Eine „wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“

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Montag, den 13. Juni 2005
EUROPÄISCHE VERFASSUNG
[5]
5 | Luxemburger Wort
Die EU-Verfassung und die Wirtschaft
Eine „wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“
Wirtschaftspolitische Koordinierung soll verstärkt werden
Teil 10
VON PIERRE LEYERS
Die kriselnde Wirtschaft in Europa
dürfte den Ausschlag für das harte
Nein der Franzosen und Niederländer
zur EU-Verfassung gegeben haben.
Mit ihrem Feldzug gegen den ungezügelten Kapitalismus haben die Verfassungsgegner in den beiden Gründungsstaaten das Vertragswerk zu Fall
gebracht. Der EU wird vorgeworfen,
den Schutz der Beschäftigten den
freien Märkten zu opfern.
D
ie verzwickte Lage ist nicht
ohne Ironie, denn schließlich
ist es gerade die wirtschaftliche
Integration, die dem politischen
Aufbau Europas den Weg bereiten soll. Mit der Zusammenlegung
der westeuropäischen Kohle- und
Stahlindustrie begann nach dem
Zweiten Weltkrieg eine etappenreiche Entwicklung, deren vorläufiger Höhepunkt, in Form
eines Vertragstexts, eigentlich die
EU-Verfassung sein soll.
Der wirtschaftliche Grundgedanke der früheren Verträge –
hauptsächlich des MaastrichtVertrags – ist fast unverändert in
die neue Verfassung eingeflossen. Dazu gehören das ausgewogene Wirtschaftswachstum und
die „in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung
und sozialen Fortschritt zielt.“
(Art.I-3 (3))
Mit dieser Aussage im ersten
Teil des Vertragswerks sind auch
die meisten Verfassungsgegner
einverstanden. Munition liefert
ihnen die im dritten Teil festgeschriebene Verpflichtung aller
EU-Mitgliedstaaten zu einer liberalen Wirtschaftspolitik, die
„dem Grundsatz einer offenen
Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb
verpflichtet
ist.“
(Art.III-69)
In Wirklichkeit geht von der
Verfassung kein neuerlicher
Ruck in Richtung Neoliberalismus aus. Sie ist vielmehr die
nach der Erweiterung auf 25 Mitgliedstaaten notwendig gewordene Straffung und Verbesserung der Arbeitsweisen der EUInstitutionen.
Darüber hinaus bringt sie eine
verstärkte wirtschaftspolitische
Koordinierung. Auch diese fortgeschrittene Integration des Bin-
Die Wirtschaft ist das Gerüst, der Mörtel und der Rahmen beim Bau am Haus Europa.
(Photo: Reuters)
die den Euro als Währung eingeführt haben, die Gemeinsame
Handelspolitik oder die Festlegung der für die Funktionsweise
des Binnenmarkts erforderlichen Wettbewerbsregeln gehören zur Kategorie der „ausschließlichen“ Zuständigkeiten.
Der Binnenmarkt selbst gehört,
genauso wie der Verkehrssektor,
die transeuropäischen Netze
oder die Energieversorgung zu
den „geteilten Zuständigkeiten“.
In diese Kategorie fallen die Bereiche, in denen die Union tätig
wird, wenn ihre Aktion einen
zusätzlichen Nutzen zu den Aktionen der einzelnen Mitgliedstaaten erbringt.
Hinzu kommt die Wirtschaftsund Beschäftigungspolitik, wo
die Mitgliedstaaten anerkennen,
dass ihre nationalen Maßnahmen innerhalb der Union koordiniert werden müssen.
Bei einer dritten Kompetenzkategorie, den „unterstützenden
Zuständigkeiten“,
greift
die
Union ausschließlich zur Koordinierung und Ergänzung der
Maßnahmen der Mitgliedstaaten
ein. Dazu gehören der Gesundheitsschutz, die Bildung und die
Industriepolitik.
Die Abstimmungsregeln im
EU-Ministerrat ändern sich nicht
grundlegend. In einigen Politikbereichen wie der Innen- und
Justizpolitik soll das Einstimmigkeitsprinzip verstärkt Mehrheitsentscheidungen weichen, was
EU-umfassende Regelungen erleichtern dürfte.
nenmarkts ist schlussendlich nur
die Antwort auf die fortschreitende Globalisierung einer Welt,
in der starke Handelsblöcke den
Takt bestimmen.
Die meisten wirtschaftspolitischen Komponenten der EU-Verfassung befinden sich in ihrem
dritten und ausführlichsten Teil.
Dort finden sich die Bestimmungen zur Wirtschaftsverfassung, beginnend mit den vier
Grundfreiheiten des EU-Binnenmarkts: dem freien Verkehr von
Bürgern, Waren, Kapital und
Dienstleistungen.
Der dritte Teil gibt auch Aufschluss über die künftige Kompetenzverteilung innerhalb der
Union. Diese kann nur im Rahmen der Zuständigkeiten tätig
werden, die ihr die Verfassung
zuerkennt.
