SE: Paul Ricoeur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen Erlangen, 27.05.2006 Dr. Eva Harasta, Bamberg Das Vergessen und das Fortbestehen der Spuren (Teil 2) S. 660-678 Vier Voraussetzungen für die Analyse der psychischen Spuren (Affektionen) und der zweiten Grundform des Vergessens: 1. Psychische Spuren bleiben im Gedächtnis, indem sie im Bleiben das Merkmal der Abwesenheit und der Distanz tragen. („Spuren“ sind hier als Zeichen aufgefasst, die für Abwesenheit von etwas Bestimmten stehen.) 2. Allerdings begegnet das „In-Erinnerung-Rufen“ immer wieder Hindernissen. 3. Das „Bleiben“ der psychischen Spuren entspricht dem Fortdauern der kortikalen Spuren, aber es unterscheidet sich auch davon (denn kortikale Spuren werden erst durch Zuschreibung als „Spuren“ entdeckt). 4. Das besondere Überleben der Erinnerungsbilder (psychischen Spuren) ist eine von zwei Grundformen des tiefen Vergessens, das verwahrende Vergessen. (Die andere Grundform ist die Auslöschung der Spuren.) Grundproblem: Anwesenheit von Abwesendem Vergangenheit, Abwesenheit und Latenz (660-665) Die materiellen Spuren sind ganz gegenwärtig – um sie als etwas zu verstehen, das aus der Vergangenheit ist, braucht es bereits eine (semiotische) Zuschreibung. Wie sind aber die psychischen Spuren zu verstehen? Ricoeur bezieht sich (weiterhin) auf Henri Bergson, um zu klären, wie etwas Abwesendes in den psychischen Spuren anwesend sein kann. Dabei ist vorausgesetzt, dass „Abwesenheit“ bruchlos mit „Vergangenheit“ gleichgesetzt werden kann. Bergson beschreibt das „Weiterleben“ der Bilder im Gedächtnis, indem er das Erinnern mit einem Baum vergleicht: die Erinnerung wurzelt in der Tiefe der Vergangenheit. So ist die Erinnerung (der Akt des Sich-Erinnerns) zugleich SE: Paul Ricoeur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen Erlangen, 27.05.2006 Dr. Eva Harasta, Bamberg gegenwärtig und vergangen. (662) Der ursprüngliche Eindruck (Affektion) bleibt in Latenz erhalten, bis sie durch die Aktivität des Gedächtnisses wiedergefunden wird. Das bedeutet aber für den Begriff der Vergangenheit: Sie ist die „Zeitgenossin“ derjenigen Gegenwart, die sie gewesen ist. (Deleuze; 662) Die Vorstellung der Latenz identifiziert Bergson (Ricoeur stimmt zu) mit der Vorstellung des Unbewussten. Denn das Bewusstsein ist nichts anderes als die Aufmerksamkeit für das Leben, die Bereitschaft zum Handeln – Latenz also das genaue Gegenteil. Das Unbewusste, so Ricoeur, ist aber machtlos. (Das wäre aber doch zu befragen.) Wenn die Erst-Erfahrungen als Erinnerungsbilder latent weiterleben, kann man natürlich gleich fragen: wo leben sie? (664) Bergson, und Ricoeur mit ihm, möchte diese Frage aber umwandeln in die Frage: wie leben sie weiter? Vom Gedächtnis als Ort zu sprechen, ist eine Metapher. D.h. der Begriff der Latenz ist zu klären. (Und zwar als eine Art des Seins/ Bleibens/ Lebens.) Bergson hat ihn als ein „Werden, das dauert“ beschrieben – aber was heißt das? Ereignis, Vorstellung und Handlung (665-671) Das Gedächtnis hat zwei Aggregatsformen: einerseits die dauernde Seite, die Latenz (oder die Summe aller gesammelten Abdrücke), andererseits die aktualisierende Seite des Ereignisgedächtnisses, in dem eine bestimmte Erinnerung herausgegriffen wird und erscheint. Ricoeur bezieht sich mit der Unterscheidung dabei immer noch auf Bergson. Zur Illustration nimmt er 2 Schemata von Bergson. Bergson spricht vom Übergang der Erinnerung von einem virtuellen Zustand zu einem aktuellen Zustand (666). Die Virtualität ist ein anderes Wort für die Latenz. Dabei ist der Übergang durchaus als iterativer Prozess verstanden – es handelt sich nicht so sehr um die Anstrengung des Sich-Erinnerns, sondern um ein SichVersetzen in eine der Erinnerung entsprechende Haltung. Allerdings bleibt dann die Frage nach der spezifischen Qualität der