Musiktherapie bei Grundschulkindern mit Bindungsdesorganisation

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Zürcher Hochschule der Künste
in Kooperation mit der
Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik
MAS Klinische Musiktherapie
Musiktherapie bei Grundschulkindern
mit Bindungsdesorganisation und
Bindungsstörung
Theoriearbeit zur Erlangung des Titels Master of Advanced Studies
Klinische Musiktherapie
Vorgelegt von Martina Reinle
Mentorin: Dr. sc. mus. Sandra Lutz Hochreutener
Beidendorf, Mai 2016
Abstract
Basierend auf bindungstheoretischen Grundannahmen und Konzepten werden in dieser
Arbeit Ursachen und Zusammenhänge aufgezeigt, welche die Entwicklung eines desorganisierten Bindungsmodells bzw. einer Bindungsstörung bedingen. Es werden mögliche Auswirkungen auf die spätere Entwicklung des Kindes und auf die Bewältigung
von Entwicklungsaufgaben beschrieben.
Die Arbeit untersucht, ob Musiktherapie Kinder mit Bindungsdesorganisation und
Bindungsstörung in der Entwicklung eines neuen Bindungsverhaltens unterstützen
kann. Dabei werden anhand zweier Fallbeispiele die Therapieprozesse mit Grundschulkindern mittels einer Fokussierung auf bindungsrelevante Momente auf eine Veränderung im Bindungsverhalten untersucht. Weiter wird die musiktherapeutische
Methodik anhand ihrer musiktherapeutischen Funktionen auf ihre Eignung und Wirksamkeit überprüft und psychotherapeutischen Behandlungsansätzen gegenübergestellt.
Aus den Ergebnissen aus Theorie und Praxis wird abgeleitet, dass Musiktherapie
Grundschulkinder mit Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung in der Entwicklung eines neuen Bindungsverhaltens zumindest teilweise unterstützen kann. Als für
den Behandlungserfolg entscheidend wird eine konstruktive Zusammenarbeit mit den
Eltern, wenn nicht sogar eine begleitende Psychotherapie der Eltern angesehen.
Keywords
Bindungsdesorganisation, Bindungsstörung, Kontinuität und Diskontinuität von Bindung, Diagnostik der Bindungsqualität im Grundschulalter, Bindungsverhalten, Musiktherapie, musiktherapeutische Methodik bei Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung
Thesis title:
Music therapy for primary school children with attachment disorganization and
attachment disorder
Abstract
Based on fundamental assumptions and concepts of attachment theory, this thesis
demonstrates the causes and related factors underlying the development of a disorganized attachment model or attachment disorder. The effects on the child’s later development and on delayed milestones will be described.
The thesis investigates the question of whether music therapy can help children with
attachment disorganization and attachment disorder to develop new attachment behavior. Two case studies analyze the therapeutic process in primary school children by
focusing on critical periods of attachment that affect attachment behavior. Furthermore,
the appropriateness and therapeutic effectiveness of music therapy methods are tested
and compared with psychotherapeutic approaches to treatment.
Results from theory and practice show that music therapy can provide at least some
help for primary school children with attachment disorganization and attachment disorder in developing new attachment behavior. Successful treatment depends on constructive collaboration with parents, possibly in conjunction with parental psychotherapy.
Keywords
Attachment disorganization, attachment disorder, continuity and discontinuity of attachment, diagnostic assessment of attachment quality at primary school age, attachment behaviors, music therapy, music therapy methods in attachment disorganization
and attachment disorder
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung ............................................................................................................. 1 2 Bindungstheoretische Grundannahmen und Konzepte ......................................... 5 2.1 Historische Grundlagen der Bindungstheorie ................................................................................ 5 2.2 Definition von Bindung und Bindungstheorie ................................................................................ 6 2.3 Das Bindungssystem .................................................................................................................................. 6 2.4 Feinfühligkeit und Bindungsqualität .................................................................................................. 7 2.5 Hierarchie der Bindungspersonen ....................................................................................................... 8 2.6 Bindungsrepräsentation .......................................................................................................................... 9 2.7 Explorations-­‐ und Bindungssystem ................................................................................................. 10 2.8 Sichere Bindung als Schutzfaktor ...................................................................................................... 10 3 Klassifikation der Bindungsqualität des Kindes ................................................... 12 3.1 Sichere Bindung ........................................................................................................................................ 12 3.2 Unsicher-­‐vermeidende Bindung ........................................................................................................ 13 3.3 Unsicher-­‐ambivalente Bindung .......................................................................................................... 13 3.4 Desorganisierte Bindung ...................................................................................................................... 14 3.4.1 Bindungsdesorganisation und Aufmerksamkeits-­‐ und Hyperaktivitätsstörung ...... 15 3.4.2 Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung ................................................................... 15 4 Bindungsstörungen ............................................................................................ 17 4.1 Theorie der Bindungsstörung ............................................................................................................. 17 4.2 Definition von Bindungsstörung nach ICD-­‐10 ............................................................................. 18 5 Bindung und Trauma .......................................................................................... 20 5.1 Beziehungsabhängige Traumata und ihre Bedeutung ............................................................. 20 5.2 Bindungsdesorganisation und Affektregulation ......................................................................... 21 5.2.1 Verhaltens-­‐ und Emotionsregulation bei Bindungsdesorganisation ............................ 21 5.2.2 Psychobiologische Regulation in der Eltern-­‐Kind-­‐Beziehung .......................................... 22 5.2.3 Affektregulation und Trauma ......................................................................................................... 22 5.3 Bindungsdesorganisation als Indikator für traumatische Eltern-­‐Kind-­‐Beziehungen 23 6 Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung bei Kindern im Grundschulalter 24 6.1 Bindung im Grundschulalter ............................................................................................................... 24 6.2 Entwicklungsaufgaben und psychische Sicherheit bei Kindern im Grundschulalter . 25 6.3 Psychische Sicherheit und Eltern-­‐Kind-­‐Bindung in der mittleren Kindheit .................. 26 6.4 Auswirkungen von Bindungsdesorganisation auf die Entwicklung und auf das Lernverhalten ........................................................................................................................................................ 27 6.5 Kontinuität und Diskontinuität von Bindung ............................................................................... 28 6.6 Diagnostik der Bindungsqualität im Grundschulalter – der Separation Anxiety Test (SAT) .......................................................................................................................................................................... 30 6.6.1 Sprachmuster von Kindern mit organisierten Bindungsstrategien ............................... 31 6.6.2 Sprachmuster von Kindern mit einer desorganisierten Bindungsstrategie ............... 32 7 Psychotherapeutische Ansätze bei Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung ...................................................................................................... 34 7.1 Die Bedeutung der therapeutischen Beziehung ......................................................................... 34 7.2 Bindungsbasierte Psychotherapie mit Kindern .......................................................................... 36 7.2.1 Begleitende Psychotherapie der Eltern ...................................................................................... 38 7.2.2 Bindungsbasierte Psychotherapie bei Desorganisation und Trauma ........................... 39 8 Musiktherapie bei Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung .................... 41 8.1 Das therapeutische Potential der Musik ........................................................................................ 41 8.2 Indikation und Kontraindikation Musiktherapie bei Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung .................................................................................................................................................. 42 8.3 Musiktherapeutische Methodik bei Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung
43 8.3.1 Einführung in die musiktherapeutische Methodik ................................................................ 43 8.3.2 Therapeutische Funktionen der Musik und Interventionen bei Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung .................................................................................. 45 9 Musiktherapie bei Grundschulkindern mit Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung – Fallbeispiele ............................................................................... 55 9.1 Fragestellungen und Hypothesenbildung ..................................................................................... 55 9.2 Untersuchungsdesign ............................................................................................................................. 56 9.2.1 Forschungsmethodik .......................................................................................................................... 56 9.2.2 Setting ....................................................................................................................................................... 59 9.3 Fallbeispiel Sascha ................................................................................................................................... 60 9.3.1 Anamnese ................................................................................................................................................. 61 9.3.2 Bindungsmuster und ermittelte Testergebnisse nach SAT (Diagnostik der Bindungsqualität im Grundschulalter) ...................................................................................................... 61 9.3.3 Therapieverlauf Sascha ..................................................................................................................... 62 9.3.4 Beurteilung des Behandlungsverlaufs ........................................................................................ 78 9.3.5 Im Therapieverlauf aufgetretene Funktionen der Musik ................................................... 79 9.3.6 Fremdbeurteilung Mutter ................................................................................................................ 80 9.3.7 Fremdbeurteilung Lehrer ................................................................................................................. 81 9.3.8 Reflexion zu den Fremdbeurteilungen ........................................................................................ 81 9.4 Fallbeispiel Yasmine ............................................................................................................................... 82 9.4.1 Anamnese ................................................................................................................................................. 82 9.4.2 Bindungsmuster und ermittelte Testergebnisse nach SAT (Diagnostik der Bindungsqualität im Grundschulalter) ...................................................................................................... 83 9.4.3 Therapieverlauf Yasmine (17 Sitzungen) .................................................................................. 83 9.4.4 Beurteilung des Behandlungsverlaufs ........................................................................................ 93 9.4.5 Im Therapieverlauf aufgetretene Funktionen der Musik ................................................... 94 9.4.6 Fremdbeurteilung Mutter ................................................................................................................ 95 9.4.7 Fremdbeurteilung Lehrer ................................................................................................................. 95 9.4.8 Reflexion der Fremdbeurteilungen ............................................................................................... 96 10 Auswertung und Diskussion der Ergebnisse ........................................................ 97 10.1 Auswertung der Ergebnisse .............................................................................................................. 97 10.2 Diskussion des Untersuchungsdesigns und weiterführende Gedanken .................... 102 Literaturverzeichnis ............................................................................................... 103 Anhang .................................................................................................................. 106 1
Einleitung
Meine Motivation und mein Erkenntnisinteresse für diese Arbeit begründet sich darin,
dass mir in meiner bisherigen Arbeit als Musikerzieherin und Musiktherapeutin im
Bundesland Mecklenburg-Vorpommern viele Kinder begegnet sind, bei welchen ich
eine Störung in der Bindungsfähigkeit festgestellt habe. Nachgewiesen wurde, dass sich
bei Kindern, die unter einer hohen Prävalenz von familiärer Gewalt, unter Verlust und
Vernachlässigung leiden, diese Erfahrungen in den internalisierten Beziehungsmustern
in Form von unsicheren Bindungsmustern widerspiegeln. Diese internalisierten Beziehungsmuster sind geistige Repräsentationen von vergangenen Beziehungserfahrungen,
die sowohl affektive als auch kognitive Komponenten enthalten (Julius 2009).
Aus der aktuellen Trauma- und Bindungsforschung ist bekannt, dass nichts die weitere
Entwicklung beziehungstraumatisierter Kinder besser fördern kann, als eine sichere
Verfügbarkeit einer zuverlässig zugewandten Bindungsperson. Für mich stellt sich damit die Frage, ob Kinder, welche eine „gestörte“ Bindungsfähigkeit aufweisen, „bindungsfähig“ werden können, wenn sich eine „neue“, zuverlässige Bindung – in diesem
Fall die therapeutische Beziehung – aufbauen lässt.
Musiktherapie bezieht sich immer auf die nachholende oder korrigierende Erfahrung
selbst-, ich- und identitätsentwickelnder Beziehungsqualitäten und behandelt nicht einzelne Symptome einer psychischen Störung, sondern die affektiven und interaktionellen
Grundlagen der Beziehungsqualitäten (Frohne-Hagemann & Pless-Adamczyk 2005).
Ich möchte in Erfahrung bringen, ob sich die Möglichkeiten einer musiktherapeutischen
Behandlung von einer rein psychotherapeutischen unterscheiden und worin diese spezifischen Möglichkeiten bestehen.
Im Verlauf der ersten 8–10 Lebensmonate entwickelt sich das Bindungssystem als ein
Verhaltenssystem, welches vor allem auf eine primäre Vertrauens- und Bezugsperson –
meist die Mutter – ausgerichtet wird (Rauh 2000). Der Säugling entwickelt auf der
Grundlage dieses biologisch angelegten Systems eine starke emotionale Bindung zur
Hauptbindungsperson. Die wichtigste Funktion der Bindungsperson ist es, den Säugling
in Situationen der Bedrohung zu schützen und ihm Sicherheit zu geben. Für ein unselb-
1
ständiges menschliches Neugeborenes und Kleinkind ist diese Schutzfunktion durch
eine Bezugsperson von lebenserhaltender Bedeutung (Brisch 2002a). Je nach Qualität
der Beziehungserfahrungen, welche ein Kind in dieser frühen Zeit macht, entwickelt es
ein sicheres, ein unsicher-vermeidendes, ein unsicher-ambivalentes oder ein desorganisiertes Arbeitsmodell von Bindung (Julius 2009).
Das desorganisierte Muster wird häufig bei Kindern aus klinischen Risikogruppen wie
auch bei Kindern von Eltern gefunden, die ihrerseits unverarbeitete traumatische Erfahrungen wie Verlust- und Trennungserlebnisse, Misshandlung und Missbrauch mit in die
Beziehung zum Kind einbringen (Brisch 2015a). Die frühe Störung in der Interaktion
zwischen Mutter und Säugling kann die Ausbildung eines desorganisierten Bindungsverhaltensmusters sowie eines desorganisierten inneren Arbeitsmodells zur Folge haben. „Wenn es zu wiederholten traumatischen Erfahrungen kam, kann sich nicht nur
eine desorganisierte Bindung, sondern – quasi als psychopathologische Steigerung –
eine Bindungsstörung entwickeln“ (vgl. ebda).
In der therapeutischen Arbeit mit Kindern bestehen die primären Bindungsbeziehungen
zu den Eltern weiterhin fort. Meist steht das Kind zu diesen noch in einem vitalen Abhängigkeitsverhältnis. Die therapeutische Beziehung wird somit für das Kind zu einer
neuen, ergänzenden, neben seinen bisherigen Bindungserfahrungen koexistierenden
Bindungserfahrung. Anders als bei Erwachsenen sind die Bindungswünsche des Kindes
noch sehr auf die Eltern ausgerichtet – und der Therapeut1 muss erst einmal zu einer
wichtigen Bindungsperson werden, damit sich das Kind ihm mit seinem Kummer und
seinen Sorgen anvertraut. „Ist ein solches Vertrauensverhältnis zwischen Kind und
Therapeuten aufgebaut, so wird das Kind seine bisherige Bindungsstrategie bzw. auch
mehrere Bindungsstrategien auf den Therapeuten übertragen“ (vgl. Hauser & Endres
2002, 170f).
Mich interessiert, wie sich Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung bei Kindern
in der Musiktherapie zeigt und welche Möglichkeiten die Musiktherapie als Behandlungsmethode diesen Kindern bietet. Dabei stellen sich folgende Fragen: Kann Musiktherapie Kinder mit Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung in der Entwicklung
eines neuen Bindungsverhaltens unterstützen – und wenn ja, wie? Unterscheiden sich
1
Zur einfacheren Lesbarkeit werden grundsätzlich sämtliche Berufsbezeichnungen durchgehend in der
männlichen Form verwendet. Es sind jedoch immer beide Geschlechter angesprochen. „Therapeutin/
Therapeut“ wird Kapitelweise abwechselnd in der männlichen und in der weiblichen Form verwendet.
2
die Möglichkeiten einer musiktherapeutischen Behandlung von einer rein psychotherapeutischen? Worin bestehen diese spezifischen Möglichkeiten? Gibt es spezifische therapeutische Funktionen der Musik, welche in der Behandlung von Kindern mit Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung zum Tragen kommen?
Dass Musik Raum gibt für nachnährende, nachholende und kompensierende Beziehungserfahrungen aus frühen und frühesten Entwicklungsstufen, ist erwiesen. In der
Musiktherapie ist es für Kinder möglich, Erfahrungen der Synchronisation, Affektregulierung und Affektabstimmung zu machen (Bacher 2014; Lutz Hochreutener 2009;
Plahl & Koch-Temming 2008; Schumacher & Calvet 2007; Schumacher, Calvet &
Reimers 2013).
Ich gehe daher von folgender Hypothese aus:
1. Musiktherapie kann Kinder mit Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung
in der Entwicklung eines neuen Bindungsverhaltens unterstützen.
Die Musik und das Musikspiel übernehmen im therapeutischen Prozess je nach Entwicklungsalter, Thematik und Befindlichkeit des Kindes indikationsspezifisch verschiedene Funktionen (Lutz Hochreutener 2009).
Ich gehe aufgrund dieser Aussage von folgender zweiten Hypothese aus:
2. In der musiktherapeutischen Behandlung von Kindern mit Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung kommen spezifische Funktionen der Musik zum
Tragen, welche die Entwicklung eines neuen Bindungsverhaltens unterstützen.
Die Arbeit gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil (Kapitel 1–6) werden, nach einer
Einführung in die Thematik und einer Vorstellung der historischen Grundlagen der Bindungstheorie, bindungstheoretische Grundannahmen und Konzepte erläutert. Daraus
hervorgehend wird die Klassifikation der Bindungsqualität des Kindes sowie die Klassifikation von Bindungsstörungen nach den gängigen Diagnose-Kriterien entsprechend
der ICD-102 betrachtet. Die Kapitel 5 (Bindung und Trauma) sowie 6 (Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung bei Kindern im Grundschulalter) sollen die Thematik
vertiefen.
2
Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme,
10. Revision, German Modification (ICD-10-GM) ist die amtliche Klassifikation zur Verschlüsselung
von Diagnosen in der ambulanten und stationären Versorgung im deutschen Sprachraum.
3
Im zweiten Teil (Kapitel 7–8) werden psychotherapeutische Ansätze in der Behandlung
von Kindern mit Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung beschrieben und daraufhin die Musiktherapie und ihre Methodik vorgestellt.
Im dritten Teil (Kapitel 9–10) wird in zwei Fallbeispielen der therapeutische Prozess
mit Grundschulkindern mit Bindungsdesorganisation bzw. Bindungsstörung dargestellt,
auf die formulierten Hypothesen hin untersucht und ausgewertet. In der abschliessenden
Auswertung und Diskussion der Ergebnisse werden die Fragestellungen beantwortet
und die Hypothesen überprüft. Die Schlussbetrachtung rundet die Arbeit ab.
4
2
Bindungstheoretische Grundannahmen und
Konzepte
„Evolutionsbiologisch besteht eine angeborene Bereitschaft des Menschen und damit
die Notwendigkeit zur Bindung auf der Grundlage stammesgeschlechtlicher Selektionsbedingungen. Ohne Schutz und Fürsorge kann bei sozial lebenden Säugetieren kein
Junges überleben“ (Grossmann & Grossmann 2014, 31).
Folgende Kapitel stellen eine Einführung in die historischen Grundlagen der Bindungstheorie dar und erläutern wichtige bindungstheoretische Grundannahmen und Konzepte.
2.1 Historische Grundlagen der Bindungstheorie Die Bindungstheorie entstand in der Auseinandersetzung des englischen Psychiaters
und Psychoanalytikers John Bowlby mit der Psychoanalyse in den 40er- und 50erJahren des letzten Jahrhunderts (Grossmann & Grossmann 2003).
Bowlby (1907–1990) ging davon aus, dass es ein biologisch angelegtes System der
Bindung gibt, das für die Entwicklung der starken emotionalen Beziehung zwischen
Mutter und Kind verantwortlich ist (Brisch 2015a). Mit seinen Ideen, die sich an der
Verhaltensbiologie orientierten, stellte er ein neues Konzept neben die traditionelle
Theorie der Trieblehre, nach der in erster Linie die orale Befriedigung durch das Stillen
an der Mutterbrust für die Entwicklung der Bindung zwischen Mutter und Kind verantwortlich sein soll (Brisch 2015a; Grossmann & Grossmann 2003).
Als 1951 seine für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verfasste Monografie mit
dem Titel Mental Care and Mental Health erschien, wurde Bowlby innert kurzer Zeit
berühmt (Brisch 2015a; Julius, Gasteiger-Klicpera & Kissgen 2009).
Unter den Promotionsstipendanten in Bowlbys Forschergruppe befand sich die Kanadierin Mary Ainsworth (1913–1999). Die gemeinsamen wissenschaftlichen Aktivitäten
von Bowlby und Ainsworth waren für die Entwicklung der Bindungstheorie von grundlegender Bedeutung (Brisch 2015a): Mit der Publikation von Ainsworths Ergebnissen
zur Bindung bei Säuglingen im Jahr 1969 (Ainsworth & Wittig 1969) erfuhren die theoretischen Überlegungen Bowlbys zum Konzept der Bindung einen ersten empirischen
Nachweis (Brisch 2015a; Rauh 2000).
5
Eine breitere empirische Fundierung der Theorie erfolgte anschliessend durch eine
Vielzahl von Längsschnittstudien im Bereich der Entwicklungspsychologie: Ainsworths
Schüler – darunter Bretherton, Waters, Sroufe, Main und Grossmann & Grossmann –
bildeten eine neue Generation von Bindungsforschern und legten mit ihren in Deutschland durchgeführten Längsschnittstudien einen wesentlichen Grundstein für die europäische Bindungsforschung.
Die Bindungstheorie gehört heute zu den durch empirische, insbesondere prospektive
Längsschnittstudien am besten fundierten Theorien über die psychische Entwicklung
des Menschen (Brisch 2015a).
2.2 Definition von Bindung und Bindungstheorie Die Bindungstheorie verbindet ethologisches, entwicklungspsychologisches, systemisches und psychoanalytisches Denken. Sie befasst sich mit den grundlegenden frühen
Einflüssen auf die emotionale Entwicklung des Kindes und versucht, die Entstehung
und Veränderung von starken gefühlsmässigen Bindungen zwischen Individuen im gesamten menschlichen Lebenslauf zu erklären (Brisch 2015a).
Der im Kern ethologische Ansatz Bowlbys – des „Vaters“ der Bindungstheorie – besagt, dass Menschen, wie andere Primaten auch, artspezifische Verhaltensweisen entwickelt haben, deren Hauptziel es ist, die physische Nähe eines Kleinkindes zu seiner primären Bezugsperson herzustellen (Julius 2009). Grossmann & Grossmann (2014) sprechen von einer angeborenen Bereitschaft des Menschen zur Bindung auf der Grundlage
stammesgeschichtlicher Selektionsbedingungen: Ohne Schutz und Fürsorge könne bei
sozial lebenden Säugetieren kein Junges überleben.
2.3 Das Bindungssystem Das Bindungssystem entwickelt sich im Verlauf der ersten 8–10 Lebensmonate als ein
Verhaltenssystem, welches vor allem auf eine primäre Vertrauens- und Bezugsperson –
meist die Mutter – ausgerichtet wird (Rauh 2000). Auf der Grundlage dieses biologisch
angelegten Systems entwickelt der Säugling eine starke emotionale Bindung zur Hauptbindungsperson. Die wichtigste Funktion der Bindungsperson ist es, den Säugling in
Situationen der Bedrohung zu schützen und ihm Sicherheit zu geben. Für ein unselb-
6
ständiges menschliches Neugeborenes und Kleinkind ist diese Schutzfunktion durch
eine Bezugsperson von lebenserhaltender Bedeutung (Brisch 2002a).
Auf Seiten des Kindes besteht das Bindungsverhalten zunächst aus angeborenen
„Signalverhaltensweisen“, die dazu dienen, die physische Nähe zur Bezugsperson herzustellen bzw. aufrechtzuerhalten. Weinen, Lächeln, Brabbeln und Rufen eines Kindes
dienen dazu, die Bindungsfigur herbeizuholen oder sie in der Nähe zu halten (Julius
2009).
Bei erfolgter Trennung von der Bindungsperson sowie durch Angsterleben aufgrund
äusserer, realer Gefährdung oder durch innerlich erlebte Bedrohung, wird das Bindungsverhalten aktiviert. Durch aktives „[…] Suchen nach der Bindungsperson, Festklammern, Trennungsprotest, Weinen und Nachlaufen […]“ versucht das Kind, die Bezugsperson wieder in seine Nähe zu bringen (vgl. Brisch 2002a, 140).
Komplementär zum Bindungsverhalten des Kindes steht das elterliche Fürsorgeverhalten. Dieses ist nach Julius (2009) ebenfalls evolutionstheoretisch ableitbar: Die altruistische Pflege der Jungen sichert das Überleben der Nachkommen und führt damit zur
Verbreitung der eigenen Gene.
2.4 Feinfühligkeit und Bindungsqualität Das Konzept der Feinfühligkeit in der Bindungsforschung wurde im Wesentlichen von
Ainsworth entwickelt (Brisch 2015a). Es besagt, dass Säuglinge sich an diejenige Pflegeperson binden, die ihre Bedürfnisse in einer feinfühligen Weise beantworten (Brisch
2002a). „Feinfühliges Verhalten“ besteht darin, dass die Bezugsperson in der Lage ist,
die Signale des Kindes wahrzunehmen, sie richtig zu interpretieren sowie sie auch angemessen und prompt, dem Alter des Kindes entsprechend, zu befriedigen (Brisch
2015a).
Die charakteristischen Verhaltensweisen, die nach Ainsworth unter feinfühligem Pflegeverhalten verstanden werden, sind nachfolgend aus Brisch (ebda, 45) übernommen:
1.
Die Mutter (oder eine andere Pflegeperson) muss in der Lage sein, die Signale
des Kindes mit grösster Aufmerksamkeit wahrzunehmen. Durch die äussere oder
innere Beschäftigung mit eigenen Bedürfnissen und Befindlichkeiten können Verzögerungen in ihrer Wahrnehmung entstehen.
7
2.
Sie muss die Signale aus der Perspektive des Säuglings richtig deuten, etwa das
Weinen des Kindes in seiner Bedeutung entschlüsseln (Weinen wegen Hunger,
Unwohlsein, Schmerzen oder Langeweile). Dabei besteht die Gefahr, dass die
Signale des Säuglings durch Projektion der eigenen Bedürfnisse auf das Kind verzerrt oder falsch interpretiert werden.
3.
Die Mutter muss angemessen auf die Signale des Kindes reagieren, also etwa die
richtige Dosierung der Nahrungsmenge herausfinden, eher beruhigen oder Spielanreize bieten, ohne durch Über- oder Unterstimulation die Mutter-KindInteraktion zu erschweren.
4.
Die Reaktion muss prompt erfolgen, also innerhalb einer für das Kind noch tolerablen Frustrationszeit. So ist die Zeitspanne, in der ein Säugling auf das Gestilltwerden warten kann, in den ersten Wochen sehr kurz, wird aber im Laufe des ersten Lebensjahres immer länger.
Wenn die Bedürfnisse des Säuglings in dieser von Ainsworth geforderten feinfühligen
Art und Weise von einer Pflegeperson beantwortet werden, bindet sich der Säugling mit
grosser Wahrscheinlichkeit an diese Person in Form einer „sicheren Bindung“ (Brisch
2002a).
Werden die Bedürfnisse des Säuglings in den Interaktionen mit der Bezugsperson von
dieser hingegen gar nicht, nur unzureichend oder inkonsistent beantwortet, entwickelt
sich häufiger eine unsichere Bindung. Auf jeden Fall sollte vermieden werden, dass der
Säugling durch Frustration in Zustände der Affektüberflutung gerät, in denen er über
lange Zeit panikartig schreit und mit diesem Gefühl allein gelassen wird. Solche Erfahrungen überschwemmen den Säugling mit Gefühlen von Hilflosigkeit, Ohnmacht und
Ausgeliefertsein, bis hin zum Bedrohtsein durch den Tod, wodurch seine Fähigkeit zur
Selbstregulation stark beeinträchtigt wird oder ganz verlorengeht (Brisch 2015a).
2.5 Hierarchie der Bindungspersonen Der Säugling entwickelt, ausser zur Hauptbindungsperson, die auch heute meistens
noch die Mutter ist, in der Regel auch noch zu drei oder vier anderen emotional wichtigen Personen eine Bindungsbeziehung (Brisch 2002a). Diese weiteren Bindungspersonen – wie etwa der Vater, die Grossmutter, ältere Geschwister – werden „[…] entsprechend ihrer Verfügbarkeit und dem Ausmass der erlebten Trennungsangst […]“ in einer
8
bestimmten Rangfolge vom Kind aufgesucht (vgl. Brisch 2015a, 37). Wenn z.B. die
Mutter als primäre Bezugsperson bei drohender Gefahr nicht erreichbar ist, kann das
Kind zur emotionaler Versicherung auf eine sekundäre Bezugsperson (z.B. den Vater)
zurückgreifen. Ist der Schmerz oder die Angst – etwa bei einer gefährlichen Verletzung
oder bei einer schwerwiegenden Erkrankung – jedoch sehr gross, wird das Kind auf die
Anwesenheit der primären Bindungsperson bestehen und sich nicht durch seine sekundäre Bezugsperson trösten lassen.
2.6 Bindungsrepräsentation Die Bindungstheorie besagt, dass das Bindungsverhalten von inneren Arbeitsmodellen
gesteuert wird, die auf Erwartungen und Regulationsmustern basieren, welche das Kind
in der Interaktionsgeschichte mit dem jeweiligen Elternteil entwickelt hat. Diese sogenannten Internalen Arbeitsmodelle erklären, wie Fürsorgeerfahrungen mit den Bezugspersonen zu bestimmten Mustern der Handlungssteuerung beim Kind führen (Zimmermann & Scheurer-Englisch 2012).
Ein Internales Arbeitsmodell ist anfangs noch flexibel, im weiteren Verlauf der Entwicklung wird es jedoch zunehmend stabiler und entwickelt sich zu einer psychischen
Repräsentanz einer sogenannten „Bindungsrepräsentation“.
Es wird davon ausgegangen, dass sich die Bindungsrepräsentation im Laufe des Lebens
durch entsprechende bedeutungsvolle Bindungserfahrungen mit anderen Bezugspersonen oder durch einschneidende Erlebnisse wie Verluste und andere traumatische Erfahrungen noch modifizieren kann. Dies wird mit zunehmendem Alter aber immer schwieriger (Brisch 2015a).
Die Entstehung von neuen, adaptiven Arbeitsmodellen kann von alten, unsicheren behindert werden. Dennoch kann frühe mangelhafte emotionale Integration später verbessert werden durch eine neue Bindungsbeziehung, entweder mit einem liebevollen Lebenspartner, einer vertrauten verlässlichen Person oder mit Therapeuten, die „[…] einem neuen, klugen, adaptiven und flexiblen Internalen Arbeitsmodell den Weg bahnen“
(vgl. Grossmann & Grossmann 2014, 64).
9
2.7 Explorations-­‐ und Bindungssystem „Eine gute primäre Bindungsbeziehung trägt der Bindungstheorie zufolge dazu bei, dass
ein Kind seine Welt ausgehend von einer Basis emotionaler Sicherheit explorieren
kann“ (vgl. Strauss 2006, 206). Brisch (2002a) und Grossmann & Grossmann (2003)
sprechen von der Bedingung einer sicheren emotionalen Basis, welche etabliert sein
muss, damit das Kind seine Umwelt neugierig erforschen kann. Die Mutter wird hier
auch als sicherer emotionaler Hafen bezeichnet, von dem aus es Erkundungen zu machen wagt (Brisch 2002a). Explorationssystem und Bindungssystem sind demnach
wechselseitig voneinander abhängig (Brisch 2015a).
Für eine Mutter wird es ab dem Erreichen des Krabbelalters mit 7–8 Monaten notwendig sein, dass sie dem Explorationsbedürfnis des Säuglings einerseits Raum gibt und
andererseits auch Grenzen setzt. „Gleichzeitig muss sie aber immer wieder als sichere
Basis für die visuelle Rückversicherung des Säuglings während der Exploration zur
Verfügung stehen […]“ (vgl. ebda, 39).
Werden die Bindungsbedürfnisse eines Kindes befriedigt und erlebt es bei der Bezugsperson emotionale Sicherheit, wird das Bindungssystem beruhigt und das Kind kann
seiner Neugier in Form von explorativem Verhalten nachgehen. Es kann sich mehr oder
weniger weit von der Bezugsperson entfernen, ohne emotional in Stress zu geraten.
Wird die Entfernung zu gross oder werden angstmachende Entdeckungen gemacht, wird
die Exploration zunehmend eingeschränkt und die räumliche oder sogar körperliche
Nähe zu derjenigen Bezugsperson gesucht, welche die sicherste emotionale Basis für
das Kind darstellt (ebda).
„Wenn die Mutter ihren Säugling übermässig bindet, stellt sie zwar mit ihm eine nahe
Bindung her, gleichzeitig gewährt sie aber keinen ausreichenden Spielraum für dessen
Bedürfnisse nach Exploration und frustriert auf diese Weise ihr Kind“ (vgl. ebda, 39).
2.8 Sichere Bindung als Schutzfaktor Einer sich sicher entwickelnden Bindungsqualität im Säuglingsalter wird eine Schutzfunktion für den Entwicklungsverlauf des Kindes zugeschrieben. Auch werden dadurch
prosoziale Verhaltensweisen gefördert, und es wird eine gewisse belastbare psychische
Stabilität (Engl. resilience) erreicht. Wenn das Kind mit zumindest einer erwachsenen
10
Person – es muss sich dabei nicht zwingend um die Mutter oder den Vater handeln – die
Erfahrung einer sicheren Bindung macht, so kann dies im Verlauf des späteren Lebens
vor der Entwicklung einer Psychopathologie schützen, selbst wenn traumatische Erfahrungen gemacht werden (Brisch 2015a).
