Immer ich Unsere Gesellschaft ist ein bunter Supermarkt der Identitäten. Wer ich sein will, muss ich aus einer Fülle von Angeboten herausfiltern. Das ist anstrengend, verwirrend – und vielleicht auch ein Fortschritt. TEXT UNSERE IDENTITÄT ist nichts Statisches, kein fester Zustand, den wir immer wieder unverändert abrufen können. Deshalb stellt sich weniger die Frage „Wer bin ich?“, sondern viel eher: „Wer bin ich im Verhältnis zu anderen? Wer bin ich heute im Vergleich zu früher? Oder bin ich vielleicht gar nicht, sondern befinde mich im Werden?“ 30 ERIC LIPPMANN Die Suche nach unserem Ich beschäftigt uns mehr denn je in einer Gesellschaft, in der es immer zahlreichere Optionen gibt und die verschiedenen Lebenswelten immer vielfältiger werden. Für Menschen wird es zunehmend schwierig, ihren „Kern“ zu erfahren – oder auch den ihres Gegenübers – und das noch dazu über einen längeren Zeitraum hinweg. SPIEGEL WISSEN 5 / 2015 In vormodernen Gesellschaften brauchte das Individuum möglicherweise keinen inneren Zusammenhang herzustellen, weil die Gesellschaft ihm einen festen Rahmen bot. Die Aufsplitterung unseres Ich ist erst zu einem Problem geworden, weil die heutige postmoderne Gesellschaft dem Individuum keinen solchen festen Halt mehr gibt – so jedenfalls kann man vermuten. Viele Men- SELBSTFINDUNG Bildermeer: Der Künstler Erik Kessels hat für eine Installation Fotos ausgedruckt, die innerhalb eines Tages auf sozialen Netzwerken hochgeladen wurden. Aber auch andere soziale Beziehungen werden vielfältiger und beliebiger: Im Verlauf eines Lebens wird es mehr serielle Beziehungen und damit sogenannte Lebensabschnittspartnerschaften geben. Die lebenslange Einheitsfamilie wird zum Grenzfall. Datingplattformen erhöhen die Qual der Wahl. Es besteht die Gefahr, dass sich Partner nicht zu fest binden wollen, weil sie die Hoffnung hegen, noch etwas Besseres zu finden. Ein Optionsleben, ein Leben als Möglichkeitswahrung. Die virtuellen Beziehungen werden den Megatrend der Individualisierung und Hybridisierung intensivieren und beschleunigen. Wir können uns beispielsweise jederzeit aus unserer realen Umgebung ins Virtuelle zurückziehen und in eine „andere Identität“ entschwinden. Wenn wir stets online sind, sind wir auch oft anderswo. In einem Interview mit der amerikanischen Psychologin Sherry Turkle bringt es ein Junge auf den Punkt: „Ich werde früher oder später noch durcheinander geraten, wer Online-Brad und wer der wirkliche Brad ist.“ Identität als Konstrukt wird dadurch zwar vielfältiger, aber auch fragiler. ERIK KESSELS (L.); SIMON HALLSTRÖM / ICONIQ STUDIO (R.) schen erleben dies als Zumutung und Überforderung. Andererseits: Bietet die Vielfalt an Identitäten, welche eine Multioptionsgesellschaft eröffnet, vielleicht auch die Chance für eine kreative Weiterentwicklung des Menschen? Soziales Netz und Beziehungen Lässt man die vielen Identitätsangebote Revue passieren, zeigt sich der Wandel am pointiertesten in der Frage nach der eigenen Herkunft, einem zentralen Identitätsfaktor: Die heutigen technischen Möglichkeiten erlauben eine vielfache Mutter- und Vaterschaft (in der Kombination von Samen- bzw. Eispende, Leihmutterschaft und verschiedenen Formen sozialer Elternschaft). Damit beginnt unter Umständen die Fragmentierung unseres Selbst schon vor der Geburt. Eine multiple Identität wird immer häufiger dem Individuum bereits in die Wiege gelegt. Arbeit und Beruf In der westlichen Gesellschaft wird dieser Säule der Identität eine hohe Bedeutung zugeschrieben: Ausdruck davon sind Investitionen in Aus- und Weiterbildungen, aber auch die Betonung der Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit auf individueller und organisationaler Ebene, wie etwa der Begriff „War of Talents“ deutlich macht. Führt das zur Überforderung der Talente? Auch bei der Diskussion um die Globalisierung stellt sich die Frage, wie viel wir an Flexibilität ertragen – und uns zugleich noch als kohärentes Ich begreifen können. Während etwa der Soziologe Richard Sennett in seiner Kulturkritik „Der flexible