Erinnerung, d.h. wie sie von einer gegenwärtigen Erfahrung qualitativ zu unterscheiden ist (wenn sie SE: Paul Ricoeur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen Erlangen, 27.05.2006 Dr. Eva Harasta, Bamberg doch danach strebt, der ursprünglichen Wahrnehmung möglichst gleich zu werden – und Wahrnehmen ist ein passives Empfangen). Ricoeur möchte, um diese Näherbestimmung zu erreichen, stärker als Bergson die Aktivität des Gedächtnisses betonen. Dafür ist aber ein Begriff der Handlung nötig, der dem Gedächtnis entspricht, das heißt, nicht der Vorstellung entgegengesetzt wird. (670) – So nimmt er anders als Bergson nicht die Wahrnehmung (im Sinn der Widerfahrnis) zum Modell für den Ursprung der Erinnerung, sondern die Erfahrung. (670) „De facto wir die Erst-Erfahrung des Wiedererkennens [?], die mit der Erfahrung des Wiedererkennens ein Paar bildet, auf dem Weg des Rückrufs der Erinnerungen als eine solche lebendige Erfahrung vorgelegt; in dieser lebendigen Erfahrung bestätigt sich die Synergie zwischen Handlung und Vorstellung.“ So wird die Erinnerung „wieder“ in die lebendige, gegenwärtige Handlung eingefügt. Weiterleben der Erinnerungen und das verwahrende Vergessen (671-678) Bergsons Begriff des Wiedererkennens als eines Annäherns der Vorstellung zur Praxis muss also nach Ricoeur modifiziert werden – und zwar in Richtung auf die Ver-gegenwärtigung des Vergangenen. Allerdings hat Bergson mit seinem Gedanken, dass die Bilder der Vergangenheit weiterleben, schon recht. Ricoeur kann auf dieser Linie das Weiterleben sogar als das spezifische Kennzeichen der psychischen Spur bezeichnen: (671) „Die Einschreibung im psychischen Sinne des Wortes ist nichts anderes als das Weiterleben per se des der Urerfahrung [d.h. der Erst-Erfahrung] zeitgleichen mnemonischen Bildes.“ Indem er diesen Gedanken des – latenten – Weiterlebens mit dem titelgebenden Thema des Vergessens verbindet, kommt Ricoeur zu seiner Auffassung des verwahrenden Vergessens. An Vergessen kann man bei der Latenz denken, weil sie eine unbemerkte (unbewusste) Erhaltung der Erinnerung ist. Ricoeur nähert sich der Möglichkeit eines Vergessen, das die Erinnerungen behütet und für das Gedächtnis grundlegende Funktion hat, weniger durch Argumente als durch ein Herantasten. Er bezeichnet zunächst das Vergessen als einen mehrdeutiger Begriff. Die Erfahrung, eine Erinnerung unverhofft wieder vor Augen zu haben, deutet auf ein SE: Paul Ricoeur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen Erlangen, 27.05.2006 Dr. Eva Harasta, Bamberg Vergessen, dass eher ein Verdecken oder In-den-Hintergrund-Treten ist als ein definitives Auslöschen. Darüber hinaus scheint das Wiedererkennen nicht nur ein jeweils neues, punktuelles Ereignis zu sein, sondern eine permanente existentielle Struktur. Das virtuelle Gedächtnis ist keine bloße Wolke, sondern ein strukturiertes Ganzes. Vom Kern der Ansammlung aller „Einprägungen“ im tiefen Gedächtnis schreitet er zu einer Ebene der Gewohnheiten (im Sinn des Bergson’schen Gewohnheitsgedächtnisses), dann zur Ebene der allgemeinen Wissensarten (zB Rechnen und Grammatik), dann zu den „Meta-Strukturen“ der Spekulation – und schließlich zu einem „Unvordenklichen“ (674). Dieses Unvordenkliche („das für mich niemals Ereignis geworden ist“ 674) ist der Ursprung des Gedächtnisses. Und es hat zwei Seiten: es ist Ursprung im Sinn des Hervorbringens, aber auch irreduzibel auf einen datierbaren Beginn, und insofern das Gegenteil des Gedächtnisses, die Zerstörung des Gedächtnisses. Von dieser zerstörerischen Seite her ist es zunächst mit dem Vergessen gleichzusetzen – umfasst das Vergessen aber diese tiefe Zerstörung am Grund des Gedächtnisses, dann muss es – so Ricoeur – auch die andere „primordiale“ Dimension bezeichnen, die Quelle oder Grundlegung, die Bedingung von Erinnern überhaupt. Am Schluss