11
3
Klassifikation der Bindungsqualität des Kindes
Wie bereits erläutert, bilden sich die Beziehungserfahrungen eines Kindes mit seinen
Bezugspersonen aus bindungstheoretischer Sicht beim Kind in Internalen Arbeitsmodellen ab.3 Je nach Qualität dieser Beziehungserfahrungen entwickeln Kinder ein sicheres
(B), ein unsicher-vermeidendes (A), ein unsicher-ambivalentes (C) oder ein desorganisiertes (D) Arbeitsmodell von Bindung4, welches auch als „Bindungsrepräsentation“
oder als Bindungsqualität bezeichnet wird.
3.1 Sichere Bindung „Das Bindungsmuster, von dem man glaubt, es gehöre zu einer gesunden Entwicklung,
ist das der sicheren Bindung […]“ (B) (vgl. Bowlby 1991, 63). Das sicher gebundene
Kind ist zuversichtlich, dass ein Elternteil (oder eine Elternfigur) in widrigen oder
furchteinflössenden Situationen verfügbar, antwortbereit und hilfreich ist.
Im Arbeitsmodell sicher gebundener Kinder sind die Bindungsfiguren aufgrund entsprechender Erfahrungen als feinfühlig, zuverlässig, verfügbar und unterstützend repräsentiert. Deshalb suchen Kinder dieser Bindungsgruppe in belastenden Situationen aktiv
deren Nähe, Trost und Unterstützung. Da sie sich der Verfügbarkeit ihrer Bezugspersonen sicher sind, können diese Kinder ausserhalb emotional belastender Situationen ihre
Umwelt frei explorieren.
Sicher gebundene Kinder sind in der Lage, emotionale Betroffenheit auszudrücken, indem sie eigene negative Gefühle, wie z.B. Angst oder Ärger, offen äussern. Sie haben
die Erfahrung gemacht, dass die Äusserung negativer Gefühlszustände zu feinfühligem
und responsivem Verhalten der Bezugspersonen führt (Julius 2009).
3
4
Siehe dazu auch Kap. 2.6 „Bindungsrepräsentation“.
Die Buchstaben A, B, C und D sind in wissenschaftlichen Texten zur Bindungsforschung jeweils
einem Arbeitsmodell von Bindung zugeordnet. Hier werden diese aufgeführt, um interessierten Lesern
die Lektüre von vertiefenden Fachtexten zu erleichtern.
12
3.2 Unsicher-­‐vermeidende Bindung Im unsicher-vermeidenden Bindungsmuster (A) hat das Kind keine Zuversicht, dass
man hilfreich auf es reagiert, wenn es Fürsorge sucht. Es erwartet eher, dass es „[…]
schroff abgewiesen […]“ wird (vgl. Bowlby 1991, 64).
Die Bindungsfiguren sind im Arbeitsmodell unsicher-vermeidend gebundener Kinder
aufgrund entsprechender Erfahrungen als zurückweisend und nicht unterstützend repräsentiert. Betroffene Kinder verhalten sich, um weitere Zurückweisung zu vermeiden,
eher beziehungsvermeidend. In belastenden Situationen suchen sie keine Nähe, Trost
und Unterstützung bei ihren Bindungsfiguren, sondern zeigen stattdessen ein erhöhtes
Explorationsverhalten, indem sie sich z.B. Spielzeug oder anderen Objekten zuwenden.
Solch ein Verhalten wird als eine Verschiebung der Aufmerksamkeit weg von der emotional belastenden (z.B. angstauslösenden) Situation interpretiert (Julius 2009).
3.3 Unsicher-­‐ambivalente Bindung Im unsicher-ambivalenten Bindungsmuster (C) ist sich das Kind unsicher, „[…] ob ein
Elternteil verfügbar, ansprechbar oder hilfreich ist, wenn er gebraucht wird“ (vgl. Bowlby 1991, 64).
Bei unsicher-ambivalent gebundenen Kindern findet sich ein Arbeitsmodell, welches
die Bindungsfiguren bezüglich deren Responsivität und Verfügbarkeit als unberechenbar repräsentiert (Julius 2009). Es ist Folge eines Sorgeverhaltens, das durch unvorhersehbares Eingehen der Bindungsfiguren auf die Bindungsbedürfnisse des Kindes charakterisiert ist (Cassidy & Berlin 1994). Kinder dieser Bindungsgruppe können sich der
Verfügbarkeit ihrer Bezugspersonen in emotional belastenden Situationen nicht sicher
sein und suchen deshalb ständig deren Nähe (Julius 2009). Solche Kinder sind anfällig
für Trennungsangst, neigen zum Anklammern und sind ängstlich bei der Erkundung der
Welt (Bowlby 1991). Betroffene Kinder suchen jedoch nicht nur ständig die Nähe ihrer
Bezugspersonen, sondern zeigen auch z.T. massiven Ärger gegenüber ihren Bindungsfiguren, der aus der Nichtbeachtung ihrer Bindungsbedürfnisse resultiert. Es ist das
gleichzeitige Auftreten solcher gegensätzlichen, unvereinbaren Strategien, welches als
zentrales Kriterium der Klassifikation gilt (Julius 2009).
13
3.4 Desorganisierte Bindung In neuerer Zeit wurde neben den drei organisierten Bindungsmustern noch ein viertes
Bindungsmuster identifiziert, das sogenannte „desorganisierte Muster“ (D) (Julius
2009). Kinder mit desorganisiertem Bindungsmuster zeigen sehr auffällige, in sich widersprüchliche Verhaltensweisen, die nicht in die bekannten Bindungsmuster eingeordnet werden können und daher früher als „nicht klassifizierbar“ galten (Brisch 2002a).
Sequenzen von stereotypen Bewegungs- und Verhaltensweisen sowie das Erstarren von
Bewegungen mitten im Bewegungsablauf (Engl. freezing) kennzeichnen ein solches
desorganisiertes Bindungsmuster (Brisch 2002a; 2015a).
Im Arbeitsmodell desorganisiert gebundener Kinder ist das Kind selbst als vulnerabel
und hilflos im Angesicht angstauslösender Situationen repräsentiert und die Bindungsfigur als eine Person, die keine Sicherheit in diesen Situationen bietet (Lyons-Ruth &
Jacobvitz 2008 in Julius 2009). Es ist charakteristisch für Kinder, die von ihren Eltern
zurückgewiesen, verlassen oder vernachlässigt werden, deren Eltern häufig mit Trennung drohen, sowie für Kinder, die von ihren Eltern physisch misshandelt oder sexuell
missbraucht werden. Die Bindungsfiguren sind in letzteren Fällen zudem selbst die
Quelle der Angst. Ist das Kind öfter solchen Situationen ausgesetzt, kann dies zu einer
chronischen Aktivierung seines Bindungsverhaltenssystems führen, ohne dass die Bindungsfigur diese hohe Aktivierung beendet, indem sie die Bindungsbedürfnisse des
Kindes nach Nähe oder Rückversicherung befriedigt (ebda). Das Kind ist unter solchen
Bedingungen gezwungen, Abwehrmechanismen einzusetzen, durch die diese schmerzvollen Bindungserfahrungen vom Bewusstsein ausgeschlossen werden. Deren Speicherung erfolgt deshalb in sogenannten „abgetrennten Systemen“ (Engl. segregated systems) (Bowlby 1988 in ebda). Zu einem solchen System, welches bindungsbezogene
Verhaltensmuster, Erinnerungen, Gefühle und Kognitionen enthält, hat das Bewusstsein
zumeist keinen oder nur einen eingeschränkten Zugang (Solomon & George 1999).
Das desorganisierte Muster wird häufig bei Kindern aus klinischen Risikogruppen sowie bei Kindern von Eltern gefunden, die ihrerseits unverarbeitete traumatische Erfahrungen wie Verlust- und Trennungserlebnisse, Misshandlung und Missbrauch mit in die
Beziehung zum Kind einbringen. Die frühe Störung in der Interaktion zwischen Mutter
und Säugling kann die Ausbildung eines desorganisierten Bindungsverhaltensmusters
14
sowie eines desorganisierten inneren Arbeitsmodells zur Folge haben. „Falls es zu wiederholten traumatischen Erfahrungen kam, könnte sich nicht nur eine desorganisierte
Bindung, sondern – quasi als psychopathologische Steigerung – eine Bindungsstörung
entwickeln“ (vgl. Brisch 2015a, 56).
3.4.1 Bindungsdesorganisation und Aufmerksamkeits-­‐ und Hyperaktivitätsstörung Die stereotypen Verhaltensweisen sowie die Ambivalenz von Nähesuchen und Nähevermeiden, wie sie für Kinder mit desorganisiertem Bindungsmuster typisch sind, gleichen auf der motorischen Aktivitätsebene dem Hyperaktivitätsmuster von Hinlaufen,
Weglaufen, Durch-den-Raum-Laufen. Sowohl die immer wieder und gehäuft auftretenden Verhaltenssymptome des Innehaltens und In-Sich-Versinkens, der „PseudoAbsence“, die an einen Vorläufer der Aufmerksamkeitsstörung erinnert, als auch die
motorische Unruhe mit widersprüchlichen motorischen Verhaltensweisen und impulsiven Richtungswechseln in der Aktivität erinnern an das Bild der „Hyperaktivität“, wie
sie sich bei Kindern im Vorschulalter zeigt (Solomon & George 1999). Bei Kindern mit
desorganisierter Bindung kann es zusätzlich auch zu affektiven Durchbrüchen kommen;
sie werfen sich dann oft tobend auf den Boden. Es handelt sich hier jedoch nicht um
oppositionelles Verhalten, wie etwa bei Wut- oder Trotzanfällen, die in anderen Situationen der Grenzsetzung entstehen, sondern um einen Ausdruck von Bindungsstress
(Brisch 2015a).
Diskutiert wird, dass die Aktivierung von emotional sich widersprechenden, nicht zu
einem einheitlichen Muster integrierbaren Bindungserfahrungen – etwa mit der Mutter –
sich in den desorientierten Bindungsverhaltensweisen des Kindes widerspiegeln und
Ausdruck eines desorganisierten inneren Arbeitsmodells der Bindung zur spezifischen
Bindungsperson sein könnten. Hinweise, dass es zwischen dem desorganisierten Bindungsmuster und der psychopathologischen Auffälligkeit der Aufmerksamkeits- und
Hyperaktivitätsstörung Zusammenhänge gibt, sind vielfältig. Kinder mit Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zeigen häufiger das Muster der desorganisierten Bindung (ebda).
3.4.2 Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung Nach Brisch (2015a) ist bei allen Bindungsstörungen grundlegend, dass frühe Bedürfnisse nach Nähe und Schutz in Bedrohungssituationen und bei einer Aktivierung der
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Bindungsbedürfnisse in ängstigenden Situationen in extremem Ausmass nicht adäquat,
unzureichend oder widersprüchlich beantwortet wurden. Eine solche Problematik kann
sich insbesondere bei vielfältigen abrupten Trennungserfahrungen des Kindes durch
Wechsel der Betreuungssysteme – wie etwa bei Kindern, die in Heimen aufwuchsen,
bei psychisch kranken Eltern oder bei erheblicher chronischer sozialer Belastung und
Überforderung (etwa durch Armut und Arbeitsplatzverlust) der Eltern – entwickeln.
Befunde und klinische Erfahrung besagen, dass Kinder mit Bindungsstörungen gehäuft
traumatische Erfahrungen durchgemacht haben sowie dass sie in Beziehungen häufig
desorganisierte Verhaltensweisen zeigen, die insgesamt mit den Symptomen eines ausgeprägten ADHS-Syndroms vergleichbar sind. Desorganisierte Bindungsverhaltensweisen und ADHS können Anzeichen einer beginnenden Bindungsstörung sein.
Das desorganisierte Bindungsmuster führt, ebenso wie ADHS, zur sozialen und emotionalen Ablehnung des Kindes in der Gruppe, zu Ausgrenzung, zu aggressiven Auseinandersetzungen und Reglementierungen. Sekundär, auf der Verhaltensebene, entwickelt
sich dann ein Strukturierungs- und Kontrollsystem der Umwelt gegenüber dem Kind.
Die versteckten Bindungswünsche des Kindes, die es im desorganisierten Bindungsverhalten zum Ausdruck bringt, werden unter diesen Bedingungen von den Bezugspersonen (Eltern, Erzieherinnen, Lehrern) nicht mehr wahrgenommen.
16
4
Bindungsstörungen
Bindungsstörungen können in Gruppen von klinisch kranken Kindern oder sehr gestörten Eltern-Kind-Dyaden gefunden werden. Im folgenden Kapitel wird zunächst die
Theorie der Bindungsstörung ausgeführt und im Anschluss daran die Definition von
Bindungsstörung nach ICD-10 erläutert.
4.1 Theorie der Bindungsstörung Die ursprünglichen Muster der Bindungsqualitäten, wie sie von Ainsworth gefunden
wurden, sind laut Aussagen von Entwicklungspsychologen und Entwicklungspsychopathologen spezifische Adaptionsmuster im Rahmen durchschnittlich normaler MutterKind-Beziehungen (Brisch 2015a). Demgemäss ist etwa das vermeidende Bindungsmuster eine Verhaltensstrategie, bei der sich die Kinder mit ihrem Bindungsverhalten an
die Einstellungen ihrer Eltern anpassen. Auf diese Weise können sie mit ihren Eltern in
Kontakt bleiben, auch wenn die Distanz grösser ist, als es eigentlich ihrem Bindungsbedürfnis entspricht. Unsicher-vermeidend gebundene Kinder lernen etwa schon im ersten
Lebensjahr Bindungsreaktionen wie z.B. Protest bei Trennung, Nachfolgen, Rufen,
Weinen und Anklammern mit Nähesuchen erst gar nicht zu zeigen, weil sie wissen, dass
ein Signalisieren des Wunsches nach Nähe von ihren Eltern eher mit Abweisung beantwortet wird. Stattdessen halten sie eine gewisse Distanz zur Bindungsperson, um die
befürchtete ablehnende Reaktion nicht zu erfahren: „Mit dem entsprechenden vermeidenden Muster kann eine Bindung zu der Mutter auf Kosten der kindlichen Wünsche
nach Nähe dennoch aufrechterhalten werden“ (vgl. ebda, 96). Für diese Kinder wie auch
für ihre Eltern scheint die vermeidende Strategie am besten geeignet zu sein, den durch
Bindungsverhalten hervorgerufenen Stress zu mindern.
Die als „desorganisiertes Muster“ beschriebenen Verhaltensmuster hingegen können
nicht als adaptive Strategien angesehen werden. Sie weisen nach Brisch (ebda) eher
darauf hin, dass die betroffenen Kinder jeweils in der Stresssituation der Trennung und
Wiedervereinigung kein adäquates Verhaltensmuster zur Verfügung hatten. Widersprüchliche Verhaltensweisen wie das Hinlaufen zur Mutter, Stehenbleiben, Umkehren,
Einfrieren der Bewegungen sowie motorische Stereotypien kommen auf diese Weise
17
zustande. „Diese manchmal nur wenige Sekunden andauernden Verhaltensweisen vermitteln den Eindruck einer gestörten Psychomotorik und erinnern an eine Psychopathologie“ (vgl. ebda, 97). Daher erstaunt es wenig, dass – wie bereits angetönt – in Gruppen mit einem Risiko aufseiten des Kindes (bei Frühgeborenen oder bei Kindern mit
traumatischen Erfahrungen) sowie bei einem Risiko aufseiten der Eltern (ungelöstes
Trauma oder ungelöster Verlust) solche Verhaltensweisen entsprechend häufig beobachtet werden.
Kliniker haben schon sehr früh festgestellt, dass es in Gruppen von klinisch kranken
Kindern oder sehr gestörten Eltern-Kind-Dyaden noch ganz andere Muster der Bindungsbeziehung gibt, welche sie als „Bindungsstörungen“ bezeichneten. Eine „zielkorrigierte Partnerschaft“ zwischen Bindungsperson und Kind, wie sie von Bowlby bei
Normalstichproben bei Kindern zwischen Vorschulalter und Jugendalter gefunden wurde, wird in solchen Konstellationen nicht erreicht. Im Gegensatz dazu verfestigen sich
mit zunehmendem Alter psychopathologische Verhaltensweisen. Diese bestimmen nicht
nur die Primärbeziehungen dieser Kinder und Jugendlichen, sondern auch alle weiteren
Beziehungen und Interaktionen in deren Alltag.
4.2 Definition von Bindungsstörung nach ICD-­‐10 In der Version ICD-10 können zwei spezifische Formen von reaktiven Bindungsstörungen diagnostiziert werden: eine Form mit Hemmung und eine mit Enthemmung des
Bindungsverhaltens. Beide Formen werden im Zusammenhang mit frühkindlichen
Traumata und Erlebnissen von schwerer Misshandlung, Missbrauch, sexueller Gewalt,
Deprivation und Vernachlässigung sowie nach wiederholtem Wechsel der Bezugspersonen, wie etwa bei Kindern, die in Institutionen aufwachsen, beschrieben (ICD-10-GM
2016).
Die gehemmte Form der Bindungsstörung (die sogenannte „Reaktive Bindungsstörung
des Kindesalters“ – F94.1) ist dadurch gekennzeichnet, dass „[…] die Kinder auch in
Gefahrensituationen keine Person als sichere emotionale Basis im Sinne der Bindungsperson nutzen können […]“ (vgl. Brisch 2002a, 144). Es sind Kinder, die gegenüber
Erwachsenen nur eine sehr gehemmte Bindungsbereitschaft zeigen und ambivalent oder
gar furchtsam auf Bindungspersonen reagieren (Brisch 2015a, 99f). Ihre sozialen Interaktionen mit Gleichaltrigen sind beschränkt, es kommt zu Aggressionen gegen sich
18
selbst oder andere, zu Unglücklichsein und in einigen Fällen zur Wachstumsverzögerung. Die Kinder sprechen auf Milieuveränderungen an (ICD-10-GM 2016).
Die enthemmte Form der Bindungsstörung (die sogenannte „Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung“ – F94.2) wird diagnostiziert, wenn „[…] Kinder sich sehr
undifferenziert an Personen wenden und diese pseudomässig als Bindungsperson verwenden, ohne dass eine echte, spezifische, tiefergehende Bindungsbeziehung besteht“
(vgl. Brisch 2002a, 144). Die jeweiligen Bezugspersonen werden von den Kindern beliebig ausgetauscht. Brisch beschreibt dieses Verhalten an anderer Stelle auch als „[…]
enthemmte distanzlose Kontaktfreudigkeit gegenüber verschiedensten Bezugspersonen“
(vgl. Brisch 2015a, 100). Interaktionen mit Gleichaltrigen sind kaum moduliert und je
nach Umständen kommen auch emotionale und Verhaltensstörungen vor. Das Muster
persistiert in vielen Fällen trotz Milieuveränderung (ICD-10-GM 2016).
In der ICD-9 wurden Störungen der Bindung zu den Störungen der emotionalen Regulation gerechnet. In der Weiterentwicklung in der ICD-10 jedoch werden die Bindungsstörungen nicht mehr unter den emotionalen Störungen, sondern unter der Kategorie
„Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend“ aufgeführt.
Schwerwiegende Milieuschäden oder Deprivation werden im Gegensatz zur ICD-9 jetzt
zwar als ätiologisch entscheidend angenommen, jedoch ist der Bezug zur emotionalen
Störung verloren gegangen (Brisch 2015a).
19
5
Bindung und Trauma
Zwischen desorganisierten Bindungsmustern bei Kindern und ungelösten Traumata ihrer Eltern gibt es laut Forschungsergebnissen einen Zusammenhang (Lyons-Ruth &
Jacobvitz 1999 in Brisch 2015a): Das einst erlebte Trauma wird durch das Verhalten
des eigenen Kindes – etwa das Schreien des Säuglings – getriggert, da es an das eigene
Weinen und den eigenen Schmerz erinnert. Bei der Mutter oder beim Vater können
dadurch dissoziative oder auch traumaspezifische und das Kind ängstigende Verhaltensweisen ausgelöst werden.
Nach Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch, welche des Weiteren als „beziehungsabhängige Traumata“ bezeichnet werden, zeigen Kinder ihrerseits gehäuft desorganisierte Verhaltensweisen (ebda).
5.1 Beziehungsabhängige Traumata und ihre Bedeutung Nach Ziegenhain (2009) bergen traumatische Ereignisse und Erfahrungen bei Säuglingen und Kleinkindern insbesondere dann hohe Entwicklungsrisiken, wenn sie beziehungsabhängig sind. Als prototypische Beispiele für beziehungsabhängige traumatische
Erfahrungen gelten Misshandlung und Vernachlässigung. Es wird vermutet, dass die
hohe Beziehungssensitivität mit der Entwicklung früher Emotionsregulation und der
Entwicklung von Strategien zum Umgang mit Stress im Beziehungskontext zusammenhängen.
Ziegenhain (2009) bezeichnet traumatische Ereignisse bzw. Ereignisse, die ein Trauma
hervorrufen können, als Erfahrungen aktueller oder drohender Gefahr von Tod oder
schwerer Verletzung oder aber als Bedrohung der eigenen physischen Integrität oder
derjenigen anderer Menschen. Die Entstehung eines Traumas setzt voraus, dass ein solches Ereignis von der betroffenen Person als hinreichend bedrohlich erlebt wird. Damit
verbunden ist die Erfahrung von intensiver Angst, von Hilflosigkeit oder Entsetzen und
vom Versagen der eigenen Bewältigungsstrategien.
Ereignisse, die bei Säuglingen und Kleinkindern traumatisch erlebt werden können, sind
z.B. Unfälle, gegebenenfalls auch Naturkatastrophen oder schmerzhafte medizinische
Eingriffe, das Beobachten von Gewalt in der Nachbarschaft sowie Misshandlung oder
20
Vernachlässigung. Die zwei Letztgenannten, die sogenannten beziehungsabhängigen
Traumata, bergen höhere Entwicklungsrisiken. Ziegenhain (ebda) sieht den Zusammenhang darin, dass es sich dabei überwiegend um chronische traumatische Erfahrungen
bzw. um eine Serie miteinander verknüpfter Ereignisse handelt. Dies im Unterschied zu
meist einmaligen und unerwarteten traumatischen Erlebnissen von kurzer Dauer, wie es
gewöhnlich bei Unfällen oder Naturkatastrophen der Fall ist.
Die Erfahrung von Angst oder Hilflosigkeit ist dann besonders entwicklungskritisch,
wenn sie – wie im Falle von Misshandlung und Vernachlässigung häufig – durch eine
zentrale Bezugsperson verursacht wird. Die hohe Beziehungsabhängigkeit traumatischer
Ereignisse und ihrer Erlebens- und Verarbeitungsweise hängt wesentlich damit zusammen, dass Säuglinge und Kleinkinder in hohem Masse physisch wie psychologisch auf
elterliche Fürsorge angewiesen sind.
5.2 Bindungsdesorganisation und Affektregulation In den frühen Bindungsbeziehungen wird die Grundlage für die Fähigkeit zur Affektregulation – d.h. das Vermögen, Intensität von Gefühlen und Impulsen selbst zu regulieren – gelegt. Strategien im Umgang mit Stress entwickeln sich in diesen frühen Bindungsbeziehungen und beeinflussen die mit dem Alter zunehmende Fähigkeit von Kindern, (negative) Gefühle zu tolerieren und zu bewältigen.
5.2.1 Verhaltens-­‐ und Emotionsregulation bei Bindungsdesorganisation Kinder des desorganisierten Bindungstyps verfügen schon während des ersten Lebensjahres generell über eine eingeschränkte Fähigkeit zur Verhaltensregulation. Eine später
sich ausbildende Desorganisation kann durch bereits im Neugeborenenalter vorliegende
Defizite in der Verhaltensorganisation vorhergesagt werden (Spangler, Grossmann,
Grossmann & Fremmer-Bombik 2000).
Kindern dieses Bindungstyps ist es in Situationen erhöhter Belastung und erhöhter innerer Erregung nicht mehr möglich, ihr Verhalten kohärent zu organisieren. Bei Aktivierung ihres Bindungssystems und des damit verbundenen Herzfrequenzanstiegs können
sie nicht auf eine organisierte Verhaltensstrategie zurückgreifen. Es gelingt ihnen nicht,
ihre aufgrund der Aktivierung des Bindungssystems entstandene innere Belastung zu
regulieren (Ziegenhain 2009).
21
5.2.2 Psychobiologische Regulation in der Eltern-­‐Kind-­‐Beziehung In einem entwicklungspsychologischen Verständnis unterstützen Bindungspersonen die
physiologische Regulation, die emotionale Regulation und die Verhaltensregulation von
Kindern. Physiologische und emotionale Erregungszustände sowie Verhalten zu regulieren, ist eine wichtige Entwicklungsaufgabe und Voraussetzung, um sich der Umwelt
offen zuwenden zu können. Nach dieser erweiterten bindungstheoretischen Auffassung
dienen Eltern ihren Kindern als „externe Regulationshilfe“.
Die Etablierung psychophysiologischer Regulationskompetenzen, die Fähigkeit zur
Emotionsverarbeitung und Affektregulation oder aktive und passive Bewältigungsstrategien im Umgang mit Stress sind das Ergebnis einer wachsenden Anpassungskompetenz des Säuglings und Kleinkindes, belastende Veränderungen in der Umgebung einzuschätzen und zu bewältigen (Ziegenhain 2009).
5.2.3 Affektregulation und Trauma Vernachlässigte und misshandelte Säuglinge und Kleinkinder werden in ihren Regulationsbemühungen von ihren Eltern nur unzureichend unterstützt. Schlimmstenfalls erfahren sie überhaupt keine Unterstützung, sondern erleben Deprivation und/oder sind aggressiv übergriffigem elterlichen Verhalten ausgesetzt. Erleben Säuglinge und Kleinkinder häufige Episoden von Angst oder erleben diese sogar als Bestandteil ihrer Beziehungserfahrungen, befinden sie sich in einem unlösbaren Konflikt: Angst aktiviert, biologisch vorprogrammiert, das kindliche Bindungssystem, was dazu führt, dass das Kind
unweigerlich Nähe und Kontakt zur Bindungsperson suchen muss (Ziegenhain 2009).
Die Verhaltensstrategien des Kindes kollabieren, wenn die Bindungsperson, bei der das
Kind Schutz sucht, gleichzeitig und in Personalunion diejenige ist, die seine Angst verursacht (Lyons-Ruth & Jacobvitz 1999 in Ziegenhain 2009). Die Angst des Kindes entsteht dabei entweder unmittelbar aus der direkten Interaktionserfahrung mit einer aggressiven oder misshandelnden Bindungsperson oder sie entsteht mittelbar und indirekt
über die Auswirkungen (potentiell) traumatischer Beziehungsvorerfahrungen der Bindungsperson auf die aktuelle Beziehung mit dem Kind.
Schwere und wiederholte traumatische Erfahrungen bringen Entwicklungsrisiken mit
sich, die unter anderem darin begründet sind, dass Stresshormone verstärkt ausgeschüttet werden und emotionale Bewertungen von Erfahrungen, wie sie in der Amygdala im
limbischen System stattfinden, zunehmend negativ verstärkt und chronisch aktiviert
22
werden. Säuglinge und Kleinkinder sind dann, relativ zu ihren Entwicklungskompetenzen, nicht mehr in der Lage, die mit misshandelndem Verhalten verbundenen Schreckreaktionen bzw. die daraus resultierende übermässige Erregung flexibel zu regulieren
(ebda).
5.3 Bindungsdesorganisation als Indikator für traumatische Eltern-­‐Kind-­‐
Beziehungen In Zusammenhang mit Bindungsdesorganisation lässt sich kritisches Elternverhalten als
Zusammenbruch des elterlichen Fürsorgesystems und als das Ergebnis eines desorganisierten und dysfunktionalen Umgangs mit dem Kind charakterisieren und gilt als Entwicklungsrisiko (George & Solomon 1996 in Ziegenhain 2009). Die Eltern versagen
dabei nicht nur in ihrer „Entwicklungsaufgabe“, das Kind in seiner Verhaltens-, emotionalen und physiologischen Regulation zu unterstützen, sondern auch in ihrer grundlegend biologisch angelegten Aufgabe, das Kind zu schützen. Es wird vermutet, dass
dies insbesondere dann geschieht, wenn Eltern aufgrund eigener (traumatischer) Belastungen überwältigt sind bzw. ihr eigenes Bindungssystem aktiviert ist (Ziegenhain
2009). Forschungsbefunde verweisen hier auf den Zusammenhang zwischen unverarbeiteten traumatischen Erfahrungen der Eltern in ihrer eigenen Kindheit und der Etablierung einer desorganisierten Bindung zum Kind (Hesse & Main 2006 in ebda).
Sowohl Bindungsstörungen als auch das desorganisierte Bindungsmuster werden häufig
bei misshandelten und vernachlässigten Kindern gefunden. Beides verweist auf eine
kritische Eltern-Kind-Beziehung und auf dysfunktionales Elternverhalten. Beim Kind
führt solches elterliches Verhalten – wie etwa bedrohliches, negativ übergriffiges oder
emotional zurückgezogenes Verhalten, widersprüchliche affektive Kommunikation oder
desorganisiertes Verhalten gegenüber dem Kind – bei diesem zu Angst, zum Versagen
seiner Bewältigungsstrategien und zur Unfähigkeit, seine Gefühle flexibel regulieren zu
können (Ziegenhain 2009). Es wird vermutet, dass aufgrund des Zusammenhangs zur
kindlichen Emotionsregulation im Kontext früher Bindungsbeziehungen solche chronisch überwältigenden Erfahrungen die Entwicklung späterer Störungsbilder beeinflussen (DeKlyen & Greenberg 2008 in ebda).
23
6
Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung
bei Kindern im Grundschulalter
Die Erscheinungsformen der Bindungsverhaltensweisen des Kindes verändern sich zusammen mit den geistigen und körperlichen Fortschritten im Zeitraum zwischen Zahnwechsel und Pubertät. Das Wissen um die Verfügbarkeit und das Vertrauen in die Hilfe
der Bindungsperson, wenn sie gebraucht wird, wird zunehmend wichtiger als die körperliche Nähe zu ihr. Laut Bindungsforschung vollzieht sich eine Entwicklung vom
aktiven Nutzen der Bindungsperson im Kleinkindalter zum Wissen um ihre Verfügbarkeit in der mittleren Kindheit (Grossmann & Grossmann 2014).
6.1 Bindung im Grundschulalter Schulkinder brauchen den Schutz und die Beruhigung durch körperliche Nähe nicht
mehr so oft, ebenso brauchen sie für ihre Erkundungen seltener die elterliche Unterstützung. Lieblingslehrer oder vertraute Erwachsene können, ohne für das Kind Bindungspersonen zu sein, auch Sicherheit und feinfühlige Unterstützung geben (Mayseless 2005
in Grossmann & Grossmann 2014). Gleichaltrige sind extrem wichtig, wenn es um die
Zugehörigkeit zu einer Gruppe und um die äussere Erscheinung (Mode, Musik, Freizeit
usw.) geht. Dennoch wird bei schwerwiegenden Belastungen wie Krankheit, Trauer und
grosser Angst im Kind das Bindungssystem aktiv und es sucht in diesen Situationen die
Nähe der Bindungsperson (Kerns, Tomich & Kim 2006 in Grossmann & Grossmann
2014).
Da Schulkinder viele Stunden ausserhalb des unmittelbaren elterlichen Einflusses verbringen, müssen sie einen grossen Teil ihres Lernens und Erlebens geistig, symbolisch
vollziehen und sprachlich darstellen. Die Umsetzung von Erkenntnis in Sprache ist deshalb für dieses Alter eine zentrale Entwicklungsaufgabe, welche wesentlich vom häuslichen Umfeld beeinflusst wird. Die Vorstellung von sich als liebenswert und von anderen als unterstützend als zentrales Merkmal eines sicheren inneren Arbeitsmodells von
Bindung, bildet im Alter von 6 Jahren die Grundlage für die geistige Freiheit und Flexibilität, mit Herausforderungen und emotionalen Belastungen konstruktiv und ohne Einschränkungen im Bindungs- und Explorationsbereich umgehen zu können.
24
Das Kind wird in einem Elternhaus, in dem Gefühle – einschliesslich Bindungsgefühle
– angemessen thematisiert werden, im Laufe der Sprachentwicklung auch zunehmend
die passenden Worte für seine eigenen und die Gefühle anderer erkennen und finden
(Bretherton 1990 in Grossmann & Grossmann 2014): „Wenn die Gefühle und Beweggründe des Kindes besonders im Kleinkindalter von der Bindungsperson ‚richtig wahrgenommen‘, ‚richtig interpretiert‘ und prompt und ‚angemessen beantwortet‘ werden,
lernt das Kind, mit seinen eigenen Gefühlen, Motiven und Handlungen entsprechend
‚feinfühlig‘ umzugehen“ (vgl. Grossmann & Grossmann 2014, 374).
6.2 Entwicklungsaufgaben und psychische Sicherheit bei Kindern im Grundschulalter Seit den Zeiten der frühen Entwicklungspsychologen Karl und Charlotte Bühler (1879–
1963 bzw. 1893–1974) sowie Erik H. Erikson (1902–1994) steht bei der Erforschung
der mittleren Kindheit die Bewältigung von vier grossen Entwicklungsaufgaben im
Vordergrund, welche im Folgenden aus Grossmann & Grossmann (2014, 433) übernommen werden:
1.
die Entwicklung von sozialer Kompetenz in der Gruppe der Gleichaltrigen und im
Umgang mit unvertrauten, aber kundigen Erwachsenen (Erzieher, Untersucher
usw.)
2.
die Entwicklung von Werten und Moral im Umgang mit anderen
3.
der Aufbau eines positiven Selbstbildes
4.
der Erwerb von Sachkompetenzen, „Formwillen“, Schaffensfreude und eines
Sinns für Ziele, die es wert sind, mit Anstrengung verfolgt zu werden („Wertsinn“)
In Ergänzung dazu werden die drei zentralen Entwicklungsaufgaben, wie sie im Lehrbuch Entwicklungspsychologie von Oerter & Montada (2008) beschrieben werden, aufgeführt und erläutert:
1.
