Informationen zur Raumentwicklung Heft 1.2007 17 Bürgerbeteiligung und Bürgermitwirkung – spezifische Ausprägungen von Stadtteilarbeit in ost- und westdeutschen Quartieren Jürgen Schmitt 1 Stadtteilarbeit in der Stadterneuerung Die Bürger beteiligen! Am Gemeinwesen arbeiten! Die Selbsthilfe stärken! Das Quartier managen! All jenen, die in den letzten Jahren mit Stadterneuerung insbesondere in so genannten „benachteiligten“ Gebieten zu tun hatten, werden diese Schlagworte bekannt vorkommen, egal ob es sich um Akteure aus München oder Rostock, aus Leipzig oder aus Kiel handelt. Entsprechende Formeln gehören mittlerweile nicht nur zum Standardvokabular in westdeutschen, sondern finden sich meist auch in ostdeutschen Stadterneuerungskonzepten. Mit den genannten Schlagworten verbindet sich dabei der Anspruch an die Stadterneuerung, integrativ, kooperativ, projektorientiert zu arbeiten, dabei lokale Maßarbeit zu leisten und nicht zuletzt zu diesem Zwecke auch mit einer partizipativen und vernetzenden Arbeit vor Ort gekoppelt zu werden. Dieser Vor-Ort-Arbeit, die im Folgenden mit dem Überbegriff „Stadtteilarbeit“ bezeichnet wird, werden dabei meist zwei verschiedene, wenn auch miteinander verbundene Aufgabenfelder zugewiesen: • Eher auf der Input-Seite des Stadterneuerungsprozesses soll an einer Demokratisierung der lokalen Entscheidungsverfahren gearbeitet werden, insbesondere an einer Erweiterung der Beteiligungsmöglichkeiten der Bewohner an der Aushandlung von Zielen und Maßnahmen für die Stadterneuerung bzw. an der Aktivierung zu einer entsprechenden Beteiligung. • Eher auf der Output-Seite des Stadterneuerungsprozesses soll sie vor allem durch die Förderung und Vernetzung vorhandener Initiativen und Selbsthilfepotenziale an einer Erhöhung der lokalen Selbstregulationsfähigkeit arbeiten, nicht zuletzt als Beitrag zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung im Stadtteil. Immer häufiger findet sich die Forderung nach dem Einsatz von Stadtteilarbeit auch explizit in Förderprogrammen, etwa dem Bund-Länder-Programm „Die Soziale Stadt“ 1 oder der EU-Gemeinschaftsinitiative URBAN. Spätestens mit dieser Übernahme in politisch motivierte Förderprogramme scheint Stadtteilarbeit endgültig ihren Platz im herrschenden Verständnis von der Erneuerung jener städtischen Quartiere gefunden zu haben, in denen sich die sozialen Krisen der Gesellschaft konzentrieren. Dieser hohen Wertschätzung liegt allerdings ein historischer Entwicklungsprozess zugrunde – und zwar ein Prozess, der sich nicht primär in Stadtplanungsämtern oder universitären Ideenschmieden vollzogen hat, sondern vor allem das Ergebnis gesellschaftlicher Auseinandersetzungen darstellt. Die Praxen von stadtteilbezogenen Bürgerinitiativen oder die „Häuserkämpfe“ der 1970er und 1980er Jahre haben dazu ebenso beigetragen wie die reformerischen Ansätze von Bürgerbeteiligung, Sozialplanung und Gemeinwesenarbeit. In der Genese des Konzepts der Stadtteilarbeit bildete sich dabei modellhaft ab, was die Geschichte der BRD geprägt hat: Reform und Protest gingen Hand in Hand, wobei bei jedem Schritt einerseits die politischen und administrativen Institutionen reformiert, andererseits Protestbewegungen in systemkonforme Muster integriert wurden. Die heute dominierenden Ansätze von Stadtteilarbeit sind dementsprechend nicht zuletzt das Ergebnis einer Geschichte der lokalen und überlokalen Institutionalisierung bestimmter Aushandlungsprozesse im Rahmen behutsamer Stadterneuerung – und zwar unter einem ganz spezifischen historischen Kontext, nämlich dem der „alten“ BRD. Dr. Jürgen Schmitt Nassauische Heimstätte Wohnungs- und Entwicklungsgesellschaft mbH Unternehmensbereich Stadtentwicklung Postfach 700755 60557 Frankfurt a. M. E-Mail: [email protected] 18 Jürgen Schmitt: Bürgerbeteiligung und Bürgermitwirkung – spezifische Ausprägungen von Stadtteilarbeit in ost- und westdeutschen Quartieren 2 Stadtteilarbeit in Ostdeutschland als „nachholende Modernisierung“? Nimmt man den soeben geschilderten Entstehungshintergrund der Stadtteilarbeit, so scheint es doch nicht gleichgültig zu sein, ob man mit ihren Ansätzen in München und Kiel oder in Leipzig und Rostock zu tun bekommt. Im Osten Deutschlands wurden sie nämlich nicht wie in Westdeutschland historisch erkämpft und schließlich institutionalisiert, vielmehr sind die bereits institutionalisierten Ansätze nach der Wende im Zuge der Transformation herübergewandert – transportiert über gesetzliche Grundlagen, Förderprogramme und herrschende Ansprüche. Während sie sich in den westdeutschen Städten langsam entwickelt haben, wurden und werden sie in den ostdeutschen Städten von außen implantiert, ohne dass es einen entsprechenden Entwicklungsprozess gegeben hätte. Bezüglich der konkreten Praxis ostdeutscher Stadtteilarbeit wirft dies die Frage auf, wie die lokalen Akteure mit diesen implantierten und ihnen zunächst fremden Konzepten umgehen: Inwieweit folgt vor dem Hintergrund der Übernahme westdeutsch geprägter Konzepte und Ansprüche auch die Praxis weitgehend den westdeutschen Mustern und inwieweit bilden sich eigene, sich von den westdeutschen Mustern unterscheidende Praxen heraus? (1) Siehe z. B. Leitfaden zur Ausgestaltung der Gemeinschaftsinitiative „Soziale Stadt“ vom 29. August 2005 (www.sozialestadt.de/ programm > Grundlagen > Leitfaden Fassung 2005; 26.7.2006) Schaut man sich die konkrete Umsetzung von Stadtteilarbeit in Ost und West auf ihrer organisatorischen, verfahrenstechnischen und konzeptionellen Ebene an, so spricht vieles für eine Sichtweise, die von einer Entwicklung im Sinne einer „nachholenden Modernisierung“ ausgeht. Darunter wird in der Transformationsforschung eine Sichtweise