problematisiert Ricoeur, was von Anfang an als merkwürdig aufgefallen ist: die Gleichsetzung von „Abwesenheit“ und „Vergangenheit“ (zB bei der Formel „Anwesenheit des Abwesenden“ für Erinnerungen). Er bezieht sich auf Heidegger und schreibt, dass die Vergangenheit weniger im Sinn des „nicht mehr seins“ zu verstehen ist, sondern als „Gewesenheit“ einen positiven Gehalt erlangen kann. Diese positive Bestimmung des Abwesenheitsmodus der Vergangenheit ist laut Ricoeur nur möglich, wenn das Vergessen als nicht zur zerstörerisch, sondern eben auch als bewahrend gedeutet wird. Oder vice versa (676): „Das Vergessen nimmt in dem Maße eine positive Bedeutung an, wie das Gewesensein gegenüber dem Nicht-mehr-Sein in der an die Idee der Vergangenheit gebundenen Bedeutung vorherrscht.“ SE: Paul Ricoeur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen Erlangen, 27.05.2006 Dr. Eva Harasta, Bamberg Schlussbemerkung Ricoeur betrachtet das Weiterleben als bloßes Verwahren – aber wie müsste es aussehen, wenn man es tatsächlich als ein Leben beschreiben würde? Ein Interagieren der Erinnerungen, das sie gegenseitig verändert? Das Gedächtnis als Organismus? Oder sind das nur müßige Metaphern? SE: Paul Ricoeur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen Erlangen, 27.05.2006 Dr. Eva Harasta, Bamberg Das Vergessen und das Fortbestehen der Spuren (Teil 2) S. 660-678 Vergangenheit, Abwesenheit und Latenz (660-665) Ricoeur bezieht sich auf Henri Bergson, um zu klären, wie etwas Abwesendes in den psychischen Spuren anwesend sein kann. Bergson beschreibt das „Weiterleben“ der Bilder im Gedächtnis, indem er das Erinnern mit einem Baum vergleicht: Die Erinnerung wurzelt in der Tiefe der Vergangenheit. So ist sie zugleich gegenwärtig und vergangen. Der ursprüngliche Eindruck (Affektion) bleibt latent erhalten. Ereignis, Vorstellung und Handlung (665-671) Das Gedächtnis hat zwei Aggregatsformen: die Latenz einerseits und andererseits das Ereignisgedächtnis, in dem eine bestimmte Erinnerung herausgegriffen wird und erscheint (Bergson). Zur Illustration nimmt zitiert Ricoeur zwei Schemata von Bergson. Aber wie unterscheidet sich die aktualisierte Erinnerung präzise von der ursprünglichen Wahrnehmung? Ricoeur möchte dazu gegenüber Bergson einen anderen Begriff des Wiedererkennens entwickeln. SE: Paul Ricoeur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen Erlangen, 27.05.2006 Dr. Eva Harasta, Bamberg Weiterleben der Erinnerungen und das verwahrende Vergessen (671-678) Bergsons Begriff des Wiedererkennens als eines Annäherns der Vorstellung zur Praxis muss also nach Ricoeur modifiziert werden – als Ver-gegenwärtigung des Vergangenen. Allerdings hat Bergson mit seinem Gedanken, dass die Bilder der Vergangenheit weiterleben, schon recht. Indem Ricoeur diesen Gedanken des latenten Weiterlebens mit dem Thema des Vergessens verbindet, kommt er zum verwahrenden Vergessen. An Vergessen kann man bei der Latenz denken, weil sie eine unbemerkte (unbewusste) Erhaltung der Erinnerung ist. Vom Kern der Ansammlung aller „Einprägungen“ im tiefen Gedächtnis schreitet Ricoeur zur Ebene der Gewohnheiten (Bergson’s Gewohnheitsgedächtnis), dann zur Ebene der „allgemeinen Wissensarten“, dann zu den „Meta-Strukturen“ der Spekulation – und schließlich zum „Unvordenklichen“, dem „Grund“. Dieses Unvordenkliche ist der Ursprung des Gedächtnisses. Es ist Ursprung im Sinn des Hervorbringens, aber auch nicht auf einen datierbaren Beginn zurückzuführen, und so das Gegenteil des Gedächtnisses, die Zerstörung des Gedächtnisses. Von dieser zerstörerischen Seite her ist es zunächst dem Vergessen nahe. Umfasst das Vergessen aber diese tiefe Zerstörung am Grund des Gedächtnisses, dann muss es (so Ricoeur) auch die andere „primordiale“ Dimension bezeichnen, die Quelle oder Grundlegung, die Bedingung von Erinnern überhaupt.