Soziale Kompetenz: der Umgang mit Gleichaltrigen, das Schliessen und Erhalten
von Freundschaften, Kooperation in Spiel und Sport, Arbeiten im Team.
2.
Geschlechtsrollenbewusstsein, Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl. Die Bindungstheorie definiert Selbstwertgefühl als das Bewusstsein und Vertrauen, es
25
wert zu sein, dass andere Zuwendung und Hilfe geben, wenn man sie darum bittet
(Grossmann & Grossmann 2014).
3.
Fleiss, Tüchtigkeit und Erwerb von Kulturtechniken, also Lesen, Schreiben und
eine Wertschätzung für Sprache, auch für Fremdsprachen. Die Bindungstheorie
bezeichnet als „sichere Exploration“, was John Bowlby Selbstvertrauen bzw. gesunde Selbständigkeit genannt hatte (Bowlby 1979c/2001 in Oerter & Montada
2008).
Die Erziehung zur Wertschätzung einer eigenen Gestaltungsfähigkeit wird in unserer
Kultur u.a. durch die Schule gefördert. Ihr Aufgabengebiet reicht über die Vermittlung
blosser „Kulturtechniken“ wie Lesen, Schreiben, Rechnen weit hinaus. In der Schule
wird kulturelles Wissen auch systematisch gelehrt und nicht nur, wie in der Familie,
implizit Kultur vermittelt. „Dies verlangt Lernanstrengungen von den Kindern, Verständnis für die Absichten des Lehrers, einen konstruktiven Umgang mit schwierigen
Anforderungen, eigene Leistungsbewertung und die Fähigkeit, auf zielkorrigierte Weise
um Hilfe und Beistand zu bitten“ (vgl. Grossmann & Grossmann 2014, 382). Bewältigungsstrategien, die ein Kind bei schwierigen Herausforderungen und Belastungen entwickelt, sind im Zusammenhang mit dem Erwerb von Fähigkeiten und Tüchtigkeiten
wichtig. „Die Bindungsforschung fragt, ob ein Kind in kritischen Situationen daran
denkt, dass andere hilfreich sein könnten“ (vgl. ebda, 386).
6.3 Psychische Sicherheit und Eltern-­‐Kind-­‐Bindung in der mittleren Kindheit Grossmann & Grossmann (2014) beschreiben die Elternbeziehung für Kinder jeden
Alters als wichtig und zentral. Neuere Forschungen ergaben, dass „[…] die Beziehungen zu Gleichaltrigen von der Qualität der Beziehung und Bindung zu den eigenen Eltern beeinflusst sind“ (vgl. ebda, 387). Kritisch ist für Kinder, wie sie von anderen beurteilt werden. Davon hängt ab, ob ihr Streben, Freundschaften schliessen zu wollen, mehr
oder weniger erfolgreich ist. Selbstwert und psychische Sicherheit des Kindes gelten
hierfür als ausschlaggebend. Diese sind in den Internalen Arbeitsmodellen repräsentiert,
welche förderlich, einschränkend oder mangelhaft organisiert sein können, wenn sie bei
Herausforderungen aktiviert werden.
Grundlegend kann gesagt werden, dass eine stützende, wohlwollende und wertschätzende Haltung der Eltern gegenüber dem Kind an eine erfolgreichere Bewältigung der
26
Entwicklungsaufgaben gekoppelt ist (ebda). Nach denn beiden Autoren hat ein sicheres
Kind „[…] ein gesundes, angemessenes Selbstwertgefühl, kann aber auch Mängel offen
zugeben. Es erkennt seine negativen Gefühle und teilt sie anderen Menschen mit, denen
es vertraut. Es hat einige gute Freunde oder mindestens einen guten Freund, der hilft
und dem Kind beisteht, der es nicht ausnutzt oder herabsetzt und dem gegenüber das
Kind ebenso handelt“ (vgl. ebda, 435).
Im Alter von etwa 10 Jahren sind die Eltern zwar immer noch die vorrangigen Bindungspersonen, es können sich daneben aber auch schon enge, persönliche und unterstützende Beziehungen zu Lehrern, Freunden und Bekannten entwickelt haben. Es wird
vermutet, dass in diesem Alter Bindungsbeziehungen zu anderen Vertrauenspersonen
sehr dazu beitragen können, ein besseres Verständnis für die eigene Beziehung zu den
Eltern zu entwickeln: „Enge, vertraute und offene Beziehungen zu anderen können die
Fähigkeit des Kindes fördern, Dinge aus einer anderen Sicht zu sehen und darüber
nachzudenken“ (vgl. ebda, 438).
6.4 Auswirkungen von Bindungsdesorganisation auf die Entwicklung und auf das Lernverhalten Im Alter von 6 Jahren lassen sich bei Kindern mit desorganisiertem Bindungsmuster
nun doch Strategien erkennen, mittels derer sie ihre personale Umwelt vorhersehbar zu
gestalten versuchen. „Es sieht dann so aus, als ob sie nun ihre fortgeschrittenen kognitiven und sozialen Fähigkeiten einsetzen, um die Beziehung zu ihrer Bezugsperson zu
strukturieren und zu regulieren. Um deren Verfügbarkeit zu erreichen, kontrollieren sie
diese“ (vgl. Schleiffer 2009, 47f), was auf unterschiedliche Weise geschehen kann.
Manche Kinder zeigen ein strafend-kontrollierendes, andere ein fürsorglich-kontrollierendes Verhalten.
Wenn ein Kind, etwa nach einer Trennung von der Mutter, ein feindseliges und aggressives Verhalten ihr gegenüber zeigt, so als wollte es diese strafen ob ihrer Abwesenheit,
entwickelt sich eine Kommunikation, in welcher zwar negative Emotionen vorherrschen, seine Bezugsperson sich jedoch, wenn auch widerstrebend, mit ihm beschäftigen
muss. Wenn ein Kind hingegen ein kontrollierend-fürsorgliches Verhalten gegenüber
der Mutter an den Tag legt, kann es zu einer Rollenumkehr kommen, bei der das Kind
geradezu die Rolle einer Bindungsperson übernimmt. Dies, um zu erreichen, dass das
Bindungssystem seiner Bezugsperson sich wieder deaktiviert und ihr dadurch ein müt-
27
terliches Verhalten wieder möglich wird. Die eigenen Bindungswünsche des Kindes
werden dabei verleugnet.
Da das Bindungssystem der betroffenen Kinder dauernd aktiviert ist, bleibt ihnen zu
wenig psychische Energie, um ihr Explorationssystem zu mobilisieren. Dies resultiert
darin, dass sie in ihrem Lernen behindert sind. Zusätzlich erschwert das geringe Selbstvertrauen dieser Kinder, die sich auf die Unterstützung ihrer Bezugspersonen nicht verlassen können, ihre kognitive und intellektuelle Entwicklung. Schleiffer (ebda) geht
davon aus, dass die Balance zwischen Bindungs- und Explorationsverhaltenssystem bei
den betroffenen Kindern dauernd gefährdet ist und dass sie daher gezwungen sind, sich
ständig über die jeweilige Verfassung ihrer Beziehung zur Mutter zu vergewissern.
Folglich hätten sie nicht genügend Aufmerksamkeit übrig, um explorieren und sich dem
Lernen zuwenden zu können.
„Bei Schulkindern finden sich nicht nur Zusammenhänge zwischen einer desorganisiertunsicheren Bindung, einer schlechten Selbstregulationsfähigkeit und einem schlechten
Selbstkonzept, sondern die schlechteren Schulleistungen dieser Schüler lassen sich auch
auf schlechtere Aufmerksamkeitsleistungen und darüber hinaus auch auf geringere metakognitive Fähigkeiten zurückführen“ (vgl. ebda, 50). Zusammengefasst kann gesagt
werden, dass desorganisiert gebundene Kinder gehemmter in ihren Explorationsaktivitäten und weniger konzentriert sind, eine geringe Frustrationstoleranz und weniger
Selbstvertrauen haben, in ihrer Intelligenzentwicklung retardiert sind und schlechtere
Schulnoten haben. Sie sind häufig lerngestört und lernbehindert. „Eine desorganisiertunsichere Bindungsqualität lässt sich daher als ein gemeinsamer Risikofaktor für die
Entwicklung von dissozialen Verhaltensstörungen wie auch für Lernstörungen ansehen“
(vgl. ebda, 51).
6.5 Kontinuität und Diskontinuität von Bindung Das Entwicklungsmodell der Bindungstheorie ist „[…] ein Modell einer von der frühen
Kindheit bis zum Jugendalter abnehmenden Sensitivität gegenüber den Erfahrungen mit
den Bezugspersonen“ (vgl. Zimmermann, Becker-Stoll, Grossmann, Grossmann,
Scheuerer-Englisch & Wartner 2000, 100). Die abnehmende Sensitivität hat damit zu
tun, dass die Internalen Arbeitsmodelle von sich und den Bezugspersonen zusehends
28
aufgebaut und stabilisiert werden und „[…] in zunehmendem Masse auch die autonome
Selbstregulation im Verhalten steuern“ (vgl. ebda, 100).
In der frühen Kindheit liegen die Erwartungen bezüglich der Eltern hinsichtlich der
emotionalen Verfügbarkeit noch nicht in expliziter Form vor, da sie in dieser Zeit noch
sehr von den tatsächlichen Erfahrungen der Zugänglichkeit und Bereitschaft der Eltern
abhängen und somit beeinflussbar sind. Ab dem Alter von 5 Jahren ändert sich dies: Die
Erwartungen bezüglich der Verfügbarkeit der Eltern sind überdauernder und „[…] das
Wissen der Kinder um die potentielle Verfügbarkeit ihrer Bezugspersonen hilft ihnen
bei der Regulierung negativer Gefühle“ (vgl. ebda, 100). Laut Bindungstheorie nimmt
ab diesem Zeitpunkt bis hin zum Jugendalter die Veränderbarkeit Internaler Arbeitsmodelle durch neue Fürsorgeerfahrungen kontinuierlich ab. Dennoch besteht bis zum
Jugendalter weiterhin eine Einflussmöglichkeit auf die Bindungsorganisation der Kinder.
Es kann gesagt werden, dass sich vor allem jene Bindungserfahrungen, die ein Kind im
Säuglingsalter mit seiner Mutter macht, zum grossen Teil in seiner Familie stabilisieren.
Dabei bleiben diese aber nicht auf die Mutter-Kind-Beziehung beschränkt, sondern zeigen sich auch im ausserfamiliären Umfeld des Kindes durch sein Verhalten gegenüber
anderen Personen (z.B. Erziehern, Kinderärzten, Lehrern). Es muss daher davon ausgegangen werden, „[…] dass sich Aspekte der Bindungsqualität, sei sie nun organisiert
(sicher, unsicher-vermeidend, unsicher-ambivalent) oder desorganisiert, in der Persönlichkeit des Kindes verankern“ (vgl. Kissgen 2009, 68).
Internale Arbeitsmodelle sind jedoch keine passiven Introjektionen von Objekten aus
der Vergangenheit, sondern aktive Konstruktionen, die neu strukturiert werden können.
Das Arbeitsmodell einer konkreten Eltern-Kind-Beziehung entwickelt sich nach Kissgen (2009) aus (a) den Handlungen des Kindes, (b) den Konsequenzen dieser Handlungen sowie (c) den Eltern-Kind-Interaktionen.
Eine sichere Bindung resultiert in einer vertrauensvollen und positiven Orientierung zur
Mutter, zu sich selbst und zum Rest der Welt im Allgemeinen. Bei Kindern, die eine
nicht feinfühlige, relativ unverlässliche Fürsorge erfahren haben, ist die Orientierung
zur Bindungsfigur, zu sich selbst und zur Welt von einer negativen und misstrauischen
Haltung gekennzeichnet, welche das fehlende Vertrauen in die emotionale Verfügbarkeit und Verlässlichkeit der Bindungsfigur spiegelt.
29
Gesamtheitlich lässt sich feststellen, dass sich ein hohes Ausmass an Kontinuität der
Bindungsorganisation in der Kindheit mit 1 Jahr bis zum Alter von 10 Jahren in der
Organisation von Bindungsverhaltensweisen zeigt. Änderungen in den Interaktionserfahrungen mit den Bezugspersonen, wie z.B. ein Verlust oder der Aufbau von Vertrauensbeziehungen, können jedoch potentielle Einflussfaktoren für die Veränderung
der Bindungsorganisation des Kindes darstellen. In verschiedenen Studien zeigte sich,
dass der Einfluss von sogenannten Risikofaktoren – wie z.B. Scheidung oder Verlust
eines Elternteils durch Tod – die familiäre Interaktion nachhaltig beeinflussen, entweder
durch Veränderung der Bindungsorganisation oder aber direkt durch Ausbildung einer
unsicheren Bindungsrepräsentation. Veränderungen der emotionalen Verfügbarkeit der
Bezugspersonen können entsprechend zu Veränderungen Internaler Arbeitsmodelle von
Bindung führen. Das Auftreten von Risikofaktoren hat in manchen Studien nicht nur zur
erwarteten Veränderung der Bindungsorganisation von sicher zu unsicher, sondern auch
von unsicher zu sicher geführt (Zimmermann et al. 2000).
6.6 Diagnostik der Bindungsqualität im Grundschulalter – der Separation Anxiety Test (SAT) Die Bindungsrepräsentation von Kindern im Grundschulalter kann aus deren sprachlichen Äusserungen zu bindungsrelevanten Themen erschlossen werden. Der Separation
Anxiety Test (SAT) ist eines der am häufigsten eingesetzten Instrumente, mittels derer
die Bindungsmuster von Grundschulkindern auf diesem Weg erhoben werden. Das Verfahren wurde ursprünglich 1972 von Hansburg entwickelt, um Trennungsangst bei Kindern und Jugendlichen zu diagnostizieren, und hat schon früh Eingang in die Bindungsforschung gefunden. Seit seiner ersten Adaption durch Bowlby hat der SAT mehrere
Überarbeitungen erfahren – insbesondere von Kaplan (1987), Jacobson und Ziegenhain
(1997) und Julius (2003).
Es handelt sich beim SAT um ein halbstandardisiertes Interview in Form eines bildgestützten, projektiven Geschichtenergänzungstests, in dessen Verlauf den Kindern Fragen
zu acht Bildern gestellt werden, auf denen jeweils ein Junge oder ein Mädchen (je nach
Geschlecht des interviewten Kindes) abgebildet ist, das über kürzere oder längere Zeit
von einer Bindungsfigur getrennt wird. Auf drei Bildern sind Szenen dargestellt, die
eine längere bzw. bedrohliche Trennung zwischen Kindern und deren Eltern zum Inhalt
haben. Es wird vorausgesetzt, dass es sich bei diesen Bildern um Situationen handelt, in
30
denen auch bei älteren Kindern das Bindungsverhaltenssystem aktiviert wird. Deshalb
kommt ihnen bei der Auswertung eine besondere Bedeutung zu. Die Kinder werden zu
allen Bildern gefragt, wie das abgebildete Kind sich ihrer Meinung nach in der jeweiligen Situation fühlt, warum es sich so fühlt, was das Kind auf dem Bild denkt, was es
jetzt tun wird und wie die Geschichte ihrer Meinung nach ausgehen wird. Die Kinder
werden dann – im Anschluss an diese offenen Fragen, die in der Regel von Nachfragen
begleitet sind – nach ihren eigenen Erfahrungen befragt. Nennen sie solche Erfahrungen, werden ihnen wiederum Fragen nach Gefühlen, Gedanken und Bewältigungsstrategien gestellt, die mit diesem Ereignis verbunden waren (Julius 2009).
Die Durchführung des SAT dauert in etwa 30 Minuten. Das Interview wird aufgenommen und anschliessend wortwörtlich transkribiert. Die Auswertung erfolgt anhand der
sprachlichen Information (dazu kommen auffällige Verhaltensweisen wie z.B. Verhaltensstereotypien während des Interviews, welche ebenfalls Eingang in die Codierung
finden).
Aus den SAT-Narrativen lassen sich die vier Bindungsmuster sicher (B), unsichervermeidend (A), unsicher-ambivalent (C) sowie desorganisiert (D) nebst deren Subklassifikationen ermitteln. Im Folgenden werden charakteristische Sprachmuster von Kindern mit organisierten Bindungsstrategien (A, B und C) sowie Sprachmuster von Kindern mit einer desorganisierten Bindungsstrategie (D) beschrieben.
6.6.1 Sprachmuster von Kindern mit organisierten Bindungsstrategien Sicher gebundene Kinder (B) sind dazu in der Lage, emotionale Betroffenheit auszudrücken, indem sie eigene negative Gefühle, wie z.B. Angst oder Ärger, offen äussern. Sie
können daher Fragen nach den Gefühlen der abgebildeten Kinder in bindungsrelevanten
Situationen offen und differenziert beantworten (Julius 2009). In angemessener Weise
drücken sie Gefühle von Trauer, Sehnsucht, Angst oder Ärger aus und geben dafür
Gründe an (Grossmann & Grossmann 2014; Julius 2009). Kinder dieser Bindungskategorie sind in der Lage, konstruktive Lösungsvorschläge für alle Trennungssituationen
zu nennen.
Unsicher-vermeidend gebundene Kinder (A) können für keine der signifikanten Trennungssituationen Strategien nennen, die darauf zielen, die Nähe zur Bindungsfigur wiederzuerlangen bzw. herzustellen. Sie nennen auf die Frage, was das Kind in der jeweiligen Trennungssituation tun wird, ausschliesslich passive Strategien.
31
Kinder, die im SAT als unsicher-ambivalent (C) klassifiziert werden, zeigen gegensätzliche, oft unvereinbare Strategien. Sie verbalisieren häufig aggressive Verhaltensweisen
gegenüber den Bindungsfiguren und kombinieren dieses Verhalten mit Strategien, die
darauf zielen, die Nähe zu diesen Personen herzustellen (Julius 2009).
6.6.2 Sprachmuster von Kindern mit einer desorganisierten Bindungsstrategie Kinder des desorganisierten Bindungsmusters (D) verbalisieren beim Sprechen über
bindungsrelevante Situationen oft Katastrophenphantasien, die eine endgültige Trennung von den Eltern zum Inhalt haben – z.B. dass die Eltern oder das Kind getötet werden oder dass das Kind sich einschliesst, verhungert oder verlorengeht (Grossmann &
Grossmann 2014; Julius 2009). Es wird angenommen, dass das SAT-Narrativ dieser
Kinder in den Katastrophenphantasien ausser Kontrolle gerät. „Inhaltlich spiegeln diese
Phantasien die Angst und Hilflosigkeit dieser Kinder in bindungsrelevanten Situationen
wider“ (vgl. Julius 2009, 128f).
Weniger häufig als Katastrophenphantasien finden sich in den SAT-Narrativen desorganisiert gebundener Kinder eingeschobene Aussagen. Gemeint sind damit Aussagen,
die sich inhaltlich und stimmlich vom Gedanken- bzw. Redefluss abheben. Solche Fehler in der Organisation der Sprache können laut Julius (ebda) auf einen Zustandswechsel
hindeuten, bei dem das Kind in einen spezifischen abgespaltenen Bewusstseinszustand
übergeht, der eine traumatische Erfahrung beinhaltet. Wenn es Kindern gelingt, sich
während der Dauer traumatischer Ereignisse in einen anderen Bewusstseinszustand zu
versetzen, dann ist es wahrscheinlich, dass traumabezogene Informationen in einen parallelen Gedächtnisspeicher – in ein sogenanntes segregiertes System – gelangen und
damit vom Tages-Wach-Bewusstsein getrennt sind. Einen Zugang zu solch einem vom
Bewusstsein abgespaltenen System gibt es womöglich nur dann, wenn ein Kind kurzfristig wieder in den gleichen Bewusstseinszustand tritt, in dem diese Informationen
gespeichert wurden. Da der eben beschriebene Mechanismus von Dissoziation generalisiert ist und daher von betroffenen Kindern auch in anderen belastenden Situationen
eingesetzt wird, ist es wahrscheinlich, dass sich das Kind durch das gezeigte Bild sowie
durch die Fragen des Interviewers im SAT kurzfristig in einen solchen Zustand versetzt.
Ebenso finden sich in den SAT-Narrativen desorganisiert gebundener Kinder gegenteilige Aussagen, welche die Kinder selbst nicht bemerken. Es wird angenommen, dass
sich darin Interferenzen unabhängiger Gedächtnissysteme spiegeln.
32
Die oben genannten Kriterien weisen alle auf eine Aktivierung von vom Bewusstsein
abgetrennter Systeme hin. Ebenso häufig finden sich in den SAT-Narrativen desorganisiert gebundener Kinder auch Anzeichen für eine Deaktivierung abgetrennter Systeme.
Die kindlichen Versuche, die Deaktivierung eines abgetrennten Systems aufrechtzuerhalten, manifestieren sich besonders deutlich in Situationen, in denen bindungsrelevante
Erinnerungen aktiviert werden. So verfallen desorganisiert gebundene Kinder im SAT
beim Sprechen über bindungsrelevante Inhalte oft in Schweigen, sie flüstern während
langer Phasen des Interviews, sie zeigen stereotype Verhaltensweisen (in der Form, dass
sie z.B. rhythmisch zu klopfen anfangen) oder sie zeigen massiven Widerstand. Solch
massiver Widerstand manifestiert sich beispielsweise darin, dass bindungsrelevante
Gefühle geleugnet und ins Gegenteil verkehrt werden und/oder dass das Kind versucht,
sich den Fragen des Interviewers zu entziehen.
Es ist charakteristisch für Kinder, die als desorganisiert klassifiziert werden, dass sie
während des SAT-Interviews Anzeichen sowohl für eine Deaktivierung als auch für
eine Aktivierung abgetrennter Systeme zeigen.
Zusätzlich fallen desorganisiert gebundene Kinder ab dem Grundschulalter häufig durch
kontrollierende Verhaltensweisen gegenüber ihren Bindungsfiguren auf. Das kontrollierende Verhalten kann – wie bereits ausgeführt – entweder eine fürsorgliche Form annehmen oder strafend sein5 und findet sich auch in den SAT-Narrativen wieder (Julius
2009).
5
Siehe dazu auch Kap. 6.4 „Auswirkungen von Bindungsdesorganisation auf die Entwicklung und auf
das Lernverhalten“.
33
7
Psychotherapeutische Ansätze bei Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung
Laut Brisch (2015a) bedarf es einer klaren Abgrenzung zwischen den Begrifflichkeiten
„Bindungstherapie“ und „bindungsbasierte Psychotherapie“. Der letztere Ansatz beruht
auf der Bindungstheorie von Bowlby; er wendet die Ergebnisse der Grundlagenforschung auf die psychotherapeutische Arbeit mit Eltern, Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen an und entwickelt daraus präventive bindungsbasierte Interventionen.
Die sogenannte „Bindungstherapie“ (Engl. attachment therapy) beruft sich zwar auch
auf die Bindungstheorie, jedoch laufen die heutigen Beschreibungen und Schilderungen
der praktischen Anwendung der Bindungstheorie total zuwider.
Im folgenden Kapitel sollen psychotherapeutische Ansätze einer bindungsbasierten Psychotherapie kurz umrissen werden.
7.1 Die Bedeutung der therapeutischen Beziehung Im Rahmen des Spektrums aller Variablen, die das Therapieergebnis beeinflussen können, kommt der Bindungsbeziehung zwischen Patient und Therapeut ein ganz entscheidender prädikativer Wert zu. Dies belegen umfassende Studien aus der Psychotherapieprozessforschung: Zwischen der Qualität der therapeutischen Beziehung und dem
Therapieerfolg bestehen konsistente Zusammenhänge. Als für die Herstellung und Aufrechterhaltung der therapeutischen Bindung auslösende Faktoren werden die unausgesprochene Affektabstimmung zwischen Patient und Therapeut sowie das affektive Klima für bedeutungsvoll gehalten. Die Bindung wird als grundsätzliche Bedingung angesehen, damit therapeutische Techniken und Botschaften aus dem Beziehungserleben
innerhalb der Therapie vermittelt werden können. Das Konzept der Bindung stellt somit
eine Grundvoraussetzung für die psychotherapeutische Arbeit dar, wobei die Bindung
als übergreifender Wirkfaktor aller Therapiemethoden betrachtet werden kann (Brisch
2015a).
Ein Mensch, der eine Psychotherapie aufsucht, befindet sich in einem Zustand von
Kummer und Not, sein Bindungssystem ist maximal aktiviert. Es kann davon ausgegangen werden, dass seine Bindungspersonen (soweit er sie denn hat) ihm (aus welchem
34
Grund auch immer) nicht hinreichend helfen konnten, denn sonst würde er nicht die
Hilfe des Therapeuten suchen. Damit weist er dem Therapeuten – ob dieser das möchte
oder nicht – die Funktion einer Bindungsperson zu. Im Psychotherapeuten sucht er eine
sichere Bindungsperson, bei der er sich durch die therapeutische Bindung emotional so
versichern kann, dass ihm eine Erkundung seiner inneren Phantasiewelten oder seiner
äusseren Realitäten möglich wird (Höger 2005). Laut Brisch (2015a) stellt dies die Voraussetzung für psychische Veränderung dar.
So ist es für den Therapeuten die zentrale Aufgabe, mit dem Patienten eine sichere Basis herzustellen. „Dies erfordert sehr viel Feinfühligkeit und Empathie und macht es
nötig, sich auf die verzerrten Bindungsbedürfnisse und auf das daraus abgeleitete oft
bizarre Interaktionsverhalten des Patienten einzustellen oder einzustimmen“ (vgl. ebda,
124). Laut Brisch (2015) können die von Ainsworth geforderten Qualitäten der Feinfühligkeit im Wahrnehmen der Signale des Patienten, im richtigen Verständnis und in der
angemessenen und prompten Reaktion auf diese Signale, wie sie zur Herstellung der
Bindung zwischen Mutter und Kind hilfreich sind, direkt auf die therapeutische Situation übertragen werden.
„Erweist sich der Therapeut in diesem Sinne als freundlich zugewandt und wird er in
der therapeutischen Situation […] vom Patienten als stärker und klüger erlebt, dann
kann er für den Patienten die Qualität einer Bindungsperson bekommen“ (vgl. Höger
2005, 48f). Der Therapeut bzw. die Beziehung zu ihm wird für den Patienten zum Ort
der Sicherheit und der Beruhigung. Der Patient kann sich nun, ausgehend von dieser
sicheren Basis, wagen, sich bei sich selbst und bei anderen auf bisher ängstigendes
Fremdartiges und Unbekanntes einzulassen. Im Zuge der Aktivierung seines Explorationssystems kann er seine Beziehungen zu sich selbst, zu anderen und zur Welt erkunden. Mit dem Therapeuten kann er sich bei seinem Erkunden über Bedrohliches, genauso aber über Erfolgserlebnisse austauschen. Die therapeutische Beziehung bietet hiermit
den Rahmen, in welchem Veränderungen stattfinden können und sich die Kompetenz
des Patienten erweitert.
Der „Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung“ ist somit – aus der Perspektive der Bindungstheorie – nicht nur eine Randbedingung des Therapieprozesses, sondern ein entscheidender Gegenstand der therapeutischen Arbeit selbst.
35
7.2 Bindungsbasierte Psychotherapie mit Kindern In der therapeutischen Arbeit mit Kindern bestehen die primären Bindungsbeziehungen
zu den Eltern weiterhin fort. Meist steht das Kind zu diesen noch in einem vitalen Abhängigkeitsverhältnis. Die therapeutische Beziehung wird somit für das Kind zu einer
neuen, ergänzenden, zu seinen bisherigen Bindungserfahrungen koexistierenden Bindungserfahrung. Anders als bei Erwachsenen sind die Bindungswünsche des Kindes
noch sehr auf die Eltern ausgerichtet, und der Therapeut muss erst einmal zu einer wichtigen Bindungsperson werden, damit sich das Kind ihm mit seinem Kummer und seinen
Sorgen anvertraut. „Ist ein solches Vertrauensverhältnis zwischen Kind und Therapeuten aufgebaut, so wird das Kind seine bisherige Bindungsstrategie bzw. auch mehrere
Bindungsstrategien auf den Therapeuten übertragen“ (vgl. Hauser & Endres 2002,
170f).
Der Kindertherapeut muss entsprechend in der therapeutischen Arbeit in seinem Verhalten gegenüber dem Kind als verlässliche psychische und physische Basis fungieren, so
dass sich trotz der Bindungsstörung des Kindes ein sicheres Arbeitsbündnis entwickeln
kann (Brisch 2006). „Der Therapeut muss sich darüber im Klaren sein, dass ein Kind in
der Spielsituation bindungsrelevante Erwartungen auch an ihn hat, das heisst das Kind
sucht im Therapeuten ebenfalls wie zu einer sicheren Bindungsperson eine hoffnungsvolle sichere Basis, von dem aus es sein Spiel und die damit verbundenen Erkundungen
starten kann“ (vgl. ebda 2002b, 86). Wenn diese Bedürfnisse des Kindes von den psychotherapeutischen Bindungspersonen nicht feinfühlig beantwortet oder sogar abgewiesen werden, so kann sich das Spiel als eine Wiederholungssituation von früher erlebten
Traumatisierungen gestalten und damit die Psychopathologie des Kindes noch verstärken. Entsprechend ist es von grosser Bedeutung, dass Therapeuten die normalen Varianten der Bindungsmuster und die Zusammenhänge zwischen Bindungs- und Erkundungssystem kennen, da sie dann in der Spielsituation auch adäquater darauf eingehen können. Es ist wichtig, dass sie sich selbst als die zentrale, sichere Basis verstehen, von der
aus eine emotionale Entwicklung des Kindes gelingen kann.
Im Symbolspiel ermöglicht der Therapeut dem Kind, seine erlebten Bindungsbeziehungen darzustellen. „Im Spiel auftauchende bindungsrelevante Themen werden vom
Therapeuten aufgegriffen und verbal oder durch teilnehmende Spielinteraktion in ihrem
36
Ausdruck gefördert“ (vgl. ebda). Durch neue, sichere Bindungserlebnisse ermöglicht
der Therapeut dem Kind, dass es sich von alten, destruktiv unsicheren Bindungsmustern
lösen und eine sichere Bindungsqualität entwickeln kann.
Zur genaueren Betrachtung werden im Folgenden sechs für die Psychotherapie von
Kindern wesentliche Gesichtspunkte von Brisch (2015a, 126), in Anlehnung an Bowlby, übernommen:
1.
Der Kinderpsychotherapeut muss in seinem Zuwendungsverhalten als verlässliche
psychische und physische Basis fungieren, damit sich trotz der Bindungsstörung
des Kindes eine sichere Bindungsbeziehung entwickeln kann.
2.
Der Therapeut ermöglicht ein Spielverhalten, das sowohl in der direkten Interaktion als auch im Symbolspiel die Darstellung von bindungsrelevanten Inhalten aus
den erlebten Beziehungen zu seinen bisherigen Bezugspersonen fördert.
3.
Der Therapeut deutet bindungsrelevante Interaktionen zwischen sich und dem
Kind direkt verbal oder durch teilnehmende Spielinteraktion auf der symbolischen
Ebene.
4.
Der Therapeut fördert emotionale Äusserungen des Kindes, die sich auf die Bindungsaspekte in der Übertragung beziehen, und setzt sie in Beziehung zu den erfahrenen Bindungserlebnissen der Vergangenheit.
5.
Der Therapeut ermöglicht durch neue, sichere Bindungserlebnisse, dass das Kind
sich von früheren, destruktiven unsicheren Bindungsmustern lösen und eine sichere Bindungsqualität entwickeln kann.
6.
Der Therapeut muss das therapeutische Bündnis behutsam lösen, als Vorbild für
den Umgang mit Trennungen: Die Trennung sollte vom Patienten und/oder den
Eltern initiiert werden. Dann wird sie weniger leicht als Zurückweisung durch den
Therapeuten erlebt. Die physische Trennung ist nicht gleichbedeutend mit dem
Verlust der „sicheren Basis“, weil für das Kind und für die Eltern die Möglichkeit
bestehen bleibt, bei erneuter „Not und Angst“ zu einem späteren Zeitpunkt auf
den Therapeuten zurückzugreifen.
Genauso wie in der Erwachsenentherapie wird auch in der Kindertherapie im Spielverhalten des Kindes auf bindungsrelevante Inhalte von Bindung, Trennung und Exploration fokussiert. Bindungsrelevante Spielinteraktionen zwischen Kind und Therapeut kön-
37
nen, je nach Alter des Kindes und therapeutischer Orientierung, direkt verbal oder durch
Deutung im teilnehmenden Spiel angesprochen werden. Das Kind kann so in gewisser
Weise damit konfrontiert werden. Das Ausmass der Konfrontation oder der verbal aufdeckenden, direkt formulierten Bindungsthemen hängt wiederum vom Alter des Kindes
und seinen Fähigkeiten zur kognitiven Verarbeitung ab. Kinder können in der Regel
aber auch selbst Bindungserlebnisse im Hinblick auf die Übertragung zum Therapeuten
wie auch real erfahrene Bindungserlebnisse aus ihrer Vergangenheit ansprechen. Sind
diese sehr angst- und aggressionsbesetzt, gilt es sehr vorsichtig vorzugehen, weil ein
Überfluten durch die mit den Erlebnissen verbundenen Affekte durch zu frühe Interpretationen und Deutungen eine noch nicht so sichere therapeutische Bindung überfordern
können.
