Serie Osteoporose 309 Osteoporose – Fakten, Fragen und Kontroversen einer Volkskrankheit Nichtmedikamentöse Behandlung der Osteoporose – Ernährung, Patientenführung und mehr Die medikamentöse Behandlung der Osteoporose ist eine Erfolgsgeschichte, solange man nur auf die wissenschaftlichen Daten der letzten zehn Jahre schaut. Wie die deutschen Leitlinien ausführlich belegen, ist durch medikamentöse Therapien eine Frakturreduktion um mehr als 50 % möglich (Leitlinien unter www.dv-osteologie.org). Allerdings müssen zwei bedeutsame Einschränkungen bedacht werden: zum einen beträgt die zeitliche Reichweite der evidenzbasierten Daten zur medikamentösen Frakturreduktion nur drei bis fünf Jahre, zum anderen ist es bisher nur teilweise gelungen, die positiven pharmakologischen Ergebnisse in die klinische Praxis umsetzen – in Deutschland werden höchstens 20 % der Osteoporosepatienten leitliniengerecht behandelt (6). Aus diesen und vielen weiteren Gründen darf sich die Behandlung der Osteoporose nicht auf die Verordnung von Medikamenten beschränken. Die komplexe, multifaktorielle Pathogenese bietet auch viele weitere Ansatzpunkte zur Prävention und Behandlung. Die neuro-muskuloskelettale Einheit im Alterungsprozess Nichtmedikamentöse Maßnahmen beziehen sich nicht nur auf Knochenfestigkeit allein. In den vorhergehenden Artikeln dieser Serie wurde dargestellt, dass die verminderte Bruchfestigkeit der Knochen, das Kernmerkmal der Osteoporose, besser verstanden werden kann, wenn der Regelkreis zwischen Muskel und Knochen in Betracht gezogen wird. Wegen der unverzichtbaren Rolle des Nervensystems ist es zwar umständlich, aber angemessen, von der neuro-muskulo-skelettalen Einheit zu sprechen. Die Bedeutung des neuronalen Systems wird an der koordinativen Kontrolle der Lokomotion und damit letztlich am Sturzrisiko deutlich. Aus der Rolle der Muskelwirkung sowohl auf die Knochenfestigkeit als auch das Sturzrisiko ergibt sich deren zentrale Bedeutung für Diagnostik und Therapie. Die habituellen Spitzenkräfte der Muskeln bestimmen über die physiologisch notwendigen Verformungen die Knochenfestigkeit, während die Muskelleistung als Produkt aus Kraft und Geschwindigkeit sowie die koordinative Kontrolle der Körperhaltung das Sturzrisiko bestimmen. Alle drei Systemkomponenten der neuro-muskulo-skelettalen Einheit sind in hohem Maße altersassoziiert. Deshalb ist es sinnvoll, die Osteoporose in den breiten Horizont der Altersentwicklung zu stellen. Thematisch wird dies in der neueren Literatur durch die Begriffe Sarkopenie und Frailty (Gebrechlichkeit) abgehandelt (3, 7, 12, 14, 19), klinisch manifest durch die Altersassoziation der Sturz- und Frakturgefahr. Diese allgemeinen Überlegungen führen zu ganz praktischen Entscheidungen: Was immer Muskelkraft und Muskelleistung sowie Koordination resp. Balance im Laufe der Altersentwicklung erhält und verbessert, ist eine sinnvolle therapeutische Maßnahme in der Osteoporosetherapie. Ohne dies hier ausführlich begründen zu können, sei der Hinweis gestattet, dass ein intellektuell höchst provozierendes altersassoziiertes Geflecht von inflammatorischen, immunologischen, hormonellen, nephrologischen und metabolischen (ja, auch genetischen) Faktoren in einer gemeinsamen lokomotorischen und osteologischen Endstrecke mündet (씰Abb. 1). Es gibt zahlreiche Wechselwirkungen zwischen Muskeln und Bewegung und allen aufgeführten Systemen. Die Vielzahl der beteiligten Organsysteme macht das Osteoporosemanagement zu einem fachübergreifenden Gebiet, in dem