Ernst-Otto Czempiel Der Zusammenhang von Selbstbestimmung, Demokratisierung und Friedfertigkeit Einleitung Zu diesem Thema hat die internationale Politikwissenschaft seit vielen Jahren sehr intensive Vorarbeiten geleistet. Sie hat insbesondere den Zusammenhang analysiert, der zwischen dem Herrschaftssystem und der Außenpolitik eines Staates besteht. Ich werde daher zunächst diese Forschungsergebnisse hier präsentieren, bevor ich mich dann im Detail mit dem Zusammenhang zwischen dem demokratischen Herrschaftssystem und der Friedfertigkeit der Außenpolitik beschäftige. Das Ergebnis der wissenschaftlichen Diskussion läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Das demokratische Herrschaftssystem wirkt andauernd und nachhaltig mäßigend auf die Außenpolitik des betreffenden Staates ein. Demokratien bekämpfen sich nicht gegenseitig, das ist statistisch erwiesen. Es kommt einem "empirischen Gesetz der internationalen Beziehungen" sehr nahe. Als Gründe dafür gelten: Normative Orientierungen und strukturelle Barrieren, die in der Gewaltenteilung und im Entscheidungsprozeß der Demokratien verankert sind, sorgen für den Gewaltverzicht. Weil sich demokratische Herrschaftssysteme gleichen, vermögen deren Akteure wechselseitig die Gewaltabgeneigtheit zu erkennen; es entstehen gesellschaftlich konstituierte Sicherheitsgemeinschaften, die das Sicherheitsdilemma ausschalten. So sympathisch die These ist, sie kann nicht erklären, warum sich Demokratien gegenüber Nicht-Demokratien genauso wie jene verhalten. Denn wenn die Außenpolitik von Demokratien über ihre Normen und über ihre Entscheidungsprozesse gesteuert wird, dann muß sie kontextunabhängig wirken, zumal gegenüber Kleinstaaten. Natürlich muß sich eine Demokratie, wenn sie sich einem aggressiven Gegner gegenübersieht, ihrer Haut wehren, notfalls verteidigen. Selbst dabei müßten sich aber die normativen Orientierungen und die strukturellen Barrieren bemerkbar machen. Wenn das, wie die statistischen Analysen ausweisen, nicht der Fall sein sollte, wird der erwiesene Zusammenhang von Demokratie und Friede sehr brüchig. Wenn Demokratien nicht durchgängig gewaltabgeneigt sind, ist die Hypothese falsifiziert. Oder aber: die Demokratien sind (noch) keine Demokratien. Zwar ist die jüngere Forschung glücklicherweise von der Annahme abgekommen, es habe im 19. Jahrhundert überhaupt schon Demokratien gegeben; sie unterstellt aber die Existenz solcher Herrschaftssysteme spätestens seit 1945. Das ist nicht falsch, läßt aber unberücksichtigt, daß selbst die “westlichen Demokratien“ sich noch im Prozeß der Demokratisierung befinden, also nicht automatisch schon “Demokratien“ im Sinne der Hypothese sind. Dann könnte das abweichende Verhalten mit dem Demokratiedefizit erklärt werden. Denn: Auch heute noch können die westlichen Demokratien nicht für sich beanspruchen, bereits voll entwickelt zu sein, die Mitbestimmung der Staatsbürger adäquat zu ermöglichen. Vielmehr hat sich der Staatsaufbau früherer Zeiten noch erhalten, lediglich die Staatsspitze wurde kollektiviert. Um das zu erkennen, muß man den Begriff des Staates auflösen, muß den "Staat" verstehen als einen dynamischen Umwandlungsprozeß gesellschaftlicher Anforderungen in Wertzuweisungsentscheidungen der politischen Systeme. Je demokratischer ein "Staat" organisiert ist, desto größer ist das Gewicht der gesellschaftlichen Anforderungen. Und umgekehrt: Je autoritärer die Staatsform, desto marginalisierter die Gesellschaft. Ein 50 vergleichender Blick auf die USA und die Sowjetunion zu Zeiten des Kalten Krieges verdeutlicht die erheblichen Unterschiede im Herrschaftsaufbau, die mit der Verwendung des gleichen Begriffes "Staat" zugedeckt werden. Jede anspruchsvollere Analyse muß das herrschaftlich geordnete Anforderungs-Umwandlungs-Verhältnis zwischen Gesellschaft und politischem System im einzelnen reflektieren. 