Unterbrechungen der Therapie am Ende der Stunde, am Wochenende oder bei längerem
Urlaub und Erkrankungen aktivieren das Bindungssystem des Kindes. Es können dann
Spielsachen aus dem therapeutischen Raum als hilfreiche Übergangsobjekte eingesetzt
werden, die symbolisch für den Therapeuten und die therapeutische Beziehung stehen.
Es gibt auch Kinder, die um eine Postkarte oder auch um regelmässige Postkarten bitten, als „Beweis“, dass der Therapeut durch die Trennung nicht verloren gegangen ist.
7.2.1 Begleitende Psychotherapie der Eltern Die begleitende Psychotherapie von Eltern oder Bezugspersonen spielt in der Behandlung von Kindern eine grosse Rolle. „Da das Kind seine in der Therapie gewonnenen
Behandlungsfortschritte nur so weit realisieren kann, wie die Eltern in der Lage sind,
diese zu akzeptieren und wohlwollend oder auch verständnisvoll zu begleiten, muss der
Therapeut die Eltern über das therapeutische Vorgehen, das therapeutische Verständnis,
die zugrundeliegende Theorie und die zu erwartenden Behandlungsschritte und Veränderungen beim Kind informieren“ (vgl. Brisch 2015a, 127f). Je nach elterlicher Psychopathologie kann darüber hinaus auch eine intensivere Einzel- oder Paarpsychotherapie
der Eltern stattfinden. Der Kindertherapeut muss dann nicht nur mit dem Kind, sondern
auch mit den Eltern eine positive therapeutische Bindung im Sinne einer sicheren Basis
eingehen.
Stellt die Beziehung des Therapeuten zum Kind oder die Veränderung der Symptomatik
des Kindes für die Eltern eine Verunsicherung dar oder spüren diese eine Ablehnung
38
durch den Therapeuten bzw. lehnen ihn ihrerseits ab, wird die Behandlung früher oder
später misslingen, weil die Eltern dann aus Angst zum Abbruch der Behandlung neigen.
Der Therapeut muss mit grosser Feinfühligkeit für die Bindungsbedürfnisse der Eltern –
bei der Mutter und beim Vater können diese durchaus unterschiedlich sein –, auch für
diese eine emotional sichere Basis herstellen, von der aus sie im Laufe der begleitenden
Elterntherapie eigene Verletzungen, Kränkungen sowie Verlust- und Trennungserlebnisse aus ihrer Lebensgeschichte besprechen können. Bindungs- und Explorationsbedürfnisse sind im Rahmen der Beziehung der Eltern untereinander in der Regel von
wesentlicher Bedeutung. Sind diese in der Partnerschaft nicht gut integriert, kann es zur
Übertragung von Bindungswünschen und -bedürfnissen eines Partners auf das Kind
kommen. Das Kind kann dann in eine Partnerersatzfunktion gedrängt werden. Ähnliche
Übertragungswünsche können sich auch auf den Therapeuten legen.
7.2.2 Bindungsbasierte Psychotherapie bei Desorganisation und Trauma Die Voraussetzung einer sicheren Bindungsbeziehung zwischen Patient und Therapeut
gilt in besonderem Masse für traumatisierte Patienten, weil durch die traumatische Erfahrung das innere Arbeitsmodell von Bindung total erschüttert, fragmentiert, desorganisiert oder sogar zerstört ist. Der Patient hat in sich kein verinnerlichtes Gefühl mehr
von emotionaler Sicherheit, auf das er zur Selbstberuhigung und emotionalen Stabilisierung zurückgreifen kann: „Er ist wie ein Schiff in stürmischer See, das die Orientierung
verloren hat und dessen Heimathafen nicht nur weit entfernt ist, vielmehr wurde dieser
zerstört und ermöglicht keine Rückkehr mehr, um dort Sicherheit und Schutz vor den
Wellen zu suchen“ (vgl. Brisch 2015b, 121). Das Ausmass der daraus resultierenden
Angst ist enorm gross und kann in der Regel vom Patienten selbst nicht mehr ausreichend verarbeitet werden. Panikanfälle, somatoforme Störungen etwa mit Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Verdauungsbeschwerden, Schlafstörungen, Kollapszuständen
und Symptomen aus dem gesamten Spektrum der dissoziativen Störungen sind häufig
die Folge der sehr grossen vegetativen Überregung. „Weil die Angst des Patienten weder durch das innere Bindungsarbeitsmodell noch durch äussere sichernde Bindungsbeziehungen aufgefangen und gehalten wird, kommt es zur Symptombildung“ (vgl. ebda).
Der Aufbau einer sicheren therapeutischen Beziehung verlangt vom Therapeuten eine
enorme Feinfühligkeit, da die Patienten sich mit allen Symptomen von bizarren Bin-
39
dungsmustern bis zur psychopathologischen Ausprägung der Bindungsstörungen in die
therapeutische Beziehung einbringen. Die Angst des Patienten – und damit auch die
Intensität der Symptome – verringert sich, sobald der Patient in der Übertragung eine
sichere emotionale Bindung zum Therapeuten erlebt. Es ist nun für den Patienten möglich, seine traumatischen Erinnerungen zu explorieren und auch Erinnerungen zuzulassen, die zuvor verdrängt und abgespalten waren. Vielfältige therapeutische Techniken
aus allen therapeutischen Schulen kommen für die Bearbeitung der traumatischen Erfahrungen in Betracht. Ohne sichere therapeutische Beziehung und die Herstellung eines inneren, emotional sicheren Ortes, zunächst in der aktiven Imagination, später in der
psychischen Repräsentation des Patienten, ist jedoch keine der verschiedenen Methoden
erfolgreich einsetzbar. „Es käme nur zu einer Retraumatisierung des Patienten, weil
dieser von traumatischen Affekten überschwemmt würde, ohne dass diese in der therapeutischen Beziehung noch in der psychischen Bindungsrepräsentation des Patienten
ausgehalten und integriert werden könnten“ (Brisch 2015b, 122). Aus diesem Grunde
haben alle modernen traumatherapeutischen Methoden eine Stabilisierungsphase am
Anfang der Behandlung, die der Herstellung einer sicheren therapeutischen Beziehung
und eines „sicheren Ortes“ in der Imagination des Patienten dient. Bei schweren Traumatisierungen kann diese Phase der Stabilisierung viele Monate dauern.
40
8
Musiktherapie bei Bindungsdesorganisation und
Bindungsstörung
Im ersten Unterkapitel zu diesem Thema soll ein Einblick in das therapeutische Potential der Musik gewährt, im zweiten Unterkapitel die Frage der Indikation bzw. Kontraindikation betrachtet und im dritten Unterkapitel die musiktherapeutische Methodik bei
Kindern mit Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung vorgestellt werden. Zu dieser eingehenderen Betrachtung werden einzelne Szenen aus den Fallbeispielen, welche
in Kapitel 9 beschrieben werden, herausgegriffen, um als Praxisbeispiele die Funktionen
der Musik zu veranschaulichen, die bei Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung
zum Tragen kommen. Es werden dabei zusätzlich Praxisbeispiele aus dem Therapieprozess eines Kindes, welches im Rahmen dieser Arbeit nicht im Detail vorgestellt wird,
herangezogen. Der Therapieprozess dieses Kindes wurde unter denselben Voraussetzungen anhand der Methode der Teilnehmenden Beobachtung audiobasiert protokolliert und nach denselben Kriterien ausgewertet.
8.1 Das therapeutische Potential der Musik „Der menschliche Säugling wird in eine Welt voller Klänge, Geräusche und Stimmen
hinein geboren. Erstaunliche angeborene Fähigkeiten erlauben ihm, in dem anfänglichen akustischen Gewirr bedeutsame Signale vom akustischen Hintergrund zu trennen
und Unwichtiges zu habituieren“ (vgl. Papousek 2008, 11). Vor allem die Grundelemente der Musik, der Klang der menschlichen Stimme, Melodie, Dynamik und Rhythmus ziehen die auditive Aufmerksamkeit des Neugeborenen auf sich. Bereits im letzten
Drittel der Schwangerschaft macht er sich mit dem Klang der mütterlichen Stimme und
der einzigartigen Prosodie der Muttersprache vertraut. Musikalische Elemente mit ihren
universellen Botschaften dienen als erste „gemeinsame Sprache“ dem Ausdruck gemeinsamen emotionalen Erlebens und der Regulation von Aufmerksamkeit, affektiver
Erregung und Spannung sowie dem Ausdruck von Freude, Traurigkeit, Sehnsucht, Vertrautheit und Geborgenheit.
Nach Lutz Hochreutener (2009) gibt Musik Raum für nachnährende, nachholende, korrigierende und kompensierende Beziehungserfahrungen auf frühen und frühesten Ent-
41
wicklungsstufen. Sie eröffnet der Therapeutin weitreichende Möglichkeiten, um seine
Resonanz jenseits von Sprache unmittelbar auf die Entwicklungsbedürfnisse des Kindes
abzustimmen.
Da der Umgang mit Musik für Kinder unbefangen ist, kann Musiktherapie als ein kreativer Erlebnisraum genutzt werden, in welchem der Körper gespürt und Gefühle ausgedrückt werden können. Der therapeutische Zugang zu Emotionen wird erleichtert durch
das spielerische Vorgehen in der Kindermusiktherapie, welches Freude und Lebendigkeit vermittelt (Plahl & Koch-Temming 2008).
8.2 Indikation und Kontraindikation Musiktherapie bei Bindungs-­‐
desorganisation und Bindungsstörung Nach Frohne-Hagemann & Pless-Adamczyk (2005) liegt eine Indikation für Musiktherapie vor, wenn es – wie bei Kindern mit Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung der Fall– um ein Nachnähren, Nachholen, Bereitstellen oder Herausfordern korrigierender und kompensierender Beziehungserfahrungen geht. Musiktherapie bezieht
sich immer auf die nachholende oder korrigierende Erfahrung selbst-, ich- und identitätsentwickelnder Beziehungsqualitäten und behandelt nicht einzelne Symptome einer
psychischen Störung, sondern die affektiven und interaktionellen Grundlagen der Beziehungsqualitäten. Dazu gehört sowohl die Förderung der sensorischen Integration als
auch die Affektregulierung. Musiktherapie ist spezifisch indiziert, wenn etwa die Halteund Containerfunktion, die Vehikelfunktion oder auch die Katalysatorfunktion der Musik6 durch kein anderes Medium ersetzt werden können (Frohne-Hagemann & PlessAdamczyk 2005; Decker-Voigt, Oberegelsbacher & Timmermann 2012).
Die Möglichkeit des gleichzeitigen musikalischen Ausdrucks im Musikspiel sowie die
Kapazität des Mediums Musik, räumliche Distanz zu überwinden, führt unmittelbar zu
wechselseitiger Berührung von Ich und Du. Dies kann zutiefst berühren und bewährte
Schutzhaltungen durchdringen und lässt sich in seiner Feinstofflichkeit nicht festhalten
oder bannen. Diese Merkmale, welche das Potential der Musik ausmachen, können
gleichzeitig auch als Schattenseiten wirken: Sie können überschwemmen und zu Überforderung führen, gerade bei auditiv besonders sensiblen, schwer ich-strukturell gestörten, verwahrlosten, traumatisierten oder in der Wahrnehmung beeinträchtigten Kindern,
6
Siehe dazu auch Kap. 8.3.2 „Therapeutische Funktionen der Musik und Interventionen bei Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung“.
42
vor allem in Kombination mit Hyperaktivität. Die Therapeutin muss das Material dann
so sparsam und direktiv strukturierend einsetzen, dass es sinnvoll sein kann, einen anderen therapeutischen Zugang zu wählen (Lutz Hochreutener 2009).
8.3 Musiktherapeutische Methodik bei Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung Im Folgenden wird – nach einer Einführung in die musiktherapeutische Methodik in
Kap. 8.3.1 – in Kap. 8.3.2 ausführlich auf die therapeutischen Funktionen der Musik
und Interventionen bei Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung eingegangen.
8.3.1 Einführung in die musiktherapeutische Methodik „Das Musikspiel entspricht in seinen Wesensmerkmalen und seinem therapeutischen
Wirkungspotential dem Spiel in anderen Psychotherapieverfahren“ (vgl. Lutz Hochreutener 2009, 285f). Im therapeutischen Prozess übernehmen die Musik und das Musikspiel vor dem Hintergrund der therapeutischen Beziehung verschiedene entwicklungsförderliche Funktionen. Durch gezielten Einsatz verschiedener Modalitäten im Vorgehen und mit Hilfe spezifischer Interventionstechniken können diese Funktionen erreicht
werden. Das musiktherapeutische Vorgehen wiederum lässt sich nach verschiedenen
musikzentrierten Methoden systematisieren.
Im Folgenden wird zum besseren Verständnis auf diese grundlegenden Eckpfeiler der
musiktherapeutischen Methodik kurz eingegangen:
Therapeutische Beziehung: „Die Qualität der therapeutischen Beziehung gilt in der Musiktherapie mit Kindern wie in allen Psychotherapieverfahren als bedeutendster Wirkfaktor.“7 Musiktherapeutische Methoden und Interventionstechniken werden nur wirksam auf der Basis einer „[...] hinreichend tragfähigen und entwicklungsförderlichen
Beziehung zwischen dem Kind und der Therapeutin“ (vgl. Lutz Hochreutener 2009,
100ff).
Funktionen der Musik: Je nach Entwicklungsalter, Thematik und Befindlichkeit des
Kindes übernehmen die Musik und das Musikspiel im therapeutischen Prozess indikationsspezifisch verschiedene Funktionen. Diese können in drei Wirkrichtungen eingeteilt
werden: Eindruck, Ausdruck und Kommunikation.
7
Siehe dazu auch Kap. 7.2 „Bindungsbasierte Psychotherapie mit Kindern“.
43
•
Eindruck: Basale, kognitive, soziale, spirituelle Stimulation; Aktivierung; Beruhigung; Tiefenentspannung; Strukturierung; Haltefunktion; Assoziation; Erlebnisintensivierung; Integratorfunktion.
•
Ausdruck: Containerfunktion; Symbolbildung/Musik als Projektionsfläche; Sensomotorische Auseinandersetzung; Vehikelfunktion; Katalysatorfunktion; Selbstverstärkung; Ressource; Einhüllung und Schutz.
•
Kommunikation: Resonanz/Musik als Zeugin und Resonanzgeberin; Kontakt- und
Beziehungsgestaltung/Musik als Intermediärobjekt; Musik als Übergangsobjekt;
soziokulturelle Funktion (Frohne-Hagemann & Pless-Adamczyk 2005; Lutz
Hochreutener 2009).
Interventionstechniken: „Interventionstechniken sind resonanzgeleitete, subtile Abstimmungen des Therapeutinnenverhaltens auf den Ausdruck und das Kommunikationsverhalten des Kindes. Sie zielen darauf hin, spezifische entwicklungsförderliche
Prozesse anzuregen, in Gang zu halten oder zu vertiefen. Sie sind die kleinsten Einheiten therapeutischen Einwirkens, sozusagen das ‚Salz‘ in den verschiedenen methodischen Zugängen“ (vgl. Lutz Hochreutener 2009, 121ff). In der Behandlung von Kindern
mit Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung können diese verbalen und musikalischen Interventionstechniken im Sinne des Konzeptes der mütterlichen Feinfühligkeit8
und im Sinne einer Förderung des kindlichen Explorationsverhaltens9 ganz auf die Bindungsbedürfnisse des Kindes abgestimmt werden.
Modalitäten: Die musiktherapeutischen Vorgehensweisen lassen sich in drei Modalitäten systematisieren: übungszentriert, erlebniszentriert und konfliktzentriert.
•
Das übungszentrierte Vorgehen zielt darauf hin, Verhalten zu stabilisieren, neue
Verhaltensweisen zu trainieren, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu üben und Strategien und Techniken zu erlernen, welche die Aufgabenbewältigung unterstützen.
•
Das erlebniszentrierte Vorgehen strebt anhand spielerischen Experimentierens mit
den Instrumenten und der Musik eine Erweiterung des Erlebnishorizontes sowie
der Sicht-, Fühl- und Verhaltensweisen an.
8
9
Siehe dazu auch Kap. 2.4. „Feinfühligkeit und Bindungsqualität“.
Siehe dazu auch Kap. 2.7. „Explorations- und Bindungssystem“.
44
•
Im konfliktzentrierten Vorgehen können persönliche und umweltbezogene Konflikte anhand eines Aufdeckens der individuellen Wahrnehmungswelt des Kindes
auf der Musikspielebene bearbeitet werden (Frohne-Hagemann 2001).
Methoden: Die musiktherapeutischen Methoden werden indikationsspezifisch und prozessadäquat eingesetzt, wobei die verschiedenen Modalitäten und Interventionstechniken bei allen zum Tragen kommen können. Hinsichtlich therapeutischer Wirksamkeit
können sie als gleichwertig eingestuft werden; je nach Alter des Kindes und therapeutischer Notwendigkeit werden sie aber unterschiedlich häufig eingesetzt. Sie umfassen
Stille, Improvisation, Lied, Komponierte instrumentale Musik, Hantieren mit Instrumenten, Körperzentrierte Spiele, Sprache, Rollenspiel und Imaginatives Musikerleben (Lutz
Hochreutener 2009). In der Behandlung von Kindern mit Bindungsdesorganisation und
Bindungsstörung kommen häufig Rollenspiele, Lieder, Improvisationen sowie Körperzentrierte Spiele zum Einsatz.10
8.3.2 Therapeutische Funktionen der Musik und Interventionen bei Bindungs-­‐
desorganisation und Bindungsstörung Frohne-Hagemann & Pless-Adamczyk (2005) beschreiben in ihrem Buch und Manual
zur musiktherapeutischen Diagnostik „Indikation Musiktherapie bei psychischen Problemen im Kindes- und Jugendalter“ therapeutische Funktionen der Musik und Interventionen, wie sie in der musiktherapeutischen Arbeit mit Kindern bei Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung zur Anwendung kommen können bzw. indiziert sind. Entsprechend der ICD-10 werden diese eingeteilt in die ICD-10-Kategorien F94.1
„Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters“ und F94.2 „Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung“.11 Es wird jedoch auch ein Querverweis gemacht zur Kategorie
F43 „Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen“. Unter F43.1
findet sich die Posttraumatische Belastungsstörung, unter F43.2 sind Anpassungsstörungen und Hospitalismus (Deprivationssyndrome) aufgeführt. Misshandlung, Verletzungen, Vernachlässigung und Missbrauch werden allgemein unter F43 behandelt.
Im Folgenden werden zuerst das zu behandelnde Störungsbild, dann die Interventionen
und therapeutischen Funktionen der Musik, wie sie von Frohne-Hagemann & PlessAdamczyk (2005) genannt werden, beschrieben. Darauf folgen illustrierende Praxisbei10
11
Siehe dazu auch die Fallbeispiele in Kap. 9.3 sowie Kap. 9.4.
Siehe dazu auch Kap. 4.2 „Definition von Bindungsstörung nach ICD-10“.
45
spiele zu den genannten Störungsbildern. Weil bei Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung häufig ein Zusammenhang mit Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung besteht, werden ebenfalls einige therapeutische Funktionen und Interventionen
zur Hyperkinetischen Störung (F90) herangezogen – in der ICD-10 wird die Aufmerksamkeitsdefizithyperaktivitätsstörung (ADHS) unter diesem Begriff aufgeführt.
Therapeutische Funktionen und Interventionen zur Reaktiven Bindungsstörung
Nähe-Distanz-Probleme. Affektive Defizite und Störungen: Durch musikalische Ritualspiele (z.B. Rondo-Spiele), die bei aller Veränderung ein verlässliches Schema darstellen, kann das Kind Sicherheit und Rückversicherung in der Beziehung erfahren (Haltefunktion der Musik; Containerfunktion) und eigenständig experimentieren.
Folgende Praxisbeispiele stammen aus der Behandlung von Zoey12, einem Kind mit
Bindungsdesorganisation, bei welchem sich Nähe-Distanz-Probleme im zwischenmenschlichen Bereich zeigen.
Praxisbeispiel 1: Zoey besteht in jeder Sitzung auf das Spielen des Begrüssungsliedes.
Während des Spielens scheint sie es zu geniessen, bereits zu wissen, was kommt.
Gleichzeitig scheint die verlässliche und bekannte Struktur des Liedes ein Anlass für sie
zu sein, frei und ungehemmt auf einem selbst gewählten Musikinstrument dazu zu improvisieren.
Die Musik als Intermediärobjekt erlaubt, auf eine relativ angstfreie Weise Nähe und
Distanz zu regulieren, weil Kind und Therapeutin sich nicht direkt aufeinander beziehen, sondern sich über das Medium Musik begegnen. Hierbei können Themen wie das
Abwechseln von „zusammen spielen – allein spielen – zusammen spielen“; „gemeinsam
beginnen – allein aufhören“ usw. helfen, Trennungs- und Abschiedssituationen zu bewältigen.
Praxisbeispiel 2: Für Zoey scheint es wichtig zu sein auszuprobieren, wie es ist, wenn
sie alleine auf dem Klavier spielt, wenn wir zusammen spielen oder wenn ich alleine
spiele und sie nur das Pedal für mich drückt. Dabei ermöglicht ihr die Einflussnahme
auf mein Spiel anhand des Drückens oder Loslassens des Pedals die Erfahrung von
Selbstwirksamkeit.
12
Alle Namen der Kinder wurden zur Wahrung der Schweigepflicht verändert.
46
Therapeutische Funktionen und Interventionen zur Bindungsstörung
mit Enthemmung
Störungen im Zusammenhang mit affektiven Erfahrungen. Anklammern und Distanzlosigkeit: Durch interaktive Improvisationen (z.B. Echospiele, Frage-Antwort-Spiele)
kann das Kind sich als ernst genommene Person den Angeboten der Therapeutin stellen
und seine Ideen und Gefühle bis hin zum interaffektiven Spiel einbringen (Musik als
Intermediärobjekt).
Das folgende Praxisbeispiel stammt aus der Behandlung von Yasmine, einem Kind mit
Bindungsdesorganisation, welches eine Störung im Zusammenhang mit affektiven Erfahrungen im Sinne eines Vermeidens von zwischenmenschlicher Begegnung zeigt.
Praxisbeispiel: Musikalische Call-Response-Sequenzen (bzw. Echo-Spiele) werden in
der musiktherapeutischen Behandlung Yasmines mit der Zeit häufiger. Dabei spielt
Yasmine den Call- und ich übernehme den Response-Teil. Manchmal kommt es spontan
zu gleichzeitigem Spielen, was eine direkte Begegnung zwischen Yasmine und mir in
der Musik im Sinne einer Affektabstimmung ermöglicht.
Vertraute Musiken und musikalische Rituale schaffen eine verlässliche Beziehung. Musik als das Dritte verbindet und schafft gleichermassen die nötige Distanz, damit das
Kind sich selbst spüren und erleben kann. Instrumente werden in ihrer Funktion als
Übergangs- und Intermediärobjekte genutzt.
Folgende Praxisbeispiele stammen aus der Behandlung von Sascha, einem Kind mit
Bindungsstörung, bei welchem sich eine innere Strukturlosigkeit und eine geringe Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung zeigen.
Praxisbeispiel 1: In Begrüssungs- und Abschlussliedern, welche eine feste Form und
Struktur anbieten, kann Sascha sich musikalisch sehr gut einbringen. Angestaute Affekte, Aggressionen und Spannungen drückt er direkt über die Instrumente aus.
Praxisbeispiel 2: Im Rahmen der Begrüssungs- und Abschlusslieder kommt es schon
früh zu Momenten, in welchen über die Musik Begegnung zwischen Sascha und mir
stattfindet und eine geteilte Freude (Interaffektivität) aufblitzt.
Die Therapeutin versucht, das Kind in musikalische Aktivitäten einzubeziehen, welche
sowohl Nähe als auch die Erfahrung von Grenzen und Individualität vermitteln (Musik
als Intermediärobjekt). Beispiele: zusammen spielen – allein spielen; Rondo-Spiele;
Ordnung – Chaos.
47
Das folgende Praxisbeispiel stammt aus der Behandlung von Yasmine, einem Kind mit
Bindungsdesorganisation, welches eine Vermeidung von zwischenmenschlicher Begegnung zeigt (siehe oben).
Praxisbeispiel: Yasmine zeigt anfangs noch keine Bereitschaft für das Spielen einer
gemeinsamen Musik. Sie wünscht jedoch des Öfteren, abwechslungsweise zu spielen
oder dass sie anfängt und ich dann auf ihr Zeichen (mit dem von ihr mir zugeteilten Instrument) einsteige und genau nach ihrer Anweisung mitspiele.
Therapeutische Funktionen und Interventionen zur Posttraumatischen
Belastungsstörung
Als Halt und Ressource bietet Musik einen sicheren Zeit-Raum, in welchem Nähe und
Distanz reguliert und wo Urheberschaft und Resonanz erfahren werden kann. In ihrer
Funktion als Übergangsobjekt dient Musik dem Kind als Selbstverstärker und in ihrer
Funktion als Intermediärobjekt als Beziehungsbrücke zwischen Kind und Therapeutin.
Folgendes Praxisbeispiel stammt aus der Behandlung von Sascha, einem Kind mit Bindungsstörung, bei welchem sich eine innere Strukturlosigkeit und eine geringe Fähigkeit
zur Selbstwahrnehmung zeigen (siehe oben).
Praxisbeispiel: In jede Stunde bringt Sascha das kleine Sandkissen und seine Tüte mit
den Maiskörnern mit, welche sich aufgrund gewonnener Punkte für geschossene Tore
oder getroffene Ziele in den Regelspielen beständig mehr füllt. Sascha zeigt sich stolz
darüber, dass er es schafft, sich an die Abmachung zu halten, die Dinge jedes Mal erneut mitzubringen. Gleichzeitig scheinen die gewonnenen Maiskörner sein Selbstbewusstsein zu stärken.
Selbstwertprobleme: Selbstwertprobleme können durch Vokalisationsspiele, Besingen
und musikalisches Begleiten der Aktivitäten des Kindes aufgefangen werden, wenn sie
eine emotionale Wertschätzung und den Wert einer Beziehung erfahrbar werden lassen.
Das Kind kann sich in der musikalischen Resonanz der Therapeutin erfahren (Funktion
der Musik als Zeugin und Resonanzgeberin).
Das folgende Praxisbeispiel stammt aus der Behandlung von Zoey, einem Kind mit
Bindungsdesorganisation, bei welchem sich Selbstwertprobleme im Sinne einer grossen
Unsicherheit in zwischenmenschlichen Beziehungen zeigen.
48
Praxisbeispiel: Zoey wünscht oftmals, dass ich für sie im Sinne eines Fürspiels Klavier
spiele und singe, während sie malt. Die wohlwollende Atmosphäre, die dadurch entsteht, welche derjenigen eines „Safe Place“ gleichkommt, scheint Zoey sehr zu geniessen und scheint ihr gut zu tun.
Störungen im Sozialverhalten (Aggressivität, Distanzlosigkeit): Aggressivität kann im
gemeinsamen Spiel durch die musikalischen Strukturbildungen selbst und vereinbarte
Spielregeln eingebunden und umgelenkt werden, insbesondere was das Grenzen setzen
bei Distanzlosigkeit angeht (Halte- und Intermediärfunktion der Musik). Je nach entwickelter Struktur dienen musiktherapeutische Interventionen der Nähe- und Distanzregulierung.
Das folgende Praxisbeispiel stammt aus der Behandlung von Sascha, einem Kind mit
Bindungsstörung, bei welchem sich eine innere Strukturlosigkeit und eine geringe Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung zeigen (siehe oben).
Praxisbeispiel: Es fällt Sascha noch schwer, Regeln, Strukturen und Grenzen, wie sie
in Regelspielen gegeben sind, einzuhalten. Er übt sich jedoch kontinuierlich und ausdauernd darin, sich an solche äusseren Strukturen zu halten und sich daran zu orientieren sowie auch eigene Spielregeln aufzustellen, die Sinn machen und anwendbar sind.
Übermässig angepasstes Verhalten, Trennungsangst, regressives Verhalten, Bindungsstörungen: Musik, Musikinstrumente sowie der gesamte Musiktherapieraum dienen
lange Zeit als „Safe Place“ (Musik als Übergangsobjekt).
Oft ist es notwendig, dass sich die spielende Therapeutin funktionalisieren lässt, um das
Kind nicht mit ihren eigenen musikalischen Ideen zu bedrohen (Musik als Selbstverstärkung).
Die folgenden Praxisbeispiele stammen aus der Behandlung von Sascha, einem Kind
mit Bindungsstörung, und aus der Behandlung von Yasmine, einem Kind mit Bindungsdesorganisation, welches ein Vermeiden von zwischenmenschlicher Begegnung
zeigt (siehe oben).
Praxisbeispiel 1: Indem Sascha fragt, ob er etwas vom Mais, welches in einer Kalebasse aufbewahrt wird und als Musikinstrument fungiert, mit nach Hause nehmen darf,
wird dieser Mais zum Übergangsobjekt. Später kommt noch ein kleines Sandkissen dazu, welches er sich – auch als Zeichen meines Vertrauens in ihn – ausleihen darf.
49
Praxisbeispiel 2: Über den Verlauf mehrerer Stunden funktionalisiert mich Yasmine
dazu, ihrem Solospiel zuzuhören und nichts zu tun. Gleichzeitig drückt sie in Liedtexten, die manchmal spontan dabei entstehen, ihre Begeisterung und ihre Dankbarkeit für
die Musiktherapie aus und erzählt mir anhand der Texte auch von sich und ihrer Befindlichkeit.
Durch das gemeinsame Improvisieren können traumatische Erlebnisse affektiv ausgedrückt und dadurch, dass sich die Therapeutin auf die Affekte des Kindes einstimmt,
reguliert werden. Traurigkeit, Sehnsucht, Hoffnungslosigkeit, Wut und andere Gefühle
können ohne Angst vor Sanktionen ausgedrückt werden (Katalysatorfunktion der Musik; Musik als Zeugin und Resonanzgeberin).
Die folgenden Praxisbeispiele stammen aus der Behandlung von Sascha, einem Kind
mit Bindungsstörung, welches traumatische Erfahrungen in Form von physischer Gewalt gemacht hat.
Praxisbeispiel 1: Sascha scheint über eine sehr geringe Affekttoleranz zu verfügen und
seine Affekte nur in geringem Mass selbst regulieren zu können. Seine Solospielsequenzen wirken wie enorme Spannungsentladungen. Dabei spannen sich sein ganzer
Körper, seine Gesichtsknochen und seine Mundwinkel auf ein Höchstmass an und entspannen sich wieder nach dem Abklingen des lauten, spannungsvollen Spiels. Manchmal steigern sich solche Sequenzen dynamisch bis in ein enorm hohes affektives Erregungsniveau, welches eine überwältigende Qualität hat. Hin und wieder ist es möglich,
seinen übersteigerten Affekt anhand mittels Mitspielens zu regulieren, oftmals weist er
mir aber eine Zeugenfunktion zu.
Gefühle der Hoffnungslosigkeit, Zukunftsängste, Verlassensein: Überwältigenden Gefühlen kann in der Improvisation Ausdruck und Form gegeben werden (Katalysatorfunktion der Musik). In der Musik kann Sinnhaftes sowie Hoffnung erlebt werden (Ressourcenfunktion der Musik; Musik als Selbstverstärkung).
Praxisbeispiel 2: Sascha drückt Aggression und Gewalt in Form von Schlägen auf bestimmte Instrumente (wie z.B. einen Topfdeckel) aus, die er wortwörtlich schlägt, mir
ganz nah ans Ohr hält und mich damit dazu funktionalisiert, die Schläge am eigenen
Körper zu erfahren.
50
Praxisbeispiel 3: Die Bedrohung und Aggression, welche von einer Spielfigur ausgeht,
lässt sich mit Hilfe von Trommelschlägen bannen, welche Sascha als ein „Gegengift“
bezeichnet: „Musikalische Elemente werden hier zur Zauberkraft und verstärken symbolisch die Macht des spielenden Kindes“ (vgl. Lutz Hochreutener 2009, 42).
Therapeutische Funktionen und Interventionen zur Hyperkinetischen Störung
Irritier- und Erregbarkeit: Musik kann in einer trophotropen Haltefunktion eingesetzt
werden, um dem irritierten Kind mit Hilfe eines von der Therapeutin gespielten Instruments (z.B. Monochord) Erfahrungen klanglicher Geborgenheit zu vermitteln und es
emotional zu beruhigen und zu nähren.
Die folgenden Praxisbeispiele stammen aus der Behandlung von Sascha, einem Kind
mit Bindungsstörung und Hyperkinetischer Störung (ADHS), welches impulsives und
unruhiges Verhalten zeigt, und aus der Behandlung von Yasmine, einem Kind mit Bindungsdesorganisation, bei welchem sich getriebenes, ruheloses Verhalten zeigt.
Praxisbeispiel 1: Am Ende der Stunde fällt es Sascha regelmässig schwer, den Abschied zu akzeptieren. Er zeigt dann besonders unruhiges Verhalten und Impulsivität.
Im Mais, welcher in einer Kalebasse aufbewahrt wird und als Musikinstrument fungiert,
findet er ein Mittel der Beruhigung, indem er etwa darin wühlt.
Praxisbeispiel 2: Yasmine lässt sich in einem Moment, in welchem sie selbst erkennt,
dass sie Ruhe braucht, auf ein ruhiges körperzentriertes Arbeiten (Massage mit Igelbällen) ein.
Erfahrungen mit rhythmischer Musik helfen, den Wechsel von Spannung und Lösung in
der Zeit zu erleben und zu durchleben (Haltefunktion; Vehikelfunktion).
Praxisbeispiel 3: Sascha zeigt in einem spontan gespielten Schlagzeug-Solo viel Einsatz und Ausdauer.