Orthopäden, Geriater, Chirurgen, Endokrinologen, Rheumatologen, natürlich Allgemeinmediziner und sogar Gynäkologen und Urologen eine teilweise weit überlappende Zuständigkeit haben. Leider erinnert die Volksweisheit, dass viele Köche den Brei verderben, auch hier an bedenkliche strukturelle Defizite der fachübergreifenden Zusammenarbeit, und führt nicht selten zu einer „Heimatlosigkeit“ von medizinischen Themen und Patienten. Um ein „ceterum censeo“ des Autors aufzugreifen: Ein wesentliches Dilemma, das für die niedrige Behandlungsquote der Osteoporose mit verursachend ist, ist das Fehlen eines zentralen Messwertes zur Therapiekontrolle. Die Osteoporose bietet keine Entsprechung für den Blutdruckwert bei arterieller Hypertonie oder den Blutzuckerwert bzw. HbA1c-Wert bei Abb. 1 Neuro-muskulo-skelettale Einheit im Kontext des Älterwerdens: Älterwerden ist ein inter- und intraindividuell hochvariabler Prozess, der stufenweise verläuft – von Fitness zu Dekonditionierung zur Gebrechlichkeit, zur Pflegebedürftigkeit –, durch geeignete Interventionen relevant verzögert werden kann, und aufgrund seiner pathophysiologischen Breite einen multidisziplinären Zugang erfordert. © Schattauer 2009 arthritis + rheuma 5/2009 Downloaded from www.arthritis-und-rheuma-online.de on 2017-11-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. Serie Osteoporose 310 Diabetes mellitus. Dies erschwert die Patientenführung ungemein, weil es dem Arzt und seinen Patienten das zeitlich unmittelbar sichtbare Erfolgserlebnis nimmt. Jeder Patient mit Hypertonie oder Diabetes kann den Therapieerfolg an einer klar definierten Zahl ablesen, die einen klaren zeitlichen Bezug zur Therapie und den langfristigen Folgen hat. „Ich hatte gefährlich hohe Blutdruckwerte (respektive Zuckerwerte), aber mein Doktor hat das gut in den Griff gekriegt“, so oder ähnlich lauten die Siegesmeldungen erfolgreich behandelter Hypertoniker (respektive Diabetiker), wenn sie stolz die Liste ihrer Messungen vorlegen. Was kann der Osteoporosepatient sagen? Jährliche Knochendichtemessungen sind nur eingeschränkt verwendbar, da sie den Zusammenhang zwischen Therapie und Erfolg nicht so unmittelbar wiedergeben wie der Blutdruck bzw. die Blutzuckerparameter. Das Nicht-Eintreten einer Fraktur ist so schwer seelisch erlebbar wie das Ausbleiben von Herzinfarkt und Schlaganfall. So wird die Patientenführung bei Osteoporose zu einer Herausforderung für alle Beteiligten. Um bloß als Signalflagge die Antwort des Autors zu erwähnen: Die Messung der Muskelfunktionen mit den bekannten lokomotorischen Testverfahren, ausführlich dargestellt in den vorhergehenden Teilen dieser Serie, kann als ein geeigneter Surrogatparameter zur Patientenführung und Motivation herangezogen werden. Muskelfunktionen, sogar deren vergleichsweise primitive Messung durch Handkraft, und Gehgeschwindigkeit und Balance als lokomotorische Marker haben hohe prädiktive Aussagekraft für Stürze, Frakturen und darüber hinaus für den finalen Outcome-Parameter: den Eintritt der bleibenden Pflegebedürftigkeit (4, 5, 11). Denn dieses Ereignis ist der entscheidende Endpunkt der Entwicklung, in der Knochenfestigkeit, Sturz und Fraktur zwar wichtige, aber eben doch nur Teilkomponenten bzw. optionale Stufen sind. Ziel der Osteoporosetherapie ist die Reduktion der Frakturen, einschließlich der Reduktion Ihre Serie für die Praxis Osteoporose – Fakten, Fragen und Kontroversen einer Volkskrankheit „Was, wegen ein paar bunter Bilder wollen Sie eine alte Frau mit teuren Medikamenten behandeln?