauen sich auf aus und in ihren Umwelten. Dieser Aufbau verläuft nicht ohne Gesetze. Aber diese Gesetze ergeben sich erst in den Mutationen und ihrer Selektion. Mit Darwin gesprochen: Sie ergeben sich in der „natürlichen Zuchtwahl“. Anders gesagt: Erst dadurch, dass sich bestimmte Strukturen herausbilden und als existenzfähig erweisen, 3 Oswald Schwemmer, Darwin und der Determinismus entwickeln sich auch neue Zusammenhänge oder „Gesetze“ zwischen diesen Strukturen. Nicht schon die Ausgangssituation einer solchen Entwicklung bestimmt in gesetzmäßiger Weise über den Ablauf dieser Entwicklung, sondern eben diese Entwicklung selbst. Eben dies meint letztlich Evolution. Die Evolution ist ein allgegenwärtiger Prozess, der – im Sinne dieser umweltbezogenen Selbststrukturierung – überall dort zu finden ist, wo überhaupt etwas geschieht: also tatsächlich überall. Zur Verdeutlichung ein Beispiel, das eher in Physik als in die Lebenswissenschaften gehört: das Beispiel das übende Spielen eines Saitenoder Blasinstrumentes. Wenn aus dem kratzenden Geräuschen auf der Geige oder dem pfeifenden und rauschenden Lärm der Flöte ein klingender Ton wird, hat sich eine akustisch wahrnehmbare Struktur, ein Formverhältnis herausgebildet, das sich in diesem Falle sogar mathematisch beschreiben lässt: Erst wenn die Schwingungsereignisse sich in einer periodischen Ordnung aufeinander beziehen, haben wir es nicht nur mit Geräuschen oder einem ungeordneten und nur noch in seiner Intensität identifizierbaren Rauschen zu tun. Wir hören vielmehr einen Ton, den wir in seiner Höhe und Lautstärke identifizieren können. (Tatsächlich kommt noch die Klangfarbe und anderes hinzu, um einen Ton im üblichen Sinne hören zu können.) Töne im Unterschied zu Geräuschen bringen unser Hören in eine innere Ordnung. Sie schaffen Resonanzverhältnisse, die sich selber strukturieren und den Ton – zumindest eine Zeitlang – weiterklingen lassen. Man kann dieses Beispiel verallgemeinern auf Evolutionsprozesse überhaupt. Die Entstehung eines Neuen – einer anders und womöglich komplexer organisierten Struktur – ergibt sich nicht schon aus den Anfangsbedingungen des entsprechenden Verlaufs, sondern erst in dem Verlauf selbst: in einem Verlauf, der sich metaphorisch als ein Resonanzverhältnis zwischen seiner eigenen Organisation und den jeweiligen Umgebungsverhältnissen beschreiben lässt. Und so, wie Resonanz als ein sich selbst erzeugendes Dauern, als eine Art Selbstverstetigung des Tönens und Klingens verstanden werden kann, so bilden die und nur die in unserer Welt sich bildenden Strukturen ein Neues, die sich aufgrund ihres 4 Oswald Schwemmer, Darwin und der Determinismus Selbstverstetigungspotentials erhalten – und damit auch in die Umgebungsfelder für die übrigen Weltverläufe eingehen. In einem Bild gefasst: Die Wirklichkeit unserer Welt ist zu denken als ein vielfach ineinander verschränktes Geschehen, in dem winzige Veränderungen die Möglichkeit zu neuen Entwicklungen enthalten und auf der anderen Seite umfassende Verstetigungen gleichwohl zu Veränderungen im Ganzen der Verhältnisse führen können. Wir leben daher nicht in einem ein für allemal durch seine Strukturen determinierten Universum, sondern in einer Welt, in der sich auch neue Strukturen herausbilden und damit neue Strukturgesetze. Oder anders gesagt: Unser Universum ist als ein evolutionäres Geschehen in vielfältigsten Dimensionen und Feldern zu verstehen – und damit als ein Geschehen, das Darwin mit seiner Theorie über die Entstehung der Arten paradigmatisch dargestellt hat, das aber in allen Bereichen unserer Wirklichkeit – und damit als Forschungsthema nicht nur für die Lebenswissenschaften, sondern auch für die anderen Wissenschaften: für die Naturwissenschaften insgesamt und schließlich auch für die Geistes- und Sozialwissenschaften – weiter entwickelt werden kann. Eine Voraussetzung für solche Fortentwicklungen besteht aber darin, die Denkfesseln des Determinismus abzustreifen und sich auf die Untersuchung der Prozesse, in denen Neues entsteht, einzulassen. 5