Kardinalsymptom; vorzeitiges Abbrechen und häufiger Wechsel von Aktivitäten:
Rhythmische Spiele binden das Kind in einen zeitlichen Rahmen, in dem es seine Unruhe und Aktivitätswechsel ausspielen kann, ohne sich zu verlieren (Haltefunktion; Katalysatorfunktion).
Praxisbeispiel 4: Nachdem Yasmine am Anfang der Sitzung, scheinbar ruhelos, von
einer Spielidee zur nächsten springt, fängt sie plötzlich an, eine Rhythmusfolge auf der
51
kleinen Djembe zu spielen, welche sie, wie sie mir nachher sagt, von ihrem Vater gelernt hatte. Im rhythmischen Spiel scheint Yasmine auf der Stelle ruhig zu werden.
Fehlende Fähigkeit, sich selbst wahrzunehmen, sich selbst zu erleben sowie Urheberschaft zu erfahren: Musik dient in ihrer Funktion der sensorischen Stimulation der Sensibilisierung der Wahrnehmung und der Differenzierung des Erlebens. Die Einbindung
des Kindes in motivierende musikalische Aufgaben (z.B. zur rechten Zeit an der richtigen Stelle die Triangel zu spielen) schärft seine Konzentrations- und Anpassungsfähigkeit und vermittelt ihm Erfolgserlebnisse und Anerkennung (Haltefunktion; Intermediärfunktion).
Folgende Praxisbeispiele stammen aus der Behandlung von Zoey, einem Kind mit Bindungsdesorganisation, bei welchem sich Probleme mit Aufmerksamkeit und Konzentration sowie Selbstwertkonflikte und eine Angst vor Vereinnahmung zeigen.
Praxisbeispiel 1: Aus dem „Vorspiel“ eines Klavierstückes, welches Zoey erst immer
wieder und wieder hören will, wird ein Übungszentriertes Arbeiten. Ich lasse Zoey den
Anfang des musikalischen Themas, den sie bereits auf dem Klavier spielen kann, auf
einer höheren Oktave mitspielen. Immer wenn dieser Teil sich wiederholt, heisst es für
sie einzusteigen und mitzuspielen. Auf diese Art und Weise können Aufmerksamkeit
und Konzentration geübt werden.
Selbstwertkonflikte: Mit Hilfe von themenzentrierten musikalischen Improvisationen
oder musikalischen Rollenspielen kann die Musik in ihrer Katalysatorfunktion abgespaltene Persönlichkeitsanteile symbolisieren und brach liegende Ressourcen nutzbar
machen. Auf diese Weise kann das musikalisch ausgedrückte Erleben helfen, Nöte zu
verbalisieren und besser zu integrieren.
Praxisbeispiel 2: Ausgelöst durch Zoeys Anziehung für laut tönende Instrumente, welche erschrecken können, kommt es zu Musikimprovisationen zum Thema „Gewitter“,
innerhalb derer eine Seite Zoeys zum Ausdruck kommt, welche das „Laut-Sein“ und die
zerstörerische Kraft (des Gewitters) richtig zu geniessen scheint.
Konflikt; Angst vor Vereinnahmung versus Bedürfnis nach Wertschätzung: Musik in der
resonanzgebenden Zeugenfunktion spiegelt und bestätigt das Spiel des Kindes, ohne
dass die Therapeutin als übergriffig erlebt werden muss.
52
Praxisbeispiel 3: Zoey wünscht wiederholt, dass ich ihr ein bestimmtes komponiertes
Klavierstück – „Für Elise“ von Beethoven – vorspiele, welches sie kennt, aber noch
nicht selber spielen kann. Die komponierte Musik scheint Zoey in ihrem Wesen direkt
anzusprechen; sie wirkt berührt und als ob sie sich damit „gemeint“ fühlt.
Die Aktivitäten und emotionalen Äusserungen des Kindes werden musikalisch aufgegriffen und begleitet, wodurch sich das Kind wahrgenommen und wertgeschätzt fühlen
kann (Musik als Zeugin und Resonanzgeberin).
Praxisbeispiel 4: Oftmals möchte Zoey tanzen und wünscht, dass ich sie dazu auf dem
Klavier begleite. Dabei kommt es über das gemeinsame und gleichzeitige Erleben von
Musik und Tanz sowohl zu einer Affektabstimmung als auch zu Momenten der Synchronisation und Interaffektivität.
Die Therapeutin spielt weder eigene Ideen noch variiert sie die Ideen des Kindes, sondern spiegelt das Spiel des Kindes. Dabei kann die Halte- und Vehikelfunktion der Musik genutzt werden, um dem Kind einen sicheren Rahmen zu geben.
Praxisbeispiel 5: Zoeys eigenes Spiel auf dem Klavier ist oft struktur- und haltlos und
wirkt auf mich, als ob es etwas Beruhigendes braucht. Meist ist Zoey offen dafür, dass
ich ihr beispielsweise mit der Stimme einen Halt gebe. Oder aber sie lässt zu, dass ich
mich zu ihr ans Klavier setze und einen Puls hineingebe oder ein rhythmisches Ostinato
spiele. Mehrmals nacheinander fallen mir Akkordfolgen und Melodien von Schlafliedern zu oder Zoey beginnt ein Schlaflied zu singen.
Ergänzung
In der Instrumentenwahl sowie in der spezifischen Ausgestaltung der Musik und des
Musikspiels kommen Symbolbildungsprozesse zum Tragen, innerhalb derer innere und
äussere Wirklichkeiten abgebildet und verarbeitet werden (Lutz Hochreutener 2009).
Ausgehend von den praktischen Erfahrungen, die im Rahmen dieser Masterarbeit in den
musiktherapeutischen Behandlungen gemacht wurden, sollen die oben genannten Funktionen der Musik und Interventionen, wie sie in der Behandlung von Kindern mit Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung zur Anwendung kommen, mit der Funktion
der Symbolbildung bzw. der Funktion von Musik als Projektionsfläche ergänzt werden.
Dazu folgende Praxisbeispiele:
53
Praxisbeispiel 1: Sascha wirkt konzentriert und als wolle er mir mit Nachdruck etwas
mitteilen. Daraufhin schlägt er mehrmals hintereinander auf die Klangschale, in welcher
einzelne Maiskörner, die sich darin befinden, ein Geräusch und eine Atmosphäre bewirken, die stark an ein körperliches Zittern erinnern. Es ist, als ob nicht die Klangschale,
sondern ein Körper geschlagen würde.
Praxisbeispiel 2: Sascha drückt Aggression und Gewalt in Form von Schlägen auf einen Topfdeckel aus, welchen er wortwörtlich schlägt, mir ganz nah ans Ohr hält und
mich damit dazu funktionalisiert, die Schläge am eigenen Körper zu erfahren. Von Saschas Mutter weiss ich, dass Sascha einmal von ihr mit einem Kochlöffel zusammengeschlagen wurde.
Zusammenfassung
Für Kinder mit Bindungsdesorganisation oder Bindungsstörung fördert die Erfahrung
des Ausgehalten-Werdens die Entwicklung von Selbstempfinden und Empathie (Werner
2010). Insbesondere während der gemeinsamen Improvisation (Haltefunktion; Containerfunktion; Musik als Intermediärobjekt) können vorsprachliche und nicht verarbeitete
Beziehungserfahrungen im therapeutischen Prozess durch neue Beziehungserfahrungen
allmählich innerpsychisch integriert werden, indem die Erfahrung eigener Selbstwirksamkeit gefördert wird (Musik als Selbstverstärkung; Vehikelfunktion; Ressourcenfunktion). Es gilt dabei, feinfühlig auf die Bindungssignale und Beziehungsangebote des
Kindes im Moment einzugehen und mit musikalischen Mitteln zu spiegeln (Musik als
Zeugin und Resonanzgeberin). So kann ein sicherer Explorationsrahmen geschaffen
werden, der die Grundlage des therapeutischen Veränderungsprozesses darstellt (Erhardt 2013).
Musiktherapie bietet auf nonverbaler Ebene spielerische Möglichkeiten der Synchronisation, Affektregulierung und Affektabstimmung (Bacher 2014; Plahl & Koch-Temming 2008; Schumacher & Calvet 2007; Schumacher, Calvet & Reimers 2013). Sind im
gemeinsamen musikalischen Spiel beide Spieler emotional berührt, kann ein Gefühl
entstehen, das als gemeinsames Gefühl empfunden wird (Interaffektivität, Synchronisation). Dies hat eine beziehungsstiftende Wirkung (Schumacher & Calvet 2001). Ausgehend von entwicklungspsychologischen Kenntnissen kann Musiktherapie unsicher
gebundenen Menschen eine neue Bindungserfahrung ermöglichen (Bacher 2014).
54
9
Musiktherapie bei Grundschulkindern mit
Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung –
Fallbeispiele
In diesem Kapitel werden zwei musiktherapeutische Prozesse mit Kindern mit Bindungsdesorganisation bzw. Bindungsstörung dargestellt und anhand der im folgenden
Unterkapitel aufgeführten Fragestellungen, welche zu zwei Hypothesen führen, untersucht.
9.1 Fragestellungen und Hypothesenbildung Aus Kapitel 7 geht hervor, dass in der Behandlung von Kindern mit Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung der therapeutischen Beziehung nicht nur ein besonders
hoher Stellenwert zukommt, sondern dass der Aufbau einer tragfähigen therapeutischen
Beziehung ein entscheidender Gegenstand der therapeutischen Arbeit selbst ist (Höger
2005). Die Voraussetzung einer sicheren Bindungsbeziehung zwischen Patient und Therapeutin gilt in besonderem Masse für traumatisierte Patienten, weil durch die traumatische Erfahrung das innere Arbeitsmodell von Bindung total erschüttert, fragmentiert,
desorganisiert oder sogar zerstört ist (Brisch 2015b).
Welche Möglichkeiten bietet nun die Musiktherapie als Behandlungsmethode Kindern
mit Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung? Die oben aufgeführten Aussagen
führen zu folgender Fragestellung: Kann Musiktherapie Kinder mit Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung über den Aufbau der therapeutischen Beziehung, welche
für eine neue, sichere Bindung steht, in der Entwicklung eines neuen Bindungsverhaltens unterstützen – und wenn ja, wie?
Aus Kapitel 8 wird entnommen, dass Musik Raum gibt für nachnährende, nachholende,
korrigierende und kompensierende Beziehungserfahrungen auf frühen und frühesten
Entwicklungsstufen und dass Musiktherapie auf nonverbaler Ebene spielerische Möglichkeiten der Synchronisation, Affektregulierung und Affektabstimmung bietet (Bacher
2014; Lutz Hochreutener 2009; Plahl & Koch-Temming 2008; Schumacher & Calvet
2007, Schumacher, Calvet & Reimers 2013).
55
Aus den Aussagen wird folgende Hypothese abgeleitet:
1. Musiktherapie kann Kinder mit Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung
in der Entwicklung eines neuen Bindungsverhaltens unterstützen.
In Kapitel 8 wird aufgezeigt, dass die Musik und das Musikspiel im therapeutischen
Prozess vor dem Hintergrund der therapeutischen Beziehung verschiedene entwicklungsförderliche Funktionen übernehmen. Durch den gezielten Einsatz von verschiedenen Modalitäten im Vorgehen und mit Hilfe von spezifischen Interventionstechniken
können diese Funktionen erreicht werden (Lutz Hochreutener 2009).
Es stellt sich dazu folgende Frage: Gibt es spezifische therapeutische Funktionen der
Musik, welche in der Behandlung von Kindern mit Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung zum Tragen kommen?
Nach Frohne-Hagemann & Pless-Adamczyk (2005) kommen in der Behandlung von
Kindern mit Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung spezifische Funktionen der
Musik und Interventionen zum Tragen, auf deren Basis korrigierende und kompensierende Beziehungserfahrungen gemacht werden können.
Es wird daraus folgende zweite Hypothese abgeleitet:
2. In der musiktherapeutischen Behandlung von Kindern mit Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung kommen spezifische Funktionen der Musik zum
Tragen, welche die Entwicklung eines neuen Bindungsverhaltens unterstützen.
9.2 Untersuchungsdesign Das Untersuchungsdesign wurde entsprechend den Fragestellungen und Hypothesen so
gestaltet, dass Antworten und Resultate generiert werden können. In den folgenden Unterkapiteln sollen die Forschungsmethodik und das Setting vorgestellt werden.
9.2.1 Forschungsmethodik Da die Fragestellungen subjektbezogen sind, eignet sich als Forschungsmethode die
Qualitative Forschung, welche die sorgfältige Deskription und die Interpretation der
Forschungssubjekte betont und in welcher diese auch in ihrer natürlichen alltäglichen
Umgebung untersucht werden (Bortz & Döring 2006).
Es wurden bei zwei Kindern mit einer Disposition für eine Bindungsdesorganisation
und/oder Bindungsstörung die Durchführung des SAT (Separation Anxiety Test) zur
56
Diagnostik der Bindungsqualität im Grundschulalter vorgenommen.13 Bei einem Kind
bestand zusätzlich bereits eine psychologische Abklärung mit Diagnose. Nach der
Durchführung der Tests und Ermittlung der Testergebnisse wurden die Kinder über einen Zeitraum von 9 Monaten in 1x wöchentlich stattfindenden musiktherapeutischen
Sitzungen (ausgenommen Schulferien und Feiertage) behandelt.
Die Therapieprozesse wurden anhand der Methode der Teilnehmenden Beobachtung
audiobasiert protokolliert – nach jeder musiktherapeutischen Sitzung wurde ein Beobachtungsprotokoll mit einem gleichbleibenden Raster angefertigt.
Vor der Auswertung der Protokolle wurden eine zusätzliche Spalte mit dem Begriff
„Symbol-Items“ sowie eine Spalte mit dem Begriff „Funktionen der Musik“ ergänzend
in die Tabelle aufgenommen. In der ersteren wurden entsprechende Symbol-Items, welche aus dem SAT übernommen wurden, in Ergänzung mit zusätzlichen Items, eingefügt. Anhand des Zuordnens der Items zu bindungsrelevanten Momenten im Therapieverlauf sollte ersichtlich werden, ob und wie sich die Bindungsverhaltensmuster der
Kinder im Verlauf der Therapieprozesse veränderten. Mittels des Zuordnens der musiktherapeutischen Funktionen wurde in der zweiten zusätzlich eingefügten Spalte überprüft, ob die in der Literatur beschriebenen Funktionen der Musik sich im Therapieprozess wiederfinden und ob zusätzliche Funktionen auftreten, welche in der Literatur
nicht erwähnt werden.
Zur Veranschaulichung werden das Forschungsprotokoll vorgestellt und die SymbolItems zu den verschiedenen Bindungsqualitäten (unsicher-vermeidend [A], sicher [B],
unsicher-ambivalent [C] und desorganisiert [D]) aufgelistet:
Forschungsprotokoll:
Prozess
Verlauf
Wahrneh-
Symbol-
Funktionen
Selbstreflexion
Selbstreflexion Bezie-
Setting/Interventionen
mung/Beobachtungen/Bilder
Items
der Musik
methodisch
hungsgeschehen
⇒ Interpretation
13
Siehe dazu auch Kap. 6.6 „Diagnostik der Bindungsqualität im Grundschulalter – der Separation
Anxiety Test [SAT]“.
57
Symbol-Items aus dem SAT und ihre Erweiterung (in blauer, kursiver Schrift):
A (organisiert-unsicher, vermeidend): p (passive Lösung)
B (organisiert-sicher): kol (konstruktive Lösung), affs (affektive Spürbarkeit), Bg (Begegnung),
AK (Aufmerksamkeit/Konzentration)
C (organisiert-unsicher, ambivalent): U (Unvereinbarkeit), Agg (Nähe suchen + Aggression),
klam (klammern), vAgg (verdeckte Aggressionen)
D (desorganisiert-unsicher): kat (endgültige Trennung), DD (eingeschobene Aussagen), SD
(Sprachmuster Desorganisation), Ang (ungelöste Angst), S&F (Schweigen und/oder Flüstern), DV (desorganisierte Verhaltensweisen), W (massiver Widerstand), aggA (aggressive
Ausbrüche), kvf (kontrollierende Verhaltensweisen – fürsorglich), kvs (kontrollierende Verhaltensweisen – strafend), kvF (kontrollierende Verhaltensweisen – Funktionalisieren), kvR
(kontrollierende Verhaltensweisen – Rollenumkehr), kvO (kontrollierende Verhaltensweisen
– Ordnen), afft (affektive Taubheit), K (Kompensation), SÜ (selbstüberforderndes Verhalten
/ Selbstfehleinschätzung), ks (Kardinalsymptom ADHS), A&T (Schwierigkeiten mit Abschied
und Trennung), KT (Konfrontation mit Traumata), AS (abgetrenntes System)
Die Symbol-Items des SAT wurden erweitert, um eine differenziertere Analyse der Therapieprozesse zu ermöglichen. Die Begrifflichkeiten aller zusätzlich eingefügten Items
entstammen der in dieser Arbeit verarbeiteten Literatur. Ihre Kürzel wurden denjenigen
des SAT angepasst.
Auswertung der Beobachtungsprotokolle
Bei der Auswertung der Protokolle dienten bindungsrelevante Momente als Leitfaden,
anhand dessen der Therapieprozess in 3 bzw. 4 Phasen beschrieben wird. Die verschiedenen Phasen wurden jeweils unterteilt in:
–
Beschreibung des Verlaufs
–
Beobachtungen zu Sprache
–
Spielformen und -inhalte
–
Kontaktverhalten und Bindungsgeschehen
–
Ereignisse im Alltag
Selbstreflexion (methodisch und persönlich), eine zusammenfassende Beschreibung der
aufgetretenen Funktionen der Musik sowie eine zusammenfassende Beurteilung des
Prozesses bilden den Abschluss jeweils einer Phase.
58
Die Symbol-Items, welche dazu beitragen sollen, bindungsrelevante Momente in ein der
Therapieprogression entsprechendes Verhältnis zu setzen, werden in der Beschreibung
des Therapieverlaufs in einer Spalte rechts neben dem Text aufgeführt. In einer weiteren
Spalte werden die aufgetretenen Funktionen der Musik benannt.
Standortgespräche und Abschlussgespräch mit Eltern und Lehrern
In Ergänzung zum Erstellen der Beobachtungsprotokolle wurden Eltern und Lehrer in
mehreren Standortgesprächen und in einem Abschlussgespräch anhand des Halbstandardisierten Interviews zur Bindungsentwicklung der Kinder befragt.
Das Halbstandardisierte Interview ist eine qualitative Befragung, bei welcher ein Interviewleitfaden dazu dient, thematische Aspekte zusammenzufassen, welche im Verlauf
des Gesprächs vom Interviewer angesprochen werden. Dabei lässt der Interviewer die
interviewte Person möglichst frei zu Wort kommen (Bortz & Döring 2006). Der Interviewleitfaden wurde mittels spezifischer Fragen zur Bindungsentwicklung der Kinder
entsprechend entworfen, dass Antworten generiert werden können, welche die Bindungsentwicklung der Kinder abbilden. Die Interviews wurden audiobasiert transkribiert.
Beurteilung des Behandlungsverlaufs
In der Beurteilung des Behandlungsverlaufs wird zusammengefasst, welche Ziele bezüglich einer Veränderung im Bindungsverhalten erreicht wurden. Die im Therapieverlauf aufgetretenen Funktionen der Musik werden hinsichtlich ihrer Bedeutung für die
Therapieprogression untersucht und ausgewertet und mit den Veränderungen im Bindungsverhalten verglichen. Die Fremdbeurteilung der Eltern und der Lehrer wird als
Triangulierung in die Einschätzung miteinbezogen. In einer anschliessenden Reflexion
zu den Fremdbeurteilungen werden wichtige Ergebnisse miteinander verglichen.
9.2.2 Setting Die musiktherapeutischen Sitzungen fanden in den Räumlichkeiten einer Grundschule
im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern statt. Dabei handelt es sich um jeweils 45minütige Sitzungen, die 1x wöchentlich – ausgenommen Schulferien und Feiertage –
über den Zeitraum von 9 Monaten im Aufenthaltsraum der Schule durchgeführt wurden.
59
Instrumente sowie therapeutisches Spielmaterial wurden jedes Mal mitgebracht, im
Raum installiert und nach Ende der Therapiesitzungen wieder abgebaut.
Es handelte sich um folgende Instrumente: klanglich souveränes E-Piano, SopranMetallophon, Alt-Xylophon und Bass-Klangstäbe, Trommeln, die miteinander kombiniert auch als Schlagzeug fungieren konnten, Regenrohr, Gitarre und Ukulele, vielerlei
Kleinperkussion sowie verschiedene Flöten, Triangel, Sansula, zwei Mundharmonikas,
Donnermacher, Rätsche, Klangschale, Glocken in verschiedenen Farben und Tonhöhen,
kleines Set an Bhoomwhackers und Kalebasse mit Mais.
Als therapeutisches Spielmaterial wurden zusätzlich zum Material, welches der Aufenthaltsraum bereits anbot, Seidentücher in allen Farben, grössere Tücher, Seile, Bauklötze, Tierhandpuppen, Mal- und Zeichenmaterial, ein Stimmungskalender und ein Stimmungsbuch bereitgestellt.
Die Kinder, welche Musiktherapie erhielten, wurden von der Schulleitung empfohlen.
Die therapeutischen Sitzungen wurden halbstrukturiert durchgeführt: Eine kurze Vorbesprechung mit anschliessendem Begrüssungslied sowie ein Abschlusslied mit einer abschliessenden kurzen Nachbesprechung bildeten den Rahmen der Sitzungen.
Die Eltern wurden in einem Brief über das Forschungsvorhaben informiert. Sie wurden
darin um eine schriftliche Einverständniserklärung zur Aufnahme der Therapie sowie
zur Verwendung therapieinterner Daten – unter Wahrung der Schweigepflicht und
Anonymisierung der persönlichen Daten – gebeten und zu einem ersten Elterngespräch
eingeladen.
9.3 Fallbeispiel Sascha Sascha wird von der Schulleitung für die Musiktherapie empfohlen mit dem Ziel, dass
er sich durch die Musiktherapie wieder besser in sein schulisches Umfeld integrieren
kann. Der Bub fällt in der Schule durch ausfälliges aggressives Verhalten und Handgreiflichkeiten gegenüber anderen Kindern auf. Manchmal kommt es zu mehreren Ausbrüchen an einem Tag und er muss oft mehr als einmal in der Woche von seiner Mutter
von der Schule abgeholt werden, da sein Verhalten für die Lehrer nicht mehr tragbar ist.
Nach Auskünften der Lehrer zeigt er keine Emotionen und kann sich nicht in andere
hineinversetzen.
60
9.3.1 Anamnese Sascha, ein 8-jähriger Junge, lebt bei seinen Eltern und hat einen nur wenige Wochen
alten jüngeren Bruder. Sein Vater ist, nachdem sich die Eltern kurz nach Saschas Geburt
getrennt hatten, seit 3 Jahren wieder mit seiner Mutter zusammen. Er ist jedoch nicht
erziehungsberechtigt. Saschas Mutter beschreibt die Beziehung zwischen Vater und
Sohn als schwierig. Sein Vater würde gegenüber Sascha für kleine Vergehen sehr harte
Strafen anwenden. Nicht ganz klar ist, ob er von seinem Vater auch geschlagen wird.
Seine Mutter war in Saschas ersten 2 Lebensjahren alleinerziehend. Danach hatte sie
einen Partner, der laut ihren Angaben stark alkoholabhängig war und aggressives Verhalten Sascha gegenüber zeigte. Er habe ihn oft geschlagen und es sei mindestens einmal vorgekommen, dass er richtig zusammengeschlagen wurde. Nach der Trennung
vom Partner habe sich dieser erhängt. Die Ermittlungen der Polizei seien in Saschas
Gegenwart – damals 4-jährig – durchgeführt worden. Auch die Mutter hat Sascha nach
eigenen Angaben einmal zusammengeschlagen.
Saschas aggressive Ausbrüche würden seit seinem 3. Lebensjahr auftreten. Davor sei er
sehr pflegeleicht gewesen.
Im Alter von 4 Jahren wurde eine psychologische Abklärung durchgeführt mit dem Befund „Bindungsstörung im Kindesalter mit Enthemmung“ (F94.214).
In der Schule zeigt Sascha trotz überdurchschnittlicher Intelligenz schlechte Leistungen
– insbesondere beim Lesen und Schreiben. Er braucht beständig Ermutigung und lässt
sich sehr schnell verunsichern. In Momenten der Überforderung reagiert er mit Ausbrüchen und wirft alles durch die Luft, was ihm in die Hände kommt: Federtasche, Schulranzen und manchmal auch Stühle.
9.3.2 Bindungsmuster und ermittelte Testergebnisse nach SAT (Diagnostik der Bindungsqualität im Grundschulalter) Es wurde das Bindungsmuster D/A1 ermittelt, welches für ein Desorganisiertes Bindungsmuster mit unsicher-vermeidenden Anteilen (A1) steht. A1 steht dabei für die
stärkste Ausprägung des unsicher-vermeidenden Musters. Weitere Testergebnisse zeigen eine stark gestörte Beziehung zu den Eltern.
Die am häufigsten vergebenen Items waren „kat“ (endgültige Trennung) und „p“ (passive Lösung).15
14
Siehe dazu auch Kap. 4.2 „Definition von Bindungsstörung nach ICD-10“.
61
9.3.3 Therapieverlauf Sascha Der folgende Therapieverlauf bezieht sich auf 24 Sitzungen, welche über einen Zeitraum von 9 Monaten durchgeführt wurden. Die Behandlung fand 1x wöchentlich statt,
ausgenommen davon waren Schulferien. Die Einteilung des Verlaufs in 4 Phasen orientiert sich an der Therapieprogression sowie an inhaltlichen Schwerpunkten.
Phase 1 (1.–8. Sitzung)
Verlauf:
Sascha kommt bereitwillig zu mir in den Musiktherapieraum. In
W
den Vorbesprechungen wirken seine Erzählungen unsicher und
massiver
Widerstand
suchend. Manchmal zeigt er Widerstände, auf direkte Fragen zu
antworten, und gibt nur knapp Antwort (W).
Situationen, in welchen er, wie er mir erzählt, geschlagen wurde,
K
stellt er szenisch dar und wirkt dabei emotional über dem Ge-
Kompensation
schehen stehend (K).
Auf Ausbrüche und Handgreiflichkeiten (aggA) in der Schule
aggA
angesprochen, die von ihm ausgegangen sind, kann er nicht sa-
aggressive
Ausbrüche
gen, wie es dazu gekommen ist, und scheint sich z.T. nicht daran
zu erinnern (AS). Die Vorfälle scheinen ihn emotional nicht zu
tangieren. Er wirkt, als wäre er daran gänzlich unbeteiligt
(afft/AS).
AS
abgetrenntes
System
afft/AS
affektive
Taubheit /
abgetrenntes
System
Auf die Musik spricht Sascha sehr gut an, er möchte gleich alle
Instrumente ausprobieren und testen. In Begrüssungs- und Ab-
Strukturierung
schlussliedern, welche eine feste Form und Struktur anbieten,
kann er sich musikalisch sehr gut einbringen. Angestaute Affekte,
Containerfunktion
Aggressionen und Spannungen drückt er direkt über die Instrumente aus.
In Rollenspielen mit Tierhandpuppen weist mir Sascha Rollen zu
(kvF), in welchen ich unzählige Angriffe über mich ergehen lassen muss. Themen wie Überfall, Angriff und Tötung werden über
mehrere Stunden wiederholt. Dabei scheint es keine Grenzen zu
kvF
kontrollierende Verhaltensweisen –
Funktionalisieren
geben; alle Tiere werden rücksichtslos und mit Lust getötet. Wäh-
15
Siehe dazu auch „Symbol-Items“ in Kap. 9.2.1 „Forschungsmethodik“.
62
rend der Angriffe lacht Sascha glucksend und kreischt.
Sprache:
Saschas Sprechweise ist unstrukturiert, die Sätze sind oft zusam-
SD
menhangslos, z.T. sind es eher Gesprächsfetzen, angefangene und
Sprachmuster
Desorganisation
nicht zu Ende gesprochene Sätze (SD).
Seine Art Fragen zu stellen oder Kontakt zu mir aufzunehmen, ist
p
indirekt (p). Es ist etwas wahrnehmbar in seinem Erzählton, was
passive
Lösung
ich als Angst vor Strafe interpretiere.
Seine Erzählweise ist oftmals monoton und unbeteiligt (afft).
afft
Ebenso erzählt er sehr objektiv und sachlich über sich selbst (K),
affektive
Taubheit
in einer Art und Weise, wie es seinem Alter nicht entspricht.
K
Kompensation
Spielformen und -inhalte:
In seinem Explorationsdrang bewegt sich Sascha direkt auf die
ks
Instrumente zu, spielt sie an und wechselt bereits übergangslos
Kardinalsymptom
ADHS
zum nächsten – dies ohne Unterbruch und ohne Pause. In der
Schnelligkeit dieser Wechsel ist eine motorische Unruhe sowie
auch ein Übermut und ein Überdreht-Sein spürbar (ks).
Im Rahmen der Begrüssungs- und Abschlusslieder, welche eine
feste Form und Struktur anbieten, kommt es schon früh zu Momenten, in welchen über die Musik Begegnung zwischen Sascha
und mir stattfindet und eine geteilte Freude aufblitzt (Interaffektivität) (Bg).
Bg
Begegnung
Strukturierung
Musik als
Intermediärobjekt
Sascha scheint über eine sehr geringe Affekttoleranz zu verfügen
und seine Affekte nur in geringem Mass selbst regulieren zu können. Seine Solospielsequenzen wirken wie enorme Spannungsentladungen. Dabei spannen sich sein ganzer Körper, seine Ge-
Katalysatorfunktion
sichtsknochen und seine Mundwinkel auf ein Höchstmass an und
entspannen sich wieder nach dem Abklingen des lauten, spannungsvollen Spiels. Manchmal steigern sich solche Sequenzen
dynamisch bis in ein enorm hohes affektives Erregungsniveau,
welches eine überwältigende Qualität hat. Hin und wieder ist es
Musik als
Zeugin und
Resonanzgeberin
möglich, seinen übersteigerten Affekt anhand mittels Mitspielens
zu regulieren, oftmals weist er mir aber eine Zeugenfunktion zu.
Dinge zu ordnen, wie z.B. die Glocken nach Farben oder nach
63
dem Alphabet, sind für Sascha ebenfalls wichtig in dieser Phase
kvO
(kvO).
kontrollierende Verhaltensweisen Ordnen
Im Rollenspiel mit Tierhandpuppen kommt es innerhalb der
KT
Spielthematik zu gewaltsamen Übergriffen gegenüber „schwäche-
Konfrontation
mit Traumata
und scheinen ihm eine Art Sicherheit und Orientierung zu geben
Sensomotorische
Auseinandersetzung
ren Tieren“, worin eine massive und schonungslose Aggression
und Gewalt spürbar ist. Es wirkt, als würde sich traumatisches
Material, welches in Zusammenhang mit Saschas Biographie
steht, ausdrücken (KT). Sascha wirft einer Tierhandpuppe vor,
Symbolbildung
welche er im Rollenspiel als Vater benennt, dass sie ihn nicht
beschützt hätte. Gleichzeitig drückt sich Saschas Weigerung,
Kind und damit Sohn des Vaters zu sein, in Form von Beleidigungen, Schimpfwörtern und abschätzigen Bemerkungen aus,
welche er ebenfalls an die für den Vater eingesetzte Tierhandpuppe richtet.
Kontaktverhalten und Bindungsgeschehen:
Sascha scheint schnell ein erstes Zutrauen zu mir zu fassen. Es
p
braucht jedoch Zeit und ein wiederholtes Testen des Vertrauens
passive
Lösung
und der Verbindlichkeit, bis eine vertrauensvolle Basis aufgebaut
ist. Sascha scheint sich gewohnt zu sein, nichts zu erzählen, auch
wenn ihn etwas beschäftigt (p).
In dieser Phase dominieren kontrollierende Verhaltensweisen
(kvF). So versucht Sascha beispielsweise, meine Rolle als Therapeutin zu übernehmen (kvR), indem er selbst das Begrüssungslied
auf dem Klavier spielen will und mir sagt, ich soll mir ein Instrument auswählen, oder indem er mich in meinen Ansagen nachahmt.
kvF
kontrollierende Verhaltens-weisen –
Funktionalisieren
kvR
kontrollierende Verhaltens-weisen –
Rollenumkehr
Gleichzeitig zeigt Sascha eine völlige Strukturlosigkeit, was zeitliche Abläufe sowie zeitliche und räumliche Grenzen anbelangt
(DV). Er scheint kaum über innere Strukturen zu verfügen. Ich
DV
desorganisierte Verhaltensweisen
muss diese für ihn übernehmen und halten. Ebenfalls muss ich
ihm klare Grenzen setzen.
p/aggA
zum Vater aus, indem er sagt: „Ich möchte, dass mein Papa mit → kol
Zum Ende dieser Phase drückt Sascha seinen Wunsch nach Nähe
passive
Lösung /
64
mir spielt.“ Damit äussert er auf direkte Art und Weise einen Bindungswunsch (p/aggA → kol).
aggressive
Ausbrüche →
konstruktive
Lösung
Am Ende der Stunde fällt es Sascha regelmässig schwer, den Abschied zu akzeptieren (A&T). Er zeigt dann besonders unruhiges A&T
Verhalten und Impulsivität (ks). Er zeigt dann besonders unru-
higes Verhalten und Impulsivität. Im Mais, welcher in einer
Schwierigkeiten mit Abschied und
Trennung
Kalebasse aufbewahrt wird und als Musikinstrument fungiert,
ks
findet er ein Mittel der Beruhigung, indem er etwa darin wühlt.