“, war der Kommentar eines niedergelassenen Kollegen auf den Vorschlag, eine 84-jährige Osteoporosepatientin medikamentös zu behandeln. Sie hatte stark erniedrigte Knochendichtewerte und nach zwei Wirbelkörperfrakturen chronische Rückenschmerzen. Eine solche Bemerkung wäre unvorstellbar bei Diabetes oder Hypertonie. Die Osteoporose führt zu Deformationen des Körpers, chronischen Schmerzen, erhöhter Mortalität, Mor- Beschäftigt sich im Rahmen unserer Osteoporose-Serie mit Fakten, Fragen und Kontroversen der Volkskrankheit Osteoporose – Dr. Martin Runge, Esslingen bidität und Pflegebedürftigkeit, und kann trotzdem ohne großen Skandal in einem bekannten Nachrichtenmagazin zu den „erfundenen Krankheiten“ gezählt werden. Vielleicht erklären der schleichende Verlauf der Erkrankung und ihre Gleichsetzung mit einem „natürlichen“, also unvermeidlichen Alterungsprozess die gravierende Unterversorgung von Osteoporosepatienten. Oder spiegelt sich im Stereotyp der verkrümmten „Hexe Kaukau“ die psychodynamische Ablehnung der alten Frau wider? Der angesprochene Hintergrund rechtfertigt eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Osteoporose in einer Reihe von sechs Artikeln, die mit dem vorliegenden Beitrag nun abgeschlossen wird. Verantwortlich für die Serie zeichnet Herr Dr. Martin Runge, ärztlicher Direktor der Aerpah-Klinik Esslingen-Kennenburg und des Fortbildungszentrums an der Aerpah-Klinik Esslingen. Dr. Runge ist Facharzt für Allgemeinmedizin – Klinische Geriatrie und Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin. der Stürze. Die medikamentöse Therapie konzentrierte sich bisher auf die Verbesserung der Knochenfestigkeit. Eine nachhaltige, umfassende Therapie sollte sich aus zwingenden Gründen nicht allein auf die medikamentöse Therapie beschränken. Wichtig ist der Aspekt, dass die Wirksamkeit der Medikamente bisher für drei bis fünf Jahre nachgewiesen ist, die Krankheit aber 20 Jahre oder länger dauert. Weiterhin gehört der Sturz wesentlich zur Pathogenese der osteoporoseassoziierten Frakturen, und dessen Prävention wird in der typischen medikamentösen Osteoporosetherapie noch nicht berücksichtigt. Die hochinteressante Rolle der D-Hormone, die sowohl Knochenmasse erhöhen als auch Sturzgefahr reduzieren können, wird später diskutiert. Während die Dauer der erfolgreichen Frakturreduktion durch Medikamente auf drei bis fünf Jahre begrenzt bzw. darüber hinaus unzureichend belegt ist, behalten knochenaufbauende Bewegungen und knochengesunde Ernährung über die komplette Lebenszeit hindurch ihre Wirksamkeit. Und nicht anders ist es mit der Information und Motivation der Patienten, die ebenfalls eine lebenslange ärztliche Aufgabe darstellen. Die Datenlage ist bei nichtmedikamentösen Maßnahmen nicht so umfangreich, einheitlich und überzeugend wie bei den medikamentösen. Dies liegt in den methodischen (logistischen) Problemen ihrer Nachweisbarkeit begründet. Um die Wirkung von Bewegung und Ernährung in randomisierten, kontrollierten Interventionsstudien nachzuweisen, ist ein erheblich größerer logistischer Aufwand erforderlich als bei Medikamentenstudien, und gleichzeitig gibt es weniger Geldgeber für solche Forschungen. Ein weiteres Problem für kontrollierte randomisierte Studien zu den Punkten Ernährung und Bewegung liegt in der Zeitachse begründet. Es geht hier um jahre-, jahrzehntelange Einwirkungen von täglichen Verhaltensmustern, die nicht so einfach zu kontrollieren sind wie die Medikamenteneinnahme. Etwas besser sieht die Datenlage