verstanden, die sich vor dem Hintergrund eines weitgehend am Modell der westlichen Industriegesellschaften orientierten Begriffs der Modernisierung auf einen mehr oder minder geschlossenen und zielgerichteten Verlauf des Übergangs einer östlichen Ausgangsgesellschaft in die westliche Ankunftsgesellschaft richtet. In diesem Sinne wurde bereits Mitte der 1990er Jahre für die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereiche konstatiert, dass die Systemtransformation in Ostdeutschland auf der institutionellen Ebene weitgehend abgeschlossen ist. Bezüglich der Stadterneuerung lässt sich dies tatsächlich nicht nur für die Institutionen der Stadterneuerung im engeren Sinne (z. B. Sanierungsverwaltung, Rechtsgrundlagen des Städtebaus etc.) feststellen, auch die Maßnahmen, Verfahren und Konzepte konkreter Projekte der Stadtteilarbeit gleichen sich mittlerweile in Ost und West in geradezu verblüffender Weise: Da werden Stadtteilrunden und Bürgerbeiräte gegründet, Stadtteilbüros und Bürgerzentren eröffnet, Quartierszeitungen herausgegeben, Stadtteilfeste organisiert, Werkstätten zu partizipativen Wohnumfeldverbesserungen auf Plätzen oder in Fußgängerzonen durchgeführt, Innenhöfe begrünt, Existenzgründer beraten und Qualifizierungsmaßnahmen durchgeführt, die Schaffung von Gemeinbedarfseinrichtungen für spezielle Gruppen gefördert, Initiativen zur sozialen Integration benachteiligter Bevölkerungsgruppen etabliert etc. Es scheint also, als ob sich auch bezüglich der Stadtteilarbeit tatsächlich eine nachholende Modernisierung vollzogen hat. Dieser Gedanke des „Nachholens“ ist jedoch insofern stark zu relativieren, als zwar tatsächlich auf der institutionellen Ebene eine Übertragung erfolgte, die übertragenen Institutionen und ihre Grundlagen aber von den Ostdeutschen häufig nur wenig verinnerlicht, nicht selten sogar abgelehnt wurden. Auch für die Stadterneuerung gilt dabei, dass die Systemtransformation nicht mit einer entsprechenden sozialen Integration in die Lebenswelt der Akteure einherging. Vor diesem Hintergrund ist die Sichtweise der nachholenden Modernisierung nur bedingt als Bezugsrahmen für die Betrachtung ostdeutscher Prozesse der Stadteilarbeit und deren Vergleich mit westdeutschen Prozessen geeignet. Sinnvoller scheint vielmehr ein Betrachtungsansatz, der die Entwicklung Ostdeutschlands als einen offenen Prozess sieht, in dem interaktiv ganz eigene und neue Muster entstehen. Diese zweite Sichtweise gibt es in der Transformationsforschung schon seit der Vereinigung, sie nahm aber erst seit Mitte der 1990er Jahre deutlichere Konturen an und erhielt mehr Zuspruch. Auf die Stadtteilarbeit bezogen ergibt sich aus ihr, dass sich durch die Übertragung von Institutionen sowie von Maßnahmen, Strukturen und Verfahren zwar tatsächlich eine nachho- Informationen zur Raumentwicklung Heft 1.2007 lende Modernisierung vollzogen hat, dass diese „von drüben“ implantierten Vorgaben die konkreten Interaktionen der Akteure in ostdeutschen Prozessen der Stadtteilarbeit jedoch nur bedingt bestimmen. Sie schaffen vielmehr nur den Rahmen, innerhalb dessen sich die Interaktionen als offene Prozesse vollziehen und dabei spezifische Formen der Stadtteilarbeit ausbilden. Wichtig ist es daher, sich näher mit diesen Prozessen zu beschäftigen.2 3 Politische Sozialisation und ostdeutsche Stadteilarbeit Ein Faktor scheint für diese Beschäftigung mit der ostdeutschen Stadtteilarbeit besonders interessant, nämlich der Einfluss der politischen Sozialisation der zentralen Akteure auf die Interaktionen in dieser Arbeit. Der Kreis der maßgeblichen Stadtteilaktiven in ostdeutschen Prozessen der Stadtteilarbeit ist bis heute stark von Akteuren bestimmt, deren politische Sozialisation sich in der DDR vollzogen hat. Dabei finden sich biographische Verbindungen vor allem zu zwei politischen Kulturen der DDR: einerseits Akteure, die sich stark der „gesellschaftlichen Arbeit“ innerhalb der offiziellen politischen Kultur der Partei verbunden fühlen, andererseits Akteure, deren politische Sozialisation stark von den Bürger-, Friedens- und Umweltbewegungen und den dort seit den 1970er Jahren entwickelten Ansätzen einer alternativen Kultur geprägt ist. Insbesondere Akteure aus dem im westdeutschen Verständnis „intermediären“ Feld der zunehmend professionalisierten Projekte der Selbsthilfe, Kultur-, Jugend- oder Sozialarbeit sind häufig biographisch stark mit der Aufbruchsstimmung der Wende und deren alternativen, kulturellen Ansätzen verbunden. These dieses Beitrags ist, dass diese zentralen Akteure die Stadtteilarbeit vor allem aus einer Perspektive betreiben, die von einem Aufwachsen in diesen Kulturen geprägt ist. Das bedeutet vor allem, dass sie in der Stadtteilarbeit das vermissen oder verteidigen wollen, was sie im Laufe ihrer politischen Sozialisation als gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten verinnerlicht haben. Demgegenüber hat das, was nicht als selbstverständlich verinnerlicht wurde, sondern höchstens als Forderung oder 19 Wunsch bestand, auch heute eher untergeordnete Bedeutung. Die sich daraus ergebenden Unterschiede zwischen ostdeutschen und westdeutschen Prozessen der Stadtteilarbeit sollen im Folgenden näher ausgeführt werden.3 4 Unterschiede beim Agieren im intermediären Bereich Eine zentrale Rolle für das westdeutsch geprägte Konzept von Stadtteilarbeit spielt jener komplexe und vielschichtige Bereich, der sich zwischen der Ebene der Bürger und ihren alltäglichen Kontakten in Familie und Nachbarschaft auf der einen und der Ebene der verfassten Politik und Verwaltung auf der anderen Seite befindet. Er wird in der Politikwissenschaft als „intermediär“ bezeichnet. In diesem Bereich findet in der BRD vor allem überörtlich und über Parteien und Verbände, aber insbesondere seit den 1970er Jahren auch verstärkt lokal und über lokale Interessenorganisationen eine Interessen- und Politikvermittlung zwischen der Bürgerschaft und den politischen und administrativen Institutionen statt. Für die Entwicklung des heute gängigen Konzepts von Stadtteilarbeit spielte der intermediäre Bereich eine bedeutende, dabei doppelte Rolle: (2) Vgl. Schmitt, Jürgen: „Wer plant hier für wen …?