Mensch“ von der „Korrosion der Persönlichkeit“ spricht (so lautet der Originaltitel seines Werks), kann die Multioptionsgesellschaft durchaus auch Chancen beinhalten. So kann sich ein „modularer Mensch“ flexibel verschiedenen Bedürfnissen und Ansprüchen anpassen. Die Veränderungen in der Arbeitswelt führen häufig zu Entgren- SPIEGEL WISSEN 5 / 2015 zungen. So werden etwa die organisatorischen Grenzen von Unternehmen unschärfer, Arbeitszeiten und Arbeitsorte flexibilisiert. Der flexible, modulare Mensch kann sich mit diesen Entwicklungen besser arrangieren oder sie sogar für eine autonomere Lebensweise nutzen. Wenn in erster Linie das Ergebnis zählt und nicht die Frage, wann und wo die Leistung erbracht worden ist, so kann dies im besten Fall zu einer günstigeren Balance zwischen der Arbeit und anderen Lebensfeldern führen. Körper und Leiblichkeit Die Leib-Seele-Thematik beschäftigt die Menschheit seit Langem im Zusammenhang mit der Identität. Die Suche nach den neuronalen Grundlagen des Selbst mündet zurzeit in eine unter anderem durch den Philosophen Thomas Metzinger angeregte Kontroverse, ob wir überhaupt ein „reales“ Selbst haben oder nicht. Diese Debatten spiegeln deutlich die Fragilität des Identitätskonzeptes wider. Ob es nun ein Selbst gibt, wo es „wohnt“ oder „unterwegs ist“, bleibt eine offene Frage. Auch bezüglich Identität und Geschlecht kann man behaupten, dass es selbst in der Gender-Forschung immer weniger Eindeutigkeiten gibt. Wir bewegen uns möglicher- E R I C L I P P M A N N, 55, lehrt als Psychologe an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Dort leitet er am IAP Institut für Angewandte Psychologie das Zentrum Leadership, Coaching & Change Management. Zuletzt erschien sein Buch „Identität im Zeitalter des Chamäleons“ (Vandenhoeck & Ruprecht; 196 Seiten; 22,99 Euro). 31 tät ist immer auch auf „materielles Kapital“ angewiesen. Der Philosoph Erich Fromm beschrieb mit dem „Marketing-Charakter“, der sehr stark mit einer konformistischen Persönlichkeit einhergeht, die Übertreibung des Haben-Modus der modernen Gesellschaft schon 1976 in seiner Fundamentalkritik „Haben oder Sein“ sehr einprägsam. Auch Beziehungen werden verstärkt vermarktet, dies umfasst den Bereich der Partnerschaften so gut wie Geschäftsverbindungen. Kessels’ Werke sind in der Schau „Ego Update“ im NRW-Forum Düsseldorf zu sehen (bis 17. 1. 2016). weise auch im Bereich der Geschlechtsidentität hin zu einer uneindeutigen Vielfalt. Einerseits gibt es die von der französischen Philosophin Elisabeth Badinter bereits in den Achtzigerjahren beschriebene Tendenz zur Androgynität, bei der sich Männer und Frauen einander angleichen, etwa in der Mode. Auf der anderen Seite erleben wir gewissermaßen als Gegensatz die Betonung eines perfekten, geschlechtsspezifischen Körpers. Bei den Männern kann dies in „Muskelspiele“ ausarten mit entsprechendem Anabolikakonsum. Bei den Frauen zeigt sich das etwa in einem übertriebenen Schlankheitskult, ebenfalls verbunden mit potenziellen Gefahren für die Gesundheit. Die Vielfalt zeigt sich auch in der virtuellen Welt: Wer sich in den USA bei Facebook registriert, kann inzwischen aus 60 Geschlechtsidentitäten wählen. Was es bringt? Zumindest regt es an, darüber zu diskutieren, was „Geschlecht“ überhaupt bedeutet. Besitz und Materielles In der psychologischen Fachliteratur finden materielle Sicherheiten als Identitätsfaktor wenig Beachtung. Dies bedeutet aber keinesfalls, dass „Haben“ für das Individuum nicht von Bedeutung wäre. Gerade in Zeiten, in denen so vieles im Fluss ist, dürften die Identitätsfunktionen von Besitz dem einzelnen eine gewisse Stabilität bieten. Konsumforscher wissen, dass Menschen bestimmte Waren kaufen (und andere nicht), um ihre soziale Identität auszudrücken, ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu signalisieren. Eine gelingende Identi- 32 Glaube, Werte und Sinn Die weiterhin starke Bedeutung von Religion kann als Folge der Verunsicherungen durch die Globalisierung verstanden werden. Auch Religionen machen starke Identitätsangebote, sie liefern eindeutige Antworten auf die Frage „Wer bin ich?