1. Verursachungsfaktoren von Gewalt Das Herrschaftssystem ist nicht die einzige Variable, von der das Außenverhalten eines Staates abhängt. Vielmehr lassen sich sechs Verursachungsfaktoren ausmachen, die sich in drei Gruppen zu je zwei Faktoren gliedern. Gerade weil sie zusammenwirken und damit die Analyse erschweren, muß man sie zunächst ganz deutlich auseinanderhalten. Die Theorie des Realismus, wie sie von Hans J. Morgenthau und vor allem von Kenneth N. Waltz entwickelt worden ist, verortet die einzig wirksame Gewaltursache im internationalen System überhaupt nicht in den Staaten, sondern in der anarchischen Struktur des Systems selbst. Sie zwingt den Staaten ein ganz bestimmtes Verhalten auf, nämlich durch Selbsthilfe für ihre eigene Sicherheit zu sorgen. Diese Systemstruktur ist gegenüber Variationen des Herrschaftssystems immun. Und umgekehrt: Das Herrschaftssystem ist in der Sicht des Realismus für die Erklärung des Außenverhaltens der Staaten irrelevant, weil dieses Verhalten eben nicht von der staatlichen Herrschaftsordnung, sondern von der Systemstruktur abhängig ist. Ob man dieser eindimensionalen Analyse in allen Punkten folgt oder nicht: Auch liberale Theorien der internationalen Politik messen der anarchischen Struktur des internationalen Systems große Erklärungskraft zu. Diese Struktur erschafft, indem sie die Staaten zur Sicherheitsvorsorge durch Verteidigungsaufrüstung zwingt, das "Sicherheitsdilemma". Die Verteidigungsvorsorge des einen muß vom anderen Staat als Offensivvorbereitung gedeutet werden, daraus folgen Rüstungswettläufe und gegebenenfalls Kriege. Das von der Systemstruktur erzwungene Verhalten erzeugt also gerade erst die Gefahr, gegen die es sich schützen wollte. Das ist das unaufhebbare Dilemma, dem auch Demokratien unterliegen. Es könnte eine breite Varianz des außenpolitischen Verhaltens erklären. Aus der Anarchie des Systems resultiert, ferner, die Machtverteilung darin, ebenfalls eine vom Realismus zu Recht hervorgehobene Verursachung von Gewalt. Die zweite große Gruppe der Gewaltverursachungen steckt im Herrschaftssystem und in der dadurch definierten Rolle der Interessengruppen. Darauf werde ich gleich ausführlich eingehen. Hier muß nur noch die dritte Gruppe der Gewaltursachen erwähnt werden. Sie enthält, einmal, die Interaktion; viele Kriege sind entstanden, obwohl keiner der Akteure sie gewollt hatte. Daß es dazu kam, liegt an der Dynamik der Interaktion, aber auch daran, daß die Fähigkeit, solche Interaktionen zu steuern, nicht vorhanden ist. Den außenpolitischen Entscheidungsträgern fehlt es oftmals an der notwendigen Sachkompetenz. Das ist die zweite Gewaltursache in dieser Gruppe. Viele Kriege sind entstanden, weil die Entscheidungsträger "Fehler" machten. Der frühere amerikanische Verteidigungsminister McNamara hat 1995 eingeräumt, daß der Vietnamkrieg mit seinen schrecklichen Folgen ein solcher "Fehler" war. Alle sechs Verursachungen von Gewalt müssen also berücksichtigt werden, wenn es um das Verhalten von Demokratien geht. Ihr Herrschaftssystem ist ein wichtiger, in meinen Augen der wichtigste Faktor, der die Außenpolitik bestimmt, aber nicht der einzige. Auch Demokratien unterliegen dem "Sicherheitsdilemma", den Einwirkungen der Interaktionen, dem Fehlen von Sachkompetenz. 51 2. Interdependenz von Demokratie und Außenpolitik Wenn wir uns jetzt der konkreten Frage zuwenden, welchen Einfluß das demokratische Herrschaftssystem auf die Außenpolitik eines Staates hat, müssen wir zunächst klären, was unter einer Demokratie zu verstehen ist. Eine Demokratie weist nicht nur das allgemeine Wahlrecht, freie und offene Wahlen, Versammlungs- und Redefreiheit und die widerrufliche Bestellung von Amtsträgern auf Zeit auf. Die Gewaltenteilung muß funktionieren, auch wenn im modernen Parteienstaat die Kontrollfunktion nicht mehr beim Parlament insgesamt, sondern bei den Angehörigen der Oppositionsfraktionen liegt. Die Beziehung zwischen Parlament und