“ Feldforschung in der Interaktionsgemeinde eines ostdeutschen Prozesses der Stadtteilarbeit. – Wiesbaden 2004. = Stadtforschung Aktuell 98 Erstens war er Aushandlungsfeld für Kontroversen und beeinflusste den Wandlungsprozess des herrschenden Verständnisses von Stadterneuerung insgesamt: lokal durch die direkte Konfrontation oder Kooperation der Praxen lokaler Akteure und die zunehmende Herausbildung fester Strukturen für diese Konfrontationen und Kooperationen und überörtlich durch die zunehmende Bündelung lokaler Initiativen zu überregionalen Bewegungen und Interessenvertretungen und deren Überzeugungsarbeit bei den politischen und administrativen Institutionen auf Landes- und Bundesebene. Heutzutage wird Stadtteilarbeit im Rahmen der Städtebauförderung unter bestimmten Voraussetzungen unterstützt. (3) Die Erkenntnisse und Wertungen in diesem Beitrag geben umfangreiche eigene Erfahrungen des Verfassers mit Prozessen der Stadtteilarbeit in Ost- und Westdeutschland wieder. Bezüglich der ostdeutschen Stadtteilarbeit beruhen sie auf einer umfassenden Feldforschung in einem entsprechenden ostdeutschen Prozess über mehrere Jahre im Rahmen der EU-Gemeinschaftsinitiative URBAN sowie auf einer aktiven Beteiligung und wissenschaftlichen Untersuchung von zahlreichen anderen Prozessen der Stadtteilarbeit in Ostdeutschland. Die Kenntnisse zu entsprechenden westdeutschen Prozessen ergeben sich nicht zuletzt aus der Tätigkeit des Verfassers für den Unternehmensbereich „Stadtentwicklung“ der Nassauischen Heimstätte, der u. a. für zahlreiche Kommunen das Quartiersmanagement im Rahmen des Programms „Soziale Stadt“ durchführt. Zweitens war und ist der intermediäre Bereich aber auch der lokale „Ort der Handlung“ 4, an dem sich konkrete Projekte der Stadtteilarbeit vollziehen. Stadtteilarbeit stellt sich in diesem Sinne vor allem als institutionalisierter Aushandlungsprozess im (4) Selle, Klaus: Was ist bloß mit der Planung los? Erkundungen auf dem Weg zum kooperativen Handeln. Ein Werkbuch. – Dortmund 1994. = Dortmunder Beiträge zur Raumplanung 69, S. 65 20 Jürgen Schmitt: Bürgerbeteiligung und Bürgermitwirkung – spezifische Ausprägungen von Stadtteilarbeit in ost- und westdeutschen Quartieren intermediären Bereich dar. Eine besondere Rolle spielen dabei so genannte „intermediäre Organisationen“ 5, nicht zuletzt solche, die sich in den Auseinandersetzungen zwischen Staat und stadtteilbezogenen Basisbewegungen in den 1980er Jahren aus dem Konflikt heraus gebildet und bis heute fest etabliert haben. In den heutigen Projekten der Stadtteilarbeit in Westdeutschland sind es u. a. solche Institutionen, denen die Trägerschaft für die Stadtteilarbeit obliegt. Im Westen vollzieht sich also Stadtteilarbeit unter anderem als Aktionsfeld für hauptund ehrenamtliche Aushandlungsprofis in der intermediären Sphäre zwischen den Bewohnern und den Institutionen der formal verfassten Politik und Verwaltung. (5) Selle, Klaus: Mit den Bewohnern die Stadt erneuern? Der Beitrag intermediärer Organisationen zur Entwicklung städtischer Quartiere. Beobachtungen aus sechs Ländern. – Dortmund, Darmstadt 1991 (6) Autorenkollektiv unter der Leitung von Wolfgang Weichelt: Der Staat im politischen System der DDR. – Berlin (Ost) 1986, S. 209 (7) Niedermayer, Oskar: Das intermediäre System. In: Politisches System. Bericht 3 der Berichte der Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern e. V. (KSPW). Hrsg.: Kaase, Max; Eisen, Andreas; Gabriel, Oscar W., Niedermayer, Oskar, Wollmann, Helmut. – Opladen 1996, S. 155–230 (162) (8) Weinert, Rainer: Intermediäre Institutionen oder die Konstruktion des „Einen“. Das Beispiel DDR. In: Politische Institutionen im Wandel. Hrsg.: Nedelmann, Birgitta. – Opladen 1995: = Sonderh. der Kölner Z. f. Soziologie u. Sozialpsychologie, S. 237–253 (243) (9) Ebda., S. 251 Eine solche Stadtteilarbeit nach westdeutschem Verständnis existierte in der DDR nicht. Es gab zwar ebenfalls Formen der VorOrt-Arbeit, diese folgten jedoch einer völlig anderen Logik als jene in Westdeutschland. In der offiziellen politischen Kultur der DDR wurden unter Bürgerinitiative und Bürgerbeteiligung auf lokaler Ebene vor allem die Aktivitäten der Ortsausschüsse der Nationalen Front verstanden. Dazu gehörten u. a. die politisch-ideologische Arbeit in Wohnbezirken, Haus- und Straßengemeinschaften, die Motivationsarbeit für Wettbewerbe und staatliche Initiativen („Schöner unsere Städte und Gemeinden – Mach mit!