“. Parallel zur Zunahme einer Vielfalt an religiösen Bewegungen dürfte der Kampf um den „richtigen Glauben“ anhalten, sodass die Forderungen nach gegenseitiger Toleranz weiterhin aktuell bleiben. Daneben kann die Konstruktion von Lebensgeschichten in der postmodernen Welt dazu dienen, an der eigenen Identität zu arbeiten. Unser narratives Gedächtnis ist nicht einfach ein Faktenspeicher, sondern unsere Erinnerungen werden umgebaut, gekürzt, ergänzt und verändert. Den Erinnerungsfundus könnte man als „Kern der persönlichen Identität“ bezeichnen. Wenn wir uns im Laufe des Lebens verändern, so können Geschichten und Episoden angepasst oder anders interpretiert werden. Damit helfen sie uns, Kontinuität zu wahren und uns „ganz“ zu fühlen. Das Konzept der narrativen Identität betont die Wichtigkeit von Kohärenz, die eine zentrale Ressource für den Identitätsprozess darstellt: Indem ich mir die zufälligen Ereignisse meines Lebens zu einer Geschichte mit Ursachen und Wirkungen zusammenbaue, schaffe ich Zusammenhänge. Geschichten haben zusätzlich die Funktion, das Selbst mit Sinn zu versorgen. Wenn wir über Alternativen in unserem Lebensweg nachdenken („Wieso bin ich eine Liaison mit X eingegangen, nicht mit Y?“), neigen wir dazu, die Entscheidungen, die wir getroffen haben, als sinnvoll zu betrachten – eine Art rückwirkendes magisches Denken oder ein „benefitfinding“, wie das die Forscher nennen. Da es in der Multioptionsgesellschaft niemanden gibt, der uns sinnvolle Ziele vorgibt, muss jeder Mensch seinen eigenen obersten Sinn und seine Ziele selbst finden. Dabei setzt er sich mit vielen Widersprüch- SPIEGEL WISSEN 5 / 2015 lichkeiten auseinander. Ein Beispiel: Die Sehnsucht nach Existenzformen, die Sicherheit und Kohärenz bieten, steht diametral der Furcht entgegen, sich festlegen zu müssen und in festgefahrenen Formen zu erstarren. Das Individuum muss einen Weg zwischen den Polen der Vereinheitlichung und der Fragmentierung des Selbst finden. Darum wird der Umgang mit Paradoxien zu einer zentralen Fähigkeit, die wir weiterentwickeln sollten. Dabei kann uns ein Verfahren helfen, das mich in die Lage versetzt, eine Paradoxie aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Ich gehe alle vier möglichen Positionen einer paradoxen Situation schrittweise durch: Das eine gilt, das andere gilt, beides gilt, keines von beiden gilt. Dieses Experimentieren eröffnet mir die Möglichkeit, Gegensätze zu integrieren, Standpunkte zu klären und neue Perspektiven zu entwickeln – auch im Hinblick auf Paradoxien in meiner eigenen Identität. Im Umgang mit anderen Menschen erhöht es die Chance, mehr Empathie für andere aufzubringen. Bei der Suche nach einer Antwort, wer ich bin beziehungsweise werden könnte, handelt es sich um einen vermutlich erst beim Tod endenden Entwicklungsprozess. Antworten sind somit als Annäherungen an „die Wahrheit“ zu betrachten, als Anregungen zum Reflektieren – über die eigene Identität und die meines Gegenübers. Gerade in der Multioptionsgesellschaft schafft die Vorstellung, dass wir noch so etwas wie eine Identität haben sollen, ein Problem, da wir einem unerfüllbaren Sollzustand nacheifern. Dennoch brauchen wir – besonders in einer Zeit, in der Unbestimmbarkeit, Vielfalt, Widersprüchlichkeit und Relativität immer mehr zunehmen – zumindest die Vorstellung einer Identität als Einheit, um uns nicht gänzlich im Chaos aufzulösen. Damit werden wir auch für unsere Gegenüber verlässlicher – so wie einst der Mullah Nasredin: Der wurde nach seinem Alter gefragt und gab 60 Jahre an. „Aber Mullah, das habt ihr doch vor fünf Jahren auch schon gesagt“, wandte einer ein. „Gewiss“, sagte Nasredin, „ich bin ein Ehrenmann und bleibe immer bei dem, was ich mal gesagt habe!“ Bei Wein oder auch Fleisch verzichtet Eric Lippmann auf große Mengen. Stattdessen gelten bei ihm Maß und Genuss, nach dem Motto: Wer nicht genießt, wird ungenießbar. [email protected] ANDREAS KUSCHNER / ALIMONIE / ERIK KESSELS SELBSTFINDUNG