bei Hüftprotektoren und Rücken-Orthesen aus. Hier liegen kontrollierte Studien vor (8, 13, 15). Eine lückenhafte oder widersprüchliche Datenlage darf aber nicht dazu führen, die diskutierte Maßnahme von vornherein beiseite zu lassen. Es ist nach dem Prinzip des „best guess“ auf die bestmögliche Quelle zurückzugreifen. Nachfolgend werden an dieser Stelle folgende nichtmedikamentöse Maßnahmen zur Osteoporoseprävention und -behandlung vorgestellt: arthritis + rheuma 5/2009 © Schattauer 2009 Downloaded from www.arthritis-und-rheuma-online.de on 2017-11-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. Serie Osteoporose ● ● ● ● 311 Ernährung mit dem Fokus auf – Vitamin-D-Supplementierung, – Kalziumzufuhr Hüftprotektoren, Rückenorthesen, Patientenführung als strukturierte Information und Beratung. Sturzprävention und knochenaufbauende Bewegungsprogramme wurden in den vorherigen Artikeln dargestellt. Hüftprotektoren Der dänische Unfallchirurg Lauritzen hat den Hüftprotektor Safehip® in die Behandlung der Osteoporose eingeführt (8). Ein Sturz aus dem Stand generiert Kräfte in der Größenordnung von einer Tonne (10 000 Newton), die in der Regel bei einem seitlichen Sturz über den Trochanter in den Femur eingeleitet werden. Die Kunststoffschalen des Protektors sitzen in einer Baumwollhose oder einem Hüftgürtel, die ihnen einen festen Sitz über dem Trochanter geben. Sie sind in der Lage, die beim Aufprall einwirkenden Kräfte in die hüftumgebenden Weichteile umzuleiten, so dass Femurfrakturen verhindert werden können. Damit ist die (sofortige!) Erfolgsquote so hoch wie der Anteil der Patienten, die beim Sturz einen richtig sitzenden Protektor tragen. Ein Sturzrisikoassessment ist in der Lage, die Patienten zu identifizieren, bei denen ein Hüftprotektor angezeigt ist (13). Wenn auch die Datenlage widersprüchlich ist (15), so gibt es doch Belege dafür, dass mindestens unter den Bedingungen von Pflegeheimbewohnern das Tragen des Hüftprotektors vor Hüftfrakturen schützen kann (9). Rückenorthesen Das Tragen von teilflexiblen oder flexiblen Rücken-Orthesen hat sich als ein verheißungsvoller neuer Ansatz in der Behandlung der Osteoporose erwiesen. Die Arbeitsgruppe von Minne und Pfeifer hat in einer methodisch guten Studie nachweisen können, dass eine Rückenorthese maßgebliche Wirbelsäulenparameter bessern konnte, z. B. Schmerzen, kyphotische Fehlhaltung, Kraft der Rückenmuskulatur und Alltagsaktivitäten (10). Eine vollständig flexible Orthese mit Luftkammern konnte ebenfalls positive Wirkung auf Schmerzen und Fehlhaltung der Wirbelsäule nachweisen (18). Dass eine auf den ersten Blick eher bewegungseinschränkende Orthese diese Parameter bessern kann, belegt, dass die eingesetzten Orthesen nicht zu einer Einschränkung, sondern zu einer Verbesserung der Bewegung führen. Der hierfür zur Erklärung herangezogene Mechanismus ist eine propriozeptive Rückmeldung. Die Orthese wirkt als „Mahnorthese“, indem sie bei Zunahme der Kyphose zur Reklination führt. Hierdurch kommt es offenbar zu ständigen Mini-Bewegungen, die ausreichen, Haltung, Flexibilität, Schmerzen, Muskelkraft und Alltagsaktivität zu verbessern. Klinische Erfahrungen zeigen, dass eine nicht kleine Gruppe von Patienten – eine guten Anpassung und Instruktion vorausgesetzt – das Tragen der Orthese schnell als positiv empfindet. Die Orthesen, von denen verschiedene Modelle angeboten werden, verdienen eine erhöhte Aufmerksamkeit in Forschung und praktischer Anwendung. Eine Kombination von Orthese und rückenspezifischem