“, „Vorbildliche Hausgemeinschaft“ etc.), die Förderung des kulturellen und sportlichen Lebens in den Wohngebieten sowie „die Erörterung wichtiger Beschlussentwürfe der Volksvertretungen und ihrer Räte mit unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen“ 6. Der zentrale Unterschied zu den westdeutschen Konzepten und Praxen von Stadtteilarbeit lag vor allem darin, dass es sich bei den Formen der Stadtteilarbeit in der DDR nicht um Aushandlungsprozesse in einem intermediären Bereich handeln konnte. Denn so charakteristisch das Vorhandensein des intermediären Bereichs für die BRD-Gesellschaft ist, so charakteristisch war sein weitgehendes Fehlen für die Gesellschaft der DDR. Niedermayer spricht hier von „quasi-intermediäre(n) Strukturen“ und führt aus: „In der ehemaligen DDR existierte eine Vielzahl von Organisationen im Parteien-, Verbände-, Medien- und Kirchenbereich, die in ihrer Gesamtheit jedoch weder strukturell noch funktional die Erfordernisse eines pluralistischen intermediären Systems erfüllten (…)“ 7. In der offiziellen Kultur der DDR wurde dem westlichen Gesellschaftsprinzip des „Vielen“ das Prinzip des „Einen“ entgegengesetzt: „Die unverbundenen, miteinander konkurrierenden Handlungsarenen wurden zugunsten eines vereinheitlichten Einen aufgelöst und in eine höhere Gesamtrationalität der Planung aufgehoben. Einheit im Sozialismus wurde als die historisch endgültige Überwindung von Partikularinteressen aufgefasst, die durch die Partei repräsentiert wurde“ 8. Auf einen öffentlich geführten Aushandlungsprozess mit außerhalb der Partei agierenden Initiativen konnte sich der Staat weder auf lokaler noch auf überlokaler Ebene einlassen, ohne dies in Frage zu stellen. Veränderung war nur mit der Partei möglich, also als Aushandlungsprozess innerhalb der Partei, nicht zwischen Partei und Bürger. „Die soziale Grundlage für die Artikulation partikularer Interessen wurde eliminiert, Intermediarität unter Strafandrohung gestellt“ 9. Für alle ostdeutschen Stadtteilaktiven, deren politische Sozialisation stark von dieser offiziellen Kultur geprägt ist, wirken daher die westdeutschen Konzepte und Muster in vielerlei Hinsicht fremd, als von außen übertragen und verordnet. Das Fehlen eines intermediären Bereichs in der DDR beeinflusste aber auch die sich entwickelnde alternative Kultur. Auch die ab den 1970er Jahren entstehenden Bürgergruppen der Friedens-, Ökologie und Dritte-Welt-Arbeit konnten nicht in einem intermediären Bereich agieren, vielmehr war eines ihrer Hauptanliegen gerade die Schaffung eines gesellschaftlichen Bereichs der Willensbildung jenseits des Staates. In dem Moment, als dieses Ziel erreicht wurde und die Bürgergruppen erst von einem randständigen, alternativen Milieu zu einer Bewegung wurden und schließlich ihre Aktivitäten die Möglichkeit für einen öffentlich demonstrierten Massenprotest schafften, musste ihr Hauptziel, nämlich die Reformierung der DDR scheitern. Die Annäherung an dieses Ziel war dann auch der Anfang vom Ende der DDR. Denn das System erwies sich als nicht flexibel genug, mit öffentlichem Protest umzugehen oder ihn gar – wie die BRD – nach und nach in seinen eigenen Apparat zu integrieren. Informationen zur Raumentwicklung Heft 1.2007 Vor diesem Hintergrund gab es in der DDR also nicht nur keine dem westdeutschen Konzept einer Stadtteilarbeit „von oben“ vergleichbaren Ansätze, sondern auch keine entsprechenden Ansätze einer Stadtteilarbeit „von unten“, also stadtteilorientierte Bürgergruppen, die sich innerhalb eines intermediären Bereichs als Gegenpol zur hoheitlichen Planung darstellten. Wie die Forderung nach einer demokratischen Öffentlichkeit insgesamt, so gewannen auch Ansprüche und Ausprägungen, die sich auf eine Demokratisierung der Stadterneuerung bezogen, in der Bürgerbewegung erst zu einem Zeitpunkt Gewicht, als die DDR praktisch schon in Auflösung begriffen war. Zudem entsprachen diese Praxen und Forderungen sehr stark dem basisdemokratischen Geist der Wende. Sie verbanden sich mit der Vorstellung von einer lokalen Öffentlichkeit, in dem tatsächlich „Gleiche unter Gleichen“ um das bessere Argument ringen. Die kurze euphorische Phase der Basisdemokratie in der Wendezeit hatte sich jedoch rasch erledigt. Schnell musste man nämlich feststellen, dass der Anspruch eines wirklich gleichberechtigten Austauschs von Argumenten auch in dem neuen, aus Westdeutschland herübergewanderten System nicht erfüllt werden konnte. „Die einzige Zeit in meinem Leben, in der wirklich Demokratie gewesen ist, war die Zeit vor der Wiedervereinigung, wo alle miteinander diskutiert haben und sich an runden Tischen getroffen haben. Nach der Wiedervereinigung war’s dann ja sofort wieder rum mit der Demokratie“, so brachte ein Stadtteilaktiver einmal sein Empfinden auf den Punkt. Die neuen Angebote der Bürgerbeteiligung erscheinen diesen Akteuren vor diesem Hintergrund häufig unzureichend und unglaubwürdig. Insgesamt wird also dem westdeutschen Modell der Stadtteilarbeit als eine Art permanenter Aushandlungsarbeit innerhalb eines intermediären Feldes in ostdeutschen Projekten mit großer Skepsis begegnet. Das Angebot einer Stadtteilarbeit in diesem Sinne wird von vielen ostdeutschen Akteuren als „verordnet“ empfunden – für einige schlicht unnötig, für andere im Gegenteil nur pseudodemokratisch. 21 5 Unterschiede beim Leitgedanken zur Entscheidungsfindung Mit den Unterschieden beim Agieren im intermediären Bereich hängt ein weiterer Aspekt eng zusammen, der zu unterschiedlichen Ausprägungen ostdeutscher und westdeutscher Prozesse der Stadtteilarbeit führt: Das Ergebnis der Aushandlungsprozesse innerhalb eines intermediären Bereichs kann letztendlich immer nur ein Kompromiss zwischen den widerstreitenden Interessen der beteiligten Akteure sein. Die Kunst der geübten Akteure in westdeutschen Prozessen besteht darin, über Argumentation, aber auch Präsentation, Strategie und andere Methoden möglichst viel Durchsetzungskraft bei der Aushandlung der Belange in benachteiligten Quartieren zu erzielen. Damit zeigt sich auch hier die enge Verbindung zur herrschenden politischen Kultur Westdeutschlands. Für diese ist „Wahrheit“ keine relevante Kategorie des politischen Aushandlungsprozesses, vielmehr folgt sie dem Ideal des temporären Mehrheitsprinzips. Entsprechend werden Entscheidungen aus einer Vielzahl widerstreitender Interessen verhandelt und/oder mehrheitlich getroffen. Was möglichst viele wollen, ist für die jeweilige