Gesellschaft muß aktiv, die Effektivität der Parteien als Torhüter des politischen Systems, als Vermittler zwischen ihm und den gesellschaftlichen Bedürfnissen und Anforderungen gegeben sein. Ebenso stellt sich die Kompetenzverteilung zwischen Exekutive und Legislative dar, die z.B. in den USA ganz anders aussieht als in der Bundesrepublik. Die Bürokratie kommt zum Vorschein als Träger der Routineentscheidung, aber auch als Ansatzpunkt für den Einfluß der Interessenten und der Interessierten. Die Medien sind mit ihrer Bedeutung als Zulieferer von Informationen und Interpretationen zunehmend wichtig. Auch muß der Zeitpunkt festgelegt werden, jenseits dessen ein demokratisches Herrschaftssystem als stabil gelten kann. Demokratisierungsprozesse verlaufen häufig gewaltsam als Bürgerkrieg und mit extern gerichteten Aggressionen als Ablenkungs- oder Herrschaftsstabilisierungsmanöver. Auch kann der Demokratisierungsgrad eines Herrschaftssystems sich zurückbilden oder vorübergehend abschwächen, vor allem unter den Auswirkungen eines internationalen Konflikts. Die “imperial presidency“ Richard Nixons ist ein Beispiel dafür, aber auch die für die amerikanische Tradition untypische Neigung der USA zu offenen oder verdeckten Umsturzversuchen im Ausland im Zeichen der Reagan-Doktrin. Nicht jede "Demokratie" ist also wirklich eine. Vielmehr muß eine Reihe von Kriterien erfüllt sein. Der amerikanische Politologe Robert A. Dahl hat sieben benannt, deren Erfüllung eine Demokratie ergeben: 1) „Die Kontrolle der politischen Entscheidungen der Regierung wird von der Verfassung gewählten Vertretern anvertraut. 2) Die Vertreter werden gewählt und abgewählt in relativ häufigen, fairen und freien Wahlen, in denen so gut wie kein Zwang ausgeübt wird. 3) Praktisch alle Erwachsenen besitzen das Wahlrecht. 4) Die meisten Erwachsenen können für die Ämter kandidieren, deren Besetzung durch die betreffenden Wahlen ansteht. 5) Die Bürger besitzen ein geschütztes Recht auf Meinungsfreiheit, besonders politische Meinungsfreiheit, das die Kritik an den Vertretern, den Entscheidungen der Regierung, dem herrschenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen System und an der herrschenden Ideologie einschließt. 6) Sie haben Zugang zu alternativen Informationsquellen, die weder von der Regierung noch von irgend einer anderen Gruppe monopolisiert werden dürfen. 7) Sie haben ein geschütztes Recht, unabhängige Vereinigungen zu bilden oder ihnen beizutreten, eingeschlossen politische Vereinigungen wie etwa politische Parteien und Interessengruppen, die durch die Bewerbung um Mandate und durch andere friedliche Mittel versuchen, Einfluß auf die Regierung zu nehmen“. 52 Nach dieser Detaillierung können wir die gestellte Frage viel genauer formulieren. Die Analyseeinheit ‘Staat’ löst sich jetzt auf und präsentiert sich als Kontinuum von Anforderungs- und Umwandlungsprozessen, die mit den modi von Herrschaft und Macht in einem bestimmten Zeitintervall abgewickelt werden. Die Frage lautet nicht mehr, ob Demokratien friedlich sind, sondern: Gibt es in einem konkreten Land in einem konkreten Zeitraum gesellschaftliche Anforderungen nach einer auf militärische Gewalt verzichtenden Außenpolitik? Werden diese Anforderungen formuliert und in das politische System zur Bearbeitung transferiert? Werden diese Anforderungen dabei auch verändert, etwa durch Zuflüsse inoffizieller, der Öffentlichkeit entzogener Interessengruppen? Besitzen die Gesellschaften Kontrollmöglichkeiten, um die Ausführung ihrer Anforderungen zu überwachen und Verstöße dagegen zu sanktionieren? Natürlich kann die Gesellschaft die Politik der Exekutive nicht feinsteuern. Das politische System verfügt über zahlreiche Möglichkeiten, im Prozeß der Implementierung Teilziele einzubauen, die als solche zwar konsensual sind, in der Kombination aber gegen die Interessen der Gesellschaft verstoßen. Aber sie muß die Möglichkeit