Training bietet sich an. Knochengesunde Ernährung und Sonne: Vitamin D und Kalzium Empfehlung zur knochengesunden Ernährung haben zwei wesentliche Elemente: Die Nahrungsaufnahme von Kalzium (Ca) und die Versorgung mit „Vitamin D“. Demgegenüber spielen andere Stoffe eine zahlenmäßig untergeordnete Rolle und werden hier nicht weiter diskutiert. Es soll nur kurz erwähnt werden, dass VitaminK-Mangel und Folsäuremangel zur Osteoporose beitragen können wie auch große Mengen Phosphat und Oxalat die Ca-Resorption vermindern können. Diese Punkte sind allerdings „Nebenkriegsschauplätze“, die eher davon ablenken, sich um die entscheidenden Punkte zu kümmern. Auch die Diskussion, ob die Mindestaufnahme von Ca 1000 oder 1500 mg betragen sollte, ist für die Patientenführung nicht wirklich wichtig. Es gehört auch bei wenig informierten Menschen zur Allgemeinbildung, dass bei Osteoporose eine ausreichende Ca-Aufnahme wichtig ist. Die Kenntnis über diesen Zusammenhang ist banal, nicht so trivial ist die Realisierung dieser Erkenntnis. Eher muss betont werden, dass die alleinige Aufnahme von Ca ohne Vitamin D nicht ausreichend ist, und dass erst das Zusammenspiel von Ca und Vitamin D die Antwort ist. Gravierender Ca-Mangel ist in unserer Gesellschaft kein Problem – außer wenn Ernäh- rungs- bzw. Resorptionsstörungen oder extreme Ernährungsgewohnheiten (veganisch) vorliegen. Bei Menschen, die aufgrund chronischer Darmerkrankungen oder Milchunverträglichkeit eine verminderte Ca-Aufnahme haben, ist die Sicherstellung einer ausreichenden Ca-Zufuhr jedoch eine spezielle ärztliche Aufgabe, ebenso wie in Zeiten eines erhöhten Ca-Bedarfs, wie während Schwangerschaft und Stillzeit. Die Ca-Resorption im Magen-Darmtrakt ist kritisch, zum Teil werden nur zehn Prozent des oral zugeführten Ca resorbiert. Hier kommt Vitamin D ins Spiel. Die enterale Ca-Resorption ist an einen ausreichenden D-Hormon-Spiegel geknüpft. Deshalb sollte konsequent von einer gemeinsamen „Vitamin-D- und Ca-Substitution“ gesprochen werden. Wohlgemerkt: Substitution bzw. Supplementierung. Bei manifester Osteoporose ist die Gabe von Vitamin D plus Ca keine ausreichende Therapie. Alle Studien zu Bisphosphonaten, Raloxifen und Strontium sind mit der gleichzeitigen Gabe von Ca und Vitamin D durchgeführt worden, entsprechende Therapien verlangen also unbedingt diese Ergänzung. Eine Dosierung von 800 – 1000 I.E. Vitamin D und 1000 – 1500 mg Ca pro Tag wird heute als nötig angesehen. Ca darf nicht zeitgleich mit Bisphosphonaten oral verabreicht werden, weil sich Bisphosphonate im Magen-Darm-Trakt sofort an Ca binden und dann nicht ausreichend resorbiert werden. So mancher Patient braucht sorgfältige Erklärungen, um zu verstehen, dass er zwar sowohl ein Bisphosphonat als auch Ca einnehmen muss, aber bitte nicht gleichzeitig. Die wöchentliche oder monatliche Bisphosphonatgabe mindert dieses Problem. Die kulinarischen Feinheiten der Ca-Aufnahme werden hier nicht aufgeführt, denn das Thema wird an vielen Stellen breit und appetitanregend diskutiert. Es gibt eine Reihe von gut verständlichen Kochbüchern und viele nützliche Ernährungsvorschläge zur Ca-Aufnahme. Der Hinweis auf kalziumreiches Mineralwasser ist immer eine sinnvolle Erinnerung. Dabei fällt es nicht schwer, ein Mineralwasser zu finden, das mehr als 400 mg pro Liter Ca enthält. Und da Beratung konkret sein sollte, und auch ein wenig Spaß machen kann, ist ein kleines Quiz mit dem Patienten ein gutes Mittel. Ein Multiple-Choice-Test im Wartezimmer über den Ca-Gehalt von