Drei Kategorien von
Zuständigkeiten
Der Kompetenzkatalog umfasst
drei Kategorien von Zuständigkeiten (siehe Rahmen). Die Geldpolitik für die Mitgliedstaaten,
EU-Konjunktur 2005:
Auf dem Prüfstand
Wirtschaftswachstum in %
Lettland
Litauen
Estland
Irland
Slowakei
Polen
Tschechien
Ungarn
Zypern
Luxemburg
Slowenien
Finnland
Schweden
Griechenland
Großbritannien
Spanien
Dänemark
Belgien
Österreich
Frankreich
Malta
Italien
Portugal
Niederlande
Deutschland
4,9
4,9
4,4 -4,4
4,0 -4,5
3,9 -3,9
3,9 -2,9
3,8 -1,5
3,7 -2,2
-0,6
-3,8
6,0
Haushaltsüberschuss (+)
oder -defizit (–) in %
der Wirtschaftsleistung
+7,2 % -1,6
6,4
-2,4
+0,9
3,3 +1,7
3,0 +0,8
2,9 -4,5
2,8 -3,0
0
2,7
2,3 +2,1
2,2 -0,2
2,1 -2,0
2,0 -3,0
1,7 -3,9
1,2 -3,6
1,1 -4,9
1,0 -2,0
0,8
-3,3
Frühjahrsprognose der EU-Kommission
© Globus
9871
Einstimmigkeit in der Sozialund Steuerpolitik
Die Bestimmungen zur Sozialund Steuerpolitik bleiben weitgehend unverändert und werden
auch künftig dem Einstimmigkeitszwang unterliegen. Dieser
Aspekt ist für Luxemburg von
großer Wichtigkeit, das somit in
einigen zentralen Bereichen ein
Vetorecht behält. Das Luxemburger Bankgeheimnis, das es in
dieser Form in keinem der anderen Mitgliedstaaten gibt, kann
durch Mehrheitsentscheidungen
nicht beeinträchtigt werden.
Geht es um die wirtschaftlichen Aspekte in der EU-Verfassung, gebührt der Rolle der Europäischen Zentralbank im Zusammenspiel der Institutionen
eine besondere Bedeutung. In
Artikel I-29 (2) heißt es dazu:
„Das Europäische System der
Zentralbanken wird von den Beschlussorganen der Europäischen Zentralbank geleitet. Sein
vorrangiges Ziel ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten. Unbeschadet dieses Zieles unterstützt es die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union, um
zur Verwirklichung ihrer Ziele
beizutragen.“
Damit gehört das Ziel der
Preisstabilität künftig zu den allgemeinen Zielen der Union als
ein begründendes Element für
die dauerhafte Entwicklung.
Die Tatsache, dass die gesamte
Wirtschaftspolitik der EU auf
Preisstabilität verpflichtet wird,
müsste es der EZB eigentlich
leichter machen, ihrem Auftrag
gerecht zu werden. Die jüngsten
Attacken aus dem politischen Lager gegen die Frankfurter Währungshüter zeigen jedoch, dass
die EZB in Zeiten schleppender
konjunktureller Entwicklung mit
ihrer auf Preisstabilität ausgerichteten Währungspolitik einen
schweren Stand hat. Aufgenommen in die Verfassung würde
auch der Begriff des „Eurosystems“, dieses umfasst die EZB
und die Notenbanken der EUStaaten, die zur Währungsunion
gehören.
Der Euro wird offiziell zur
Währung der Union bestimmt.
Die Währungspolitik für die Länder der Eurozone wird in die
Kategorie der ausschließlichen
Zuständigkeiten der Union eingegliedert. Auch dies stärkt die
Rolle der EZB. Es ist deshalb kein
Wunder, dass die noch junge Institution mehr als andere den
Attacken der Verfassungsgegner
ausgesetzt ist.
„Wer ist wofür zuständig?“
Klar umrissene Zuständigkeiten
Gemäß der EU-Verfassung
fällt in den Bereich der ausschließlichen Zuständigkeiten: Die Zollunion, die Festlegung der für den gemeinsamen Binnenmarkt erforderlichen Wettbewerbsregeln,
die Währungspolitik für die
Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, die Erhaltung der biologischen Meeresschätze im Rahmen der
gemeinsamen
Fischereipolitik, sowie die gemeinsame Handelspolitik.
Zu den Bereichen der geteilten Zuständigkeiten zählen u.a.: Der Binnenmarkt,
bestimmte Aspekte der Sozialpolitik, der wirtschaftliche, soziale und territoriale
Zusammenhalt, die Landwirtschaft und die Fischerei,
die Umwelt, der Verbraucherschutz, der Verkehr und
die transeuropäischen Netze, die Energie, bestimmte
Zuständigkeiten in den Bereichen Forschung, technologische Entwicklung und
Raumfahrt.
Bereiche der unterstützenden Zuständigkeiten sind
u.a.: Der Schutz und die Verbesserung der menschlichen
Gesundheit, die Industrie,
die Kultur, der Tourismus,
allgemeine Bildung, Jugend,
Sport und berufliche Bildung, der Katastrophenschutz und die Zusammenarbeit der Verwaltungen.
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