Kardinalsymptom
ADHS
Weil Sascha fragt, ob er etwas davon mit nach Hause nehmen
darf, wird dieser Mais zum Übergangsobjekt. Später kommt noch
Sensomotorische Auseinandersetzung
Beruhigung
Musik als
Übergangsobjekt
ein kleines Sandkissen dazu, welches er sich – auch als Zeichen
meines Vertrauens in ihn – ausleihen darf.
Ereignisse im Alltag:
Sehr oft werde ich in dieser Phase von der Schulleitung über
aggA
Ausbrüche, Ausfälligkeiten und Übergriffigkeiten Saschas infor-
aggressive
Ausbrüche
miert (aggA). Dabei geht es um Dinge wie Stühle werfen, schreien oder andere Kinder mit der Schere bedrohen. Dies geschieht
anscheinend in Momenten, in welchen er sich benachteiligt, übergangen oder von anderen Kindern gehänselt fühlt.
Nachdem Sascha seiner Wut den Eltern gegenüber lautstark Luft affs
verschafft hat (affs), indem er seine Wut auf dieselben eines Ta-
affektive
Spürbarkeit
ges auf dem Schulhof in Anwesenheit von Lehrern und Schülern
kundtut, zeigt sich in der Therapie eine grosse Sehnsucht nach
dem Vater.
Bei einem Vorfall in der Schule, in welchem Sascha erneut aus-
aggA →
rastet (aggA) und im Rahmen dessen ich mich als Kriseninterven- kol
tion um ihn kümmere, lässt er es zu, sich von mir mit Worten
beruhigen zu lassen, und zeigt sich mir in seinem Affekt der Trau-
aggressive
Ausbrüche →
konstruktive
Lösung
rigkeit und Hilflosigkeit (aggA → kol).
Selbstreflexion:
a) methodisch: Sowohl im Gespräch als auch im Musikspiel übernehme und halte ich
die inneren Strukturen für Sascha. Ich lasse mich im Spiel von ihm funktionalisieren, so
dass er die Erfahrung von Selbstwirksamkeit machen kann und interveniere nur, wenn
65
notwendig. Gleichzeitig setze ich Grenzen und strukturiere die Stunden in einen Anfangs-, einen Haupt- und einen Schlussteil.
Indem ich Saschas Bitte, etwas Mais aus der Kalebasse sowie ein kleines Sandkissen
mit nach Hause nehmen zu dürfen, mit der Voraussetzung stattgebe, dass er es in jede
Stunde wieder mitbringt, findet ein Lernen und Üben von Verbindlichkeit und Verlässlichkeit statt. Ebenso erfährt Sascha, dass ich ihm Vertrauen schenke.
b) persönlich: Ich stelle fest, dass ich Sascha noch nicht vertraue. Immer wieder taucht
in mir Misstrauen auf: Ist das, was er mir erzählt, die Wahrheit? Wie viel Vertrauen
kann ich ihm schenken, was den sorgfältigen Umgang mit den Instrumenten anbelangt,
wann muss ich eingreifen?
Die Rollenspiele, in welchen ich den heftigen aggressiven Gefühlen Saschas ausgesetzt
bin, lösen in mir eine grosse Betroffenheit aus.
Funktionen der Musik:
Das Auftreten der Funktion der Strukturierung sowie der Containerfunktion weist darauf hin, dass Sascha auf gleichbleibende, feste Strukturen angewiesen ist, um selbst in
Ausdruck gehen zu können oder in Beziehung zu treten. Nur mittels dieser Voraussetzung kann die Funktion der Musik als Intermediärobjekt erreicht werden.
Aus dem Auftreten der Katalysatorfunktion kann geschlossen werden, dass in Sascha
ein Drang und eine Notwendigkeit besteht, sich affektiv auszudrücken. Die Sensomotorische Auseinandersetzung dient sowohl der Orientierung Saschas in Zeit und Raum als
auch der Beruhigung. Aus der Nutzung der Musik zur Symbolbildung kann angenommen werden, dass es in Sascha ein Bedürfnis gibt, innere und äussere Wirklichkeiten
hör-, sicht- und erlebbar zu machen. Die Musik als Zeugin und Resonanzgeberin deutet
auf ein Bedürfnis und/oder Nachholbedarf hin, gesehen, gehört und darin gehalten zu
werden.
Zusammenfassende Beurteilung des Prozesses:
Es scheint in dieser ersten Phase um den Aufbau der Grundstrukturen von Beziehung,
Bindung und innerer Sicherheit zu gehen. Dies spiegelt sich sowohl in den Therapieinhalten als auch in Saschas Bindungsverhalten und in den aufgetretenen Funktionen
der Musik wider.
66
Phase 2 (9.–12. Sitzung)
Verlauf:
In dieser Phase rücken Regelspiele (Ballspiele mit Toren und
Sensomotorische
Auseinandersetzung
Zielwerfen) ins Zentrum des therapeutischen Geschehens. Es fällt
Sascha noch schwer, Regeln, Strukturen und Grenzen, wie sie in
solchen Spielen gegeben sind, einzuhalten. Er übt sich jedoch
kontinuierlich und ausdauernd darin, sich an solche äusseren
Kontakt- und
Beziehungsgestaltung
Strukturen zu halten und sich daran zu orientieren sowie auch
eigene Spielregeln aufzustellen, die Sinn machen und anwendbar
sind.
Sascha zeigt Begeisterung für diese Spiele und fängt an, vermehrt
spontane Affekte wie z.B. einen Freudenschrei zu äussern (z.T.
gepaart mit Lachen und Kreischen), welcher gewonnenen Punkten gilt, oder aber es kommt zu einen Aufschrei der Enttäuschung
und des Ärgers über verlorene Punkte (affs). Sascha kommt hier
mehr und mehr aus sich heraus und zeigt Einsatz. Es scheint, als
würden ihn die Spiele daran erinnern, dass es sich lohnt für etwas
affs
affektive
Spürbarkeit
p → kol
Vehikelfunktion
passive
Lösung →
konstruktive
Lösung
zu kämpfen bzw. einen Einsatz zu bringen (p → kol).16
Sprache:
Es fällt auf, dass Saschas Stimme zu klingen beginnt. Dies steht
in starkem Gegensatz zu früher, als sie monoton, dumpf, ansatzweise heiser und wenig klangvoll wirkte.
Spielformen und -inhalte:
Das Aufstellen von eigenen Spielregeln bei Ball- und Wurfspielen
scheint Saschas Selbstbewusstsein zu stärken und die Erfahrung
von Selbstwirksamkeit zu verankern. Es findet in diesen Spielen
viel Verhandeln zwischen uns statt – darin zeigt sich auch Humor
als wichtig. Regeln und Grenzen müssen immer wieder aufs Neue
angepasst werden. Eine klare Grenzsetzung meinerseits (die nicht
Kontakt- und
Beziehungsgestaltung
getrennt ist von der Liebe und vom Humor), wenn es ums Einhalten von Spielregeln geht, ermöglicht Sascha nach und nach vermehrt zielkorrigiertes Verhalten zu etablieren und auf diese Art
16
Siehe dazu auch Kap. 6.2 „Entwicklungsaufgaben und psychische Sicherheit bei Kindern im Grundschulalter“.
67
und Weise einen angemessenen Umgang auch mit Begrenzungen
zu lernen. Für Sascha scheint es grundlegend wichtig zu sein, dass
ich seinen Versuchen, zu schummeln oder auszuweichen, humorvoll und liebevoll begegne und dennoch sehr klar und unmissverständlich bleibe in meinem Verhalten.
Sascha zeigt in diesem Rahmen noch immer kontrollierende Verhaltensweisen, jedoch in einer weit weniger ausgeprägten Form.
Es scheint dabei vor allem um die kontinuierliche Erfahrung von
Selbstwirksamkeit, Orientierung und Selbstsicherheit zu gehen
(kvF/kvO). Plötzliche Spielabbrüche (ks) scheinen demselben
Zweck zu dienen.
kvF/kvO
kontrollierende Verhaltensweisen –
Funktionalisieren /
kontrollierende Verhaltensweisen –
Ordnen
ks
Kardinalsymptom
ADHS
Sascha fragt in dieser Phase jeweils von selbst nach dem Ab-
A&T
der für ihn schwierigen Situation von Abschied und Trennung
Schwierigkeiten mit Abschied und
Trennung
(A&T) zu finden. Als ich spontan den Zusatz „’s war schön mit
Bg
dir“ anfüge, schaut er auf und unsere Blicke treffen sich (Bg).
Begegnung
schlusslied und wirkt, als würde er beginnen, einen Umgang mit
Containerfunktion
Kontaktverhalten und Bindungsgeschehen:
Sascha kommt in dieser Therapiephase häufig viel zu früh zu mir
in den Musiktherapieraum und zeigt mir unmissverständlich seine
Freude darüber, dass er zu mir in die Musiktherapie kommen
kann (p → kol). Er scheint stolz und glücklich zu sein über die
neu etablierte vertrauensvolle Bindung zu mir, was sich u.a. auch
p → kol
passive Lösung →
konstruktive
Lösung
darin zeigt, dass er anfängt, in „wir“-Form und von „uns“ zu
sprechen.
Sascha wirkt in dieser Phase insgesamt kontinuierlich offener und
afft →
wird affektiv spürbarer (afft → affs). Auch zeigt er sich entspann- affs
affektive
ter und ist offen für das, was ich sage – d.h. er muss Ideen und
Vorschläge meinerseits nicht mehr nur abwehren, sondern fängt
Taubheit →
affektive
Spürbarkeit
an, sich für diese zu öffnen.
Sascha beginnt in dieser Phase, den Musiktherapieraum auch als
„Safe Place“ und mich zunehmend als Bindungsperson zu nutzen;
als er von einigen älteren Schülern verfolgt wird, flüchtet er sich
zu mir in den Musiktherapieraum und lässt sich von mir beschüt-
68
zen (p → kol). Auch zeigt er mir seine körperlichen Verletzungen, beispielsweise kleine Schürfwunden. Dabei habe ich den
Eindruck, dass mir Sascha seine inneren Verletzungen zeigen
p → kol
passive Lösung →
konstruktive
Lösung
will. Als er erkältet ist, nimmt er mein fürsorgliches mütterliches
Verhalten dankbar an (p → kol).
In jede Stunde bringt Sascha das kleine Sandkissen und seine
Musik als
Übergangsobjekt
Tüte mit den Maiskörnern mit, welche sich aufgrund gewonnener
Punkte für geschossene Tore oder getroffene Ziele in den Regelspielen beständig mehr füllt. Sascha zeigt sich stolz darüber, dass
er es schafft, sich an die Abmachung zu halten, die Dinge jedes
Mal erneut mitzubringen. Gleichzeitig scheinen die gewonnenen
Maiskörner sein Selbstbewusstsein zu stärken.
Zum Schluss der letzten Stunde vor den Sommerferien (mit an-
D/A1 →
schliessendem Schulwechsel) drückt Sascha seinen Wunsch nach B
einer kontinuierlichen Bindung zu mir aus, indem er sagt, es sei
das Wichtigste, dass er weiterhin zu mir kommen könne. Damit
benennt er die Qualität und die Bedeutung seiner Bindung zu mir,
welche gleichzeitig für eine sich neu etablierende sichere innere
Bindungsstruktur steht (D/A1 → B).
desorganisiertunsicheres
Bindungsmuster mit unsichervermeidenden
Anteilen (A1)
→ organisiertsicheres
Bindungsmuster
Sascha zeigt sich mir deutlich in seinem Affekt der Traurigkeit,
kol
was den Abschied von der alten Schule anbelangt, und kann seine
konstruktive
Lösung
Traurigkeit auch benennen (kol). Wenige Stunden später bringt
ein Hilfslehrer Sascha erneut zu mir in den Musiktherapieraum.
aggA
aggressive
Ausbrüche
D/A1 →
B
eine Stunde zu mir kommen könne. Zuvor hätte er ausfälliges desorganiDieser berichtet, dass Sascha darum gebeten hätte, dass er noch
aggressives Verhalten (aggA) gezeigt, hätte sich aber schnell
beruhigen lassen und dann zu mir gewollt. Indem Sascha mich als
„sicheren emotionalen Hafen“ nutzt, wird deutlich, dass er in
Momenten, in welchen sein Bindungssystem aktiviert ist, Bindungsverhalten zeigt, welches eine sichere Bindung kennzeichnet
(D/A1 → B).
siertunsicheres
Bindungsmuster mit unsichervermeidenden
Anteilen (A1)
→ organisiertsicheres
Bindungsmuster
Selbstreflexion:
a) methodisch: Eine klare Grenzsetzung, welche mit Liebe und Humor gepaart ist, soll
Sascha ermöglichen, zielkorrigierte Verhaltensweisen einzuüben und anzunehmen.
69
Über das Aufstellen, Definieren und Anpassen von Spielregeln kann Sascha den Umgang mit Grenzen und Regeln üben und seine inneren Strukturen festigen. Gleichzeitig
ermöglicht es ihm die Erfahrung von Selbstwirksamkeit.
b) persönlich: Dass Sascha mir zeigt, dass er sowohl zu einem sorgfältigen Verhalten
im Umgang mit den Instrumenten als auch zu einem verbindlichen Verhalten, was das
Mitbringen der an ihn ausgeliehenen Gegenstände anbelangt, bereit ist, etabliert in mir
etwas, was ich als grundsätzliches Vertrauen in ihn und in seine Ressourcen beschreiben würde. Ich bin sehr berührt über die Offenheit und über das Vertrauen, das Sascha
wiederum mir entgegenbringt und empfinde z.T. mütterliche Gefühle ihm gegenüber. In
mir ist viel Freude über die zusehends entstehende Begegnung und Bindung.
Funktionen der Musik:
Die Nutzung der Musik zur Sensomotorischen Auseinandersetzung in Kombination mit
dem Auftreten der Funktion der Kontakt- und Beziehungsgestaltung lässt vermuten,
dass Sascha, um mit einem Gegenüber in Beziehung treten zu können, sowohl die haptische Stimulation als auch das Spiel als neutrales Drittes braucht, um im Hier und Jetzt
verankert bleiben zu können. Der Einsatz von Musik als Übergangsobjekt könnte so
interpretiert werden, dass Sascha einen Erinnerungsträger benötigt, um allmählich ein
Gefühl von Kontinuität von Bindung und Verbindlichkeit über die einzelnen Sitzungen
hinaus entwickeln zu können.
Zusammenfassende Beurteilung des Prozesses:
Sowohl in Saschas Bindungsverhalten als auch in den Therapieinhalten und in den
Funktionen der Musik zeigen sich die Anfänge von Beziehung bzw. einer sich neu entwickelnden, sicheren Bindung. Solch eine verbindliche Beziehung scheint für Sascha
neu und ungewohnt zu sein und vieles muss erst gelernt und dann auch geübt werden.
Phase 3 (13.–17. Sitzung)
Verlauf:
Sascha wirkt bereits zu Beginn dieser Phase deutlich ruhiger. Bei
der Begrüssung und manchmal innerhalb der Stunden – teilweise
über längere Sequenzen – wirkt er wie ausgewechselt; zart, sanft,
70
ruhig, keine Anzeichen von Aggression oder Unruhe.
Die Sensomotorische Auseinandersetzung sowie ein eingehende-
Sensomotorische
Auseinandersetzung
res Explorieren der Instrumente interessieren Sascha. Hin und
wieder kommt es zu gemeinsamen Improvisationen. Die Spielsequenzen werden insbesondere in Saschas bevorzugtem Solospiel länger.
Kampfspiele, in welchen es um die Stärkung der Durchsetzungs-
Kontakt- und
Beziehungsgestaltung
kraft geht, werden von Sascha in dieser Phase bevorzugt gewählt.
Aber auch Regelspiele mit Bällen interessieren Sascha nach wie
vor.
In dieser Phase kommt traumatisches Material an die Oberfläche,
Katalysatorfunktion
welches in Zusammenhang mit dem Ex-Partner von Saschas Mutter steht (KT). In darauf folgenden Stunden richtet Sascha seine
KT
verinnerlichten Aggressionen gegen mich und ich werde inner-
Konfrontation
mit Traumata
halb von Spielsequenzen wiederholt getötet (kat). Auch drückt
Sascha Gewalt in Form von Schlägen auf bestimmte Instrumente
(wie z.B. einen Topfdeckel) aus, die er wortwörtlich schlägt, mir
kat
endgültige
Trennung
ganz nah ans Ohr hält und mich damit dazu funktionalisiert, die
Symbolbildung
Musik als
Zeugin und
Resonanzgeberin
Schläge am eigenen Körper zu erfahren.
Bei der Nachbesprechung gibt sich Sascha erst zufrieden, als die
Botschaft ohne Versuch der Abschwächung von mir angenommen und gehört wird, nämlich: „Du wurdest getötet! Zwei Mal!“
Sascha schreit diese Aussage.
Sprache:
In Saschas Sprache finden sich während der Trauma-Konfron-
DD
tation eingeschobene Aussagen (DD): Mehrfach stockt er in sei-
eingeschobene Aussagen
ner Rede, es kommt zum Abbruch des Satzes, einzelne Satzfrag-
S&F
mente werden geflüstert (S&F). Manchmal springt Sascha von
Schweigen
und/oder
Flüstern
einem angefangenen Satz zu etwas inhaltlich ganz anderem (SD).
SD
Z.T. spricht er mit einer sehr hohen, schwer verständlichen Stimme.
Sprachmuster
Desorganisation
Spielformen und -inhalte:
Sascha scheint sich nun über längere Sequenzen konzentrieren zu
können (ks → AK), was sich beispielsweise im übungszentrierten
ks → AK
Kardinalsymptom
ADHS →
Aufmerksam-
71
Arbeiten zeigt: Sascha lässt sich von mir den Umgang und die
Handhabung sowie die Pflege verschiedener Instrumente zeigen
und erklären und setzt sich damit auseinander.
Ein Explorieren der Instrumente (ohne Hast) wird möglich. Hin
und wieder kommt es zu gemeinsamen Improvisationen; Sascha
kann nun zulassen, dass ich mich in einer stützenden Funktion in
sein Spiel einbringe. Die Spielsequenzen werden länger und Sascha zeigt im Spiel mit Instrumenten – wie z.B. in einem Schlagzeug-Solo – viel Einsatz und Ausdauer (ks → AK).
Sensomotorische
Auseinandersetzung
Musik als
ks → AK IntermediärKardinalObjekt
symptom
Musik als
ADHS →
AufmerksamSelbstkeit / KonVerstärkung
zentration
Musik als
Ressource
keit / Konzentration
Solche Sequenzen wechseln sich ab mit Phasen, welche gleichbleibend von motorischer Unruhe, Ruhelosigkeit und impulsivem
Verhalten gekennzeichnet sind (ks/DV). Sascha nutzt dabei oftmals die Funktion der Musik als Katalysator zur Spannungsentladung und Affektregulation und kann sich so teilweise selbst beru-
ks/DV
Kardinalsymptom
ADHS /
desorganisierte Verhaltensweisen
higen und regulieren. Auch das Wühlen im Mais oder das Anspielen eines Instrumentes in Situationen der inneren Unruhe scheinen
Katalysatorfunktion
Beruhigung
Sensomotorische
Auseinandersetzung
für Sascha eine selbstregulierende Wirkung zu haben.
In Kampfspielen finden Spannungsentladungen (Lachen, Kreischen, Schreien) als auch eine Schulung der Konzentration statt. Ang
Hin und wieder zeigt sich innerhalb der Spiele auch unterdrückte
ungelöste
Angst
Angst (Ang) in Form von gehaltener Spannung, welche frei wer-
Katalysatorfunktion
den kann. Dies macht sich auch darin bemerkbar, dass Sascha
öfters plötzlich und sofort auf die Toilette muss – so als ob sich
auch auf der physischen Ebene etwas lösen würde.
Im Rahmen eines Rollenspiels mit Tierhandpuppen erklärt Sascha
KT
eine Spielfigur als 40-jährigen, starken Alkoholiker. Verkörpert
Konfrontation
mit Traumata
durch die Tierhandpuppe zeigt sich dieser als eine Figur, von
welcher Bedrohung, massive Aggression und Gewalt sowie
Übergriffigkeit ausgehen und in dessen Gegenwart sich auch der
Tod zeigt. Sascha nutzt mich während der Konfrontation mit diesen traumatischen Inhalten (KT) als Verstärkung, in dem er mich
an seine Seite holt (d.h. innerhalb des Spiels auf seine Seite stellt).
Symbolbildung
Sensomotorische Auseinandersetzung
ContainerFunktion
Gleichzeitig kann ich mit meiner Gegenwart das Geschehen bezeugen und, indem ich Sascha immer wieder anspreche, den Be-
Haltefunktion
zug zum Hier und Jetzt für ihn herstellen. Zusammen mit den
72
Instrumenten, welche er aktiv nutzt, kann ich eine Container- und
Haltefunktion für ihn übernehmen.
Kontaktverhalten und Bindungsgeschehen:
Sascha geht deutlich mehr in Kontakt, ist zugänglicher, offener
und vor allem offener für Nähe (AggA/kv/DV → Bg).
AggA/
kv/DV
→ Bg
aggressive
Ausbrüche /
kontrollierende Verhaltensweisen /
desorganisierte Verhaltensweisen →
Begegnung
Seine Bindungsbedürfnisse und Wünsche nach Nähe beginnt er
nun direkt auszusprechen und an mich zu richten (kol). Oftmals kol
kommt sein Bedürfnis nach körperlicher Nähe und Kontakt in
konstruktive
Lösung
Form von spielerischen Angriffen (z.B. mit einer Tierhandpuppe)
zum Ausdruck. Nach solch einem Angriff möchte Sascha von mir
gehalten werden oder aber es kommt zu einem lustvollen Herumtollen. Sascha zeigt in diesem Sinne Kontaktverhalten in Form
eines aggressiven Nähe-Suchens – dies im Gegensatz zu Phase 1
und 2, in welchen Bindungsbedürfnisse zu einem grossen Teil
komplett verleugnet wurden und nur in passiver Form auftraten (p
p → Agg
passive
Lösung →
Nähe suchen
+ Aggression
→ Agg).
Selbstreflexion:
a) methodisch: Ich versichere Sascha die Verlässlichkeit der Bindung, indem ich bedingungslos für ihn da bin, ihn aushalte, den „sicheren Raum“ (Safe Place) für ihn halte
und ihm als „sicherer emotionaler Hafen“ einen Schutz- und Zufluchtsort anbiete. Diese Rückendeckung, welche Sascha auch immer wieder testet, lässt zu, dass eine Exploration von traumatischen Erinnerungen stattfinden kann.
b) persönlich: Saschas Manöver, mit mir in nahen Kontakt zu kommen, verunsichern
mich anfangs zwar ein wenig, die Natürlichkeit und der spürbare aufrichtige Wunsch
Saschas nach Nähe und Bindung helfen mir jedoch, dem Geschehen zu vertrauen. Dass
sich Sascha in seinem Wunsch nach Nähe offen zeigt, berührt mich sehr.
Die Intensität des Ausdrucks von traumatischer Energie und die Vehemenz, mit welcher
Saschas Aggressionen sich einen Weg nach aussen bahnen, sind z.T. kaum auszuhalten.
73
Die Spannweite des Traumas lässt sich nicht mehr kognitiv fassen und übersteigt immer
wieder meine Möglichkeiten des Erkennens und des Verstehen-Könnens. Erst mit dem
Loslassen dieses Anspruchs und indem ich meine fühlendende Präsenz zur Verfügung
stelle, habe ich den Eindruck, dass ich Sascha gerecht werden kann.
Funktionen der Musik:
Das Auftreten der Symbolbildung zusammen mit der Katalysatorfunktion, der Sensomotorischen Auseinandersetzung sowie der Container- und der Haltefunktion lässt den
Rückschluss zu, dass Sascha im Ausdruck seiner inneren und äusseren Wirklichkeiten
viel Unterstützung bzw. Halt und Gehalten-Werden benötigt. Zusätzlich kann die Musik
als Zeugin und Resonanzgeberin an derselben Stelle eine wichtige Funktion übernehmen, indem sie mittels ihrer Zeugenfunktion eine Verarbeitung der traumatischen Inhalte ermöglicht.
Das vermehrte Nutzen der Musik zur Sensomotorischen Auseinandersetzung in übungszentrierten Sequenzen lässt vermuten, dass Saschas Konzentrationsspanne sich verlängert hat. Sascha fängt an, die Musik zu nutzen, um sich selbst eine Stimme zu verleihen,
was sich im Auftreten der Funktion der Musik als Intermediärobjekt, als Selbstverstärkung und als Ressource zeigt.
Zusammenfassende Beurteilung des Prozesses:
Sascha scheint seine Affekte nun – zumindest bis zu einem gewissen Grad – mit Hilfe
der Musikinstrumente selbst regulieren zu können. Gleichzeitig zeigt er ein hohes Mass
an Vertrauen in die therapeutische Beziehung, welche für die sich neu entwickelnde
„sichere Bindung“ steht. Dies ermöglicht eine Exploration traumatischer Inhalte. Darin
übernimmt die Musik eine ganze Reihe von wichtigen und teilweise unerlässlichen
Funktionen (siehe oben).
Phase 4 (18.–24. Sitzung)
Verlauf:
Sascha beginnt in dieser Phase, Rituale, die er im Yogaunterricht
der neuen Schule gelernt hat, einzubringen.
Im gemeinsamen Musikspiel beteiligt er sich zusehends aktiver.
Ein längeres Zusammenspiel ist jedoch nach wie vor nur im
Containerfunktion
74
Rahmen der Begrüssungs- und Abschlusslieder möglich, welche
Musik als
Intermediärobjekt
eine feste und verlässliche gleichbleibende Struktur anbieten. Hin
und wieder kommt es zu kürzeren Phasen von freiem Zusammenspiel im Sinne einer stützenden Improvisation.
Sascha wagt in dieser Phase einen Solo-Auftritt und entdeckt
Musik als
Ressource
damit auch die Möglichkeit des Ausdrucks über die Stimme; er
singt ein Lied, welches er gut kennt, alleine und mit Mikrophon.
Vehikelfunktion
Dabei gelingt es ihm, den Text fehlerlos und sicher zu singen. In
seiner Stimme ist Modulation vorhanden.
Sensomotorische
Auseinandersetzung
Übungszentriertes Arbeiten ist nach wie vor wichtig für Sascha
und auch ruhigere Arbeiten wie Basteln oder das Malen eines
Bildes werden von ihm gewählt. Ball- und Kampfspiele bilden
noch immer einen festen Bestandteil.
Sprache:
Saschas Stimme klingt oftmals weich und warm. Seine Sprache
affs
ist diejenige eines Kindes und klingt lebendig (affs). Nur noch
affektive
Spürbarkeit
selten wirkt seine Stimme dumpf und monoton.
Spielformen und -inhalte:
Sascha zeigt sich sehr stolz darüber, dass er nun den Namen seines Vaters trägt – dieser hat neu das Sorgerecht erhalten. Seinen
Stolz und seine Freude über die nun offizielle Zugehörigkeit zum
kol
Vater drückt er aus, indem er eine Urkunde bastelt, auf welcher
konstruktive
Lösung
sein neuer Name steht. Bei der Ausgestaltung der Urkunde bittet
er mich um Hilfe, lässt sich von mir Dinge zeigen (kol) und kann
das Gezeigte anwenden. Sascha zeigt viel Geduld, arbeitet ruhig
Kontakt- und
Beziehungsgestaltung
AK
Aufmerksamkeit / Konzentration
und wirkt konzentriert – dies über eine längere zeitliche Dauer
(AK).
Indem er beginnt, Rituale, die er im Yogaunterricht der neuen
kol
Schule gelernt hat, einzubringen, beweist Sascha Eigeninitiative
konstruktive
Lösung
und ein höheres Mass an Selbständigkeit. Im Umgang mit einem
kvF →
Bg
Klangspiel zeigt er Sorgfalt und Feingefühl (kol). Sascha lässt in
diesem Kontext auch zu, dass ich spielend um ihn herum gehe,
während er die Augen geschlossen hält. Damit zeigt er deutlich,
dass er weniger kontrollieren muss und offener für Begegnung
kontrollierende Verhaltensweisen –
Funktionalisieren →
Begegnung
Kontakt- und
Beziehungsgestaltung
75
und Berührung ist (kvF → Bg).
Phasen von freiem musikalischem Zusammenspiel im Sinne einer
stützenden Improvisation, innerhalb derer ein Imitieren auf musi-
Musik als
Intermediärobjekt
kalischer Ebene möglich wird, werden häufiger. Sascha zeigt mir
dabei immer wieder unmissverständlich, wann seine Grenzen
erreicht sind, indem er das Spiel abbricht oder in einen hohen
affektiven Ausdruck übergeht, der nach Affektregulierung verlangt.
Übungszentriertes Arbeiten ist auch in dieser Phase sehr wichtig
und förderlich. Die struktur- und formgebende Eigenschaft solch
eines Arbeitens scheinen Sascha Stütze und Halt zu bieten, was
eine regulierende und beruhigende Wirkung auf ihn hat. In diesem Rahmen ist Zusammenarbeit sowie ein ruhiges, konzentriertes Arbeiten gut möglich (AK).
AK
Aufmerksamkeit / Konzentration
Saschas Freude über den Erfolg eines alleine gesungenen Liedes
affs
ist deutlich spürbar (affs) und die Tatsache, dass ich ihm einen
affektive
Spürbarkeit
Sensomotorische
Auseinandersetzung
verantwortungsvollen Umgang mit dem Mikrophon zutraue,
scheint seinen Selbstwert zu stärken.
Kontaktverhalten und Bindungsgeschehen:
In dieser Phase nehme ich in Sascha einen starken Wunsch wahr,
Kind sein zu können. Symbolisch zeigt sich dieser Wunsch darin,
dass er anfängt, anstelle der Sitzkissen Stühle an unsere Plätze zu
stellen; für sich selbst wählt er einen kleinen Kinderstuhl, mir
weist er einen Stuhl für Erwachsene zu. Sascha besteht darauf, zu
Beginn der Stunde auf den Stühlen zu sitzen bzw. diese Ordnung
kvO/kol
kontrollierende Verhaltensweisen –
Ordnen /
konstruktive
Lösung
einzuhalten (kvO/kol).
Sascha schenkt mir in dieser Phase zwei von ihm in der Schule
gemalte Bilder. Damit zeigt er mir auf direkte Art und Weise
seine Zuneigung (kol/Bg/B) und muss diese nicht wie bis anhin
kol/Bg/B
über aggressive Formen des Nähe-Suchens kundtun. Es kommt zu
konstruktive
Lösung /
Begegnung /
organisiertsicheres
Bindungsmuster
einem Moment der geteilten Freude (Interaffektivität). Sascha
lässt in diesem Moment viel Nähe zu mir zu, was auch in seiner
Stimme hörbar ist; diese klingt weich, warm und nah (kol/Bg/B).
Im Kontext seines Wunsches, Kind sein zu können, testet mich
76
Sascha in meiner Autorität als Erwachsene. Dabei habe ich den
Eindruck, dass es im übertragenen Sinne sehr stark um die Anerkennung der elterlichen Autorität geht. Sascha beginnt, Verhaltensformen, wie sie im häuslichen Umgang mit den Eltern zutage
treten, auch in der Musiktherapie zu zeigen. Er zeigt in diesem
Zusammenhang sehr respektlose grenzüberschreitende Verhaltensweisen, die sich beispielsweise darin äussern, dass er mich im
kvF/kvs
kontrollierende Verhaltensweisen –
Funktionalisieren /
kontrollierende Verhaltensweisen strafend
Befehlston anschreit und versucht mich herumzukommandieren
(kvF/kvs).
Nachdem ich ihm hier deutlich und wiederholt Grenzen setze,
beruhigt er sich jedoch ziemlich schnell. Die Tatsache, dass sich
solche Rollenkonflikte des Familiensystems nun direkt über the-
kol/B
rapeutische Beziehung austragen lassen, zeugt davon, dass die
konstruktive
Lösung /
Begegnung
Bindung, welche Sascha zu mir hat, über eine gute Stabilität verfügt (kol/B).
Dass die therapeutische Beziehung für ihn zu einer sicheren
Komponente geworden ist, zeigt auch die Tatsache, dass Sascha
sich wagt, negative Gefühle wie Wut mir gegenüber auszudrücken, ohne Angst, dass damit die Bindung gefährdet würde
kol/B
konstruktive
Lösung /
Begegnung
(kol/B).
Selbstreflexion:
a) methodisch: Ich setze Sascha in seinem grenzüberschreitenden und respektlosen Verhalten klare Grenzen und spreche mit ihm darüber, was ich möchte und was ich nicht
möchte, im Sinne einer elterlichen Autorität. Über diesen Weg kann Sascha eine angemessene elterliche Grenzsetzung erfahren sowie zielkorrigierte Verhaltensweisen annehmen. Auch kann er sich damit sicher und aufgehoben fühlen an seinem Platz des
Kindes. Als ein reales Gegenüber zeige ich Sascha meine Zuneigung und „mütterliche
Liebe“.
b) persönlich: Dass mir Sascha auf direkte Art und Weise seine Zuneigung zeigt, berührt mich sehr. Sein plötzliches grenzüberschreitendes und respektloses Verhalten mir
gegenüber empört und erschreckt mich zuerst. Da jedoch schnell klar wird, dass Sascha
einzig Verhaltensweisen und Umgangsformen zeigt, wie sie sich bei ihm zu Hause zutragen, kann ich gut damit umgehen. Dass es gar nicht so viel braucht, damit Sascha
77
sich wieder beruhigt, erschreckt mich beinahe noch mehr, da dies bedeutet, dass sein
Verhalten sehr wahrscheinlich „nur“ eine Reaktion auf die elterlichen Erziehungsformen ist.