Lebensmitteln könnte doch die Wartezeit verkürzen. Wissen Sie, welcher Käse den höchsten Ca-Gehalt hat (씰Tab. 1)? Vitamin D (Cholecalciferol) wird unter dem Einfluss von UV-B-Strahlen in der Haut gebildet. © Schattauer 2009 arthritis + rheuma 5/2009 Downloaded from www.arthritis-und-rheuma-online.de on 2017-11-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. Serie Osteoporose 312 Tab. 1 Kalziumgehalt von Lebensmitteln Lebensmittel mg Kalzium pro 100 g Lebensmittel Milch und Milchprodukte Vollmilch 3,5 % 120 Joghurt 3,5% 120 Speisequark 80 Camembert (45 % Fett i. Tr.) 600 Emmentaler (45 % Fett i. Tr.) 1020 Edamer (45 % Fett i. Tr.) 870 Gouda (45 % Fett i. Tr.) 820 Mozzarella 405 Schmelzkäse 60 % 545 Parmesan 1335 Gemüse Blattspinat 110 Brokkoli 100 Fenchel 110 Grünkohl 210 Porree 87 Kräuter Brennessel (frisch) 200 Löwenzahn (frisch) 158 Petersilie (frisch) 24 Getreide Brötchen 25 Nudeln 55 Vollkornbrot 63 Fisch Hering (frisch) 34 Ölsardine 30 Scholle 61 Ölsaaten Leinsamen 230 Mohn 1460 Sesam 780 Somit kann durch ein Glas Milch, einen Becher Fruchtjoghurt (250 g) und zwei Scheiben Schnittkäse (60 g) der tägliche Bedarf an 1000 mg Kalzium gedeckt werden; Hauptkalziumlieferanten sind auch Mineralwässer, die über 500 mg Kalzium pro Liter enthalten sollten Dies geschieht aber deutlich vermindert bei „älterer“ Haut sowie nördlich des 50. Breitengrades (Weißwurstäquator!), da die Atmosphäre den UVB-Anteil im Sonnenlicht herausfiltert. Hohe Sonnenexposition hat andere bekannte Nebenwirkungen. Nennenswerte Mengen an Vitamin D sind in fettem Seefisch enthalten (Makrele, Hering). Der häufige Mangel und die begrenzten Möglichkeiten, Vitamin D mit der Nahrung aufzunehmen, lässt die Einnahme per Tablette ratsam erscheinen. Vitamin D ist als pleiotrope Substanz nicht nur für die Ca-Aufnahme aus dem Darm und in den Knochen wichtig, sondern auch für Muskelfunktionen und viele andere Vorgänge, ablesbar an der nahezu ubiquitären Verteilung von Vitamin-D-Rezeptoren. Vitamin-D-Mangel vermindert Kraft und Leistung der Muskeln und begünstigt Stürze. Die proximale, d.h. vor allem die hüftumgebende Muskulatur betreffende Muskelschwäche ist ein bekanntes Symptom der Osteomalazie. Generell ist Vitamin-D-Mangel in Europa ein häufiges Problem, nicht nur bei älteren Menschen. Extrem häufig bei Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind und wenig nach draußen kommen. Ohne hier auf die pathophysiologischen Einzelheiten einzugehen, sollen die wesentlichen Stufen des Vitamin-D-Metabolismus in Erinnerung gerufen werden. Wichtig ist eine begriffliche Richtigstellung: Vitamin D ist gar kein Vitamin. Zum einen wird es im Körper hergestellt – dies widerspricht der klassischen Definition des Vitamins –, zum anderen ist der metabolisch wirksame Stoff ein Hormon, das in Regelkreise eingebunden ist und über Rezeptoren wirkt (17). Damit sind auch die Vitamin-D-Rezeptoren (VDR) falsch benannt. Die Fehlbenennung hat ihre Gründe in der Historie der Vitamin-D-Forschung. Dort spielte die Entdeckung der Rolle des Vitamin-D-Mangels bei der Entstehung der Rachitis die entscheidende Rolle. Beim Erwachsenen führt ein starker, lang anhaltender Vitamin-D-Mangel bekanntlich zur Osteomalazie. Das in der Haut unter der Einwirkung von UVB-Strahlen gebildete Cholecalciferol wird in zwei Hydroxylierungsschritten zum aktiven D-Hormon umgewandelt: Die erste Hydroxylierung an der Position 25 zum 25-OH-D3 (Calcidiol) geschieht in der Leber und ist ein metabolisch unkritischer Schritt, der erst bei schwersten