Situation, d. h. bis sich die Relationen ändern, das Richtige. Die politische Kultur der DDR war hingegen geprägt durch das Streben nach „Wahrheit“. In der offiziellen Kultur der DDR wurde die Überwindung konkurrierender Partikularinteressen letztendlich damit legitimiert, dass es nur eine „richtige“ Entscheidung gibt und dass eben diese von der Partei getroffen wird. „Die Partei, die Partei, die hat immer recht, denn wer für das Recht kämpft, hat immer recht, gegen Lüge und Ausbeuterei“, so formuliert es der Refrain des Liedes „Die Partei“ von Louis Fürnberg aus dem Jahr 1950. Diese Konzentration auf „Wahrheiten“ statt auf Aushandlungsergebnisse findet sich aber nicht nur in der offiziellen Kultur der DDR, sondern auch in den oppositionellen Gruppen. Diese forderten zwar gerade eine öffentliche Sphäre, in der man sich frei und unabhängig austauschen kann, aber dort sollte dann auch bei ihnen die „Wahrheit“ gesucht werden, wenn auch eine andere als die der Partei. 22 (10) Rink, Dieter: Ausreiser, Kirchengruppen, Kulturopposition und Reformer. Zu Differenzen und Gemeinsamkeiten in Opposition und Widerstand in der DDR in den 70er und 80er Jahren. In: Zwischen Verweigerung und Opposition. Politischer Protest in der DDR 1970–1989. Hrsg.: Pollack, Detlef; Rink, Dieter. – Frankfurt a. M. 1997, S. 54–77 (57) (11) Schorlemmer, Friedrich: Macht und Ohnmacht kleiner Gruppen vor den Herausforderungen unserer Zukunft. In: Die Legitimität der Freiheit. Politisch alternative Gruppen in der DDR unter dem Dach der Kirche. Hrsg.: Pollack, Detlef. – Frankfurt a. M., Bern, New York, Paris 1990. = Forschungen zur Praktischen Theologie, Bd. 8, S. 17–22 (20) (12) Marshall, Thomas H.: Staatsbürgerrechte und soziale Klassen. In: Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates. Hrsg.: Rieger, Elmar. – Frankfurt a. M., New York 1992, S. 33–94 Jürgen Schmitt: Bürgerbeteiligung und Bürgermitwirkung – spezifische Ausprägungen von Stadtteilarbeit in ost- und westdeutschen Quartieren Insbesondere in den Gruppen im Umfeld der Kirche grenzte man sich gegen den Staat genauso ab wie gegen die unkritische Masse der Bevölkerung – eine Abgrenzung, die „zugleich eine Quelle der Distinktion und elitärer Ansprüche auf moralische Führung“ 10 war. Diese Ansprüche werden auch in den seinerzeit von Aktivisten dieser Gruppen verfassten Texten deutlich, etwa wenn Friedrich Schorlemmer in einem 1985 geschriebenen Aufsatz über die „Beunruhigungsgruppen“ innerhalb der Kirche in Ostdeutschland schreibt: „Wo es um die elementare Bedrohung unserer Zukunft geht, werden Gruppen als eine Verkörperung von Wahrhaftigkeit, Hoffnung und Mut gesucht“ 11. Für die Akteure, die dieser politischen Kultur verhaftet sind, spielt auch heute meist noch die „Wahrheit“ eine große Rolle. Sie haben jahrzehntelang versucht, trotz Repressionen eigene Überzeugungen zu wahren, und sind es gewohnt, die „Wahrheit“ notfalls im Ghetto des eigenen Milieus zu pflegen. Dies findet sich auch in der ostdeutschen Stadtteilarbeit wieder: „Meinungen interessieren mich nicht, ich bin auf der Suche nach Wahrheiten“ – so meinte in einem Stadterneuerungsprozess etwa einmal ein Stadtteilaktiver aus dem Umfeld der Kirche auf einer Stadtteilrunde. Diese Aktiven sind auch heute noch oft von ihrer „Ich-lasse-mich-nicht-verbiegen“-Biographie geprägt. Mit dem Aushandlungscharakter von Entscheidungsprozessen tun sie sich schwer und empfinden ein Einlassen darauf schnell als Verrat. Hier liegt also ein weiterer zentraler Unterschied zwischen den Akteurssichten in ostdeutschen und in westdeutschen Prozessen der Stadtteilarbeit. In Ostdeutschland sind das Misstrauen gegenüber Aushandlungsprozessen und die starke Bedeutung des Suchens nach der „Wahrheit“ statt dem Eingehen von Kompromissen etwas, was sowohl jene Akteure prägt, die sich eher der ehemals offiziellen Kultur verbunden fühlen, wie auch jene, die eher der alternativen Kultur zuneigen. Für beide gilt: Von Stadtteilarbeit wird nicht in erster Linie Hilfe beim Aushandeln von Kompromissen innerhalb der vielschichtigen Interessenlagen im Stadtteil erwartet, sondern Hilfe bei der Suche nach dem, was „richtig“ und „wahr“ ist. Diese Frage hat oberste Priorität und ist entscheidend. Die Frage nach den Macht- verhältnissen zwischen den verschiedenen Akteuren oder der Mehrheitsfähigkeit der jeweils vertretenenen Positionen steht dahinter zurück. 6 Unterschiede beim Abwägen von Partizipationschancen Wie bereits eingangs dargestellt, umfasst das westdeutsche Konzept von Stadtteilarbeit zwei verschiedene, miteinander verbundene Aufgabenfelder: Stadtteilarbeit soll auf der Input-Seite des Stadterneuerungsprozesses an einer Demokratisierung der lokalen Entscheidungsverfahren arbeiten und auf der Output-Seite an einer Bekämpfung von räumlicher Segregation, sozialer Ausgrenzung und dem Verlust sozialer Stabilität im Stadtteil. Beide Aspekte beziehen sich letztendlich auf die Verteilung von Partizipationschancen, nämlich zum einen die Chance der Partizipation am Prozess der Willensbildung und Entscheidungsfindung, also am politischen Leben des lokalen Gemeinwesens, zum anderen die Chance zur Partizipation am lokalen Gemeinwesen als Solidargemeinschaft, also am sozialen Leben im Stadtteil. Oder anders gesagt: Sie beziehen sich auf eine „gerechte“ Verteilung von Partizipationschancen einerseits an politischen, andererseits an sozialen Bürgerrechten im Sinne von Marshall.12 Tatsächlich lassen sich auch beide Aspekte in west- wie in ostdeutschen Prozessen der Stadtteilarbeit feststellen. Deutliche Unterschiede gibt es jedoch in der jeweiligen Gewichtung zwischen den beiden Formen der Partizipation: Im Westen wird die Arbeit auf der Input-Seite