Funktionen der Musik:
Anhand des nun häufigeren Auftretens der Funktion der Kontakt- und Beziehungsgestaltung bzw. der Funktion der Musik als Intermediärobjekt lässt sich annehmen, dass
Saschas Bereitschaft, mit einem Gegenüber im Kontakt und in Beziehung zu sein, gewachsen ist und dass sich seine diesbezüglichen Kompetenzen erweitert haben.
Das Auftreten der Vehikelfunktion und der Funktion der Musik als Ressource kann so
gedeutet werden, dass Sascha innerlich sicherer geworden ist, so dass er sich wagt, Impulsen und Befindlichkeiten eine Stimme zu verleihen. Aus dem Auftreten der Containerfunktion kann jedoch geschlossen werden, dass Sascha noch immer ein gewisses
Mass an Halt und Struktur braucht. Dies zeigt sich auch in der Sensomotorischen Auseinandersetzung, welcher viel Platz eingeräumt wird.
Zusammenfassende Beurteilung des Prozesses:
Sascha zeigt in dieser Phase deutlich mehr Selbständigkeit und ein höheres Mass an
innerer Struktur und Sicherheit. Er kann Gelerntes anwenden, zeigt Eigeninitiative und
scheint über neue Kompetenzen zu verfügen hinsichtlich Selbstregulation und sicherem
Bindungsverhalten. Des Öfteren wählt er ruhiges, übungszentriertes Arbeiten (Sensomotorische Auseinandersetzung) und kann sich dabei über lange Sequenzen konzentrieren. Dem gegenüber steht ein respektloses grenzüberschreitendes Verhalten, welches
Sascha plötzlich an den Tag legt. Dieses Verhalten, welches einem Testen der elterlichen Autorität gleichkommt, könnte im Zuge von Saschas neu erworbener innerer
Sicherheit auch als eine Erprobung seiner Kräfte interpretiert werden.
9.3.4 Beurteilung des Behandlungsverlaufs In Saschas Therapieverlauf zeichnet sich eine kontinuierliche Entwicklung in Richtung
eines inneren Arbeitsmodells einer sicheren Bindung (B) ab. Dies zeigt sich in folgenden Verhaltensweisen:
•
Er äussert seine Bindungswünsche offen und direkt, fragt aktiv um Hilfe bzw. holt
sich bei der Bindungsperson Hilfe.
78
•
Er äussert auch negative Gefühle offen (kol/B).
•
Er nutzt die Bindungsperson zur Beruhigung und Affektregulation (kol/B).
•
Er muss weniger kontrollieren, ist offener für Begegnung und Nähe und wird
emotional deutlich spürbarer (affs).
•
Er zeigt Einsatz zur Erreichung von Zielen.
•
Seine Aufmerksamkeit und Konzentration (AK) haben sich verbessert.
Dennoch kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht von einer sicheren Bindung gesprochen werden. Das innerlich sich neu etablierende, sichere Bindungsmodell scheint noch
brüchig zu sein, was sich auch darin zeigt, dass noch immer kontrollierende Verhaltensformen Raum einnehmen (kvF/kvO/kvs), motorische Unruhe vorhanden ist (ks) und
nach wie vor geringe Affekttoleranz und Fähigkeit zur Selbstregulation bestehen.
Möglicherweise ist entscheidend, ob sich die Bindungsbeziehungen zwischen Sascha
und seinem Vater sowie zwischen ihm und seiner Mutter auch entsprechend verändern
können. Wenn in diesen Beziehungen destruktive Verhaltensweisen bestehen bleiben,
wird es nicht einfach sein, dass sich in Sascha ein neues, sicheres Arbeitsmodell etablieren kann, da „[…] das Kind seine in der Therapie gewonnenen Behandlungsfortschritte
nur so weit realisieren kann, wie die Eltern in der Lage sind, diese zu akzeptieren und
wohlwollend oder auch verständnisvoll zu begleiten […]“ (vgl. Brisch 2015a, 127f).
9.3.5 Im Therapieverlauf aufgetretene Funktionen der Musik Zu Beginn der Behandlung kommt der Containerfunktion und der Strukturierung eine
besonders hohe Bedeutung zu, da der Aufbau der Grundstrukturen von Beziehung, Bindung und innerer Sicherheit in Saschas Therapieprozess im Zentrum steht. Die Containerfunktion findet sich in allen 4 Phasen wieder und spiegelt die Tatsache, dass Sascha
noch bis zum Ende von Phase 4 auf zusätzlichen Halt angewiesen ist. Gleichzeitig
kommt der Containerfunktion und der Haltefunktion in Phase 3 eine grundlegende Bedeutung zu, als Sascha beginnt, traumatische Inhalte in Zusammenhang mit dem ExPartner der Mutter zu explorieren. Das Nutzen der Musik zur Sensomotorischen Auseinandersetzung im Sinne einer Verankerung im Hier und Jetzt unterstützt hier zusätzlich.
Der Sensomotorischen Auseinandersetzung kommt über den Verlauf des gesamten Therapieprozesses eine sehr wichtige Rolle zu: Wo es zu Beginn der Behandlung Saschas
noch stark um die Orientierung in Zeit und Raum und um Beruhigung geht, wird die
79
Sensomotorische Auseinandersetzung in Phase 3 und 4 in immer länger werdenden
übungszentrierten Sequenzen zentral und schult Saschas Konzentration und Aufmerksamkeit.
Der Funktion der Musik als Intermediärobjekt bzw. der Kontakt- und Beziehungsgestaltung kommt im Sinne des zugrundeliegenden Themas und Therapieziels – nämlich der
Veränderung des Bindungsverhaltens hin zu einer sicheren Bindung – ebenfalls eine
zentrale Bedeutung zu. Sie tritt in allen 4 Phasen auf und zeigt sich sowohl im gemeinsamen Musikspiel, in welchem die Musik als Intermediärobjekt fungiert, als auch in der
Kontakt- und Beziehungsgestaltung mittels Regelspielen wie z.B. Ball- oder Kampfspielen. Neue Bindungsmuster müssen erprobt, erlernt und immer wieder geübt werden,
bevor sie sich als neue Bindungsstruktur verankern können; diese Tatsache deutet auf
die Wichtigkeit dieser Funktion hin. Erst wenn einem Gegenüber auf angstfreie Weise
über die Beziehungsbrücke eines neutralen Dritten (Musik, Spiel) begegnet werden
kann, wird es mit der Zeit möglich sein, auch in einer Realbeziehung direkte Begegnung
zuzulassen. In Phase 4 wird dies Sascha möglich.
In der Exploration traumatischer Inhalte kommt die Funktion der Symbolbildung zusammen mit der Katalysatorfunktion, der Sensomotorischen Auseinandersetzung sowie
der Container- und der Haltefunktion zum Tragen. Die Funktion der Symbolbildung ist
deshalb besonders wichtig, weil durch sie innerlich und äusserlich erfahrene Wirklichkeiten noch einmal ins Zentrum des Geschehens rücken. Mittels der Funktion der Musik
als Zeugin und Resonanzgeberin können diese bezeugt und verarbeitet werden.
9.3.6 Fremdbeurteilung Mutter Laut Aussagen der Mutter (in 4 Standortgesprächen und im Abschlussgespräch) hat sich
Sascha in folgenden Punkten verändert:
•
Er ist zu Hause viel ruhiger geworden.
•
Ausbrüche hat er nur noch selten.
•
Er ist selbständiger geworden, es muss ihm nicht mehr ständig gesagt werden, was
zu tun ist, was tägliche Abläufe anbelangt.
•
Er hört besser zu und muss nicht mehr immer nur seinen Willen durchsetzen.
•
Seine Mutter kann besser mit ihm reden.
•
Er ist offener.
80
•
Er kommt im Gegensatz zu früher oft zur Mutter kuscheln und zeigt ihr gegenüber
wenn er traurig ist (früher hat sie ihn nie weinen gesehen).
•
Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeit sind besser geworden.
Nach Angaben der Mutter ist Sascha immer noch sehr hibbelig und kann oft nicht still
sitzen. Die Distanz zwischen Vater und Sohn hat sich ihrer Aussage nach zeitweilig
verringert, dennoch habe sich die Beziehung noch nicht entscheidend verändert. Sascha
dominiert zeitweise seine Mutter komplett, unterdrückt und wertet sie ab.
9.3.7 Fremdbeurteilung Lehrer Saschas Lehrer haben (in 4 Standortgesprächen und im Abschlussgespräch) folgende
Veränderungen bei ihm festgestellt:
•
Seine Schulleistungen haben sich deutlich verbessert.
•
Lesen und Rechtschreibung sind besser geworden (Sascha schreibt seit einiger
Zeit nur noch Einsen und Zweien).
•
Ausfälliges Verhalten im Sinne von Ausbrüchen ist seltener geworden.
•
Er hat in der neuen Schule zwei Freunde gefunden.
Sascha zeigt nach Angaben der Lehrer in den Schulstunden noch immer viel motorische
Unruhe. Es ist vor Kurzem zu einem Vorfall gekommen, in welchem Sascha einem
Kind ein Handy aus dem Schulranzen geklaut hat.
9.3.8 Reflexion zu den Fremdbeurteilungen Die Aussagen von Saschas Mutter decken sich mit Progression bzw. Regression in der
Therapie. Gegen Ende von Phase 2 bis Mitte von Phase 4 zeigt sich bei Sascha im Therapieverlauf eine deutliche Progression, was die Mutter in Standortgesprächen bestätigt.
Zeitgleich bemüht sich die Mutter nach eigenen Angaben in dieser Zeit, sich mehr mit
Sascha zu beschäftigen und klar zu sein mit ihm, was das Setzen von Grenzen anbelangt. Nach Angaben der Mutter ist der Vater sehr erfreut über die Behandlungsfortschritte.
Gegen Ende von Phase 4 berichtet mir die Mutter, dass es ihr erneut schwerfalle, immer
konsequent zu sein mit Sascha. Sie berichtet ausserdem, dass sie sich manchmal Gedanken darüber mache, dass Saschas Vater sehr harte Strafen gegenüber Sascha anwende
81
und dass sich Sascha, wenn er beispielsweise für ein halbes Jahr kein Taschengeld bekomme, möglicherweise den anderen Kindern gegenüber benachteiligt fühle.
Es lassen sich in den Aussagen von Saschas Mutter Zusammenhänge vermuten mit Saschas respektlosem und grenzüberschreitendem Verhalten, das gegen Ende von Phase 4
auftritt. Der sehr strenge Erziehungsstil des Vaters könnte zusammen mit dem inkonsequenten Erziehungsstil der Mutter Sascha dazu verleiten, die Mutter zu dominieren und
gleichzeitig aus einem Gefühl der Benachteiligung infolge der harten Strafen des Vaters
Dinge zu tun, wie z.B. einem anderen Kind ein Handy zu klauen.
9.4 Fallbeispiel Yasmine Yasmine wird von der Schulleitung für die Musiktherapie empfohlen, weil sie von ihren
Mitschülern gemobbt wird. Dies drückt sich auf der psychischen Ebene durch Beleidigungen und Beschimpfungen aus, welche ein Mitschüler gezielt anwendet, um Yasmine
zu quälen. Die Mobbing-Situation macht auch vor körperlichen Übergriffigkeiten keinen Halt. Den Höhepunkt bildete ein Vorfall, in welchem drei Mitschüler Yasmine auf
den Kopf schlugen und sie danach in den Dreck warfen. Sie kann sich nicht wehren.
9.4.1 Anamnese Yasmine, ein 8-jähriges Mädchen, ist Einzelkind und lebt bei ihrer Mutter. Der Vater ist
gestorben, als sie 3 Jahre alt war. Ein Bruder starb bei der Geburt. Yasmine ist selber
eine Frühgeburt, sie ist im fünften Schwangerschaftsmonat auf die Welt gekommen.
Danach war sie 4 Monate lang zur Überwachung und Behandlung in der Klinik.
Yasmine reagiert auf die Mobbing-Situation in der Schule, indem sie die Vorfälle und
sich selbst ins Lächerliche zieht und ihre innere Not mit einer coolen Clown-ähnlichen
Haltung überspielt. Es dauert jeweils lange, bis sie die Vorfälle ihrer Mutter erzählt und
um Hilfe bittet. Yasmine ist kaum jemals ernst und weint sehr selten.
In der Schule steht Yasmine fast immer alleine auf dem Pausenhof. Sie hat nur wenige
Freunde, die aber nicht mit ihr in der gleichen Klasse sind. Yasmine geht nicht gern zur
Schule. Das Lernsystem ist ihr, nach Angaben der Mutter, zu schnell und es fällt ihr
schwer, mit der permanenten Reizüberflutung umzugehen. Sie kann sich schlecht konzentrieren, hat viel Angst vor Tests und reagiert schon Tage davor mit Bauchschmerzen.
Yasmine zeigt entsprechend schwache Schulleistungen in fast allen Fächern. In Bezug
auf Mathemathik wurde eine Dyskalkulie festgestellt.
82
9.4.2 Bindungsmuster und ermittelte Testergebnisse nach SAT (Diagnostik der Bindungsqualität im Grundschulalter) Es wurde das Bindungsmuster D/A1 ermittelt, welches für ein desorganisiertes Bindungsmuster mit unsicher-vermeidenden Anteilen (A1) steht. A1 steht dabei für die
stärkste Ausprägung des unsicher-vermeidenden Musters. Die Testergebnisse zeigen
eine stark ausgeprägte Desorganisation.
Die am häufigsten vergebenen Items waren „W“ (massiver Widerstand) und „p“ (passive Lösung).17
9.4.3 Therapieverlauf Yasmine (17 Sitzungen) Der folgende Therapieverlauf bezieht sich auf 17 Sitzungen, welche über einen Zeitraum von 9 Monaten durchgeführt wurden. Die Behandlung fand 1x wöchentlich statt,
ausgenommen davon waren Schulferien. Die Einteilung des Verlaufs in 3 Phasen orientiert sich an der Therapieprogression sowie an inhaltlichen Schwerpunkten.
Phase 1 (1.–7. Sitzung)
Verlauf:
Yasmine zeigt sich erfreut darüber, dass sie zu mir in die Musiktherapie kommen kann. Sie hat viele Ideen, springt im Gespräch
und im Spiel von einer Idee zu nächsten, will alles gleichzeitig
tun und alles in demselben Moment ausführen.
Als ich sie in der Vorbesprechung auf die Mobbing-Situation in
K
der Schule anspreche, unter der sie leidet, reagiert sie mit einer
Kompensation
schauspielerischen Demonstration (K), in welcher sie selbst nicht afft
affektive
spürbar ist (afft). Sie fängt jedoch schon nach wenigen Therapie-
Taubheit
stunden an, mir über ihre Befindlichkeit(en) zu erzählen bzw.
passive
Lösung →
konstruktive
Lösung
diese zu benennen (p → kol).
Musikalisch steht in dieser ersten Phase das Solospiel im Zentrum. Dabei entstehen viele spontan erfundene Liedtexte.
Musikalische Call-Response-Sequenzen (bzw. Echo-Spiele) werden in der musiktherapeutischen Behandlung Yasmines mit der
Zeit häufiger. Dabei spielt Yasmine den Call- und ich übernehme
17
p → kol
Musik als
Selbstverstärkung
Musik als
Intermediärobjekt
Siehe dazu auch „Symbol-Items“ in Kap. 9.2.1 „Forschungsmethodik“.
83
den Response-Teil. Manchmal kommt es spontan zu gleichzeitigem Spielen, was eine direkte Begegnung zwischen Yasmine und
mir in der Musik im Sinne einer Affektabstimmung ermöglicht.
Häufig wählt Yasmine auch Rollenspiele oder aber es kommt zu
Spielen (wie z.B. Turmbau mit Bauklötzen), in welchen Yasmine
sich darin übt, ein standfestes Fundament zu bauen.
Sprache:
In dieser ersten Phase spricht Yasmine oftmals über lange Se-
S&F
quenzen mit flüsternder Stimme (S&F).
Schweigen
und/oder
Flüstern
Spielformen und -inhalte:
Yasmine scheint es oftmals schwerzufallen, bei etwas zu bleiben
und nicht schon zum nächsten Spiel, zur nächsten Idee zu springen – darin ist eine Atemlosigkeit und ein Überdreht-Sein spürund hörbar (ks). Immer wieder muss sie von mir richtiggehend
gestoppt, an-„gehalten“ werden. Affekte sind hier nicht spürbar;
es scheint, als würden diese kontinuierlich überspielt (K).
Über den Verlauf mehrerer Stunden funktionalisiert mich Yasmine dazu, ihrem Solospiel zuzuhören und nichts zu tun (kvF).
Gleichzeitig drückt sie in Liedtexten, die manchmal spontan dabei
entstehen, ihre Begeisterung und ihre Dankbarkeit für die Musiktherapie aus und erzählt mir anhand der Texte auch von sich und
ihrer Befindlichkeit (kol).
ks
Kardinalsymptom
ADHS
K
Kompensation
kvF
kontrollierende Verhaltensweisen Funktionalisieren
kol
konstruktive
Lösung
Musik als
Selbstverstärkung
Musik als
Ressource
Vehikelfunktion
In Zusammenhang mit dem Musikspiel zeigt sich in Yasmine
häufig eine Art Selbstüberschätzung und Selbstüberforderung
bzw. eine Selbstfehleinschätzung (SÜ). Dabei scheint Yasmine zu
glauben, dass sie es alleine schaffen muss. Hin und wieder kann
es Yasmine im geschützten Rahmen der Musik aber auch zulassen, dass sie gehalten wird.
SÜ
selbstüberforderndes
Verhalten /
Selbstfehleinschätzung
Haltefunktion
Im Turmbau mit Bauklötzen versucht sie ein standfestes Fundament für den Turm zu bauen und kommt scheinbar nicht auf die
Idee, nach Hilfe zu fragen bzw. kann/will Hilfe noch nicht an-
p
passive
Lösung
nehmen (p).
In Rollenspielen gibt mir Yasmine ganz klare Instruktionen und
84
Anweisungen, wie ich mich im Spiel zu verhalten habe, legt mir kvF
z.T. die Worte, die ich sprechen soll, in den Mund – oder aber ich
werde angewiesen, nur zuzuschauen (kvF). Inhaltlich kommt es
jedoch zu Szenen, in welchen sie mir Rollen zuteilt, im Rahmen
derer ich fürsorgliches Verhalten ihr gegenüber übernehmen kann
(p → kol).
kontrollierende Verhaltensweisen –
Funktionalisieren
p → kol
passive
Lösung →
konstruktive
Lösung
Kontaktverhalten und Bindungsgeschehen:
Yasmine drückt sich meist in übertriebener theatralischer Mimik
K
und Gestik aus (K). Dabei ist der Affekt flach. Selbst als sie vom
Kompensation
verstorbenen Vater spricht, wirkt sie emotional unberührt (afft).
Sie wirkt, als hätte sie sich sehr weit in sich selbst zurückgezogen
(p). Einmal wird sie kurz spürbar, als sie etwas von ihrem Vater
im Zusammenhang mit der Musik, welche dieser gespielt hatte,
erzählt (affs).
afft
affektive
Taubheit
p
passive
Lösung
affs
affektive
Spürbarkeit
Yasmine scheint die Möglichkeit des Sich-Erleichterns, wenn
man etwas Schmerzvolles erzählt und jemand einem mitfühlend
zuhört, nicht zu kennen: Sie lässt sich nicht auf den Versuch ein,
den Vorfall der Mobbing-Situation emotional mit mir zu teilen,
und scheint davon auszugehen, dass sie keine Hilfe und Unter-
p
passive
Lösung
stützung erwarten kann (p).
Yasmine zeigt jedoch scheinbar schnell Vertrauen zu mir und
beginnt, mir über ihre Befindlichkeit(en) zu erzählen (p → kol).
In diesen Ausführungen ist der eigentliche Affekt, um den es
p → kol
passive
Lösung →
konstruktive
Lösung
geht, jedoch noch nicht spürbar (afft). Der Wechsel von einem
afft
Gefühl zum nächsten ist teilweise so schnell, dass ein Fühlen des
affektive
Taubheit
Erzählten gar nicht mehr möglich ist.
Für Yasmine scheint es wichtig zu sein, dass der verstorbene Vater in der Musiktherapie einen Raum erhält: Oftmals bringt sie
Instrumente ihres Vaters mit in die Musiktherapie. Sie spricht
p
passive
Lösung
Musik als
Übergangsobjekt
aber noch selten direkt über den Vater und wenn, dann nur in
Zusammenhang mit der Musik (p).
Yasmine braucht viel räumliche und zeitliche Strukturierung und
Grenzsetzung. Besonders schwer fällt es ihr jeweils, das Ende der
Stunde zu akzeptieren (A&T). Mit der Zeit wird in Yasmines
A&T
Schwierigkeiten mit Abschied und
Trennung
85
kontrollierendem Verhalten zusehends ein Rollentausch sichtbar,
in welchem sie meinen Part der Therapeutin und der Erwachsenen
einnehmen und mir ihren Part des Kindes zuteilen will (kvR).
kvR
kontrollierende Verhaltensweisen –
Rollenumkehr
Selbstreflexion:
a) methodisch: Ich zeige Yasmine meine Begeisterung über die entstandenen Liedtexte
und bestärke sie in ihren musikalischen Ressourcen. Gleichzeitig nehme ich sie ernst,
indem ich nicht auf ihr gekünsteltes Kompensationsverhalten eingehe, und versuche, sie
„darunter“ zu erreichen und direkt in ihrem Fühlen anzusprechen. Immer wieder muss
ich Yasmine in ihrem gewohnten Verhalten des pausenlosen Sprechens und pausenlosen
Wechselns von einer Aktivität zur nächsten ganz bewusst anhalten und sie beruhigen.
Dazu gehört auch das Strukturieren der Stunde und das klare Setzen einer Grenze am
Ende der Stunde.
b) persönlich: Dass ich Yasmine so schlecht spüren kann, weckt in mir anfangs Gefühle
der Befremdung. Ihre theatralische und gekünstelte Art zu sprechen und sich auszudrücken, rufen in mir ein Gefühl des Unwohlseins hervor. Manchmal fällt es mir schwer,
ihre auf diese Art und Weise zum Ausdruck kommende Weigerung, im Kontakt zu sein
und Begegnung zuzulassen, zu akzeptieren.
Yasmines Spielanweisungen und ihr sehr starkes Funktionalisieren bewirken bei mir
teilweise Gefühle des Unmutes. Ich spüre in mir den Wunsch, mich unterstützend einbringen zu können und nicht nur zum Zuhören angewiesen zu werden.
Dass Yasmine Instrumente ihres verstorbenen Vaters in die Musiktherapie mitbringt,
berührt mich.
Funktionen der Musik:
Das Auftreten der Funktion der Musik als Selbstverstärkung, als Vehikel und als Ressource zeugen davon, dass Yasmine von Anfang an die Musik dazu zu nutzen vermag,
sich selbst und ihren Befindlichkeiten eine Stimme zu verleihen. Gleichzeitig kann ihr
grosses Bedürfnis danach, gehört zu werden, dadurch gestillt werden. Die Funktion der
Musik als Übergangsobjekt kommt direkt und unmittelbar zum Tragen, indem Yasmine
Instrumente ihres verstorbenen Vaters in die Sitzungen mitbringt. Das Auftreten der
Haltefunktion und der Funktion der Musik als Intermediärobjekt spiegeln Begegnung
und die Anfänge von Beziehung.
86
Zusammenfassende Beurteilung des Prozesses:
Yasmine kann sich in dieser Phase noch kaum auf eine unmittelbare Begegnung mit
einem Gegenüber einlassen. Sie ist einzig bereit, sich auf Situationen einzulassen, in
welchen sie die Kontrolle hat und auch behält. Nur im sicheren Rahmen der Musik,
welche in ihrer Funktion als Intermediärobjekt als ein neutrales Drittes fungiert, lässt
Yasmine für Momente Begegnung zu. Gleichzeitig scheint die Musik Yasmine die
Möglichkeit zu bieten, sich dennoch Gehör zu verschaffen und etwas von sich mitzuteilen. Dies spiegelt sich im Auftreten der Funktion der Musik als Selbstverstärkung und
als Vehikel.
Phase 2 (8.–12. Sitzung)
Verlauf:
Yasmine zeigt am Anfang dieser Phase noch keine Bereitschaft kvF
für das Spielen einer gemeinsamen Musik. Sie wünscht jedoch
des Öfteren, abwechslungsweise zu spielen oder dass sie anfängt
und ich dann auf ihr Zeichen (mit dem von ihr mir zugeteilten
kontrollierende Verhaltensweisen –
Funktionalisieren
kvF →
Bg
(kvF). Manchmal wünscht sie auch alleine zu spielen und ich kontrollierenInstrument) einsteige und genau nach ihrer Anweisung mitspiele
werde angewiesen, nur zuzuhören. Mit der Zeit wird sie jedoch
offen dafür, dass ich mich begleitend auch in ihr Spiel einbringe
(kvF → Bg).
de Verhaltensweisen –
Funktionalisieren →
Begegnung
Musik als
IntermediärObjekt
Musik als
SelbstVerstärkung
Containerfunktion
Während der Stunde fragt mich Yasmine bei kleinen Handgriffen
p→
oder beim Basteln um Hilfe und will zusehends Dinge mit mir vAgg
zusammen machen. In Kampfspielen und im Basteln einer Figur,
welche „ein Mörder“ werden soll, beginnen sich auch aggressive-
passive
Lösung →
verdeckte
Aggressionen
re Anteile in ihr zu zeigen (p → vAgg).
In Rollenspielen fängt Yasmine an, ihre Befindlichkeiten und
kol
Gefühle auszudrücken (kol).
konstruktive
Lösung
Sprache:
Oft gibt Yasmine nur sehr knapp Antwort auf meine Fragen (p)
p
oder weicht komplett in ein anderes Thema aus, ohne darauf ein-
passive
Lösung
zugehen (SD), oder aber sie zeigt Widerstand, indem sie sich
weigert, überhaupt über ihre Befindlichkeit zu sprechen (W).
SD
Sprachmuster
Desorganisation
87
W
massiver
Widerstand
Spielformen und -inhalte:
Yasmine muss im Musikspiel meine Ideen bzw. die Ideen eines kvF →
Gegenübers noch vehement zurückweisen. Erst mit der Zeit wird
sie offen dafür, dass ich mich begleitend auch in ihr Spiel einbringe (kvF → Bg) und zeigt schliesslich Bereitschaft für ein
Zusammenspiel (Bg/kol).
Bg
kontrollierende Verhaltensweisen –
Funktionalisieren →
Begegnung
Bg/kol
Begegnung /
konstruktive
Lösung
Motorische Unruhe und Nervosität sind noch immer vorhanden
ks
(ks), auch Selbstüberschätzung und Selbstüberforderung (SÜ)
Kardinalsymptom
ADHS
zeigen sich immer wieder.
SÜ
Selbstüberforderndes
Verhalten /
Selbstfehleinschätzung
In Situationen von Müdigkeit, Schwäche und Erschöpfung kann
Yasmine ein Fürsorgeverhalten meinerseits in Form eines Fürspiels oder in einer anderen Haltefunktion nicht annehmen. Sie
verharrt in ihren passiven Strategien und weicht ins aktive Spiel
aus (W/p). Zum Ende dieser Phase jedoch lässt sie sich in einem
Moment, in welchem sie selbst erkennt, dass sie Ruhe braucht,
auf ein körperzentriertes Arbeiten (trophotrope Haltefunktion) ein
W/p
massiver
Widerstand /
passive
Lösung
Haltefunktion
(trophotrop)
p → kol
passive
Lösung →
konstruktive
Lösung
und zeigt damit die Bereitschaft, Nähe zuzulassen (p → kol).
In einem Rollenspiel thematisiert Yasmine die Überbehütung der
Mutter, indem sie anhand einer Handpuppe durch einen gleichaltrigen Jungen spricht, der sich darüber ärgert und empört, dass ihn
seine Mutter nicht draussen im Schnee spielen lässt und ständig
p → kol
passive
Lösung →
konstruktive
Lösung
Angst um ihn hat. Es scheint, als würde Yasmine auf diese Weise
Symbolbildung
indirekt ihre Wut auf die Mutter ausdrücken (p → kol). Direkt
zulassen kann sie die Wut allerdings noch nicht.
Kontaktverhalten und Bindungsgeschehen:
Yasmine fängt in dieser Phase an, direkt über ihre oftmals auch
p→
negativen Gefühle zu sprechen und sich mir darin zusehends zu kol/affs
zeigen (p → kol/affs). Dies macht Affektabstimmung und das
passive
Lösung →
konstruktive
88
Erfahren positiver Affekte für sie vermehrt möglich.
Lösung /
affektive
Spürbarkeit
Es scheint, als ob Yasmine immer wieder erneut die Kontrolle an
sich reissen müsse, indem sie mich funktionalisiert, oftmals in kvR
einem Versuch der Rollenumkehr (kvR).
Insgesamt scheint sie in dieser Phase zwischen „Überhöhung“
kontrollierende Verhaltensweisen Rollenumkehr
und damit Kontrolle, Funktionalisieren und selbstüberschätzendem Verhalten und „Entwertung“, in welcher sie sich gar nichts
mehr zutraut und wenig bis keine Eigeninitiative zeigt, zu
kol
konstruktive
Lösung
schwanken. Gleichzeitig kann sich Yasmine mehr und mehr auf
die therapeutische Beziehung einlassen (kol), was ihr wiederum
die Erfahrung von Verlässlichkeit der Bezugsperson ermöglicht.
Insgesamt wird Yasmine spürbarer, trotz des Schauspielverhal-
K
tens (K), das noch immer sehr viel Raum einnimmt. Sie scheint
Kompensation
mir mehr Vertrauen entgegen zu bringen. So beginnt sie in dieser
A&T →
kol/affs
Phase auch, ihre Gefühle zu Abschied und Trennung auszudrücken, wenn es um das Enden der Stunde geht (A&T → kol/affs).
Schwierigkeiten mit Abschied und
Trennung →
konstruktive
Lösung /
affektive
Spürbarkeit
Ereignisse im Alltag:
Die Mobbing-Situation, unter welcher Yasmine sehr zu leiden
p
hatte, besteht nicht mehr. Yasmines Mutter hatte sich dabei sehr
passive
Lösung
für sie eingesetzt, indem sie mehrere Gespräche mit Lehrern, Eltern und Kindern führte. Yasmine erzählt nun von Freundschaften, die sich in der Regel jedoch schwierig gestalten. Sie scheint
nicht daran zu glauben, dass sie fähig ist, etwas zu verändern (p).
Selbstreflexion:
a) methodisch: Ich fange an, Yasmine mit ihrem funktionalisierenden Verhalten zu konfrontieren, indem ich nicht mehr immer nur mitmache, sondern ihr auch sage, wie es ist,
wenn man ständig herumkommandiert wird. Ebenfalls fange ich an, mich manchmal
doch in Yasmines Spiel einzubringen, um ihr (vorerst gegen ihren Willen) die Erfahrung
zu ermöglichen, dass es nicht immer nur schadet, wenn jemand mitspielt, sondern auch
unterstützen kann. Gleichzeitig sollen Kampfspiele und das Erleben der Musik als Ressource ihren Selbstwert stärken.
89
b) persönlich: Yasmines immer wieder auftretende Widerstände und teilweise hartnäckige Weigerung, Hilfe und Unterstützung von mir anzunehmen und es um jeden
Preis alleine schaffen zu müssen, lösen in mir Traurigkeit und eine Ohnmacht aus. Ihr
dennoch weiterhin anzubieten, dass ich für sie da bin, im Wissen, dass dies alles ist, was
ich tun kann, erleichtert mich und öffnet ihr gegenüber wieder mein Herz.
Funktionen der Musik:
Das erneute Auftreten der Funktion der Musik als Intermediärobjekt deutet darauf hin,
dass über die Vermittlerfunktion der Musik als ein neutrales Drittes Begegnung und
Beziehungsgestaltung stattfindet. Die Funktion der Musik als Selbstverstärkung scheint
für Yasmine ein bevorzugter Weg zu sein, sich Gehör zu verschaffen. Das Auftreten der
Haltefunktion sowie der Containerfunktion zeugen jedoch davon, dass Yasmine anfängt, sich auf ein stützendes und haltgebendes Zusammenspiel einzulassen. Das Auftreten der Funktion der Symbolbildung lässt die Vermutung zu, dass Yasmines Bereitschaft, inneren und äusseren Wirklichkeiten in der Musiktherapie einen Raum zu geben,
wächst.
Zusammenfassende Beurteilung des Prozesses:
Ein Einlassen auf eine Begegnung mit einem Gegenüber scheint nur sehr langsam und
zaghaft stattzufinden und ist mit sehr viel Widerstand Yasmines verbunden. Immer wieder kommt es jedoch zu Momenten, in welchen sich eine Bereitschaft dazu in Yasmine
zeigt, was sich im Auftreten der Funktion der Musik als Intermediärobjekt, der Haltefunktion und der Containerfunktion spiegelt. Kontrollierende und funktionalisierende
Verhaltensweisen können teilweise über direkte Konfrontation durchbrochen werden.
Phase 3 (13.–17. Sitzung)
Verlauf:
In dieser in Phase möchte Yasmine oftmals „Konzert“ spielen; ich
Musik als
Selbstverstärkung
soll ihr zuhören. Dabei spielt sie über lange Sequenzen auf verschiedenen Instrumenten. Manchmal singt sie dazu, bevorzugt mit
dem Mikrophon.