Leberstörungen beeinträchtigt ist. Die in der Leber gebildete Zwischenstufe ist die Speicherform. Um einen Vitamin-D-Mangel zu diagnostizieren, wird diese Zwischenstufe 25-OH-D3 gemessen. Die zweite Hydroxylierung zum aktiven D-Hormon 1-25-dihydroxy-Cholecalciferol (Calcitriol) an der Position 1 geschieht in der Niere unter der Wirkung der 1-Alpha-Hydroxylase. Dies ist der regulierenden Schritte, quasi der von der Natur eingebaute Flaschenhals, um bei starker Sonnenbestrahlung eine Hyperkalzämie zu verhindern. Bei der im Alter so oft verminderten Nierenfunktion, erkennbar an einer Kreatininclearance unter 65 ml/min, kommt es zur verminderten Bildung des aktiven Hormons. Das „fertige“, metabolisch aktive D-Hormon „1–25-Dihydroxy-Cholecalciferol“ (Calcitriol) ist mit dem Parathormon in einen Regelkreis eingebunden, der den Kalziumstoffwechsel reguliert. D-Hormon-Mangel führt zum sekundären Hyperparathyreoidismus mit negativen Auswirkungen auf Knochenfestigkeit, Muskelfunktionen und Haltungskontrolle (Balance) und führt somit zu einer Erhöhung von Sturzgefahr und Frakturen. Aus der vielfältigen, klinisch relevanten Bedeutung des D-Hormons ergibt sich gerade bei älteren Menschen die Indikation zur Analyse des Vitamin-D-Metabolismus. Der Mangel an aktivem D-Hormon, der bei verminderter Nierenfunktion eintritt, verschlechtert die Muskelfunktionen und erhöht dadurch die Sturzgefahr um das Vierfache. Dieser D-Hormon-Mangel kann nicht über die Nahrung und auch nicht durch forcierte Einnahme von nativem Vitamin D ausgeglichen werden. Eine Behandlung mit dem D-Prohormon Alfacalcidol 1 μg/die umgeht die verminderte Aktivierung in der Niere, führt sicher zu erhöhten Spiegeln des aktiven D-Hormons und kann so die Muskelfunktionen verbessern und das Sturzrisiko um 71 Prozent senken (1, 2, 16). Patientenführung – Information und Motivation Bei allen langfristigen lebensbegleitenden medizinischen Maßnahmen steht die Information und Motivation der Patienten sowie ihrer informellen und professionellen Helfer im Mittelpunkt. Ärztliche Überzeugungsarbeit ist sicher noch nicht in allen Therapiebereichen evidenzbasiert als wirkungsvoll nachgewiesen worden, wird aber allgemein in der täglichen ärztlichen Arbeit als unverzichtbar betrachtet. Die „Droge Arzt“ spielt im Positiven wie im Negativen eine entscheidende Rolle bei der Behandlung chronischer Erkrankungen. Es gehört auch zur Diskussion nichtmedikamentöser Maßnahmen, zur populären Missverständnissen des Themas sowie individuellen ärztlichen Stellungnahmen von Kollegen Stel- arthritis + rheuma 5/2009 © Schattauer 2009 Downloaded from www.arthritis-und-rheuma-online.de on 2017-11-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. Serie Osteoporose 314 lung zu nehmen, denn Meinungsbildung geschieht nicht nur in der (eigenen) Arztpraxis. Wenn in einem (meinungsführenden) Nachrichtenmagazin die Osteoporose zu den „erfundenen“ Krankheiten“ gerechnet wird, wird erfolgreiche Patientenführung nicht einfacher. Auch überzogene Warnungen aus dem zahnärztlichen Bereich zur Bisphosphonattherapie müssen öffentlich diskutiert werden. Hier besteht auch gesundheitspolitischer und publizistischer Handlungsbedarf. Die Fülle absurder Behauptungen zum Thema Osteoporose in Boulevardblättern, aber auch Krankenkassenblättchen, wäre erheiternd, wenn nicht so viel Schaden angerichtet würde. Die treffende Antwort ist eine vertrauensvolle Arzt-Patient-Beziehung, die allerdings von Seiten des Arztes die permanente Anstrengung der Weiterbildung