stark betont, also an der Demokratisierung und allgemeinen Teilhabe an den Entscheidungsprozessen. Entsprechend steht bei der Stadtteilarbeit die Förderung der Teilhabe für alle an diesen Prozessen zentral im Vordergrund, mit den unterschiedlichsten Modellen und Verfahren der Beteiligung. Im Fokus stehen dabei in benachteiligten Quartieren meist solche Bevölkerungsgruppen, die bisher nicht oder nur schwach am Willensbildungsprozess beteiligt waren, insbesondere Migranten und Bewohner mit niedrigem Bildungsstatus, aber auch z. B. Kinder und Jugendliche. Informationen zur Raumentwicklung Heft 1.2007 Im Osten hingegen findet sich in der Stadtteilarbeit eine starke Betonung der Output-Seite, also der Sicherung der sozialen Teilhabe für alle. Im Fokus stehen dabei Gruppen, die von sozialer Ausgrenzung (Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit etc.) betroffen sind. Als entscheidende Aufgabe der Stadtteilarbeit werden die Durchsetzung und der Schutz der Interessen sozial benachteiligter Quartiersbewohner betrachtet. Wichtig ist dabei, dass es sich im Verständnis der Akteure um die Verteidigung von Rechten handelt, nicht etwa um ein Buhlen um Zugeständnisse im sozialen Bereich. Dass soziale Forderungen ausgehandelt und die Interessen von sozial Benachteiligten gegen jene von anderen Bevölkerungsgruppen abgewogen werden sollen, ist für viele von vornherein ein Unding. Denn soziale Ungleichheit wird als Unrecht empfunden, und bei Unrecht gibt es eben keine Diskussion. Dieser Schutz hat somit auch eine weit stärke Relevanz als die Förderung der politischen Teilhabe. So war bei einer ganzen Reihe der vom Verfasser untersuchten Aktivitäten zu beobachten, dass zentrale Akteure der Stadtteilarbeit die Bürgerbeteiligung bewusst ausgesetzt oder möglichst gering gehalten haben, um bestimmte Schutzfunktionen für sozial marginalisierte Bevölkerungsgruppen wie etwa Aufenthalts- oder Wohnmöglichkeiten nicht zu gefährden. Gerade hier wird deutlich, dass für die lokalen Akteure nicht das Priorität hat, was es in der DDR nicht gab, sondern das, was es dort gab – nämlich vor allem die soziale Sicherheit. Die Reaktion auf die neuen Möglichkeiten und Risiken nach Auflösung der DDR scheint in ostdeutschen Prozessen der Stadtteilarbeit nur bedingt in dem Drang zu bestehen, der politischen Teilhabe mehr Raum zu geben, sondern vor allem und zunehmend in dem Drang zur Rettung wenigstens der Vorteile, die die DDR geboten hat: das Recht auf soziale Sicherung, auf Arbeit, auf Wohnen, auf Bildung, auf Altersversorgung etc. Gerade diese Rechte werden aber in der neuen Gesellschaft als bedroht empfunden. Im Gegensatz zu einem gleichberechtigten Zugang zu Entscheidungsprozessen war der gleichberechtigte Anspruch auf die genannten Rechte in der DDR weitgehend gewährleistet, weit mehr zumindest, als es nun im vereinigten Deutschland der Fall ist. 23 Das Vorhandensein solcher Rechte wurde daher stark verinnerlicht und deren zunehmender Verlust wird sehr stark als Skandal wahrgenommen. Insgesamt findet sich hier ein drittes deutliches Unterscheidungsmuster zwischen west- und ostdeutschen Prozessen der Stadtteilarbeit: Während in westdeutschen Prozessen der Schwerpunkt auf einer möglichst breiten politischen Teilhabe liegt und die Frage sozialer Rechte eher einen Nebenschauplatz darstellt, erwartet man in ostdeutschen Prozessen von Stadtteilarbeit in erster Linie eine Verteidigungshaltung gegen soziale Verlusttendenzen – notfalls auch unter Vermeidung einer öffentlichen Diskussion. 7 Unterschiede im Verständnis vom zentralen Akteur Ein letzter Aspekt, der hier erwähnt werden soll, ist die Wahrnehmung des Staates aus Sicht der Aktiven der Stadtteilarbeit. In ostdeutschen Prozessen ergibt sich dabei eine sehr starke Erwartungshaltung gegenüber der formal verfassten Politik und Verwaltung. Diese – ob staatlich oder städtisch – wird als der zentrale Akteur betrachtet, der die Forderungen an soziale Gerechtigkeit im Zweifelsfall mit Druck und Stärke durchzusetzen hat. Aus den Verlusttendenzen bezüglich der sozialen Sicherheit resultieren in ostdeutschen Prozessen der Stadtteilarbeit daher Vorwürfe gegen die Akteure der Politik und Verwaltung. Besonders kritisch gesehen werden dabei nicht nur der Abbau bzw. die Reduzierung sozialer Sicherungssysteme und sozialer Infrastrukturen, sondern auch der Rückzug gerade der verfassten Politik aus stadtentwicklungsrelevanten Verantwortungsbereichen, z. B. durch die Privatisierung zuvor städtischen Wohnungseigentums. Gegenüber der eigenen Rolle in der Stadtteilarbeit führt dies zu ambivalenten Anforderungen: Einerseits wird erwartet, dass die Stadtteilarbeit gerade die Interessen sozial Benachteiligter vertritt, andererseits empfinden sich die zentralen Akteure dabei häufig als Lückenbüßer eines neuen Staates, der seiner sozialen Verantwortung nicht mehr nachkommt. Dem Gedanken der ehrenamtlichen Selbsthilfe steht man 24 Jürgen Schmitt: Bürgerbeteiligung und Bürgermitwirkung – spezifische Ausprägungen von Stadtteilarbeit in ost- und westdeutschen Quartieren vor diesem Hintergrund häufig sehr skeptisch gegenüber. Zwar werden Selbsthilfe und Ehrenamt prinzipiell unterstützt, dabei sollen aber nicht die Aufgaben des Staates ersetzt werden. Ganz besondere Skepsis besteht bezüglich privater Akteure, etwa Investoren des Immobilienmarkts. Sie werden häufig als Gegenpol zur Stadtteilarbeit betrachtet, und von der formal verfassten Politik wird erwartet, deren Einfluss soweit wie möglich zu beschneiden. In westdeutschen Prozessen der Stadtteilarbeit wird aus ihrer Tradition heraus vor allem der staatlichen Intervention mit einer gewissen Skepsis begegnet. Hier haben sich nicht zuletzt