haben, diese Politik zu revozieren. Der amerikanische Congress verpflichtete seit 1967 in mehreren Entschließungen den amerikanischen Präsidenten, Beistandszusagen nur mit legislativer Zustimmung einzugehen. Der amerikanische Präsident George Bush unterlag bei seiner Wahlniederlage 1992 einem Verdikt der Wähler, deren Teilzustimmung zum Golfkrieg er gesamtpolitisch falsch eingeschätzt hatte. Damit sich das demokratische Herrschaftssystem auswirken kann, müssen in einer Gesellschaft noch weitere Voraussetzungen gegeben sein. Die wichtigsten sind: • Die Gesellschaft muß durchweg wohlhabend, am unteren Ende der Einkommensskala noch immer gut situiert (eine Mittelstandsgesellschaft) sein. • Sie muß durch die Parteien, die Exekutive und die Medien adäquat informiert werden. • Ihre Anforderungen dürfen auf ihrem Weg durch den außenpolitischen Entscheidungsprozeß nicht substantiell verändert und schon gar nicht durch die Intervention von Interessengruppen, die den Prozeß umgehen, verzerrt werden. • Das politische System muß im Ausführungsprozeß die anfallenden Belastungen gleichmäßig unter den Mitgliedern der Gesellschaft verteilen. 3. Verzerrungen zwischen Gesellschaft und politischer Exekutive als Ursachen von Gewaltanwendung Das Problempanorama liegt jetzt entfaltet vor uns. Theoretisch ist es völlig plausibel, daß kein rational denkender, in zureichendem Wohlstand lebender Bürger sein Leben und sein Vermögen riskieren wird, um irgendwelche außenpolitische Gewaltaktionen durchzuführen. Die Ausnahme bildet der reine Verteidigungskrieg, den es aber in der OECD-Welt praktisch nicht mehr gibt. Wenn die Bürger trotzdem veranlaßt werden können, Gewalt im Ausland anzuwenden oder die Gewaltanwendung durch ihre Soldaten zu tolerieren, verläuft die Transmission ihrer Anforderungen in die politische Exekutive nicht fehlerfrei. In der Tat zeigen sich sechs Verzerrungen, die an Beispielen der USA erörtert werden sollen. Daß ich die USA zur Veranschaulichung wähle, liegt ausschließlich daran, daß deren Außenpolitik mein Spezialgebiet ist, ich mich also dort besonders gut auskenne. a) Da der Bürger sich über außenpolitische Vorgänge nicht selbst informieren kann, ist er darauf angewiesen, vom politischen System und von den Medien adäquat unterrichtet zu werden. Das trifft bei den westlichen Demokratien im wesentlichen, aber nicht immer zu. 53 Präsident Johnson überinterpretierte den Tonking-Golf-Zwischenfall, um die amerikanische Gesellschaft dazu zu überreden, in Vietnam Krieg zu führen. CNN konnte politisches System und Gesellschaft der USA davon überzeugen, daß eine militärische Intervention in Somalia nützlich und hilfreich sein würde. Viele amerikanische Präsidenten nach dem Zweiten Weltkrieg sind der Versuchung erlegen, ihre Wahlkampagnen mit dem hypertrophierten Hinweis auf außenpolitische Bedrohungen abzustützen. Dabei hat es weder das "missile gap", das der Kandidat Kennedy benutzte, noch das "Fenster der Verwundbarkeit", das der Kandidat Reagan weit offen stehen gesehen hatte, je gegeben. b) Die politischen Systeme haben darüber hinaus, wie wiederum anhand der amerikanischen Präsidentschaft gezeigt werden kann, die Möglichkeit, außenpolitische Verpflichtungen einzugehen, die sich, zeitlich verzögert, später als außenpolitischer Handlungszwang zusammenstellen lassen. So verfuhr die "imperial presidency" in den USA seit 1945, der der amerikanische Kongreß erst mit der "National Commitment Resolution" und später mit dem "War Powers Act" von 1974 ein Ende bereitete. Kleinere politische Systeme, wie das der Bundesrepublik, haben es noch leichter. Sie können, um ihren Entscheidungen den Charakter unabdingbarer Reaktionen zu verleihen, "Bündnisverpflichtungen", Erwartungen ihrer Partner oder die "Solidarität" mit ihnen zitieren, die der Bürger nicht nachprüfen kann. c) Die Regierungen können die öffentliche Kritik mißachten, sie sozusagen "abwettern" und