In einem Rollenspiel beginnt Yasmine schliesslich zum ersten
KT
Mal, direkt den Tod des Vaters zu thematisieren (KT).
Konfrontation
mit Traumata
90
In der darauf folgenden Stunde, welche vom Datum her dem To-
affs
destag von Yasmines Vater entspricht, zeigt sie sich anfangs in
affektive
Spürbarkeit
ihrem Affekt der Traurigkeit (affs), flüchtet sich aber sehr schnell
K
in Ablenkung, indem sie von etwas anderem zu erzählen beginnt
Kompensation
(K) und dann darauf besteht, ein Rollenspiel zu spielen, welches
überhaupt nichts mit dem Thema zu tun hat und in welchem sie
emotional überhaupt nicht involviert ist (afft).
afft
affektive
Taubheit
Sprache:
Yasmines Sprache ist noch immer gekünstelt; oftmals spricht sie
mit einer sehr hohen, theatralisch anmutenden Stimme. Immer
wieder scheint aber auch ihre echte Stimme durch. In Rollenspie-
affs
affektive
Spürbarkeit
len wird ihre Stimme hörbar und sie selbst spürbar (affs), wenn
sie durch die jüngsten Spielfiguren spricht.
Spielformen und -inhalte:
In einem Rollenspiel, in welchem sie den Tod des Vaters themati-
KT
siert (KT), richtet sie ihre Spielfiguren am Anfang der Geschichte
Konfrontation
mit Traumata
direkt auf mich: Ich soll Spielfiguren verschiedenen Alters (die
jüngste Spielfigur ist 1-jährig) bei mir Zuflucht gewähren. Yasmine drückt dabei wortwörtlich ihr Vertrauen in die therapeuti-
kol/B
konstruktive
Lösung /
Begegnung
sche Beziehung bzw. in mich als Bindungsperson aus, indem sie
Containerfunktion
Haltefunktion
zur jüngsten Spielfigur sagt: „Du brauchst keine Angst zu haben.
Sie ist sehr lieb und sehr sehr sehr nett. Sie hat zu mir geschaut,
als ein Sturm kam“ (kol/B).
Im Verlauf der Geschichte zeigen sich aggressivere Anteile
vAgg
(vAgg) sowie ein Anteil in Gestalt der jüngsten Spielfigur, wel-
verdeckte
Aggressionen
cher Yasmines Hilflosigkeit und Verzweiflung (AS) verkörpert:
AS
Immer wieder geht es darum, dass ich diese Spielfigur halte und
abgetrenntes
System
Haltefunktion
KT
Symbolbildung
auffange (förmlich, damit sie nicht „ins schwarze Todesloch“
springt). Es wird daraufhin symbolisch der Tod thematisiert in
Form einer Grenze, welche zu überschreiten normalerweise unmöglich ist (KT). In der Geschichte wird es anhand eines Wun-
Konfrontation
mit Traumata
Containerfunktion
Vehikelfunktion
ders möglich, dass der Verstorbene zurückkommt und wieder
lebt.
91
Kontaktverhalten und Bindungsgeschehen:
Yasmine zeigt sich mir in dieser Phase anfangs deutlich in ihren
affs
Affekten (affs) und lässt Begegnung sowohl im Gespräch als auch
affektive
Spürbarkeit
in der Musik und im Spiel viel mehr zu (Bg/kol). Im weiteren
Bg/kol
Behandlungsverlauf treten jedoch Widerstandverhalten (W) und
Begegnung /
konstruktive
Lösung
Regression in alte Verhaltensmuster wieder zusehends auf.
W
Gleichzeitig gibt es einzelne Momente, in welche Yasmine Nähe
zulässt und ein progressives Bindungsverhalten zeigt (p → kol).
Yasmine ist während des Rollenspiels im Ausdruck der Emotio-
massiver
Widerstand
p → kol
passive
Lösung →
konstruktive
Lösung
affs/kol
Spielfigur – sehr gut spürbar (affs/kol).
affektive
Spürbarkeit /
konstruktive
Lösung
In einer Sitzung, welche auf den Todestag von Yasmines Vater
affs
fällt, zeigt sich mir Yasmine anfangs in ihrem Affekt der Traurig-
affektive
Spürbarkeit
keit (affs), flüchtet sich dann jedoch sehr schnell in Ablenkung
K
(K). Yasmine scheint hier keine konstruktive Strategie im Sinne
Kompensation
der direkten Hinwendung an die Bezugsperson in der eigenen Not
p
anwenden zu können, sondern nur über passive Strategien (Ab-
passive
Lösung
nen der verschiedenen Anteile – insbesondere aber der jüngsten
lenkung und Zerstreuung) zu verfügen (p).
Meine Einladung, fürsorgendes Verhalten zu empfangen – in
W
Form eins Fürspiels oder mittels einer anderen „Safe Place“- oder
massiver
Widerstand
Haltefunktion – weist sie zurück (W).
Selbstreflexion:
a) methodisch: Wenn ich Yasmine mit „mütterlicher Feinfühligkeit“ begegne, scheint
sie sich zusehends zu beruhigen. Sehr feinfühliges Verhalten in einer Haltefunktion, in
welcher eine liebevolle Fürsorge zum Ausdruck kommt, kann eine Nachnährung von
sehr frühen Entwicklungsstufen ermöglichen. Gleichzeitig scheint es wichtig zu sein,
dass ich Yasmine die Bindung immer wieder aufs Neue versichere.
b) persönlich: Dass Yasmine mir gegenüber ihr tiefer werdendes Vertrauen zu mir innerhalb des Rollenspiels so unverblümt und deutlich ausdrückt und mir Spielfiguren als
„meine Kinder“ anvertraut, indem sie sagt, diese würden zu meiner Familie gehören,
berührt mich sehr. Ihre Verzweiflung und Not, welche sie durch eine Spielfigur verbali-
92
siert, nicht nur zu hören, sondern in der Gegenübertragung auch zu fühlen, macht mich
sehr betroffen. Dass Yasmine sich in den darauf folgenden Sitzungen wiederum in Ablenkung und Zerstreuung flüchtet, trifft und ernüchtert mich.
Funktionen der Musik:
In der Konfrontation des Traumas vom Tod von Yasmines Vater kommen die Haltefunktion, die Containerfunktion, die Funktion der Symbolbildung und die Vehikelfunktion zum Tragen. Die Funktion der Symbolbildung vermag innerlich und äusserlich erfahrene Wirklichkeiten bis hin zur Todeserfahrung im Hier und Jetzt erlebbar zu machen. Haltefunktion und Containerfunktion übernehmen eine haltgebende und stützende
Aufgabe.
Zusammenfassende Beurteilung des Prozesses:
Yasmines Bereitschaft, sich in einem Rollenspiel mit dem Tod des Vaters zu konfrontieren, weist darauf hin, dass Yasmine der therapeutischen Beziehung trotz immer wieder auftretender Widerstände doch bereits genügend Vertrauen entgegenbringt, um sich
auf ein Explorieren der traumatischen Inhalte einzulassen. Die Tatsache, dass Yasmine
die Haltefunktion und die Containerfunktion in diesem Rahmen regelrecht einfordert,
lässt eine Dringlichkeit und innere Not erahnen. Dem gegenüber stehen Yasmines Abwehr und ihre Flucht in die Ablenkung, welche sich zum Ende dieser Phase zeigt.
9.4.4 Beurteilung des Behandlungsverlaufs Der Therapieverlauf deutet zum einen eine Entwicklung an, welche darauf hinweist,
dass sich in Yasmine ein neues, sicheres Arbeitsmodell etabliert. Dies zeigt sich z.B.
darin, dass Yasmine in Phase 3 mir gegenüber ihre Affekte zeigt, bis hin zu traumatischen Anteilen, welche mit sehr hohen negativen Affekten einhergehen. Yasmine ist
hier im Stande, die therapeutische Beziehung – und damit die Bindung zu mir – zu nutzen, um die überwältigenden Gefühle aushalten zu können (B).
Yasmine zeigt im Therapieverlauf generell zusehends konstruktive (kol/B) und weniger
passive (p) Verhaltensweisen im Umgang mit Affekten, was ebenfalls für die Veränderung ihres inneren Arbeitsmodells spricht. Ebenso zeigt sie, dass sie Hilfe annehmen
und Nähe zulassen kann (kol/B). Dies drückt sich in der direkten Interaktion mit mir als
Bindungsperson sowie auch in der Musik aus: Yasmine kann sich jetzt auf ein Zusam-
93
menspiel einlassen. Insgesamt ist sie affektiv spürbarer geworden (affs). Kontrollierende sowie kompensatorische Verhaltensweisen (kvF/K) sind im Verlauf weniger geworden.
Dennoch zeugen Yasmines Widerstand (W), sich wirklich mit dem Tod des Vaters und
damit auch mit ihren damit einhergehenden Gefühlen auseinanderzusetzen, von einer
gewissen Stabilität ihres alten Bindungsmodells. Yasmine zeigt hier erneut, ähnlich wie
anfangs der Therapie, Widerstand (W) und einzig passive Bewältigungsstrategien (p),
indem sie einer Konfrontation ausweicht.
Auch kann Yasmine ihre aggressiven Anteile noch nicht zu sich nehmen und muss diese
nach wie vor abspalten (AS), wie das Beispiel in Phase 2 in Zusammenhang mit der
Wut auf die Mutter zeigt. Möglicherweise bedarf es erst einmal einer Ablösung von
dieser, damit Yasmine ein neues, sicheres Arbeitsmodell etablieren kann.
9.4.5 Im Therapieverlauf aufgetretene Funktionen der Musik Zu Beginn der Behandlung treten die Funktion der Musik als Selbstverstärkung, als
Vehikel und als Ressource besonders häufig auf. Diese scheinen für Yasmine eine Möglichkeit darzustellen, sich selbst auszudrücken und sich Gehör zu verschaffen, ohne dabei auf ein Gegenüber angewiesen zu sein. So kann das Risiko oder die Angst davor,
von einem Gegenüber abhängig zu werden oder die Kontrolle zu verlieren, umgangen
werden. Yasmines Bindungsverhalten in dieser ersten Phase spiegelt dasselbe: Yasmine
ist noch kaum bereit, sich auf eine Begegnung einzulassen.
Dennoch tritt bereits in Phase 1 die Funktion der Musik als Intermediärobjekt auf, was
darauf hindeutet, dass es bereits vereinzelt Momente gibt, in welchen Yasmine Begegnung zulässt. In Phase 2 wird diese Funktion zentraler. Yasmine fängt an, über die
Vermittlerfunktion der Musik als neutrales Drittes Begegnung in Form eines Zusammenspiels zuzulassen. Auch die Haltefunktion und die Containerfunktion gewinnen in
Phase 2 und 3 zusehends an Bedeutung: Wo es Yasmine zu Beginn der Behandlung
noch schwerfiel, ein haltgebendes und stützendes Gegenüber zu akzeptieren und zuzulassen, öffnet sie sich im Therapieverlauf zusehends dafür, dies sowohl im Musikspiel
als auch in der unmittelbaren Begegnung. In Phase 2 tritt auch die Funktion der Symbolbildung auf: Yasmine fängt an, inneren und äusseren Wirklichkeiten in der Musiktherapie einen Raum zu geben.
94
In Phase 3 kommt es zu einem gemeinsamen Auftreten von Haltefunktion, Containerfunktion, Vehikelfunktion und der Funktion der Symbolbildung, als sich Yasmine in
einem Rollenspiel mit dem Tod ihres Vaters auseinandersetzt. Indem alle diese Funktionen von Yasmine genutzt werden, wird eine Exploration des traumatischen Materials
möglich. Die Tatsache, dass Yasmine diese Funktionen für sich nutzen kann, spiegelt
auch das Vertrauen wider, welches sie der therapeutischen Beziehung entgegenbringt:
Yasmine scheint in Phase 3 eine zumindest bis zu einem gewissen Grad „sichere Bindung“ etabliert zu haben.
9.4.6 Fremdbeurteilung Mutter Yasmines Mutter stellt (in 3 stattgefundenen Standortgesprächen und im Abschlussgespräch) keine grosse Veränderung bei Yasmine fest. Sobald Unsicherheit da sei, zeige
Yasmine eine Clown-ähnliche Haltung bzw. kompensatorische Verhaltensweisen und
überspiele so gekonnt ihre Affekte. Der Mutter gegenüber habe sie sich auch schon vorher immer wieder auch authentisch bzw. spürbar gezeigt.
Die Mutter bestätigt, dass Yasmine es am liebsten komplett vermeide, sich mit dem Tod
des Vaters zu konfrontieren. Ihre Tochter hätte sie auch schon dafür beschimpft, dass
sie ihr am Todestag erzählt hatte, wie es war, als deren Vater gestorben sei.
9.4.7 Fremdbeurteilung Lehrer Laut Aussagen der Lehrer (in 3 Standortgesprächen und im Abschlussgespräch) besteht
die Mobbing-Situation nicht mehr, was auch Yasmines Mutter zu verdanken sei, welche
sich hier sehr für Yasmine eingesetzt habe. Das Funktionalisieren von anderen Kindern
scheint besser geworden zu sein. Soziale Kontakte sind noch immer schwierig. Es gibt
zwar vereinzelt Annäherung und eine Anbahnung von Freundschaften, diese gestalten
sich in der Regel jedoch kompliziert. Yasmine wird vorgeworfen, dass sie immer gleich
beleidigt sei. Sie kann sich dagegen schlecht behaupten.
Yasmines Schulleistungen sind gleichbleibend schwach. In der Mathe-Nachhilfe zeigen
sich kleine Fortschritte. Im Unterricht ist sie noch immer angespannt und macht viele
Flüchtigkeitsfehler.
95
9.4.8 Reflexion der Fremdbeurteilungen Die Tatsache, dass die Mutter bei Yasmine keine grosse Veränderung feststellt, lässt
sich für mich entweder darauf zurückführen, dass Veränderung anhand kleiner Therapiefortschritte kontinuierlich stattfand und es entsprechend keinen grossen Sprung gab,
den die Mutter bemerkte oder für erwähnenswert hielt, oder aber Yasmine zeigt im
häuslichen Umfeld, im Zusammensein und in der Bindungsbeziehung zur Mutter tatsächlich keine neuen Verhaltensweisen.
Die Aussagen der Lehrer zeugen davon, dass zwar Veränderung geschieht, jedoch nur
langsam und in geringem Masse.
Ich führe beides darauf zurück, dass Yasmine wohl, damit sich in ihr ein neues Arbeitsmodell einer sicheren Bindung etablieren kann, extrem feinfühliges Verhalten der
Bezugspersonen braucht und dies kontinuierlich, über eine längere zeitliche Dauer. Die
Behandlungsdauer von 17 Sitzungen schätze ich als zu kurz ein. Ebenso erachte ich es
als wichtig, dass sich auch in der Bindungsbeziehung zur Mutter etwas verändern könnte. Möglicherweise spiegelt Yasmines Art und Weise, mit dem Tod des Vaters umzugehen, die Art und Weise des Umgangs der Mutter damit. Dann wäre es wichtig, dass
auch die Mutter, z.B. in einer begleitenden Psychotherapie, die Verlusterfahrung verarbeiten kann, so dass sie für mögliche Veränderungen ihrer Tochter offen würde.
96
10 Auswertung und Diskussion der Ergebnisse
Bindungen zu anderen Personen, über die Eltern hinaus, werden als eine wesentliche,
vielleicht als die wichtigste Erfahrung, die ein Mensch in seiner Entwicklung machen
kann, angesehen. Er kann lernen, frühere, psychisch einschränkende und belastende
Erfahrungen in ihrem Einfluss auf die Organisation seiner Gefühle allmählich zu erkennen und zu bewältigen. Dies benötigt allerdings noch Jahre der Reifung. Auf diesem
Wege kann auch nachträglich eine Wertschätzung von Bindungen und eine neue, reflektierte, sichere mentale Repräsentation von Bindung erworben werden (Grossmann &
Grossmann 2014).
Diese Aussagen weisen auf die Kernfrage hin, welche im Rahmen dieser Masterarbeit
gestellt wurde: Kann Musiktherapie Kinder mit Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung über den Aufbau der therapeutischen Beziehung, welche für eine neue,
sichere Bindung steht, in der Entwicklung eines neuen Bindungsverhaltens unterstützen
– und wenn ja, wie? Es folgt die Auswertung der Ergebnisse.
10.1 Auswertung der Ergebnisse Laut Bindungstheorie nimmt ab dem Alter von 5 Jahren bis hin zum Jugendalter die
Veränderbarkeit Internaler Arbeitsmodelle durch neue Fürsorgeerfahrungen kontinuierlich ab. Dennoch besteht bis zum Jugendalter weiterhin eine Einflussmöglichkeit auf die
Bindungsorganisation der Kinder. Änderungen in den Interaktionserfahrungen mit den
Bezugspersonen, wie z.B. ein Verlust oder der Aufbau von Vertrauensbeziehungen,
können potentielle Einflussfaktoren für die Veränderung der Bindungsorganisation des
Kindes darstellen (Zimmermann et al. 2000). In der Musiktherapie mit Kindern kann die
therapeutische Beziehung dem Aufbau solch einer Vertrauensbeziehung dienen.
In beiden Fallbeispielen zeigt sich eine Veränderung im Bindungsverhalten der Kinder.
Die Auswertung der Therapieprozesse wurde anhand im Verlauf aufgetretener bindungsrelevanter Momente, in welchen sich Veränderungen im Bindungsverhalten der
Kinder zeigten, vorgenommen. Die Fremdbeurteilung der Eltern und Lehrer wurde als
Triangulierung in die Einschätzung miteinbezogen und reflektiert. Die Ausführungen
bestätigen und widerlegen die erste Hypothese gleichermassen:
97
Musiktherapie kann Kinder mit Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung in
der Entwicklung eines neuen Bindungsverhaltens unterstützen.
Folgende Punkte bestätigen die Hypothese:
a) In Saschas Therapieverlauf zeichnet sich eine kontinuierliche Entwicklung in
Richtung eines inneren Arbeitsmodells einer sicheren Bindung ab. Dies äussert
sich u.a. darin, dass Sascha gegen Behandlungsende seine Bindungswünsche offen und direkt äussert, aktiv um Hilfe fragt bzw. sich bei der Bindungsperson Hilfe holt, dass er auch negative Gefühle offen äussert, dass er die Bindungsperson
zur Beruhigung und Affektregulierung nutzt, weniger kontrolliert, offener und
emotional spürbarer ist.
b) Sowohl die Mutter als auch die Lehrer stellen bei Sascha eine deutliche Veränderung fest, was sein ausfälliges, aggressives Verhalten betrifft. Die Mutter erlebt
ihn als affektiv spürbarer, offener, selbständiger und insgesamt ruhiger. Saschas
deutlich bessere Schulleistungen sprechen für eine verbesserte Konzentration und
Aufmerksamkeit. Ebenfalls hat Sascha zwei Freunde gefunden. Diese Tatsachen
widerspiegeln eine Veränderung in seinem Bindungsverhalten.
c) Die Tatsache, dass Yasmine in Phase 3 mir gegenüber ihre Affekte zeigt, bis hin
zu traumatischen Anteilen, welche mit sehr hohen negativen Affekten einhergehen, zeugt davon, dass sie dazu im Stande ist, die therapeutische Beziehung zu
nutzen, um die überwältigenden Gefühle aushalten zu können. Dies wäre ohne eine Veränderung in ihrem Bindungsmodell, in welchem passive Strategien dominierten und kein Ort der Sicherheit verfügbar war, nicht möglich: „Sobald der Patient in der Übertragung eine sichere emotionale Bindung zum Therapeuten erlebt,
verringert sich seine […] Angst […]. Er kann beginnen, seine traumatischen Erfahrungen zu explorieren […]“ (vgl. Brisch 2015b, 121).
d) Dass Yasmine Hilfe annehmen und Nähe zulassen kann, sowohl in der direkten
Interaktion als auch im Zusammenspiel in der Musik, dass sie affektiv spürbarer
geworden ist, mehr konstruktive und weniger kontrollierende und kompensatorische Verhaltensweisen im Umgang mit Affekten zeigt, spiegelt ebenfalls eine
Veränderung in ihrem inneren Arbeitsmodell wider.
98
Folgende Punkte widerlegen die Hypothese:
a) In Sascha nehmen noch immer kontrollierende Verhaltensweisen Raum ein, motorische Unruhe ist gleichbleibend vorhanden und es besteht nach wie vor eine geringe Affekttoleranz und Fähigkeit zur Selbstregulation. Dies wird von der Mutter
und den Lehrern bestätigt.
b) Yasmines gegen Ende des Therapieverlaufs wieder vermehrt auftretende Widerstände, sich mit Gefühlen und insbesondere mit dem Tod des Vaters auseinanderzusetzen, lassen darauf schliessen, dass die Veränderungen in ihrem inneren Arbeitsmodell noch nicht in der Tiefe verankert sind und dass sie deshalb nur allzu
schnell wieder in alte Verhaltensmuster zurückfällt.
c) Mutter und Lehrer stellen keine grossen Veränderungen im Verhalten von Yasmine fest.
In Anbetracht der Tatsache, dass sowohl Punkte gefunden wurden, welche die Hypothese befürworten, als auch Punkte, welche sie widerlegen, kann die Hypothese nicht bestätigt werden. Es kann von einer Veränderung im Bindungsverhalten beider Kinder
gesprochen werden, nicht jedoch von der Entwicklung eines neuen Bindungsverhaltens.
Zur Überprüfung der zweiten Hypothese wurden die therapeutischen Funktionen der
Musik untersucht – dabei wurde zum einen Theorie und Praxis in Kapitel 8 zur gegenseitigen Ergänzung und Diskussion gegenübergestellt und zum anderen in Kapitel 9 die
in Saschas und Yasmines Therapieverlauf aufgetretenen therapeutischen Funktionen
hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Therapieprogression ausgewertet. Aus den Ergebnissen hervorgehend kann die zweite Hypothese bestätigt werden:
In der musiktherapeutischen Behandlung von Kindern mit Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung kommen spezifische Funktionen der Musik zum Tragen, welche die Entwicklung eines neuen Bindungsverhaltens unterstützen.
Theorie und Praxis entsprechen sich überwiegend:
a) In Saschas Therapieverlauf kommt in allen Phasen die Containerfunktion zum
Tragen. Die Funktion der Musik als Intermediärobjekt bzw. der Kontakt- und Beziehungsgestaltung tritt ebenfalls in allen Phasen auf.
99
b) In Yasmines Therapieverlauf kommen in allen Phasen die Haltefunktion sowie die
Funktion der Musik als Selbstverstärkung zum Tragen. Die Containerfunktion
sowie die Funktion der Musik als Intermediärobjekt sind ebenfalls sehr wichtig.
Die Containerfunktion, die Haltefunktion und die Funktion der Musik als Intermediärobjekt werden auch in der Theorie als diejenigen Funktionen der Musik beschrieben,
welche am häufigsten zur Anwendung kommen und welchen die grösste Bedeutung in
der Behandlung von Kindern mit Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung zukommt.
c) Weitere Funktionen der Musik, die in Saschas Therapieprozess auftreten, sind:
Haltefunktion, Strukturierung, Katalysatorfunktion, Sensomotorische Auseinandersetzung, Vehikelfunktion, Musik als Übergangsobjekt, Musik als Zeugin und
Resonanzgeberin, Musik als Ressource, Musik als Selbstverstärkung, Symbolbildung.
d) Weitere Funktionen, die in Yasmines Therapieprozess auftreten, sind: Vehikelfunktion, Musik als Übergangsobjekt, Musik als Zeugin und Resonanzgeberin,
Musik als Ressource, Symbolbildung.
Die Katalysatorfunktion, die Funktion der Musik als Zeugin und Resonanzgeberin, als
Ressource, als Übergangsobjekt, die Sensomotorischen Auseinandersetzung, die Funktion der Musik als Selbstverstärkung und die Vehikelfunktion werden in der Theorie
ebenfalls als für die Behandlung von Kindern mit Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung wichtige Funktionen genannt.
Folgende Funktionen zeigen sich als für die Entwicklung eines neuen Bindungsverhaltens unterstützend:
a)
Die Funktion der Symbolbildung, welche in der Theorie unerwähnt bleibt, zeigt
sich im Therapieverlauf Saschas und Yasmines als eine wichtige aufgetretene
Funktion, insbesondere im Zusammenhang mit der Exploration traumatischer Inhalte. Sie ist deshalb wichtig, weil durch sie innerlich und äusserlich erfahrene
Wirklichkeiten noch einmal ins Zentrum des Geschehens rücken und somit bearbeitet und integriert werden können. An derselben Stelle wird auch die Funktion
100
der Musik als Zeugin und Resonanzgeberin im Sinne einer bewusst erfahrenen
Zeugenschaft wichtig.
b) Die Containerfunktion zeigt sich sowohl in der Behandlung von Sascha als auch
in der Behandlung von Yasmine als eine unentbehrliche Funktion. In Saschas
Therapieprozess unterstützt sie, zusammen mit der Funktion der Strukturierung,
besonders zu Beginn der Behandlung den Aufbau der Grundstrukturen von Beziehung, Bindung und innerer Sicherheit. In Yasmines Therapieprozess übernimmt sie die Funktion eines stützenden, haltgebenden Gegenübers, auf welches
sich Yasmine mehr und mehr einzulassen vermag. Bei beiden Kindern kommt der
Containerfunktion, zusammen mit der Haltefunktion, eine grundlegende Bedeutung zu in der Exploration von traumatischen Erfahrungen. Die Sensomotorische
Auseinandersetzung im Sinne einer Verankerung im Hier und Jetzt unterstützt
hier zusätzlich.
c)
Zu Beginn der Behandlung von Yasmine sind die Funktion der Musik als Selbstverstärkung, die Vehikelfunktion und die Funktion der Musik als Ressource wesentlich. Yasmine ist noch nicht bereit, sich auf eine Begegnung mit einem Gegenüber einzulassen. Die genannten Funktionen der Musik ermöglichen, dass sie
sich dennoch ausdrücken und sich Gehör verschaffen kann und somit indirekt eine
Anbahnung von Beziehung möglich wird.
d) Die Funktion der Musik als Intermediärobjekt bzw. der Kontakt- und Beziehungsgestaltung zeigt sich im Therapieverlauf beider Kinder als fundamental.
Über die Vermittlerfunktion der Musik als neutrales Drittes ist es den Kindern
möglich, sich auf eine Begegnung mit einem Gegenüber einzulassen und neue
Bindungsverhaltensmuster zu erproben und zu üben.
e) Die Sensomotorische Auseinandersetzung unterstützt zu Beginn der Behandlung
von Sascha seine Orientierung in Zeit und Raum und übt damit eine beruhigende
Wirkung auf ihn aus. Im Therapieverlauf tritt sie in immer länger werdenden
übungszentrierten Sequenzen auf und dient der Schulung von Aufmerksamkeit
und Konzentration.
101
10.2 Diskussion des Untersuchungsdesigns und weiterführende Gedanken Die Erfahrungen aus den zwei Therapieprozessen zeigen, dass Musiktherapie Grundschulkinder mit Bindungsdesorganisation bzw. Bindungsstörung in der Entwicklung
eines neuen Bindungsverhaltens zumindest teilweise unterstützen kann. Gründe dafür,
dass die Entwicklung eines neuen Arbeitsmodells einer sicheren Bindung nur ansatzweise oder teilweise geschehen konnte, können zum einen in der zeitlich beschränkten
Behandlungsdauer gesehen werden. 17 respektive 24 Therapiesitzungen werden als
nicht ausreichend betrachtet. Zum anderen werden Gründe in der Schwierigkeit der Zusammenarbeit mit den Eltern gesehen: Obschon mit den Müttern der Kinder regelmässig Standortgespräche und ein Abschlussgespräch durchgeführt wurden und auch über
die therapeutischen Ansätze der bindungsbasierten Psychotherapie und der Musiktherapie gesprochen wurde, scheinen sich die elterlichen Umgangsformen mit den Kindern
zum grössten Teil nicht verändert zu haben. Wenn im häuslichen Umfeld destruktive
Verhaltensformen bestehen bleiben, ist es für das Kind jedoch sehr schwierig, seine
Behandlungsfortschritte in der Tiefe zu verankern und ein neues, sicheres Arbeitsmodell
zu etablieren.
Entsprechend sehe ich eine Notwendigkeit darin, nicht nur mit den Kindern, sondern
auch mit den Eltern dieser Kinder – sind sie denn bereit dazu – therapeutisch zu arbeiten. Um ihre Umgangsformen mit dem Kind verändern zu können, müssen Eltern sich
erst einmal über ihre Umgangsformen und deren destruktive Wirkung auf das Kind bewusst werden. Dabei könnte eine begleitende Elterntherapie unterstützen und dazu beitragen, dass eigene Verletzungen, Kränkungen, Verlust- und Trennungserlebnisse aus
der Lebensgeschichte bearbeitet werden können.
In der bindungsbasierten Psychotherapie wird einer begleitenden Psychotherapie der
Eltern in der Behandlung von Kindern mit Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung eine grosse Bedeutung zugesprochen18 (Brisch 2015a).
Es wäre interessant zu untersuchen, ob Musiktherapie in Kombination mit begleitender
Elterntherapie, welche auch in einem musiktherapeutischen Rahmen stattfinden könnte,
Grundschulkindern mit Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung in der Entwicklung eines neuen Bindungsverhaltens unterstützen kann.
18
Siehe dazu auch Kap. 7.2.1 „Begleitende Psychotherapie der Eltern“.
102
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105
Anhang
Mit folgendem Brief wurden die Eltern der Kinder, welche an der Untersuchung teilgenommen haben, über das Forschungsvorhaben informiert, zu einem ersten Elterngespräch eingeladen und um ihre schriftliche Einverständniserklärung zur Aufnahme
der Therapie sowie zur Verwendung therapieinterner Daten gebeten.
Die Eltern aller im Rahmen dieses Forschungsvorhabens beteiligten Kinder haben die
Einverständniserklärung unterzeichnet.
10. Januar 2015
Liebe Eltern,
ich möchte Ihnen gerne Musiktherapie für Ihr Kind anbieten.
Ich bin Kunst- und Ausdruckstherapeutin M.A. und angehende Musiktherapeutin MAS.
Für meinen Studienabschluss in Musiktherapie fehlen mir noch Praxisstunden in selbständiger
musiktherapeutischer Arbeit. Gerne kann ich Ihnen dazu anbieten, mit Ihrem Kind unentgeltlich
oder zu einem minimalen Entgelt musiktherapeutisch zu arbeiten.
Konkret betrifft dies eine Wochenstunde à 45 Minuten, jeweils Freitag morgens, im Aufenthaltsraum der Schule. Ihr Kind ist in dieser Zeit vom Unterricht befreit. Start ist der 13.3.2015 mit
einem Vorgespräch mit den Eltern und/oder dem Pädagogen des Kindes. Ab 20.3. bis Ende
Kalenderjahr oder länger findet dann die Musiktherapie für Ihr Kind statt, je nach Wunsch mit
regelmässig stattfindenden Elterngesprächen und/oder Standortgesprächen mit Pädagogen.
In den Schulferien findet keine Musiktherapie statt.
Die Praxisstunden möchte ich gerne dokumentieren und unter Anonymisierung der persönlichen
Daten als Fallberichte in meine Masterarbeit aufnehmen.
Als Therapeutin unterstehe ich der Schweigepflicht, d.h. dass ich keine Informationen bezüglich
Ihres Kindes an Dritte weitergeben darf – ausgenommen davon sind bei Minderjährigen die
Eltern und z.T. die Erzieher/Pädagogen.
Musiktherapie
In der Musiktherapie können über Spiel und Musik schwierige Themen bearbeitet, gelöst und
integriert werden. In einem geschützten Raum können neue Verhaltensmuster erprobt werden.
Nach meiner persönlichen Erfahrung mit Kindern in einer Grundschule in der Schweiz kann ich
bestätigen, dass Musiktherapie unterstützen und stabilisieren kann bei familiären oder schulischen Belastungen. Ebenso wirkt Musiktherapie entwicklungs- und intelligenzfördernd und bewirkt letztlich, dass das Kind sich wieder besser ins soziale Umfeld integrieren kann.
106
Wenn Sie Interesse haben, möchte ich Sie bitten, die nachfolgenden Fragen anzukreuzen und
den Brief unterschrieben an mich zurückzuschicken: Martina Reinle, Waldstrasse 22, 23996
Beidendorf.
Ich freue mich auf Ihr Kind!
Martina Reinle
Bitte ankreuzen:
o
Ich wünsche, dass ein Pädagoge der Therapeutin Auskunft über mein Kind geben darf.
o
Ich wünsche, dass ein Pädagoge der Therapeutin nur das absolut Notwendigste an Auskunft über mein Kind geben darf.
o
Ich wünsche, dass die Therapeutin einem Pädagogen Hinweise und Informationen bezüglich meines Kindes geben darf.
o
Ich wünsche, dass die Therapeutin einem Pädagogen nur das absolut Notwendigste an
Hinweisen und Informationen bezüglich meines Kindes geben darf.
o
Ich erkläre mich damit einverstanden, dass die Therapeutin zwecks Dokumentation des
Therapieverlaufs Audio- und gegebenenfalls Video-Aufnahmen meines Kindes machen
kann (dies unter Wahrung der Schweigepflicht und Anonymisierung der aufgezeichneten Daten).
Ort, Datum:
Unterschrift:
107
Erklärung der Urheberschaft
Ich erkläre hiermit, dass ich die vorliegende Arbeit selbständig und in eigener Verantwortung ohne fremde Schreibhilfe verfasst habe.
Martina Reinle
Beidendorf, Mai 2016
108
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