erfordert. Die innerärztlichen Konflikte dürfen nicht verschwiegen werden. Dem Autor sind viele Gespräche mit Patienten und Kollegen über Situationen erinnerlich, in denen von ärztlicher Seite ohne fachliche Begründung eine indizierte, d. h. leitliniengerechte medikamentöse Therapie abgesetzt oder von ihr abgeraten wurde. Wenn allein ein hohes Alter als Begründung des therapeutischen Nihilismus angeführt wird, ist die Grenze einer fragwürdigen ethischen Einstellung überschritten. Da hilft auch kein Verweis auf Budgetzwänge. Hier ist eine konsequente öffentliche Diskussion nötig. Patientenschulung erfordert Zeit, erkennbar mehr Zeit, als in der Sprechstunde zur Verfügung steht. Also muss die allgemeine (!) Schulung in besondere Veranstaltungen und an Mitarbeiter ausgelagert werden, damit die ärztliche Sprechstundenzeit für besondere Fälle zur Verfügung steht. Hier bieten sich gemeinsame Veranstaltungen von Praxisnetzen an. Ansprechendes Informationsmaterial muss zur Verfügung stehen, das zügig auf den einzelnen Patienten individualisiert werden kann. Mögliche Module eines solchen Paketes sind: Grundlegende Information über die Krankheit, diagnostisches Vorgehen, Prävention und Früherkennung, Risikofragebogen, Angebote zur Schulung, ein wissenschaftlich begründetes Bewegungsprogramm, Information zur Medikation (insbesondere detaillierte Einnahmevorschriften) und Information zur knochengesunden Ernährung. Es ist natürlich nicht damit getan, den Patienten Infomaterial in die Hand zu drücken und sie damit allein zu lassen. Geschulte Mitarbeiter müssen zur Erklärung zur Verfügung stehen. Die spezielle Schulung eines Praxismitarbeiters zum „Fachberater Osteoporose“ ist ein sinnvoller oder gar notwendiger Schritt. Die Zusammenarbeit mit Physiotherapeuten sollte ins Detail gehen. Ein Arzt, der die Verordnung von Bewegung so ernst nimmt wie die Verordnung von Medikamenten, sollte wissen, was „seine“ Physiotherapeuten dem Patienten zum Thema Osteoporose erzählen. Wenn ein Physiotherapeut Nordic Walking oder Schwimmen zum Knochenaufbau empfiehlt, besteht Fortbildungsbedarf. Erfreulicherweise ist die Anzahl der Osteoporoseselbsthilfegruppen groß und wachsend. Gute Informationen über die lokalen Verhältnisses sind hilfreich (www.osteoporose-deutschland.de). Im Internet, das zunehmend auch bei älteren Patienten, manchmal durch die Vermittlung jüngerer Angehöriger, als Informationsquelle dient, steht eine Fülle von Informationen wechselnder Qualität bereit. Um den Patienten hier Hilfestellung zu geben, ist eine Auswahl von Internetquellen sinnvoll, die vom Arzt persönlich überprüft und empfohlen werden. Abschließender Appell Wie bei allen chronischen Erkrankungen, die eine jahrzehntelange Therapie-Adhärenz erfordern, gibt es bei der Osteoporose neben medikamentösen Maßnahmen eine Fülle weiterer Ansatzpunkte. Es liegt an Ärzten und Patienten gemeinsam, die nichtmedikamentösen Wege ernst zu nehmen und konsequent zu gehen. Ärzte müssen Ernährung und Bewegung als ärztliche Aufgabe akzeptieren. Wir Ärzte müssen allerdings mit der gleichen Präzision vorgehen, wie wir es bei pharmakologischen Verordnungen gewohnt sind, und Patienten müssen hinreichend Einsicht, Ausdauer und Anstrengungsbereitschaft aufbringen. Gelingt es Arzt und Patient, die beschriebenen Wege anhaltend zu beschreiten, wird der langjährige Verlauf der Erkrankung zum Vorteil. Dann wird Beharrlichkeit belohnt. Dr. Martin Runge, Esslingen-Kennenburg 3. Fried LP et al. 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