dann Fakten schaffen, hinter die sie später dann auch in den Augen ihrer Gesellschaft nicht mehr zurückgehen können. Ein Paradebeispiel bietet die Osterweiterung der NATO. Umstritten wie sie ist, wurde sie von den Regierungen nicht ihren Parlamenten zur Diskussion übergeben, jedenfalls nicht in Europa. Vielmehr wurde sie, ungeachtet der Diskussion in der Öffentlichkeit, auf der Madrider Konferenz 1997 verabschiedet und damit in den Rang eines geschichtlichen Faktums erhoben, hinter das kein Kritiker mehr zurückgehen kann. Ein Fait accompli zu schaffen, gehört nach wie vor zu den beliebtesten Strategien der politischen Systeme in umstrittenen Politikfeldern. d) Hinzu kommt, daß der außenpolitische Entscheidungsprozeß dem Auge des normalen Staatsbürgers weitgehend entzogen ist. In diesem Prozeß werden die gesellschaftlichen Anforderungen in das Politische System transferiert, mit anderen Anforderungen gebündelt und so hergerichtet, daß sie außenpolitisch durchsetzbar und innenpolitisch konsensual sind. Es sind die Komplexität und Unüberschaubarkeit dieses Prozesses, die eine konsistente öffentliche Meinung zu den Sachfragen der Außenpolitik erschweren, ihren Ausdruck abhängig machen von der Art der Befragung und von der Schwierigkeit, individuelle Präferenzen zu kollektiven Anforderungen zu aggregieren. Dennoch ist nachweisbar, daß in den großen Fragen der Außen- und vor allem der Sicherheitspolitik die öffentliche Meinung zur Mäßigung tendiert, daß sie gerade einer pointierten Aufrüstungs- und Konfrontationspolitik wie der Ronald Reagans mit Skepsis und zunehmend mit deutlicher Kritik gegenübertrat und daß es in den siebziger Jahren der gezielten Meinungsbildungskampagne bedurfte, um die Entstehung der Reagan-Koalition überhaupt konsensfähig werden zu lassen - was auch nur für eine begrenzte Zeit gelang. Dieser Befund ist um so bemerkenswerter, als die amerikanische Gesellschaft verständlicherweise besonders auf ihren Präsidenten hört, wenn sie sich anschickt, außenpolitische Konfliktlagen einzuschätzen. Sie läßt sich kurzzeitig umstellen, verliert aber ihre auf Entspannung und Gewaltverzicht gerichtete Grundtendenz nicht aus dem Blick. Partikulare Interessengruppen beteiligen sich nicht nur an der Meinungsbildung; sie wirken vorzugsweise auf den bürokratischen Entscheidungsprozeß ein, den die außenpolitischen issues durchlaufen. Diese Einwirkung ist, weil sie ebenfalls dem Transfer von gesellschaft54 lichen Anforderungen dient, nicht unwillkommen, sie ist aber auch nicht unproblematisch. Eine Diskussion über den Neokorporatismus in der Außenpolitik gibt es nur ganz vereinzelt; sie ist überfällig, weil seit James Mill bekannt ist, daß gerade in der Außenpolitik „the Few“ zu lasten „the Many“ auf das politische System einwirken. Mitte der neunziger Jahre, im Vollzug der zweiten sozialen Revolution in den USA, die mit dem Wahlsieg konservativer Republikaner im Herbst 1994 einsetzte, trat der Einfluß reicher und privilegierter Interessengruppen besonders deutlich zutage. e) Schließlich macht sich auch noch die mangelnde strategische Kompetenz der Akteure als Faktor bemerkbar, der die Umsetzung der auf Frieden gerichteten gesellschaftlichen Anforderungen verzerren kann. Nicht nur der Vietnamkrieg war ein Fehler. In die gleiche Kategorie gehören die Schweinebucht-Invasion von 1961, der militärische Interventionsversuch im Libanon von 1982 und der in Somalia von 1992. Die Ausstattung der amerikanisch-strategischen Raketen mit Mehrfachsprengköpfen war, wie der damalige Außenminister Kissinger einräumt, ein Fehler. Fehler sind menschlich, menschliche Fehler sind unvermeidbar. Diesen Schutz können auch Politiker in Anspruch nehmen. Da ihre außenpolitischen Handlungen aber äußerst folgenreich sind, über Krieg und Frieden entscheiden, sollten die Politiker unbedingt die erforderlichen Voraussetzungen besitzen oder erwerben. Sie sollten über die notwendigen