Wurzeln erhalten, die aus den Gründungsphasen der neuen intermediären Organisationen aus Basisbewegungen in der Logik der neuen sozialen Bewegungen stammen. Zielrichtung dieser Bewegung war ja nicht zuletzt die Schaffung von mehr „Selbstbestimmung“, also insbesondere von Freiräumen, die keiner institutionellen und staatlichen Bevormundung unterlagen. Die konzeptionelle Ausprägung dieser Skepsis findet sich heute in den Forderungen nach einer stärker „zivilgesellschaftlichen“ Stadterneuerung, die in jüngerer Zeit häufig mit der Forderung nach Stadtteilarbeit verbunden werden. Ausgerichtet sind diese Forderungen meist an normativen Modellen von Zivilgesellschaft im Kontext der Ideen von diskursiven Öffentlichkeiten oder einer aktiven Gesellschaft im kommunitaristischen Sinne. Dabei hat die Zivilgesellschaft im Kontext der Idee diskursiver Öffentlichkeiten ihre zentrale Bedeutung vor allem darin, gleichzeitig als Partner und als Gegenspieler der formal verfassten Politik und Verwaltung die Entwicklung von kommunikativen Formen von Politik zu fördern bzw. überhaupt erst zu ermöglichen. Im kommunitaristischen Konzept der Zivilgesellschaft hingegen geht es vor allem um eine Reform des Sozialstaats durch eine Rückbindung von Wohlfahrtsleistungen an die Aktivitäten lokaler Gruppen, also letztendlich auch um eine andere Form von „Gleichheit“ in Bezug auf das solidarische Zusammenleben eines Gemeinwesens. Angesichts des bereits Ausgeführten wird es nicht verblüffen, dass beide Ansätze in ostdeutschen Prozessen der Stadtteilarbeit eher auf Skepsis stoßen. Jene Ansätze, die sich mit der Idee diskursiver Öffentlich- keiten verbinden, stehen zunächst in großer Ferne zu den verbreiteten Hoffnungen auf einen starken, aber „gerechten“ Staat. Vor diesem Hintergrund wird für eine Hebung des diskursiven Niveaus der lokalen Debatten keine wirkliche Notwendigkeit gesehen bzw. zum Teil sogar als kontraproduktiv empfunden – schließlich würde eine starke Zivilgesellschaft in diesem Sinne ja die Durchsetzungskraft des Staates eher hemmen. Zwar gibt es zwischen den Gerechtigkeitsvorstellungen derjenigen, die sich eher der alternativen Kultur der DDR verbunden fühlen, und diesem Konzept der Zivilgesellschaft zunächst eine Affinität, entspricht es doch in vielen Aspekten dem direktdemokratischen Leitbild der Bürgerbewegung. Jedoch führen hier die Erfahrungen nach der Vereinigung zu einer großen Skepsis. Die zivilgesellschaftliche Orientierung in diesem Sinne wurde von westlicher Seite lediglich für die Zeit der Wende akzeptiert, und sehr schnell wurden die basisdemokratischen Politikformen von den nach Osten importierten Strukturen der repräsentativen Demokratie verdrängt und der Entscheidungsmacht ökonomischer Akteure überlagert. Vor dem Hintergrund der damit verbundenen Enttäuschung werden sowohl die Idee einer diskursiven Öffentlichkeit, in der nur die Kraft des besseren Argumentes zählt, als auch die in diesem Kontext stehenden Konzepte von Zivilgesellschaft bestenfalls als blauäugig-illusionär wahrgenommen, wenn nicht gar als bewusst herrschaftsverschleiernd. Brüche zu den in ostdeutschen Prozessen der Stadtteilarbeit dominierenden Vorstellungen von einer „gerechten“ Stadtentwicklung finden sich aber auch in Bezug auf kommunitaristische Zivilgesellschaftskonzepte. Zwar trifft man sich hier zunächst in der hohen Bedeutung, die den gemeinsamen ethischen Überzeugungen zugemessen wird. Der Ansatz einer Neudefinition gesellschaftlicher Gleichheit als Anerkennung gleichberechtigter Aktivbürgerschaft steht jedoch in fundamentalem Gegensatz zur Idee eines Gemeinwesens, bei dem – zumindest im Bedarfsfall – ein starker hoheitlicher Akteur für die Verteilungsgerechtigkeit und die Gewährleistung sozialer Rechte zu sorgen hat. Ein solcher Ansatz wird nicht als eine Befreiung von hoheitlicher Gängelung wahrgenommen. Informationen zur Raumentwicklung Heft 1.2007 8 Zusammenfassung: Unterschiede der Stadtteilarbeit in Ost und West Im Ergebnis kann festgestellt werden, dass sich die Maßnahmen, Verfahren und Konzepte in ost- und westdeutschen Prozessen der Stadtteilarbeit zwar meist stark ähneln, sich aber dennoch in den konkret vor Ort geführten Interaktionen deutliche Unterschiede feststellen lassen. Diese Unterschiede lassen sich zusammenfassend folgendermaßen beschreiben: Westdeutsche Stadtteilarbeit wird von Ihren zentralen Akteuren vor allem als Aushandlungsprozess innerhalb eines intermediären Feldes verstanden. Bei den zentralen Akteuren selbst handelt es sich maßgeblich um sehr routinierte und erfahrene Aushandlungsprofis insbesondere aus den unterschiedlichsten intermediären Organisationen. Das Hauptaugenmerk bezüglich der Integration der lokalen Bewohner richtet sich auf deren Teilhabe an den Prozessen der Entscheidungsfindung, ist also vor allem inputorientiert. Im Fokus stehen somit Gruppen, die zuvor nur schwach in die lokalen Entscheidungsprozesse eingebunden waren, insbesondere Migranten oder Bewohner mit wenig kulturellem Kapital. Die Frage sozialer Rechte der Bewohner steht hingegen weit weniger im Mittelpunkt der Diskussionen und Aktionen der Stadtteilarbeit. Die Bedeutung der Akteure der verfassten Politik und Verwaltung wird dabei zwar durchaus als wichtig eingeschätzt, relativiert sich jedoch durch eine hohe Wertschätzung von zivilgesellschaftlichen wie auch privaten Akteuren etwa im Zuge von Public-Private-Partnership. Der verfassten Politik und Verwaltung wird sogar häufig – nicht selten aus biographischen Hintergründen der Akteure heraus – mit einer gewissen Skepsis begegnet: In der Regel soll nur so viel staatliche Intervention erfolgen wie unbedingt nötig. In ostdeutschen Prozessen gibt es keine tradierten intermediären Organisationen im westdeutschen Sinne. Hier wirken bis heute als zentrale Akteure vor allem Menschen, deren Engagement sich als Verlängerung ihrer Aktivitäten in der DDR darstellt. Dies sind einerseits solche, die der ehemaligen parteinahen politischen und kulturellen Arbeit in den Wohnbezirken entstammen, andererseits solche, die biographisch der op- 25 positionellen Bürgerbewegung verbunden sind. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit vereint beide Gruppen, dass sie dem Aushandlungscharakter von Entscheidungsprozessen eher skeptisch gegenüberstehen. Es dominiert hier der Wunsch, die „richtige“ Entscheidung zu finden, nicht den Kompromiss. Vor diesem Hintergrund werden einige Fragen als nicht verhandelbar eingeschätzt. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Schutz sozialer Rechte für die Bewohner. Gerade bezüglich des Abbaus sozialer Rechte wird ein Aushandeln nicht akzeptiert. Stadtteilarbeit in Ostdeutschland stellt sich dabei eher als outputorientiert dar, mit einem starken Schwerpunkt auf der Sicherung der sozialen Teilhabe für alle. Im Fokus stehen somit vor allem Gruppen, die von sozialer Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit etc. betroffen sind. Die verfasste Politik und Verwaltung wird dabei als zentraler Akteur gesehen, der für die Sicherung der sozialen Teilhabe verantwortlich ist. Akteure der privaten Wirtschaft, in bestimmten Bereichen aber auch ehrenamtliches Engagement werden daher mit Skepsis betrachtet. Der Rückzug der öffentlichen Hand aus bestimmten infrastrukturellen Bereichen, erst recht aber Privatisierungen von öffentlichem Eigentum werden negativ als ein Stehlen aus der Verantwortung gewertet. 9 Anregungen zum Weiterdenken In ostdeutschen Prozessen der Stadtteilarbeit lassen sich also durchaus eigene Tendenzen feststellen. Die Frage ist, ob diese Tendenzen auch Impulse für die westdeutsche Stadtteilarbeit geben können. Rückwärtsgewandt erscheint bei den ostdeutschen Interaktionen die problematische Ausrichtung auf einen etatistischen und autoritären Sozialstaat. Als durchaus vorausschauend lässt sich hingegen die Tatsache bewerten, dass bestimmte Aspekte der aktuellen Modernisierungsprozesse des Westens eben nicht widerspruchslos „nachgeholt“ werden. Denn mit dem Ende der Systemalternative scheint sich die Konstellation zwischen bürgerlichen, politischen und sozialen Rechten der Gesellschaftsmitglieder ja auch im Westen wieder einmal neu zu formieren. Dabei deutet (nicht nur) in Deutschland derzeit alles darauf hin, 26 Jürgen Schmitt: Bürgerbeteiligung und Bürgermitwirkung – spezifische Ausprägungen von Stadtteilarbeit in ost- und westdeutschen Quartieren dass zugunsten einer neoliberalen Betonung der Freiheit des Marktes und über die Neudefinition der politischen Bürgerrechte vor allem die sozialen Bürgerrechte vergessen werden. Sie haben seit dem Ende der Systemalternative keinesfalls zufällig nur im Osten, sondern auch im Westen dramatisch an Bedeutung verloren. Im Osten scheint man sich von diesen Tendenzen aber nicht nur betroffener zu fühlen, sondern auch weniger Bereitschaft zu zeigen, sie hinzunehmen. (13) Ronneberger, Klaus; Lanz, Stephan; Jahn, Walther: Die Stadt als Beute. – Dietz, Bonn 1999, S. 214 f. (14) Häußermann, Hartmut; Siebel, Walter: Die Politik der Festivalisierung und die Festivalisierung der Politik. Große Ereignisse in der Stadtpolitik. In: Häußermann, Hartmut; Siebel, Walter (Hrsg.): Festivalisierung der Stadtpolitik. Stadtentwicklung durch große Projekte. LEVIATHAN Sonderheft 13/1993. Westdeutscher Verlag. – Opladen 1993, S. 7–31, hier: S. 26 Dass sich dies auch und gerade in der Stadtteilarbeit zeigt, kommt nicht von ungefähr. Denn Stadtteilarbeit ist von den neoliberalen Entwicklungstrends sehr direkt betroffen, weil sie mit den Auswirkungen dieser Trends auf lokaler Ebene umzugehen hat. Sie spiegelt die Trends aber auch durchaus wider: Die „neue Topographie des Sozialen“, bei der „das Soziale primär als Problem ordnungspolitischer Regulierungskonflikte definiert wird, nicht jedoch als Frage allgemeiner Rechte“ 13, prägt nämlich keineswegs nur neoliberale Strategien, sondern auch häufig gut gemeinte Konzepte von Stadtteilarbeit. Zudem besteht ja in der Stadtteilarbeit auch tatsächlich die Gefahr, dass über eine Demokratisierung von Verfahren das Schicksal der „überflüssigen“ Minderheiten vergessen bzw. wegverhandelt wird – und zwar gera- de dann, wenn die Demokratisierung ernst genommen wird und sehr intensiv an einer breiteren und alltagsnäheren Beteiligung der Bürger an der Entscheidungsfindung gearbeitet wird. Dass Politik gegen soziale Ungleichheit zunehmend eine Politik für Minderheiten ist, haben Häußermann und Siebel schon 1993 dargestellt.14 In den derzeit wieder in lange nicht gekannter Schärfe aufkommenden Verteilungskämpfen wird das Ideal der Win-Win-Lösung der neuen Ansätze der Stadtteilarbeit erst recht häufig zur Illusion. Für die künftige Stadtteilarbeit muss daher darüber nachgedacht werden, wie in unseren medialisierten Stadtgesellschaften der Abbau sozialer Rechte von Minderheiten verhindert werden kann, ohne gleichzeitig den Anspruch an eine möglichst intensive und breite Beteiligung der Bürger einzuschränken. Wie kann es also in der Stadtteilarbeit gelingen, soziale Rechte wieder zu etablieren und gleichzeitig patriarchale, autoritäre Strukturen abzubauen? Dabei könnten Ostdeutsche und Westdeutsche voneinander lernen: die Menschen aus den neuen Ländern von den Menschen aus den alten Ländern, mehr auf sich selbst als auf hoheitliche Akteure zu setzen, die Westdeutschen von den Ostdeutschen, das Soziale nicht als Problem, sondern als ein Recht zu behandeln.