Fähigkeiten und Kontrollmechanismen verfügen, die absehbaren Konsequenzen ihrer Handlungen richtig einzuschätzen. f) Die letzte und besonders wichtige Voraussetzung betrifft die gleiche Lastenverteilung unter allen Bürgern. Nur wer direkt betroffen ist, wendet sich gegen Gewalt und Krieg. Wer gezwungen ist, "selbst zu fechten", die Kosten des Krieges aus seiner "eigenen Habe herauszugeben", die Verwüstungen wieder zu beseitigen und schließlich auch noch die Kriegsschulden "selbst zu übernehmen" (wie Immanuel Kant es formuliert hat), der ist gegen den Krieg. Für die „Staatseigentümer“ hingegen, die Könige und die Adligen, die durch den Krieg nicht "das mindeste" einbüßen, war er nur "eine Art von Lustpartie". Hier, in dem von Kant handfest empirisch-soziologisch beschriebenen Sachverhalt, steckt der eigentliche Antrieb des Gewaltverzichts. Damit er wirken kann, dürfen Mitbestimmung und Belastung durch den Krieg nicht entkoppelt werden. Genau dies ist aber auch in den westlichen Demokratien nur zu häufig der Fall. Über die Dimensionierung des Krieges, das Rekrutierungssystem der Streitkräfte und über das Steuersystem haben die Regierungen die Möglichkeit, Lasten ganz ungleich zu verteilen. Sie zerschneiden damit diese Verbindung zwischen Interesse und Belastung. In den USA nahm in den letzten Jahrzehnten knapp die Hälfte der Bevölkerung an den Präsidentschaftswahlen teil, und zwar die - an der Einkommensskala gemessen - obere Hälfte. In den Streitkräften hingegen finden sich nach der Aufhebung der allgemeinen Wehrpflicht Freiwillige, die vornehmlich der unteren Hälfte der amerikanischen Gesellschaft entstammten. Nur als es noch die allgemeine Wehrpflicht gab, spiegelte die soziale Zusammensetzung der Streitkräfte die der amerikanischen Gesellschaft einigermaßen wider. Die Hälfte der in Vietnam dienenden Soldaten stammte aus den unteren Bevölkerungsschichten. 4. Das demokratische Herrschaftssystem als Friedensursache Die im Thema enthaltene Frage läßt sich also jetzt sehr viel genauer beantworten. Der Zusammenhang von Demokratisierung, verstanden als Transmission der Anforderungen des selbstbestimmten Bürgers an das politische System, kann zur Ursache der Friedfertigkeit werden, wenn die gesellschaftlichen und institutionellen Voraussetzungen gegeben und die Möglichkeiten der Umgehung ausgeräumt worden sind. Die demokratische Wohlstands55 gesellschaft ist in ihrem Gewaltverhalten gewaltavers, so daß von ihr keine autonom verursachte Gewaltanwendung ausgeht. Sie wird sich verteidigen, wenn sie angegriffen wird. Sie wird aber ihrerseits niemals angreifen. Wenn heutige Demokratien nach wie vor Gewalt im internationalen System verwenden, dann sind dafür zwei Gründe verantwortlich. Zunächst muß vermutet werden, daß die genannten Voraussetzungen und Strukturen nicht voll gegeben sind, der Prozeß der Demokratisierung noch weiter vorangetrieben werden muß. Ein weiterer Grund kann in den anderen vier Gewaltursachen, vor allem in dem - hier nicht behandelten - "Sicherheitsdilemma" liegen. Die Theorie des Realismus hat Recht, wenn sie in der durch das internationale System gestifteten Unsicherheit eine bedeutende Gewaltursache erblickt. Der Ost-West-Konflikt enthält seit Mitte der sechziger Jahre reichhaltiges Anschauungsmaterial dafür, daß die Ungewißheit über das Verhalten der anderen Seite zu einer bedeutenden Konfliktursache werden kann, die die Bereitschaft zur gewaltsamen Bearbeitung erzeugt. Freilich gilt hier, daß Demokratien mit diesem "Sicherheitsdilemma" sehr viel besser und vorsichtiger umgehen können als Nicht-Demokratien. Es kann damit als erwiesen gelten, daß das demokratische Herrschaftssystem die entscheidende Friedensursache bildet. Aus dieser Einsicht gilt es, Folgerungen für ein neues Konzept der Sicherheitspolitik zu ziehen. Univ.-Prof. Dr. Ernst-Otto CZEMPIEL Direktor der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt. 56